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Kommissar Schiller möchte nur eines tun: sich um seine kranke Frau Carla kümmern. Doch dann wird die Intendantin des Theaters ermordet. Der Täter tötete sie mit dem Pfeil einer Armbrust – und nahm ihre Schuhe mit. Da sie mehr Feinde als Freunde hatte, scheint die Liste der Tatverdächtigen schier endlos. Doch einer ist besonders verdächtig: der Schauspieler Lars Becker. Ausgerechnet mit ihm hat Birte Jessen, Schillers Kollegin, die Nacht verbracht. Wenig später wird ein zweiter Theatermann ermordet – und wieder ist der Tote barfuß …
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Seitenzahl: 319
Kommissar Schiller möchte nur eines tun: sich um seine kranke Frau Carla kümmern. Doch dann wird die Intendantin des Theaters ermordet. Der Täter tötete sie mit dem Pfeil einer Armbrust – und nahm ihre Schuhe mit. Da sie mehr Feinde als Freunde hatte, scheint die Liste der Tatverdächtigen schier endlos. Doch einer ist besonders verdächtig: der Schauspieler Lars Becker. Ausgerechnet mit ihm hat Birte Jessen, Schillers Kollegin, die Nacht verbracht. Wenig später wird ein zweiter Theatermann ermordet – und wieder ist der Tote barfuß …
Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman "Rote Frauen", der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.
Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über "Matthias Brasch". Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.
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Reinhard Rohn
Barfuß in Köln
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1. Teil
1.
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3.
4.
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6.
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8.
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10.
11.
12.
13.
14.
15.
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17.
18.
19.
2. Teil
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
Epilog
Impressum
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»Schlechte Menschen werden nicht
immer aus einem guten Grund ermordet.«
Graham Greene
Er sagte sich, dass er gar nicht in Köln aussteigen müsste; er könnte weiterfahren, über die Brücke, die Augen schließen und den Dom nicht anschauen. Der Zug fuhr weiter nach München. In München war er nur kurz für einen harmlosen Auftrag mit Juri gewesen; München sollte viel schöner sein als Köln.
Aber er wusste, dass er es nicht tun würde. Er war gekommen, um auszusteigen.
Er wollte das Grab seiner Mutter sehen, wollte an den Ort zurück, wo er sein Leben weggeworfen hatte. Kurz dachte er an die Prinzessinnengärten in Berlin. Zum ersten Mal hatte er etwas Vernünftiges in seinem Leben getan. In einer Bar an der Oranienstraße hatte er vor sechs Wochen Nora getroffen, eine blasse, wortkarge Frau mit einem Rosen-Tattoo auf der Schulter; sie hatte ihn noch am selben Abend mit in ihre Wohnung genommen. Wenn man das Fenster aufmachte, konnte man die U-Bahn, die hier nicht unter der Erde verlief, vorbeifahren sehen. Sie hatten zusammen geschlafen, und dann hatte sie ihm von den Gärten erzählt, mitten in der Stadt, am hässlichen Moritzplatz. Bis dahin hatte er sich nie für irgendwelche Pflanzen interessiert; er wusste, wie eine Sonnenblume aussah, aber sonst? Sie bauten Gemüse an, züchteten Bäume, kümmerten sich um Bienen, und mittags kochten sie und boten ein billiges Essen an. Sechs Wochen hatte er beinahe jeden Tag in den Gärten gearbeitet, eine einfache, sinnvolle Arbeit getan. Er war so glücklich gewesen wie noch nie in seinem Leben. Nora machte sich etwas aus ihm. Er war praktisch bei ihr eingezogen, ging nur noch zum Wäschewechsel in sein winziges Zimmer am Kottbusser Tor.
Sie hatte ihn Boris genannt.
Doch plötzlich, vor zwei Nächten, hatte er gewusst, was er tun musste.
Er musste zurückkehren.
Er war ein Mörder und würde es immer bleiben.
Noras Geruch war eine Erinnerung, die er wie einen Schatz hüten wollte. Morgens hatte sie ihn im Halbschlaf kurz angesehen.
»Ich komme bald zurück«, hatte er ihr zugeflüstert und ihr Tattoo geküsst. Eine Lüge. Er würde nicht zurückkommen – oder wenn, würde es Jahre dauern.
Sie hatte kurz genickt und die Augen sofort wieder geschlossen. Er hatte ihr einen Briefumschlag mit zwanzigtausend Euro dagelassen, den sie vermutlich nicht anrühren würde.
Als er ausstieg, ging er sofort zum Dom hinüber. Er hatte nur seinen Rucksack dabei. Es war kurz vor eins. Die Sonne schien. Im Dom war es wohltuend kühl.
Seine Mutter hatte an Gott geglaubt, sein Vater nur an den Alkohol, eine Flasche Wodka war für ihn wie ein Gott gewesen. Kasachstan war ein vom Alkohol verfluchtes Land. Sein Vater hatte geflucht und geprügelt, wenn er betrunken nach Hause gekommen war. Bis er eines Tages zurückgeschlagen hatte. Da war er fünfzehn gewesen. Nun war er achtundzwanzig. Zeit, Ordnung in sein Leben zu bringen.
Im Dom zündete er vier Kerzen an; eine für Nora, eine für seine Mutter, eine für Violetta, die Polin, die geglaubt hatte, dass er sie heiraten würde, und eine für den ersten Mann, den er getötet hatte.
