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Jiu ist ein Glückspilz! Er hat schließlich den begehrten, heiß umkämpften Platz in der Berliner WG ergattert. Eine Gemeinschaft sacht verstörter Persönlichkeiten, die ausschließlich queere Bewerber in ihre Mitte lässt. Da ist Dorle, die lesbische Wohnungsbesitzerin mit Beziehungsdramaproblemen. Kai, ein Transmann mit chronischer Identitätskrise. Timo, der einzig wahre Verteidiger der deutschen Dudensprache. Vor allem aber ist da Urs. Urs, der perfekt hören, doch kein Wort sprechen kann. Jeder von ihnen hat sein eigenes Päckchen zu tragen und sie machen es weder sich selbst noch Jiu leicht – egal womit. Ca. 76.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 375 Seiten.
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Jiu ist ein Glückspilz! Er hat schließlich den begehrten, heiß umkämpften Platz in der Berliner WG ergattert.
Eine Gemeinschaft sacht verstörter Persönlichkeiten, die ausschließlich queere Bewerber in ihre Mitte lässt.
Da ist Dorle, die lesbische Wohnungsbesitzerin mit Beziehungsdramaproblemen. Kai, ein Transmann mit chronischer Identitätskrise. Timo, der einzig wahre Verteidiger der deutschen Dudensprache.
Vor allem aber ist da Urs. Urs, der perfekt hören, doch kein Wort sprechen kann. Jeder von ihnen hat sein eigenes Päckchen zu tragen und sie machen es weder sich selbst noch Jiu leicht – egal womit.
Ca. 76.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 375 Seiten.
von
Sandra Gernt
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Jiu kontrollierte die Adresse.
Er hatte sie schon mindestens sechs Mal kontrolliert, das letzte Mal, als er in die U-Bahn gestiegen war. Es konnte dennoch nicht schaden, sich wirklich, wirklich sicher zu sein, oder? Sein Orientierungssinn war eine Katastrophe und er neigte dazu, Kleinigkeiten wie „Schillertalstraße“ und „Schillerbachstraße“ zu verwechseln. Heute durfte er nichts verwechseln. Dorle hatte ihm am Telefon klargemacht, dass er absolut pünktlich zu erscheinen hatte, oder er konnte sich gleich auf die Liste der abgelehnten Bewerber eintragen.
Ihr gehörte eine große Wohnung in bester Citylage. So etwas kostete in Berlin-Charlottenburg Unsummen, was zweifellos der Grund war, warum sie aus der Sieben-Zimmer-Wohnung eine WG gemacht hatte. Was wollte man auch allein mit so viel Platz? Die Unterhaltskosten wären schon ein gieriges Monster, das ein Loch ins Bankkonto fraß.
Bis jetzt hatte Jiu in einem winzigen Zimmer ohne Fenster als Untermieter gehaust, um studieren zu können. Die Betonung lag auf winzig – es hatte exakt Platz für ein Feldbett geboten und das auch nur, weil die Tür nach außen öffnete. Sein gesamter Besitz, also Klamotten, Hygieneartikel und Studienbücher, hatte er unter dem quietschenden, knarzenden Ding gestapelt. Die ersten drei Wochen hatte er jede Nacht vor dem Einschlafen gebetet, dass es ihm nicht zusammenbrach, und er hatte sich in dieser Zeit angewöhnt, täglich mindestens eine Stunde Yoga im Badezimmer nebenan zu zelebrieren. Wenn seine Mutter das wüsste … Das Bad war zwar bloß unwesentlich geräumiger als eine Abstellkammer, aber da es eine völlig verkalkte Wanne besaß, in der man sich nach erfolgreicher Ekelüberwindung abduschen konnte, war zumindest ausreichend Raumlänge für seine Übungen vorhanden. Gegen das Kalkproblem half leider nicht einmal der stärkste Essigreiniger. Das Yoga hingegen half, damit sein Rücken trotz der miesen Schlafbedingungen nicht wie ein zehntausendteiliges Puzzle auseinanderbrach. Cem, sein Vermieter, hatte nicht immer Verständnis für solchen zeitraubenden Unfug gehabt und ihn erbarmungslos rausgezerrt, wenn er das Bad selbst nutzen wollte. Abgesehen davon waren sie gut miteinander ausgekommen und das Zimmerchen war soweit okay für Jiu gewesen. Cem besaß ein Startup-Unternehmen, irgendwas mit Computertechnik. Die meiste Zeit war er darum sowieso nicht daheim gewesen und Jiu konnte in Ruhe für sein Studium arbeiten, wenn er nicht in Vorlesungen saß.
Dann hatten allerdings die beiden Punks in der Wohnung unter ihnen unbedingt mit der selbstgebauten Shisha-Pfeife Unfug treiben müssen. Es war in einem Schwelbrand geendet. Der schwarz-fettige Rauch war durch das Treppenhaus in sämtliche Wohnungen eingedrungen. Cem und Jiu hatten fast eine Stunde auf dem Balkon ausharren müssen, bis ein Feuerwehrmann mit Atemmasken erschienen war und sie hinausgeführt hatte. Niemand war ernstlich verletzt worden, lediglich die schwangere Dame im fünften Stock musste länger im Krankenhaus bleiben. Ihr und dem Baby ging es gut, soweit Jiu wusste.
Cem musste seitdem in seinem Büro übernachten, denn die Wohnung war durch den ekligen Rauch unbewohnbar und es würde Monate dauern, alles zu renovieren. Die Möbel konnte er größtenteils wegschmeißen. Das hatte Jiu erfahren, als er seine geringfügige Habe abgeholt hatte, die er ebenfalls wegschmeißen konnte. Der Rauchgestank und der klebrige Ruß wären in diesem Leben nicht mehr aus den Klamotten rausgegangen, was ihm einigermaßen egal war. Um seine teuren Bücher hingegen tat es ihm leid. Nur eines davon konnte er retten.
Besonders leid tat es ihm, dass er im Moment bei seinen Eltern wohnen musste. Er liebte die beiden. Von ganzem Herzen. Und sie liebten ihn abgöttisch. Sie bemühten sich sogar, ihm nicht auf die Nerven zu gehen und waren darin meistens erfolgreich. Trotzdem wohnten sie in Mecklenburg-Vorpommern auf dem Dorf und die Anreise zur Uni über Schwerin kostete ihn mit sieben Mal umsteigen, Rennerei und Gefluche im besten Fall zweieinhalb Stunden eine Tour, im schlechtesten Fall fast vier, wenn die Ringbahn in Berlin mal wieder nicht nach Plan fuhr. Das war untragbar! Zurzeit nahm er darum bloß an jenen Vorlesungen teil, die absolut unumgänglich waren.
Jiu brauchte dieses Zimmer. Darum war er auch bereit gewesen, über seinen Schatten zu springen und mit einem seiner heiligen Grundsätze zu brechen, der lautete: Kein unnötiges Outing in der Uni!
Er hatte an einen seltsamen Scherz geglaubt, als er den Zettel am Schwarzen Brett entdeckt hatte.