Nein, fiel ihm dann ein, er musste auch eine Kerze für sich selbst aufstellen. Für das, was er vorhatte, würde er all seine Kraft brauchen.
Juri würde ihn nicht finden.
Sie hatte geschrien, so laut, dass ihre Stimme von den Wänden widerhallte. Für einen Moment hatte sie sich erschreckt. Früher, mit Martin, hatte sie gestöhnt, geseufzt, hatte sanft seinen Namen geflüstert, aber nie hatte sie geschrien, wenn sie sich geliebt hatten. Aus schlechten Filmen kannte man diese Lustschreie, hatte sie gedacht. Doch nun war es ihr mit diesem Mann passiert, den sie gar nicht kannte.
Er war spät abends im Lapidarium am Eigelstein aufgetaucht, irgendwann hatte er neben ihr gestanden und hatte sie müde angelächelt. »Ich heiße Ben«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. »Wer bist du? Ich habe dich hier noch nie gesehen.«
»Ich gehe auch nie in solche Kneipen«, hatte Birte Jessen entgegnet.
»Und warum bist du jetzt hier?« Er hatte gelächelt, ein großer, dünner, schwarzhaariger Mann, den ein Geheimnis umgab. Ja, so hatte er auf sie gewirkt – geheimnisvoll und gleichzeitig ehrlich. Er war attraktiv, hatte ein paar interessante Falten um die dunklen Augen und den Mund. Ein Schweiger, dachte sie. So einer redet nicht viel.
»Ich habe mich gelangweilt«, erwiderte sie und nahm das Glas Kölsch, das er ihr reichte.
Er hatte nur die Augenbrauen in die Höhe gezogen. Im Hintergrund hatte ein Mann Gitarre gespielt, kölschen Blues. So etwas gab es in dieser Stadt. Es musste halb vier gewesen sein, als sie die Kneipe zusammen verließen.
Irgendwie war klar gewesen, dass sie in seine Wohnung fahren würden.
Ich bin sonst nicht so, hatte sie ihm nicht gesagt. Ich habe mich nur einmal zu einem One-Night-Stand hinreißen lassen, und diese Nacht ist in einer Katastrophe geendet. Doch seit sie ihr Kind verloren hatte, war alles anders.
Das Gefühl der Leere trieb sie in solche Kneipen – um der Stille und Leere zu entgehen, tat sie Dinge, die ihr früher im Traum nicht eingefallen wären.
Birte Jessen war überrascht gewesen, als das Taxi sie in die Südstadt fuhr, vorbei an den superschicken Kranhäusern. Wohnte Ben etwa hier? Medien, hatte er ziemlich vage auf ihre Frage erwidert, mit was er sein Geld verdiene. Sie hatte sich als Geigenbauerin ausgegeben, eine Lüge, die ihr plötzlich gefiel. Und weil sie die Lüge noch größer machen wollte, hatte sie hinzugefügt, ihr Mann baue auch Geigen.
Ben hatte sie zu den alten Speicherhäusern geführt. Ihr Gerede von einem Ehemann hatte ihn nicht abgeschreckt. Mit dem Fahrstuhl waren sie hinaufgefahren, und plötzlich hatte sie sich gegen seine Brust gelehnt und mit den Tränen gekämpft, aber er hatte es nicht gemerkt.
Die Wohnung war groß und vollkommen leer. Nur die Küche war eingerichtet – Chrom und Glas und eine silbern schimmernde Kochinsel inmitten des Raumes. Im Wohnzimmer standen als einziges Mobiliar ein riesiger Flachbildschirm und ein teures, nagelneues Ledersofa. Im Schlafzimmer befanden sich eine Matratze mit zerwühltem Bettzeug und ein eingebauter Spiegelschrank. Jeder andere Mann hätte sich sogleich für den Zustand der Wohnung entschuldigt oder ihr eine Erklärung geboten. Ben jedoch hatte ihr ein Glas Wasser gereicht, als wäre sie eine Verdurstende, und dann hatten sie sich auf der Matratze gegenseitig im Dunkeln ausgezogen. Vor einer lang gestreckten Fensterfront schwebte ein sanftes Licht, das von einem halben Mond oder einer Laterne stammen konnte. Es roch nach Diesel; von irgendwoher war das Tuckern eines Schiffsmotors zu hören. Sein magerer Körper hatte ihr gefallen und auch die Art, wie er sie an den Hüften packte und wie er ihre Brust mit seiner Zunge liebkoste.
Er war so anders als Hinrichs, der Pressesprecher der Kölner Polizei, ihr erster One-Night-Stand – eine Art Gegengift. Ja, so redete sie sich ein, sie tat das alles, um endlich diesen verdammten Schatten loszuwerden, den Hinrichs auf sie warf. Er verfolgte sie, lief ihr nach, bedachte sie mit verdeckten Komplimenten und Beschimpfungen. Und nun hatte er auch noch durch eine unbedachte Bemerkung von Nele Kracht, ihrer Assistentin, erfahren, dass sie schwanger gewesen war und ihr Kind bei dem letzten großen Einsatz verloren hatte.
Als Ben eine Zigarette geraucht hatte, war sie eingeschlafen. Lüge, hatte sie gedacht, irgendwie ist alles Lüge und falscher Schein. Sie war ein wenig betrunken, aber nicht so sehr, wie sie es sich wünschte.
Gegen sieben war Birte aufgewacht und hatte sich aus der Wohnung geschlichen, und nun ging sie an den Kranhäusern vorbei und blickte auf den schmutzig grauen Rhein. Vielleicht sollte sie einmal auf den Strom hinausrudern, nicht immer nur auf den Fühlinger See; allein in einem Skiff, gegen die Wellen ankämpfen, die von den Lastkähnen verursacht wurden, und sich völlig verausgaben, wie damals in ihrer Jugend, als sie mit drei Freundinnen Regatten gefahren war und fast immer gewonnen hatte.
Wenn sie ehrlich war, war neben dem Dom der Rhein das Einzige, was ihr wirklich an Köln gefiel. Wie oft hatte sie schon daran gedacht, nach Hamburg zurückzukehren, sich in St. Georg oder im Schanzenviertel eine Wohnung zu nehmen, aber Martin war tot, und vor Kurzem war auch seine Mutter gestorben. Ihre Wohnung und das Atelier auf St. Pauli, wo sie ihre Geigen gebaut hatten, existierten nicht mehr.
Birte überlegte, auf der Rheinuferstraße ein Taxi anzuhalten. Sie kam sich ungewaschen vor und brauchte dringend einen Kaffee. Als ihr Mobiltelefon klingelte, dachte sie sofort an Ben. Er vermisste sie, dann fiel ihr ein, dass sie ihm ihre Nummer gar nicht gegeben hatte. Er wusste nichts von ihr, nicht einmal ihren richtigen Vornamen. Sie hatte sich Heidi genannt – wie dieses blonde, geschäftstüchtige Fotomodell, das immer in der Zeitung stand.
»Hallo, Bella«, sagte eine dunkle, unausgeschlafene Stimme. Auch Jan Schiller hatte offenbar eine kurze, schwierige Nacht verbracht. »Wieso bist du nicht zu Hause?«
Birte räusperte sich. »Ich mache einen Spaziergang«, sagte sie unfreundlich. »Sehe mir die Stadt an. Ist Samstag – mein freier Tag.«
Sie hörte, wie er einen Schluck Kaffee trank – er war ein Kaffeesüchtiger und kippte an manchen Tagen, wenn sie Dienst hatten, ein, zwei Liter von dieser schwarzen Brühe in sich hinein.
»Tut mir leid«, sagte er ein wenig spöttisch. »Wird heute nichts mit Shoppengehen oder Schönheitsschlaf. Warst du schon mal im Theater?«
Sie schwieg. Ein erster Jogger rannte an ihr vorbei, und im Innern des Olympiamuseums sprangen die Lichter an.
»Da müssen wir hin«, fuhr Jan fort. »Schauspielhaus – wir haben eine Tote.«
Jan Schiller fühlte sich beobachtet, als er auf die Straße trat. So war es ihm in den letzten Tagen häufiger gegangen, als würde ihn jemand verfolgen und beschatten.
Die Paranoia greift um sich, dachte er bitter.
Carla und er wohnten wieder unter einem Dach in ihrer gemeinsamen Wohnung in der Sülzburgstraße, doch von neuer Liebe und Zweisamkeit konnte keine Rede sein.
Carla war krank. Seit ein Mörder sie in einem alten Rauchhaus in der Eifel tagelang in völliger Dunkelheit gefangen gehalten hatte, konnte sie kaum mehr auf die Straße gehen. Nachts musste er das Licht brennen lassen; jede Art von Dunkelheit ließ sie zittern und verursachte ihr Schweißausbrüche. Sie war eine andere geworden. Ein Besuch im Cinenova in Ehrenfeld, ihrem Lieblingskino, war zur Katastrophe geworden. Kaum war das Licht gelöscht worden, hatte sie neben ihm Atemnot bekommen; er hatte gehört, wie sie zu keuchen und zu würgen begann. Andere Paare in ihrer Nähe hatten entrüstet gezischt, und dann war Carla förmlich über sie gesprungen und hatte sich im Foyer übergeben müssen.
Seit fünf Wochen ging das schon so, und nun hatte sie, die erfolgreiche Kindertherapeutin, selbst eine Therapie beginnen müssen.
Außerdem hatte er sie zweimal dabei ertappt, wie sie mit Gabriel Hagen redete, dem alten Schriftsteller, der über ihnen gewohnt hatte. Gemeinsam mit Hagen hatte Carla einen vermeintlichen Kinderschänder zur Strecke bringen wollen – Hagen hatte es mit dem Leben bezahlt. Nun machte sie sich Vorwürfe, an seinem Tod schuld zu sein. Schiller versuchte es ihr auszureden, aber vergeblich. Manchmal meinte er, dass sie jedes tröstende Wort, das er ihr sagte, wie eine weitere Verwundung empfand.
Verdammt, er war kein Therapeut – er wollte einfach nur mit ihr zusammenleben und glücklich sein.
Als der Anruf aus dem Präsidium kam, dass man im Schauspielhaus eine Leiche gefunden hatte, war er beinahe froh, die Wohnung verlassen zu können. Er hatte auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen – im Dunkeln.
Schiller hatte keine Ahnung, wann er das letzte Mal im Theater gewesen war. Carla hatte ihn einmal mitgeschleppt. Peer Gynt – die Geschichte eines eitlen, halb wahnsinnigen Norwegers, die von der Regisseurin in ein Altenheim verlegt worden war. Er wäre am liebsten in der Pause an der Bar stehen geblieben, aber Carla hatte ihm unbedingt die Szene mit der Zwiebel zeigen wollen, die ihn dann jedoch nicht besonders beeindruckt hatte. Der irre Norweger schälte eine Zwiebel und stellte fest, dass sie nur aus Hüllen besteht, aber keinen Kern besitzt. Eine fulminante Erkenntnis!