WG-Bewohner gesucht! Großes, gemütliches Zimmer in Charlottenburg. Du bist älter als 18 und jünger als 49? Du kannst dich in eine Gemeinschaft einfügen und weißt nicht nur theoretisch, dass man seinen eigenen Dreck selbst wegräumen, die Spülmaschine benutzen, den Müll runtertragen kann? Und das Wichtigste: Du definierst dich als queer, also Teil der LGBTQ-Gemeinschaft? Dann ruf an und bewirb dich.
Der Part mit der Bewerbung war kein Scherz. Dorle hatte gesagt, dass schon siebenundzwanzig Leute vorgesprochen hatten und heute die letzten drei eingeladen wurden. Aus diesen dreißig wollte sie auswählen. Erstaunlich genug, dass es tatsächlich dreißig queere Studenten an der Uni gab, die ein Zimmer benötigten. Weil er die längste Anfahrt hatte, war er der letzte potentielle Kandidat. Jiu hoffte, dass er damit einen kleinen Dringlichkeitsbonus erhielt. Sein Studium konnte er jedenfalls nicht mehr lange durchziehen, wenn er fünf bis acht Stunden am Tag mit der Fahrerei beschäftigt war!
Was das andere anging …
Herrje.
Er hasste diese Coming Out-Sache. Mehr als einmal hatte er darüber nachgedacht, sich ein T-Shirt drucken zu lassen, auf dem groß und fett zu lesen war: Ich bin schwul und will nicht weiter darüber reden. Komm klar damit! Es hätte ihm schon einige Male das Leben erleichtert. In Büchern und Filmen wurde gerne ein Heidenspektakel um das Coming Out gemacht. Sechshundert Seiten beziehungsweise zweieinhalb Stunden lang ging es um diese arme, traurige Schrankschwuchtel. Jeder wusste, dass der Kerl stockschwul sein musste. Man sah es, man hörte es, trotzdem wurde geleugnet, bis nichts mehr ging. Dann der große Moment. Der Held nahm sich endlich zusammen, trat vor seine Eltern/Freunde/Kollegen/die Liebe seines Lebens, und sagte die alles entscheidenden drei Worte: Ich bin schwul.
Und tadaaaa! Jeder freute sich, keiner hatte ein Problem bis auf den Quoten-Homophoben, der still in der Ecke kotzen ging. Tränenreiche Versöhnung/ Familienzusammenführung/ leidenschaftlicher Kuss. Und schon waren die Konflikte aus der Welt. Man musste nichts weiter tun, als diese drei Wörtchen sagen und für alle Zeiten und Ewigkeiten waren Party und Glück und geiler Sex angesagt.
In der realen Welt folgten auf das erste Coming Out vor den Eltern noch zehn Milliarden weitere. Jedes Mal, wenn man neue Leute kennenlernte, man sich vorstellte, klarmachte, was für ein Typ man so war, musste man entscheiden, ob auch dieses Detail dazugehörte. Jiu hasste diesen Moment. Er hasste es, neue Leute kennenzulernen. Aber wenn er weiterkommen wollte, musste er sich dieser Sache stellen und wenn er sich als schwul outen musste, um diesen WG-Platz zu erhalten, dann würde er das tun.
Er war an der richtigen Adresse angekommen. Jiu betrachtete das große Haus. Gelb verputzt, fünf Stockwerke, ruhige Wohngegend. Tatsächlich erstaunlich ruhige Gegend. Man hörte den Großstadtverkehr hier nicht und in der Zeit, die er gebraucht hatte, um die Hausnummer zu finden, war kein einziges Auto an ihm vorbeigefahren. Die Häuserzeile war zu hoch, um Dorfcharakter zu besitzen, aber für Berlin war dies das Friedlichste, das Jiu bislang erlebt hatte. Ihm gefielen die gut gewachsenen Birken, die in kurzen Abständen gepflanzt waren und beidseitig die Straße säumten. Der Bürgersteig war dennoch sehr breit. Von außen machte das Haus also schon einmal einen geradezu perfekten Eindruck. Zumal er in der Nähe die gesamte Palette der notwendigen Infrastruktur ausgespäht hatte. Vom Supermarkt bis zur Apotheke, alles war fußläufig erreichbar. Wenn man aus einem Dorf stammte, das nicht einmal einen eigenen Bäcker besaß und wo man knapp vierzig Kilometer fahren musste, um den nächsten Augenarzt zu finden, waren solche Details ein wichtiges Argument.
Bevor er klingeln konnte, öffnete sich die Haustür und ein junger Mann rannte hastig an ihm vorbei.
„Verpiss dich, du Spinner!“, brüllte eine weibliche Stimme aus der Höhe.
Erschrocken blickte Jiu zu dem obersten Balkon hinauf. Dort stand eine Frau in rotem Top und mit wilden schwarzen Locken und schüttelte drohend die Faust in Richtung des Fliehenden. Dann fiel ihr Blick auf ihn herab.
„Bist du Jiu?“, fragte sie. Er wagte kaum zu bejahen, doch da sie eindeutig Dorle sein musste, rief er eine Bestätigung, auch wenn sie seinen Namen völlig falsch aussprach.
„Ich drück die Tür auf. Schön, dass du superpünktlich bist!“
Jiu trat in den Hausflur. Der schwarz-weiße Steinfußboden und die Briefkästen bezeugten, dass das Haus älteren Jahrgangs sein musste. Er joggte die Stufen hinauf in den fünften Stock. Einen Aufzug gab es nicht, dieses Haus war also keineswegs behindertengerecht.
„Du bist gut in Form.“ Dorle empfing ihn mit einem anerkennenden Grinsen. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte ausgesprochen lässig und entspannt, dafür, dass sie vor weniger als zwei Minuten noch vor Wut gebrüllt hatte. Sie schien etwas älter als Jiu zu sein, er würde sie auf Ende zwanzig schätzen.
„Komm rein. Ich bin Dorle, wie du dir denken kannst, wir haben ja telefoniert. Mach dir übrigens keine Gedanken wegen dieses Spinners eben. Er hat sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen als Bewerber für die WG einschleichen wollen. Kannst du dir vorstellen, dass er sich als Schwuler präsentieren wollte, nur um das Zimmer zu ergattern?“
Bei der extremen Wohnungsnot in dieser Stadt konnte Jiu sich das sogar lebhaft vorstellen. Ihm schwante allerdings Übles, was ihm gleich bevorstehen würde. Diese Truppe meinte es offenkundig bitterernst damit, dass sie ihr Zimmer ausschließlich einem Mitglied der queeren Gemeinschaft anvertrauen wollten. Wie genau wollten sie ihn also auf die Probe stellen, um sicherzugehen, dass er dazugehörte und kein Schwindler war?
„Okay, komm erst mal rein in die gute Stube.“ Sie winkte ihn in den Flur. Die Decken waren gefühlt himmelhoch. Weiße Kassettentüren, knarzendes Echtholzparkett. Diese Wohnung stammte von irgendwann vor dem Krieg, soviel stand fest. Es gab eine Menge Türen, die alle geschlossen waren. Bis auf eine, durch die Dorle ihn führte. Dort befand sich die Küche, wo zwei Männer um einen Tisch saßen und mit mildem Interesse zu ihnen aufblickten.
„Der letzte Bewerber, Leute, reißt euch noch einmal zusammen“, rief Dorle. Sie wies auf einen eher kleinen, schmächtigen jungen Kerl mit brünettem, modisch verwuscheltem Haar. Der andere war blond, hager, Haar wie Bart waren sehr sorgfältig gestutzt und gepflegt. Er hatte etwas Steifes, Strenges an sich. „Der mit dem Wuschelkopf ist Kai. Das andere Liebelein mit dem schicken Bärtchen heißt Timo. Das reicht erst mal als Grundinfo. Solltest du das Zimmer erhalten, können wir die Sache vertiefen. Einverstanden?“
„Soweit alles klar“, erwiderte Jiu und hob im lässigen Gruß die Hand.
„Dann komm mal mit.“ Dorle zog ihn mit durch eine andere Tür. Es war ein Wohnzimmer mit einer gemütlich wirkenden Couch, die mit blau-grauem Stoff bezogen war, dazu weiße Holzmöbel, was Jiu nicht sonderlich mochte, aber hier tatsächlich recht angenehm statt steril wirkte. Vor dem Flachbildfernseher war ein gewaltiger Standspiegel aufgestellt worden.
„Okay.“ Dorle grinste freundlich. „Wir hatten unglaublichen Ärger mit Hetero-Mitbewohnern. Kerle, die sich zum flotten Dreier bei mir und meiner Freundin einladen wollten. Mädels, die sich absolut ekelhaft gegenüber Timo verhalten haben oder glaubten, sie könnten hier den besten Schwulenfreund fürs Leben finden. Andere Kerle haben sehr betont so getan, als wären sie völlig tolerant und hätten überhaupt kein Problem und wer interessiert sich schon für Sexualität? Nur um nach ein paar Wochen Zickenkriege zu starten, die uns fast alle auseinandergerissen hätten. Darum haben wir uns geschworen, dass wir ausschließlich queere Mitbewohner aufnehmen werden, in der Hoffnung, dass endlich Ruhe und Harmonie bei uns reinkommt. Das soll nicht heißen, dass Heteros hier Zutrittsverbot haben. Jeder von uns hat nicht-queere Freunde und Verwandte und darunter sind ganz und gar wunderbare Menschen. Es geht wirklich rein um unsere WG-Situation.“
„Das habe ich verstanden“, sagte Jiu vorsichtig. „Was erwartet ihr jetzt genau von mir?“ Er nahm den Rucksack ab, den er mit sich schleppte, und stellte ihn neben die Tür.
„Du setzt dich gemütlich auf die Couch, Gesicht zum Spiegel. Obendrauf sitzt eine WebCam, siehst du?“
Unbehaglich nickte Jiu ihr zu.
„Du sollst in deinen eigenen Worten erklären, wie du dich definierst, und warum. Dafür kannst du dir beliebig viel Zeit lassen und du hast den Raum für dich allein. Was du hier sendest, landet bei uns in der Küche auf dem Laptop. Ah, bevor ich es vergesse, das da ist eine Garantieerklärung unsererseits, dass wir nichts davon ins Internet stellen, auch nicht auszugsweise. Wir werden kein Wort davon irgendwelchen dritten Parteien zugänglich machen und die Aufzeichnung nicht vervielfältigen oder ähnliches. Lies dir das in Ruhe durch und unterschreibe es nur, wenn du uneingeschränkt damit einverstanden bist. Andernfalls kannst du jederzeit ohne weitere Begründung wieder gehen. Wir haben uns für diesen Weg entschieden, weil die Leute es im normalen Gespräch oft nicht schaffen, über etwas so derartig Intimes locker und unbefangen zu reden. Wir erwarten hier keine Aufzählungen sexueller Abenteuer. Wenn du darüber sprechen willst, okay, aber es ist kein Muss. Wir wollen etwas hören, das uns überzeugt. Sei ehrlich, sei du selbst. Zeig uns, warum wir dich in unserer WG brauchen. Viel Glück.“
Sie ging hinaus und ließ ihn vor dem Spiegel mit seiner Kamera und dieser ausgeklügelten Einverständniserklärung zurück, die unter Garantie von einem Juristen verfasst worden war. Es blieb jedenfalls kein Raum für Schlupflöcher, soweit er das erkennen konnte. Er gab den namentlich aufgelisteten Mitgliedern dieser WG mit seiner Unterschrift die Erlaubnis, sein Bewerbungsgespräch aufzuzeichnen. Alles war zeitlich, örtlich und inhaltlich begrenzt und er sah keine Möglichkeit, wie man ihm mit dieser Sache Schaden zufügen könnte. Wenn er davon ausgehen wollte, dass diese ganze Sache ein kompliziert angelegter Plot war, dazu geschaffen, ihn auf irgendeine Weise zu betrügen … In diesem Fall müsste er jetzt sofort aufstehen und gehen. Ohne ein gewisses Grundvertrauen in das Gute der Menschheit hatte es keinen Sinn, mit diesen Leuten unter einem Dach leben zu wollen. Und es lag ja eindeutig an ihm selbst, dass er keine Geheimnisse ausplauderte, die er nicht in genau diesem Wortlaut auch auf die Titelseite einer großen Tageszeitung drucken lassen würde.
Also unterschrieb er, schob den Erklärungszettel beiseite und konzentrierte sich auf sein eigenes Spiegelbild.
Vielleicht hätte er sich etwas bunter anziehen sollen? Blue Jeans und weißes T-Shirt waren bequem, schrien aber nicht gerade seine Orientierung in die Welt hinaus. Andererseits hätte er in Knallpink wohl eher überzogen gewirkt und sich keineswegs wohlgefühlt.
„Äh – hi!“, murmelte er, um nicht zu lange stumm wie ein Fisch dazusitzen. Zum Schweigen war er schließlich nicht hergekommen. „Mein Name ist Shinjiro. Das ist in Japan ein ziemlich häufiger und gewöhnlicher Vorname, sowas wie Michael oder Thomas hier in Deutschland. Man nennt mich allerdings schon seit meiner Geburt Jiu. Warum, weiß ich nicht. Es wird wie die Kampfkunst Jiu Jitsu geschrieben, bloß wie Dschungel statt Joghurt ausgesprochen. Was nicht japanisch korrekt ist, glaub ich. Soweit ich weiß, bedeutet das Wort sanft. Und den ganzen Mist erzähle ich gerade nur, weil ich nervös bin und nicht richtig weiß, wie ich eure Frage anpacken soll.“ Er grinste sein Spiegelbild an. Es grinste zurück. Unglaublich, wie blöd man sich fühlen konnte … „Ich definiere mich als schwul“, sagte er langsam und schaffte es, beherrscht zu bleiben. Kein Zucken, keine Grimassen. Seine Wangen fühlten sich heiß an, vermutlich wurde er gerade kirschtomatenrot. Es war ihm nicht peinlich, aber gegen die Gewohnheit, solche Details über sein Leben lieber für sich zu behalten, kam er bloß schwer an. In der richtigen Gesellschaft fiel es ihm leicht, über Sex und Sexualität zu reden. Im Moment hatte er ausschließlich sich selbst zur Gesellschaft und war sich dennoch schmerzlich bewusst, dass wildfremde Leute ihn beobachteten. Was für eine blödsinnige Situation!