Schiller fuhr über die Nord-Süd-Fahrt heran, drehte am 4711-Haus und parkte direkt vor dem Schauspielhaus, einem hässlichen, unscheinbaren Bau, der eigentlich abgerissen werden sollte. Nun hatte man sich offenbar dazu entschieden, das Haus lediglich zu renovieren. Zwei uniformierte Beamte standen vor der Tür und nickten ihm zu. Einer begleitete ihn am Aufgang zu den Zuschauerräumen vorbei hinter die Bühne. Sie gingen einen dunklen Betongang entlang, in dem es muffig roch und der von nackten Neonröhren erleuchtet wurde.
»Der Hausmeister hat die Leiche entdeckt«, sagte er. »Er hat noch den Notruf absetzen können, dann ist er zusammengebrochen. Er liegt in der Uniklinik.«
Schiller nickte. Verstohlen schaute er sich nach einem Kaffeeautomaten um. So früh am Morgen würde er ohne einen Kaffee kaum auf Touren kommen.
Bert Cremer, neben Birte Jessen der Dritte in ihrem Team, war schon da; er stand an der Tür und wischte sich müde über das Gesicht. Eigentlich war er der Frühaufsteher unter ihnen.
»Sieht übel aus, die Lady«, sagte er und machte einen Schritt zur Seite.
Schiller blickte in ein mittelgroßes, fensterloses Büro. Zuerst sah er einen vollgekritzelten Wandkalender, daneben gerahmte Fotos – manchmal lächelnde, manchmal ernst schauende Schauspieler. Einige Gesichter meinte er zu kennen. Dann glitt sein Blick zu einem sehr aufgeräumten, fast leeren Schreibtisch, auf dem ein zugeklappter Laptop stand, schließlich zu der Person, die daneben lag: eine schöne, schlanke Frau, schwarzhaarig, Anfang vierzig. Ihre dunklen Augen blickten starr zur Decke, sie trug ein schwarzes Kleid und lag mit verdrehten Beinen da; aus ihrer Brust ragten zwei Pfeile.
»Sie ist wahrscheinlich verblutet«, sagte Cremer und deutete in das Zimmer. »Der Hausmeister hat gemeint, die Armbrust hat an der Wand gehangen.« Er seufzte. »Da musste der Täter nicht lange nach einer Waffe suchen.«
Eine antik aussehende Armbrust war sorgsam drei Meter neben der Leiche abgelegt worden. Schiller schloss für einen Moment die Augen. Das Bild des Tatorts hatte sich bereits in sein Gehirn eingebrannt. Die Leiche lag in einem Theater, und wie inszeniert sah dieser Mord aus, als würde der Täter sich in diesem Metier bestens auskennen.
»Sie ist barfuß«, fuhr Cremer fort. »Trägt keine Schuhe, aber vielleicht gehörte sie zu diesen Leuten, die am liebsten barfuß laufen.«
Schiller öffnete die Augen wieder. Für einen Moment dachte er an Carla. Er musste sie anrufen. Er hatte ihr nicht Bescheid gesagt. Wenn sie aufwachte, würde sie sich in einer leeren Wohnung wiederfinden.
»Wer ist die Frau?«, fragte er.
Cremer schnaubte, und eine Frauenstimme sagte: »He, Jan, du hast wirklich keine Kultur. Sie ist Inka Boog, die Intendantin, ein Genie und eine Hexe – so steht es jedenfalls in der Zeitung.«
Birte Jessen stand hinter ihnen in der Tür.
Sie sieht krank aus, dachte Schiller, als er sich zu ihr umwandte, fast so krank wie Carla. Es war seltsam. Dass sie ihr Kind, das sie eigentlich nicht hatte haben wollen, verloren hatte, schien sie aus der Bahn geworfen zu haben. Wo habe ich dich am Telefon erwischt?, wollte er sie fragen. Zu Hause in ihrer schicken Wohnung am Hermeskeiler Platz war sie jedenfalls nicht gewesen.
»Seit wann kennst du dich mit Theater aus?«, fragte er unfreundlicher, als er klingen wollte.
Birte verzog das Gesicht. Hinter ihr tauchte Schultke von der Spurensicherung mit zwei Männern auf. Sie hatten schon ihre obligatorischen weißen Papieranzüge übergestreift. Nun musste nur noch Schroeter, der Rechtsmediziner, erscheinen. Und wahrscheinlich würde sich auch jemand von der Staatsanwaltschaft blicken lassen.
»Eigentlich sollte ich heute mit meinen Kindern Schuhe kaufen gehen – mit allen sieben«, sagte Schultke und lächelte. »Was für ein Glück, dass ihr mich gerufen habt!«
Im nächsten Moment klingelte ein Handy. Sofort dachte Schiller an Carla. Sie wollte wissen, wo er abgeblieben war, doch das Summen drang vom Schreibtisch. Neben dem Laptop lag ein iPhone, wie ihm erst jetzt auffiel. Mit drei Schritten war er im Zimmer. Gegen seinen Willen warf er einen Blick auf die Tote, die trotz der blutigen Pfeile in der Brust ungeheuer schön war, und ging an den Apparat.
Er brachte ein tonloses »Ja?« heraus.