Jiu blickte auf seine Finger, weil er spürte, dass er nervös an ihnen zupfte. Ein Tick, der unter Stress zum Vorschein kam. Wie sollte er fortfahren? Mit welchen Worten überzeugen und beweisen, dass er die Wahrheit sagte? Er wollte jedenfalls nicht unter Zornesgebrüll fortgejagt werden, er wollte dieses Zimmer haben!
Mit gesenktem Kopf atmete er tief durch. Im Abi hatte er in der mündlichen Englischprüfung auch nicht genau gewusst, wie er sein Thema anpacken sollte. Also hatte er einfach so lange geredet, über alles, was ihm irgendwie in den Sinn gekommen war, bis man ihm sagte, dass er aufhören dürfe. Es mussten gute Passagen dabei gewesen sein, denn eine der Prüferinnen hatte vor Rührung Tränen in den Augen gehabt. Jiu vermutete jedenfalls, dass Rührung gewesen war, denn er hatte volle fünfzehn Punkte erhalten und Lachtränen waren es wohl nicht gewesen. Wenn er sich jetzt noch erinnern könnte, was sein Thema gewesen war und was genau er da erzählt hatte …
„Ich weiß nicht, ob ich ein typischer Schwuler bin“, murmelte er. „Glaube es eher nicht. Ich stamme aus einem winzigkleinen Dorf in McPomm. Falls da noch andere Schwule rumlaufen, hab ich sie nie gefunden. In der Schulzeit war ich auch nicht derjenige, der die Jungs in der Umkleide angestarrt hat. Also geguckt schon, eher so aus Interesse, wie die anderen gewachsen sind und ob man selbst dazu passt oder nicht. Ich hab natürlich nie gepasst, weil ich kleiner und schmächtiger bin. Heute ist das okay für mich, ich weiß, dass Japaner selten in der Schulterbreite mit Europäern konkurrieren können. Als Teenie fand ich das schwierig. Egal. Hm – ich hatte jedenfalls nicht den richtigen Ach so!-Effekt, der mir sagte, dass ich anders bin. Genauer gesagt, war ich davon überzeugt, völlig normal zu sein, denn mit sechzehn war ich mit einem Mädchen zusammen. Zwei Jahre lang. Nadine.“ Jiu schloss für einen Moment die Augen. Er dachte nicht gerne an Nadine, obwohl es keine schlechten Erinnerungen waren. Im Gegenteil, sie hatten eine gute Zeit zusammen gehabt. Das Ende dieser guten Zeit hatte Wunden hinterlassen, die heute noch ein wenig schmerzten. Nicht schlimm, trotzdem verdrängte er es lieber. Verdrängung war gerade nicht sein Thema, also redete er rasch weiter.
„Wir waren gute Freunde, schon Jahre davor haben wir viel zusammengehangen und jeder ist davon ausgegangen, dass wir ein Paar werden würden. Auf einer Party ist es dann tatsächlich passiert. Wir waren angetrunken, lustig und plötzlich saß sie auf meinem Schoß und wir haben uns geküsst. Es ging von ihr aus, aber mir gefiel die Idee. Sex haben, dazuzugehören, das war sowieso richtig. Deshalb hatte ich auch seit über einem Jahr stets Kondome in der Tasche gehabt. Für den Fall, dass sich irgendwas ergibt und jemand Sex mit mir haben wollte. Ich war schon immer der Typ, der gerne für Notfälle vorbereitet ist. Wir haben uns in ein stilles Eckchen verzogen und rumgemacht.“ Jiu lachte auf, die Erinnerung war peinlich. Und anrührend süß. „Ich hab mich wahnsinnig gut dabei gefühlt. Es war wunderschön, mit ihr zu kuscheln, und zu küssen, und noch ein bisschen mehr zu kuscheln. Mehr wollte ich gar nicht und mir ist überhaupt nicht aufgefallen, was daran seltsam sein könnte. Bis mir Nadine sagte, dass ich jederzeit weitergehen kann, ich müsste mir keine Gedanken machen. Da hatten wir bereits mehrere Wochen lang jeden Tag herumgemacht, ohne dass ich je die Kondome gebraucht hätte. Erst da wurde mir klar, dass ich nie das Verlangen nach mehr gehabt hätte. Ich wollte sie natürlich nicht enttäuschen und wir hatten an diesem Abend zum ersten Mal Sex. Es war sehr zärtlich. Für mich war es das erste Mal, für sie nicht. Ich war anschließend wahnsinnig stolz, weil sie glücklich und befriedigt war. Sie meinte, noch nie zuvor hätte ein Junge sie dermaßen liebe- und rücksichtsvoll behandelt und gewartet, bis sie auch ihren Spaß hatte. In den nächsten zwei Jahren hatten wir noch häufig Sex und es war jedes Mal schön. Kuschelig und zärtlich und sehr …“ Er seufzte. „Zart. Ich konnte dabei träumen und die Orgasmen sind eher nebenbei passiert. Für mich war die Welt perfekt und meine Gefühle für Nadine waren in erster Linie beschützend. Es war wundervoll, ihr Gutes tun zu können, für sie da zu sein. Als sie mich am Ende anbrüllte, dass ich sie erdrücke und endlich aufhören soll, sie wie eine Prinzessin zu behandeln und ständig nett und rücksichtsvoll zu sein, war ich wie vor den Kopf geschlagen. In meinem Kopf war alles so perfekt gewesen und ich war gedanklich schon bei Hochzeit und Kindern und die Frage aller Fragen: Wollen wir uns Hunde oder Katzen zulegen? Stattdessen hat sie mich von sich getreten, weil sie mich und meine Zärtlichkeit nicht mehr ertragen konnte.“ Jiu stockte. Es hatte ihn tief getroffen, als Nadine Schluss gemacht hatte. „Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass ich keineswegs um unsere Liebe getrauert habe, sondern verletzt war, weil sie nicht annehmen wollte, was ich zu geben hatte. Es hat lange gedauert, bis ich bereit war, wieder die Fühler auszustrecken und mich auf einen anderen Menschen einzulassen. Da hatte ich mittlerweile eine Ausbildung zum Elektriker begonnen. In der Berufsschule, in meiner Ausbildungsklasse, war ein wunderschöner Junge. Thabo. Er hatte Haut wie poliertes Mahagoni und Augen wie schwarze Edelsteine. Thabo und ich … Da habe ich begriffen, was Leidenschaft ist. Wir waren zwar auch zärtlich miteinander und haben uns geküsst und gestreichelt und gekuschelt. Aber erst mit ihm habe ich erfahren, dass man sich vor lauter Lust und Verlangen selbst verlieren kann. In seinen Armen bin ich zu glühender Lava zerflossen. Ich habe gestöhnt, geschrien, darum gebettelt, endlich kommen zu dürfen. Genauso wie er gestöhnt und geschrien und gebettelt hat. Und auch sonst ging es nicht darum, dass einer den anderen beschützen und versorgen muss. Wir haben gegenseitig auf uns aufgepasst und es war ein gerechtes Miteinander. Ein Geben und Nehmen auf Augenhöhe. Das hätte ich mit Nadine sicherlich auch haben können, wenn ich ihr diese Rolle zugestanden hätte. Oder wenn meine Gefühle passend gewesen wären. Ich war wirklich der falsche Partner für sie und es tut mir wahnsinnig leid, dass sie zwei Jahre ihres Lebens damit vergeudet hat, sich von jemandem erniedrigen zu lassen, der in ihr eine Art Kätzchen gesehen hat, das gehätschelt und vor der feindlichen Welt behütet werden muss. Ich hoffe sehr, dass sie einen besseren Mann gefunden hat … Ich jedenfalls habe gelernt, mich von Frauen fernzuhalten, sobald es um mehr als Freundschaft und respektvolles Miteinander geht. Es ist nicht einmal so, dass ich Männerkörper schöner oder anregender empfinde. Darum geht es nicht. Schwulsein bedeutet für mich nicht, ausschließlich mit Männern Sex zu haben. Oder überhaupt Sex haben zu müssen. Es ist die Antwort auf die Frage, mit wem ich morgens aufwachen will, nicht mit wem ich ins Bett reingehe. Ich bin nicht gut, wenn ich mit einer Frau eine Beziehung führe. Es braucht einen Mann für mich, um ein gemeinsames Leben zu teilen. Das hat mich Thabo gelehrt. Wir waren perfekt füreinander. Bis wir es eben nicht mehr waren und auseinander gegangen sind. Größtenteils friedlich, nach eineinhalb Jahren Beziehung. Ich bin nicht der Typ für Clubs und Darkrooms und anonyme Bettgeschichten, wie man zweifellos raushören konnte. Damit bin ich wohl auch nicht der absolut typische Schwule. Und dennoch definiere ich mich als schwul. Und gerade weil es Nadine in meinem Leben gab, bin ich ganz sicher nicht bisexuell. Denn dann hätte ich auch für sie gut sein können, ohne dass ihr Geschlecht eine Rolle gespielt hätte.“
Jiu stockte, nachdem er viel zu lange wie ein Sturzbach geredet hatte. Vermutlich starrten Dorle und die beiden Kerle gerade ziemlich verstört und erschlagen auf ein Laptop oder Tablet und waren froh, dass er endlich die Klappe hielt. War es das, was die drei von ihm hören wollten? Er wusste es nicht. Sein Kopf war leer und er fühlte sich wie ausgewrungen. Emotional durch die Mangel gedreht. Dabei hatte er nicht einmal geweint oder irgendetwas Anstrengendes getan.
„Das war’s“, murmelte er, sank in sich zusammen und begann wieder an den Fingern zu zupfen. Bis es seltsam zaghaft an der Tür klopfte. Es war Dorle, die im Rahmen stehenblieb und ihn mit einem merkwürdigen Lächeln bedachte.
„Jiu“, sagte sie feierlich und sprach seinen Namen diesmal korrekt aus. „Hol dein Zeug. Du hast das Zimmer. Zieh bitte sofort ein. Wow. Ich brauch jetzt erst mal ein Taschentuch. Das war großartig.“
Jiu starrte ihr nach, als sie sich leise schniefend umdrehte und ohne weitere Worte verschwand. War sein Gestammel tatsächlich gut gewesen? Kaum zu glauben! Was genau hatte er eigentlich erzählt?
Kai und Timo kamen ins Wohnzimmer. Kai setzte sich neben ihn und lächelte liebenswürdig. Aus dieser Nähe wurden Jiu gleich mehrere Dinge bewusst: Kai war kein Junge Anfang zwanzig oder noch jünger, wie er gedacht hatte, sondern ein Transmann. Das Testosteron, das er offenkundig nahm, hatte für ordentlichen Bartwuchs gesorgt, aber da war eine gewisse Weichheit in seinen Zügen, die nicht einmal androgyn sein konnte, sondern weiblich sein musste. Außerdem trug er Kontaktlinsen, hatte wirklich schöne braun-grüne Augen und duftete nach Sandelholz.
„Du hast echt als Einziger begriffen, worauf es ankommt“, sagte er mit samtig-dunkler Stimme. „Von den dreißig Leuten, die zu uns gekommen sind, waren mindestens fünfundzwanzig nicht queer, sondern einfach verzweifelt auf der Suche nach einer Bleibe. Verzweifelt genug, um zu behaupten, sie wären schwul oder lesbisch. Man hat sie ohne Probleme erkannt – die Kerle haben ausschließlich vom Arschficken geredet, die Mädels vom Zungenküssen und fingern. Sonst ist denen nichts eingefallen und die Gesichtsausdrücke haben echt Bände gesprochen. Dieser halbunterdrückte Ekel, der Begeisterung heucheln sollte.“ Kai lachte. Es klang entzückend. „Okay, das ist übertrieben. Die haben gar nicht alle geheuchelt oder irgendetwas vorgetäuscht, sondern recht brav darum gebettelt, das Zimmer trotzdem haben zu dürfen. Man merkt ja nun doch, wer einem Schwachsinn erzählt und Dorle hat sie zumeist durchschaut, noch bevor sie die Wohnung betreten hatten. Die echten Schwulen und Lesben konnte man an einer Hand abzählen und keiner von denen hat mit solcher gefühlsintensiven Offenheit punkten können wie du. Drei oder vier Leute haben es mit alberner Schauspielerei versucht, obwohl man ihnen an der Stirn ablesen konnte, dass jedes Wort gelogen ist und sie gar nicht wirklich wissen, was das queere vom heteronormen Volk unterscheidet. Schlimm war eigentlich nur der Letzte. Dem bist du glaub ich begegnet. Als wir ihm sagten, dass wir es mit unserer Forderung ernst meinen und es klar ist, dass er nicht ins Profil passt, ist er völlig durchgedreht und hat Timo durchgeschüttelt, bis dem die Knochen geschlottert haben. Wir sollten uns nicht blöd anstellen, er würde uns das Doppelte zahlen, Hauptsache, er bekommt das Zimmer. Dorle und ich haben ihn mit Gewalt rauswerfen müssen. Totaler Spinner. Ich meine – was ist falsch mit diesen Leuten?“
„Öch-öch.“ Timo stieß ein asthmatisches Hüsteln aus, als würde gerade ein stranguliertes Eichhörnchen in seiner Kehle verenden. „Denk an deine Anglizismen!“, sagte er streng zu Kai. „Im Deutschen sagt man: Was ist los mit diesen Leuten? Das andere ist eine Übersetzung des Englischen: What’s wrong with…? So spricht man nicht!“
„Man vielleicht nicht, ich schon!“, brummte Kai. „Egal. Jiu, du warst perfekt. Ich hatte Pipi in den Augen. Timo auch, obwohl der das niemals auf diese Weise ausdrücken würde. Ist ja dudentechnisch unkorrekt.“
„Inkorrekt“, murmelte Timo, wofür Kai ihm die Zunge rausstreckte. Jiu musste lachen. Er mochte Kai. Und Timo wirkte trotz seiner gewaltigen Macke nett. Jedenfalls boxte er Kai freundlich gegen die Schulter, statt sich über ihn zu ärgern.