»Was soll das?«, sagte eine aufgebrachte Männerstimme. »Wo bist du? Bist du mit zu ihm gegangen? Du hättest diese Nacht mit mir verbringen müssen …« Der Mann verstummte, es hörte sich an, als würde er an einer Zigarette ziehen. »Ich wünschte«, setzte er dann hinzu, »ich könnte ohne dich leben.«
»Wer sind Sie?«, fragte Schiller. Er spürte die Blicke der anderen auf sich gerichtet, und irgendwie hatte er das Gefühl, auch die Tote würde ihn anschauen.
»Was ist los?«, fragte der Mann, nun überrascht. »Habe ich mich verwählt? Spreche ich gar nicht mit dir, Inka?«
»Nein«, erwiderte Schiller. »Hier spricht Jan Schiller, Hauptkommissar bei der Kölner Polizei.«
Jan machte sich tatsächlich auf, um irgendwo im Haus einen Kaffee zu besorgen. Birte beobachtete von der Tür, wie Schroeter an die Arbeit ging. Grauer von der Spurensicherung begann Fotos zu machen, und später würde vermutlich auch Hinrichs auftauchen. Als Pressesprecher der Kölner Polizei nutzte er jede Gelegenheit, sich ihr zu nähern.
»War das Kind von mir?«, hatte er sie gestern Abend am Telefon gefragt. Als sie aus dem Fenster geblickt hatte, hatte sie gesehen, dass er in ihrem Innenhof stand, an dem künstlich angelegten Teich, und zu ihr heraufschaute. Ein Schauer war ihr über den Rücken gefahren.
»Nein«, hatte sie gesagt. »Nicht von dir …«
»Von wem dann?« Er hatte die Worte förmlich ins Telefon gespien.
Es geht dich nichts an, hatte sie erwidern wollen. Wie kommst du darauf, dass du irgendwelche Rechte hast, etwas über mich zu wissen, nur weil wir einmal zusammen ins Bett gestiegen sind? Aber sie fühlte sich zu schwach, um ihm auf die harte Tour zu kommen.
»Es gibt noch einen anderen Mann – in Hamburg«, hatte sie beinahe schuldbewusst geflüstert.
Dann war sie durch die Tiefgarage zur Straßenbahnhaltestelle gelaufen und in die Stadt geflohen. Das Licht in ihrer Wohnung hatte sie brennen lassen.
Als ihr Handy klingelte, fürchtete sie, Hinrichs habe schon von diesem neuen, spektakulären Fall erfahren. Manchmal schien er ihre Gedanken lesen zu können.
»Bella«, sagte Jan, »du siehst so traurig aus. – Komm mal auf die Empore. Hier hat offenbar eine Party stattgefunden.«
»Bin schon auf dem Weg«, erwiderte Birte. Sie unterbrach die Verbindung und sah Schroeter, den Rechtsmediziner, mit seinem Metallkoffer den Gang entlangkommen. Er nickte stumm, bevor er in das Büro der Intendantin eilte. Plötzlich fragte Birte sich, warum sie nicht mit ihm ins Bett gegangen war. So ein Mann, groß, blond und selbstbewusst, hätte ihr nicht solche Schwierigkeiten gemacht, aber dann wischte sie diesen absurden Gedanken beiseite. Was war los mit ihr – wieso kam ihr überhaupt so eine Frage in den Sinn?
Vor dem Eingang standen drei Frauen mit blassen, ratlosen Gesichtern. Eine trug ein Kopftuch und war offenbar Türkin.
»Sie sind einbestellt worden – sollten hier heute früh putzen«, rief einer der beiden Polizisten ihr zu, der ihren fragenden Blick bemerkt hatte und zur Sicherung des Tatorts abgestellt war.
»Schicken Sie die Frauen nach Hause«, erklärte Birte. »Sie sollen am Nachmittag wiederkommen.«
Vor dem Haus hatten sich die ersten Schaulustigen eingefunden. Lange würde es nicht mehr dauern, dann würde auch die Presse von diesem Mord Wind bekommen. Eine tote Intendantin war eine fette Schlagzeile wert.
Mit einem Kaffeebecher in der Hand stand Jan am Ende der Treppe und blickte zu einer langen Theke hinüber, an der für gewöhnlich die Theatergäste in der Pause mit Sekt und Mineralwasser versorgt wurden. Nun sah die Szenerie wie ein Schlachtfeld aus: überall Flaschen und leere Gläser, umgeworfene Aschenbecher, ein vergessener Schal und sogar eine blaue Bluse. Auch vor der Theke, auf kleinen Tischen und zwischen Sesseln waren überall Flaschen verstreut.
»Kein Wunder, dass unten drei Putzfrauen warten«, erklärte Birte.
Jan nickte und trank von seinem schwarzen, süßen Kaffee, dann hielt er ihr den Pappbecher hin. Dankbar nahm sie einen Schluck.
»Hier wurde richtig gesoffen – merkwürdiger Ort für eine Party.« Jan blickte hinter sich, als hätte er gespürt, dass ihn jemand anschaute. Ein Mann schleppte sich die Treppe hinauf, die Hand am Geländer, als hätte er Angst zu stürzen. Birte glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Der Mann blieb auf der letzten Stufe stehen und blickte in den weitläufigen Raum, aber anscheinend, ohne sie zu registrieren. Er war offenkundig außer Atem, ein Raucher mit grauer Haut, schütteren blonden Haaren, vielleicht Anfang sechzig.