„Ich sehe, du bist quasi schon angekommen“, sagte Dorle und lächelte strahlend in die Runde. „Im Ernst, wie schnell kannst du einziehen?“
Jiu wies auf den olivefarbenen Wanderrucksack, den er an der Tür abgestellt hatte.
„Streng genommen bin ich bereits eingezogen“, erwiderte er. „Darin befindet sich alles, was ich gerade an Lebensnotwendigem besitze, abzüglich meiner Unisachen. Die bewahrt ein Freund von mir auf, der die gleichen Kurse wie ich hat.“
„Ähm – in dem Täschchen würde ich gerade mal Klamotten für drei Tage unterbringen“, sagte Dorle skeptisch. „Und das auch nur, wenn ich zwei Tage im Bikini am Strand verbringe. Ist das eine magische Tasche, die innen zum Warenlager mutiert, oder gehörst du zu den Minimalismus-Fanatikern?“
„Weder noch.“ Jiu grinste freudlos und erzählte die Geschichte, wie er ausgeräuchert worden war. „Aus dem Grund wohne ich zurzeit bei meinen Eltern in der Pampas. Ich habe wenig nachgekauft, weil ich erst einmal eine Unterkunft finden wollte.“
„Du kannst shoppen gehen. Dein Zimmer hat achtzehn Quadratmeter, Bett, Schreibtisch, Stuhl, Bücherregal und einen kleinen Kleiderschrank.“ Dorle zog ihn mit sich und öffnete die Tür rechts von der Küche. Luftige Helligkeit breitete sich aus. Er hatte mehr Platz als in seinem alten Kinderzimmer daheim. Das Fenster war riesig und führte auf einen mit alten Bäumen und Büschen bewachsenen Innenhof hinaus. Die Wände waren mit hochwertigen cremeweißen Vliestapeten bedeckt. Die Möbel waren zum Glück nicht Weiß, auch wenn das Jammern auf sehr hohem Niveau gewesen wäre.
„Eschenmöbel! Und alles massives, zueinander passendes Echtholz!“, murmelte Jiu überwältigt.
„Woran erkennst du, dass das Esche ist?“, fragte Dorle verdutzt. „Ich sehe bloß, dass es kein Ikea-Standardzeugs ist.“
„Mein Opa ist Schreinermeister. Ich bin praktisch in seiner Werkstatt aufgewachsen. War eine harte Entscheidung, ob ich in seine Fußstapfen trete oder nicht. Am Ende hat mich der Elektrik-Kram einen Tick mehr gereizt.“ Jiu streichelte begeistert über den Kleiderschrank. Wahnsinn. Welche Glücksfee hatte ihn da bloß geküsst?
„Deine Vor-Vorgängerin hat sich hier ausgetobt. Sie hat alles bildschön renoviert und eingerichtet und ist anschließend in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgehauen. Ihre Eltern hatten Geld wie Heu, die hat das überhaupt nicht interessiert, welche Werte zurückgeblieben sind. Das Bett ist kaum genutzt, der Rest auch nicht.“ Dorle wies auf Kissen und Bettdecke, die ohne Bezug und Laken ordentlich auf der Matratze lagen. „Du hast genug Zeit, um schnell zur Wilmersdorfer zu fahren und dir da Bettwäsche, Handtücher und so weiter zu kaufen. Ich lass dich mal für ein paar Minuten allein. Lass das Zimmer auf dich wirken, ruf deine Eltern an, führ ein Freudentänzchen auf … Falls du Selfies auf Instagramm posten willst, dann bitte so, dass man die Adresse nicht herauspuzzeln kann. Sprich, vom Fenster abgewandt. Wenn du fertig bist, komm in die Küche. Wir stoßen zur Feier des Tages an.“ Dorle gab ihm mit einem breiten Grinsen einen herzlichen Klaps auf die Schulter und ging an ihm vorbei. Bevor sie durch die Tür verschwand, drehte sie sich noch einmal um. „Gehörst du zu den Asiaten, die keinen Alkohol vertragen? Sorry, die Frage lässt sich einfach nicht mit höflichen Blümchen umhäkeln.“
„Was? Oh.“ Jiu fuhr zusammen. Er war vor lauter Freude und Erleichterung regelrecht in eine Starre verfallen. „Ich hab gar nicht geschaltet, tut mir leid. Ich bin alkoholintolerant, yupp.“ So wie etwa fünfzig Prozent der Japaner, Chinesen, Koreaner … Es war jedes Mal unbehaglich, über diesen Punkt zu reden. Mit jedem Jahr wurde es besser, da Jius Altersgenossen langsam ruhiger wurden und Partys mit extremen Alkoholmengen an Bedeutung verloren. Er war sowieso nicht häufig zu Partys eingeladen worden.
„Wie äußert sich das mit deiner Intoleranz?“, fragte Dorle neugierig. „Musst du kotzen?“
„Nein, so weit komme ich gar nicht erst. Schon bei sehr geringen Alkoholmengen wird mir knallheiß, der Puls rast, das Gesicht wird rot. Dann wird mir schwindelig und spätestens das ist der Punkt, wo ich draußen bin. Es fühlt sich eklig an, es schmeckt mir nicht und tut mir echt nicht gut. Sprich, ich habe mit zwei Schluck Bier oder einem etwas größeren Schluck Wein genug für einen ganzen Abend.“
„Kostengünstiges Besäufnis“, rief Dorle grinsend.
„Mehr Alkohol für die anderen.“ Jiu zuckte mit den Schultern. „Es ist ungesellig und manchmal echt spaßbefreit, wenn man der einzige Nüchterne inmitten von grölenden Horden vollgesoffener Idioten ist. Ansonsten komme ich klar. Von Hustensaft muss ich mich fernhalten, was meine Mutter unserem Dorfarzt mit viel Mühe erklären musste. Er hielt sie für geisteskrank. Milch ist übrigens auch nicht für mich gemacht. Da kann ich allerdings Laktasetabletten nehmen, wenn ich Sahnetorte essen oder Kakao trinken will.“
„Okay. Ist tatsächlich irgendwie doof, aber ein Beinbruch wäre schlimmer, oder? Ich hol den Orangensaft, damit kann man auch nett anstoßen. Wir trinken sowieso nicht viel.“
Dorle schloss die Tür und Jiu blieb allein zurück. Allein mit seiner immensen Freude, die er am liebsten hinausschreien würde.
Wahnsinn!
Dieses Zimmer war der Wahnsinn. Die ganze Wohnung war irre. Seine Mitbewohner schienen recht speziell, dafür sympathisch. Es musste eine Heerschar von Glücksfeen gewesen sein, die ihn geküsst hatte. Was sollte jetzt noch schiefgehen?
Es gab zwei voll eingerichtete Bäder in dieser riesigen Wohnung.