»Wo ist sie?«, fragte er heiser. »Wo ist Inka?«
»Ich bin Hauptkommissar Schiller«, sagte Jan.
»Edgar Blaschek«, erwiderte der Mann tonlos, immer noch ohne jeden Blick für sie. Mit einiger Mühe nahm er die letzte Stufe.
Birte begriff, dass er der Anrufer war, mit dem Jan am iPhone der Toten gesprochen hatte.
»Der Mord ist in ihrem Büro passiert«, sagte Jan leise. »Leider haben wir noch keine Spur …«
Blaschek lehnte sich gegen die Wand und zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner gelben Cordhose, die so verknittert aussah, als hätte er in ihr geschlafen. Er inhalierte tief.
»Ich habe es immer geahnt«, sagte er, »dass jemand irgendwann einmal seine Wut an ihr auslässt … Sie war einfach zu extrem, zu egomanisch … Aber doch nicht an ihrem fünfzigsten Geburtstag.« Er nahm einen weiteren tiefen Zug.
Jan deutete in den Raum. »Das hier war eine Geburtstagsfeier?«, fragte er.
Blaschek zog erneut an seiner Zigarette. Er nickte. Birte bemerkte, dass seine Augen rot unterlaufen waren und seine Hände zitterten.
»Nicht die eigentliche Feier, die sollte am nächsten Wochenende stattfinden … im Alten Wartesaal … Inka wollte alle Mitglieder des Ensembles begrüßen. Die neue Spielzeit beginnt in drei Wochen, aber dann …« Er brach ab und drückte seine Zigarette auf dem Geländer aus, bevor er sie achtlos zu Boden warf.
»Dann?«, versuchte Jan ihm auf die Sprünge zu helfen. Von unten waren Stimmen zu hören. Offenbar hatte Schultke noch mehr Leute angefordert; aber wenn sie auch hier Spuren sichern müssten, würden sie noch ein paar Tage zu tun haben.
»Dann ist alles aus dem Ruder gelaufen … Wir hatten alle schon ziemlich getrunken, und Inka hat eine ihrer berüchtigten Reden gehalten. ›Ich bin die Sonnenkönigin, und die anderen sind alles Stümper.‹ So etwas hat sie gern gemacht. Hat sich die Kollegen in den anderen Häusern vorgenommen – den schleimigen Koneffke in Berlin, den Großkotz Stiegler in Hamburg und dann die Stadttheater der Republik. Das war ihre liebste Beleidigung – besonders für Schauspieler und Dramaturgen. ›Geh doch ans Stadttheater nach Osnabrück!‹ Wer das dreimal gehört hatte, wusste, dass er auf der Abschussliste stand, und schaute sich besser nach einem neuen Engagement um.«
Blaschek fingerte fahrig nach der nächsten Zigarette. Birte fiel auf, dass überall Verbotsschilder hingen.
»Wieso ist alles aus dem Ruder gelaufen?«, fragte Jan ungeduldig.
Blaschek lächelte. »Ich bin übrigens aus Osnabrück – habe da am Theater angefangen. Mein Vater war Kapellmeister, hat sogar mal eine Oper komponiert, die allerdings nur zehnmal aufgeführt worden ist, weil sie zu schwierig zu spielen war. Nun ja … So war jede Beleidigung auch immer gegen mich gerichtet.« Er schob sich die Zigarette kalt zwischen die Lippen.
Was hat dieser Mann mit einer schönen und zumindest in ihren Kreisen mächtigen Frau wie Inka Boog zu tun?, fragte Birte sich und glaubte, die Antwort schon zu kennen. Er war der geborene Lakai, der Kofferträger und Seelentröster, ohne den auch eine Frau wie die Intendantin nicht auskam.
»Irgendwann hat Inka sich den jungen Becker vorgenommen; sie hat ihn ausgezogen, und dann … Nun, wenn ich sage, dass sie übereinander hergefallen sind, ist das wohl eine glatte Untertreibung. In einem Pornoschuppen muss man für so etwas richtig viel Geld bezahlen, aber hier bei uns … Die Party war schlagartig zu Ende. Es macht irgendwie keinen Spaß, Leuten beim Vögeln zuzusehen.« Blaschek verzog für einen Moment das Gesicht, als hätte er Schmerzen.
»Wie viele Leute waren hier?«, fragte Jan. Er hatte ein Notizbuch hervorgenommen.
»Achtzig, neunzig … Keine Ahnung.« Blaschek hatte plötzlich Mühe zu atmen. »Wo ist sie?«, fragte er heiser. »Ich muss sie sehen. Hat man sie erwürgt oder wie …« Er zerrte an seinem schwarzen Hemd und stöhnte.
Birte hatte das Gefühl, dass ihn allmählich das Begreifen erfasste, dass seine Chefin wirklich tot war, dass es sich nicht um ein Spiel, eine Inszenierung handelte.
»Der Rechtsmediziner und die Kollegen von der Spurensicherung sind noch bei der Arbeit«, erklärte sie sanft.
Jan war weniger rücksichtsvoll. »Wir brauchen alle Namen der Personen, die sich hier gestern aufgehalten haben. Aber zuerst benötige ich Ihre Angaben. In welcher Beziehung standen Sie zu der Toten?«
Blaschek lächelte matt, sodass man seine nikotingelben Zähne sehen konnte. »Ich bin ihr Chefdramaturg«, sagte er. »Und ihr Ehemann – seit fast vierundzwanzig Jahren.«
Die Tränen kamen Edgar Blaschek, als sie in seinem winzigen Büro saßen. Er hockte sich hinter seinen Schreibtisch, legte die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
Jan schaute Birte an. Sie runzelte die Stirn und machte eine beschwichtigende Geste, die sagen sollte: Gib ihm ein paar Minuten. Schließlich ist seine Frau ermordet worden.