Eines hatte pinkfarbene Herzen an der Klinke hängen, das andere himmelblaue. Die pinken Herzchen waren für die Vagina-Besitzerinnen, wie Dorle es nüchtern ausdrückte. Damit waren sie selbst, ihre Freundin Hanna und Kai gemeint. Hanna wohnte in Moabit, dem Nachbarbezirk von Charlottenburg. Kai hingegen war seit rund einem Jahr mit Transformieren beschäftigt, wie er es ausdrückte. Er sprach freimütig über die Brustamputationsoperation, Testosterongel, den Freuden des Stimmbruchs, den pubertätsartigen Stimmungsschwankungen, denen er rund ein halbes Jahr ausgesetzt gewesen war und die ihn auch heute noch gelegentlich überfielen. Von der immensen Freude, als die ersten Haare an Kinn und Wangen sprossen. Von dem Vergnügen, nie wieder über Menstruationsblutungen nachdenken zu müssen. Und seinem Entschluss, die Genitalien nicht operieren lassen zu wollen, denn einen funktionalen und empfindungsfähigen Penis konnte ihm niemand zu hundert Prozent garantieren und die Ästhetik würde nicht dem Original entsprechen. Das alles erfuhr Jiu, noch bevor der Orangensaft in den Gläsern gelandet war.
„Normalerweise quasselt Kai gar nicht so viel“, sagte Dorle und reichte Jiu ein Glas. „Du musst ihn wirklich beeindruckt haben.“
„Quid pro quo“, brummte Kai. „Jiu hat seine Seele vor uns ausgebreitet. Es ist höflich, ihm etwas zurückzugeben. Ist wie in der Sauna. Da ist auch jeder nackt, darum ist es für niemanden peinlich.“
„Das macht Sinn“, begann Dorle und rollte lachend mit den Augen, als Timo sie sofort mit einem „Öch-öch“ unterbrach.
„Denk an deine Anglizismen!“, ermahnte er sie streng. „Im Deutschen wird Sinn nicht gemacht. Etwas hat Sinn oder es ergibt Sinn.“
„Ja doch, Schatzi!“, entgegnete sie und tätschelte ihm liebevoll die Hand, was er sich stirnrunzelnd gefallen ließ. „Okay. Ich fasse mich erst einmal kurz beim Seelenstriptease: Ich habe noch nie einen Penis angefasst. Gesehen schon sehr oft. Angefasst kein einziges Mal. Ich habe schon mit elf Jahren davon geträumt, dass eine Kriegerprinzessin vorbeikommt und mich auf ihrem weißen Gaul entführt. Mir war voll bewusst, dass Mädchen solche Dinge nicht träumen sollen. Darum habe ich mich vor den Spiegel gestellt und meinem zweidimensionalen Selbst geschworen, dass ich damit aufhören werde. Keine schmuddeligen Lesbenträume mehr. Nie wieder. Leider bin ich sehr schlecht darin, autoritären Befehlen zu folgen. Sogar dann, wenn ich sie mir selbst erteile. Nach einigen Jahren hatte ich raus, dass Sex kein Problem ist, lediglich Jugend. Jugend wiederum ist das einzige Problem, das sich von selbst erledigt, wenn man lange genug wartet. Sobald man alt genug ist, darf man in diesem schönen Land mit jedem Sex haben, der ebenfalls alt genug, willig, geistig gesund und körperlich befähigt ist. Da ich mittlerweile dreißig bin, genieße ich diesen Umstand hemmungslos mit meiner langjährigen Freundin. Das ist meine Geschichte in Kurzfassung. Happy End.“
Sie lachte, breit und offen und tief aus dem Bauch heraus. Timo zuckte mit den Händen, als der englische Begriff fiel, doch er sagte nichts. Auch sonst zuckte er gelegentlich, während die anderen sprachen, zumeist dann, wenn jemand die Grammatik schlecht behandelte, Umgangssprache benutzte oder sich anderweitig nachlässig gab. Anscheinend musste eine gewisse Schwelle überschritten werden, bevor er sich räusperte und verbal eingriff. Jiu blickte ihn an, mit der Absicht ihm zu versichern, dass Timo ihm gar nichts schuldete. Am allerwenigsten einen intimen Einblick in sein Leben. Doch Timo räusperte sich und sagte auf seine langsame, nachdrücklich betonte Art:
„Ich küsse ausschließlich Raucher. Ich selbst würde niemals rauchen. Das ist undenkbar für mich. Trotzdem mag ich keinen Mann küssen, der nicht unmittelbar zuvor geraucht hat. Am liebsten mag ich Zigarilloraucher. Das Aroma ist besonders würzig. Ich kann mich in dem Rauchgeschmack vollständig verlieren. Wenn ein Mann nach sich selbst oder Essen oder irgendein Getränk schmeckt, hebt sich mein Magen und mir wird schlecht. Schlimmstenfalls werde ich dadurch krank. Ekelgefühle machen mich krank. Ich achte bei Partnertreffportalen auf Anzeigen von Rauchern. Beziehungen will ich keine. Ich bin nicht der Mann, mit dem eine Beziehung problemlos möglich ist. Sex hingegen entspannt mich. Hauptsache es ist Sex mit einem Raucher.“
Jiu blinzelte, unsicher, wie er auf diese Flut von Informationen reagieren sollte. Es war seltsam bizarr, was sie hier taten, oder? Sie erzählten sich Details aus ihren Leben, mit denen er sonst frühestens nach mehreren Monaten intensiver Freundschaft herausrückte.
„Timo ist Zwangsneurotiker“, erklärte Dorle ungefragt. „Das ist kein Geheimnis, deshalb darf ich das jederzeit ausplaudern. Er hat mehr Macken als Haare auf dem Kopf. Gerade deswegen passt er erstaunlich gut zu uns. Nicht wahr?“
Es polterte plötzlich laut und Dorle verstummte. Eine Tür wurde aufgestoßen. Sekunden später flog die Küchentür auf und ein Mann kam herein, der zwei Wasserkästen in jeder Hand trug. Insgesamt also vier. Allzuviel Mühe schien es ihm nicht zu bereiten. Er war gefühlt zweieinhalb Meter groß, in Realität vermutlich immer noch zwei. Ein Muskelprotz war er nicht, eher schlank und sehnig. Der kurz gehaltene, gut gepflegte Vollbart ließ ihn älter wirken, als er vermutlich war.
„Hey, Brüderchen!“, rief Dorle.
Aha.
Ja, auf den zweiten Blick besaß er eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr. Seine Haare waren ebenfalls dunkel, schulterlang und eher sanft gewellt als lockig, und seine Augen besaßen einen anziehenden strahlendblauen Farbton, der es schwer machte, irgendwo anders hinschauen zu wollen. Leider war sein Gesichtsausdruck nicht anders als abweisend zu nennen. Er musterte Jiu, als würde er eine Kakerlake beobachten und zu entscheiden versuchen, ob sich der Versuch lohne, sie zerquetschen zu wollen.