Jan zuckte mit den Achseln. Geduld war eindeutig nicht seine Stärke.
»Ich muss sie sehen«, murmelte Blaschek vor sich hin. »Wie ist sie umgebracht worden?«
Birte schaute sich in dem winzigen Büro um. Überall stapelten sich Bücher und Zeitungen. Auf einem kleinen Tisch stand eine halb volle Flasche Wein, daneben lagen Fotos, Zeichnungen von Kostümen, die jemand mit einem Bleistift angefertigt hatte, und herausgerissene Zeitungsausschnitte. Auch der Schreibtisch war mit Papieren übersät. Der Computer darauf war alt und klobig und voller Kaffeeflecken. An der Wand waren achtlos Fotos mit Reißnägeln angesteckt worden. Szenen aus irgendwelchen Theaterstücken, nur ein Foto war gerahmt. Ein junger Edgar Blaschek hielt eine schöne schwarzhaarige Frau im Arm – Inka Boog. Anders als er hatte sie sich in den letzten Jahren nicht sehr verändert.
»Wie?«, murmelte Blaschek wieder. »Wie ist es passiert?« Nun blickte er auf und sah erst Jan, dann Birte an.
»Sie ist mit einer Armbrust getötet worden«, sagte Jan ohne jede Emotion. »Zwei Pfeile in die Brust. Was hat es mit dieser Waffe auf sich? Der Hausmeister hat ausgesagt, dass sie an der Wand im Büro Ihrer Frau gehangen hat.«
Für einen Moment verharrte Blaschek stumm. Er hob die Hände, nahm sie einen Moment später wieder herunter und faltete sie dann, als wolle er ein Gebet sprechen. »Mit der Armbrust? Ihrer Armbrust?«
Ein Handy klingelte – es gehörte Jan, wie Birte registrierte. Er reagierte jedoch nicht, sondern behielt Blaschek im Blick.
»Diese Armbrust stammt aus ihrer ersten großen Aufführung – ›Wilhelm Tell‹ in München an den Kammerspielen, vor mehr als zwanzig Jahren. Es war ihr Durchbruch. Ein anderer, provozierender, protziger Tell, der die Gewalt liebte, ein Stück am Rande des Skandals. In der letzten Szene, die es bei Schiller natürlich gar nicht gibt, hält Tell die Armbrust ins Publikum und feuert. Am Premierenabend haben zwei Zuschauer einen Herzinfarkt erlitten, aber danach war Inka der Regiestar und konnte sich aussuchen, was sie inszenieren wollte.«
»Seit dieser Zeit hängt diese Waffe in ihrem Büro an der Wand?«, fragte Jan ein wenig erstaunt.
Blaschek nickte, griff nach seinen Zigaretten und steckte sich eine an. Seine Hände waren voller Altersflecken und zitterten noch immer. »Sie hat als Erstes die Armbrust an die Wand genagelt. ›Es ist wie ein Fetisch für mich‹, hat sie einmal gesagt. Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Monstrum überhaupt funktioniert.«
Ziemlich gut sogar, hätte Birte beinahe geantwortet.
Blaschek schien sich wieder unter Kontrolle zu haben. Er schluchzte nicht mehr, sondern hielt sich an seiner Zigarette fest.
»Dass Tell ins Publikum schießen sollte, war eigentlich meine Idee«, sagte er, »aber so war es häufiger: Ich hatte die Idee, und Inka hat sich getraut, sie umzusetzen.«
Blaschek war jemand, der sich für zu kurz gekommen hielt, dachte Birte, das wahre Genie hinter dem scheinbaren.
Wieder klingelte Jans Telefon. Er warf einen sorgenvollen Blick auf das Display. Vermutlich versuchte Carla, ihn zu erreichen.
»Wir müssen auch nach Ihrem Alibi fragen«, sagte Birte, während Jan sich erhob und ohne ein Wort das Büro verließ. »Wann haben Sie in der Nacht das Theater verlassen?«
»Gegen ein Uhr«, erwiderte Blaschek. »Ich war ziemlich betrunken und bin gleich in unsere Wohnung in der Moltkestraße – zu Fuß. Und …« Er verzog das Gesicht und nahm einen Zug. »Nein, gesehen hat mich da keiner. Aber Sie sollten nicht denken, dass ich meine Frau … nur weil sie mich betrogen hat … So war unsere Beziehung nicht. Wir waren immer offen zueinander. Inka hat viele Liebschaften gehabt …« Er seufzte und hob die Hände in einer Geste der Verzweiflung.
»Aber es wird Sie nicht gefreut haben, Ihre Frau nackt auf einer Party mit einem fremden Mann zu sehen«, sagte Birte.
Jan kehrte mit missmutigem Gesicht zurück. »Die Wimschneider ist eben gekommen«, sagte er.
Birte nickte. Sie hatte es erwartet. Bei einem so spektakulären Fall würde sich die Staatsanwältin ein Bild vom Tatort machen wollen.
»Und unser werter Pressesprecher Hinrichs schleicht auch da draußen herum.« Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören. Jan war zum Glück der Einzige im Präsidium, der von ihrem One-Night-Stand wusste, der nun schon vier Monate zurücklag.