„Urs, das ist der Neue. Sein Name ist Jiu“, sagte Dorle in einem merkwürdig strengen Tonfall. „Jiu, das da ist mein jüngerer Bruder Urs. Ich werde nachher noch Türanhänger anbringen. Urs‘ Zimmer wird ein gelbes Warndreieck erhalten. Diese Tür öffnest du bitte ausschließlich dann, wenn Berlin in Flammen steht, ein Amokläufer in die Wohnung eingebrochen ist oder das Bombenräumkommando evakuieren lässt. In jedem anderen Fall von nicht lebensbedrohlichen Umständen bleibst du draußen.“
„Okay, kein Problem“, sagte Jiu rasch. Offenbar verstand sich Urs nicht als Teil der Wohngemeinschaft und hatte sich darum aus dem Auswahlverfahren rausgehalten. Das war definitiv kein Problem für ihn. Der Kerl schien allerdings ein Problem mit ihm zu haben, so wie er ihn anstarrte. Zu Jius Überraschung hob Urs die Hände – die Wasserkästen hatte er längst abgestellt – und begann in Gebärdensprache zu reden.
Ohne nachzudenken hob er ebenfalls die Hände und signalisierte: „Hallo Urs. Ich freue mich, dich kennenzulernen.“
Die Reaktion fiel mindestens genauso heftig aus, als hätte Jiu sich die Klamotten vom Leib gerissen, um nackt auf den Küchentisch zu springen und lautes Wolfsgeheul auszustoßen. Urs entglitten die Gesichtszüge. Mit offenem Mund und geradezu panischem Entsetzen starrte er Jiu an. Dann wirbelte er herum und floh. Die Küchentür schlug krachend zu. Ebenso verblüfft wie erschrocken sah Jiu ihm hinterher, unfähig, sich zu rühren. Was war denn das gerade gewesen?
Urs lehnte sich gegen die Wand. Sein Zimmer grenzte direkt an die Küche und er konnte jedes Wort verstehen, das darin gesprochen wurde, wenn er das Ohr nachdrücklich genug gegen die Mauer presste.
„Woher kannst du Zeichensprache?“, fragte Kai gerade.
„Meine Oma war taubstumm“, entgegnete der Fremde. „Ich bin damit aufgewachsen, mich auf diese Weise mit ihr zu unterhalten, denn meine Großeltern wohnten unmittelbar neben uns. Leider sind beide tot.“
„Ah, okay.“ Das war Dorle. Urs konnte regelrecht spüren, dass sie lächelte. Dorle lächelte immer. Das war ihre wichtigste Überlebensstrategie. „Urs hört das Gras wachsen. Er redet bloß nicht. Diese Geschichte darf ich allerdings nicht erzählen. Vielleicht erfährst du sie von ihm selbst, wenn er sich erst einmal an dich gewöhnt hat. Davon auszugehen ist nicht, er hat sie seit zig Jahren niemandem mehr anvertraut. Halte dich zurück und sprich bitte normal mit ihm. Er kommt nicht gut damit klar, ohne Vorwarnung auf Zeichensprache angeredet zu werden.“
„Ich verstehe“, murmelte der Fremde. Ein Asiate. Jung. Jünger als sie alle. Oder vielleicht wirkte er auch bloß so. Asiaten sahen grundsätzlich jung aus.
Urs wandte sich um. Zwang sich, von der Wand abzurücken. Fremde in der Wohnung empfand er als Bedrohung. Es würde eine Weile dauern, bis dieser Asiate keine Bedrohung mehr war.
Er beherrschte Gebärdensprache.
Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.
Urs konzentrierte sich, wie er es gelernt hatte. Manchmal half es.
Ein. Aus. Ein. Aus.
Ja, heute schien ein guter Tag zu sein. Der Knoten in seinem Bauch lockerte sich etwas. Das Flimmern vor seinen Augen hörte auf. Die Attacke verebbte, ohne ihn zuvor in die Knie zu zwingen.
Ein guter Tag.
Er richtete sich auf und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
Wie fühlt sich asiatische Haut an?
Wo kam denn dieser Gedanke her? Haut war Haut, egal ob europäisch, afrikanisch, mongolisch oder sonstwas. Genau wie Knochen Knochen waren.
Und ein Herz ist ein Herz.
Knurrend vor Ungeduld mit sich selbst marschierte Urs zum Schreibtisch. Er hatte genug Arbeit, Geld verdiente sich naturgemäß nicht von allein. Arbeit half, um dumme Gedanken zu vertreiben.
Zumindest hoffte er das.
„Damit wäre es besiegelt“, sagte Dorle feierlich und nahm den Vertrag in Empfang, den Jiu gerade unterschrieben hatte. Sie blickte auf die Unterschriftenzeile und stutzte.
„Ist das dein Ernst?“, fragte sie und starrte ihn an. Ihre sorgfältig geschminkten Augen wirkten plötzlich derartig riesig, dass er lachen musste.
„Falls du meinen Nachnamen meinst: Ich habe mich dir damit am Telefon vorgestellt. Es sollte dich also nicht überraschen, dass ich Meier heiße.“
„Shinjiro Meier. Äh – wie ist das denn passiert?“
Jiu setzte sich wieder, nachdem er gerade aufgestanden war, um die Orangensaftgläser einzusammeln.
„Ich bin adoptiert“, erklärte er. „Mein Vater hat Selbstmord begangen, kurz bevor ich geboren wurde. Warum, weiß ich nicht. Meine Mutter hat mich zu Hause zur Welt gebracht, allein und ohne jede Hilfe. Sie hat mich abgenabelt, gewaschen, gewickelt, angezogen, einen Brief neben mich gelegt und ist danach verschwunden, ohne die Wohnungstür fest zu verschließen. Dem Brief nach wollte sie zurück nach Japan. Ob sie dort angekommen ist, ob sie eine Familie hatte, die ihr helfen konnte, ob sie noch lebt, wie es ihr heute geht – nichts davon weiß ich. Ich will es auch nicht wissen.“ Er lächelte, um die Lüge zu überspielen. Natürlich interessierte es ihn. Es war genetisch unmöglich, sich nicht für seine Eltern zu interessieren. Die Wurzeln, von denen man abstammte, formten die Welt. Er verdrängte dieses Bedürfnis, weil er davon ausging, dass ihm nichts als Schmerz begegnen würde, sollte er nach der Frau suchen, die ihn geboren hatte.
„Ich wurde von Deutschen adoptiert, nachdem ich von Nachbarn gefunden wurde, die sich wegen der offenen Tür Sorgen machten. Eine Weile war ich bei Pflegeeltern, bis man sicher war, dass alles seine Richtigkeit hat. Seit meinem vierten Lebensmonat bin ich bei meinen Eltern aufgewachsen. Den Vornamen hatte meine leibliche Mutter im Brief vorgegeben. Dagegen wollten meine Eltern sich nicht stellen, darum ist das der offizielle Name. Den benutzt niemand, selbst in der Schule war ich für jeden Jiu.“
„Und mit der japanischen Kultur hast du gar nichts am Hut?“, fragte Kai.
„Wenig. Wenn ich mich damit befasse, sperrt sich irgendwas in mir und ich muss abbrechen. Ich sehe auch nicht gerne andere Japaner. Wahrscheinlich weiß ich deutlich weniger über Japan als die meisten Deutschen. Ich lese keine Mangas, ich finde Sushi unglaublich langweilig mit diesem trockenen Reis und den rohen Fischhappen und den wahlweise ekligen oder viel zu scharfen Saucen. In meinem Kopf bin ich deutsch, egal was meine Gene behaupten.