Birte spürte, wie sie zusammenzuckte und sich ihre Gedanken für einen Moment verirrten. Vermutlich hatte Hinrichs mitbekommen, dass sie die Nacht nicht in ihrer Wohnung verbracht hatte.
»Wann kann ich meine Frau sehen?«, fragte Blaschek nun bestimmter.
Jan winkte ab. »Wir brauchen eine Liste mit allen, die gestern auf dieser Party waren.«
Blaschek beugte sich vor und griff nach einem schmalen Katalog, den er vor Jan auf den Schreibtisch warf. »Hier ist unser Programmheft – da haben Sie Fotos von unserem Ensemble. Die Schauspieler waren fast alle da.«
»Und dann«, Jan griff gleichmütig nach dem Heft, »brauchen wir eine Liste mit den Menschen, die etwas gegen Ihre Frau hatten.«
»Ihre Feinde?« Edgar Blaschek machte ein überraschtes Gesicht. »So eine Liste kann es nicht geben – ich glaube, da müsste die Hälfte aller Theatermacher in diesem Land draufstehen.«
Sie stand vor dem Eingang zum Schauspielhaus und sah aus, als würde sie aus einer anderen Welt kommen – schwarz vermummt, mit einem schwarzen Kopftuch und ihrer größten Sonnenbrille. Schiller erschrak, als er sie sah. Das ist aus ihr geworden, dachte er, sie sah aus, als würde sie an einer Lichtallergie leiden, und das tat sie in gewisser Weise auch. Nachts konnte sie nicht im Dunkeln sein und tagsüber nicht im Licht. Fünf Tage Gefangenschaft hatten aus ihr einen anderen Menschen gemacht.
Während Birte mit Blaschek eine Liste zusammenstellte, wen sie von den Schauspielern als Ersten befragen sollten, ging Schiller auf den Vorplatz hinaus.
»Du hast mir nichts gesagt«, flüsterte Carla vorwurfsvoll. »Bist einfach so gegangen. Ich habe im Präsidium angerufen. Da hat mir jemand gesagt, wo du bist.«
Schiller versuchte sich an einer Umarmung, die Carla kühl über sich ergehen ließ.
»Ich wollte dich nicht wecken«, erwiderte er matt.
Carla nickte. Sie hatte sich geschminkt, was sie sonst fast nie tat; rote Lippen, Rouge auf den Wangen, dunkle Augenlider. Zum ersten Mal seit langer Zeit meinte er auch, den Duft von Lavendel an ihr wahrzunehmen – sie liebte diesen Geruch.
Vielleicht solltest du doch eine Weile wegfahren – nach New York –, und ich komme nach, wenn ich mit diesem Fall fertig bin, war Schiller versucht zu sagen, doch stattdessen erklärte er: »Ich bin noch eine Weile hier – die Intendantin ist ermordet worden.«
»Inka Boog?« Carla zog ihre Augenbrauen in die Höhe.
»Du kennst sie?« Schiller schien der Einzige zu sein, der keine Ahnung vom Theater hatte.
»Sie ist einmal mit ihrer Tochter bei mir gewesen – schwere Essstörungen. Aber zum zweiten Termin ist sie nicht erschienen.« Eine Erinnerung glitt über ihr Gesicht, und für einen Moment schimmerte die Zeit wieder durch, als sie anderen geholfen hatte und nicht selbst therapiert werden musste.
»Wann war das?«, fragte Schiller. Von einer gemeinsamen Tochter hatte Blaschek nichts erwähnt.
Carla zupfte an ihrem Kopftuch und blickte sich um. Ein Wagen fuhr auf das Schauspielhaus zu. Schiller glaubte, einen Reporter vom Express zu erkennen. Einen Moment später stieg Göbel aus, ein Fotograf in abgetragenen Jeans und mit einem langen grauen Zopf, und winkte Schiller lässig zu, während er den Eingang ansteuerte. Eine junge blonde Frau auf Stöckelschuhen begleitete ihn, sie hatte jedoch keinen Blick für Schiller.
»Keine Ahnung«, erwiderte Carla endlich. »Ich kann mich nicht genau erinnern. Das Mädchen war zwölf oder dreizehn – recht hübsch, aber sehr schüchtern.« Sie senkte den Kopf. »Ich habe sie heute Morgen angerufen – ich weiß, es ist Samstag, aber heute ist der richtige Tag, dachte ich …« Carla verstummte abrupt und ein wenig verschämt, wie Schiller fand.
»Sie« war Barbara Stahl, ihre Therapeutin, deren Namen sie noch nie ausgesprochen hatte, als läge ein Fluch auf ihm.
»He, Jan!«, rief Göbel vom Eingang herüber. »Der Genosse Polizist will mich nicht reinlassen. Besorg mir mal einen Passagierschein für ein paar hübsche Fotos …«
Schiller winkte ab.
»Wir sind um zehn Uhr am Haupteingang von Melaten verabredet.« Erneut zupfte Carla an ihrem Kopftuch herum.
Schiller hätte ihr gern in die blaugrünen Augen geblickt. Was hatte sie ihm neulich nachts wie eine Losung zugeflüstert? »Ich würde so gerne wieder gesund sein!« Er hatte versprochen, sie zum Melatenfriedhof zu begleiten, wenn sie zum ersten Mal das Grab von Gabriel Hagen aufsuchte.
»Ich werde dich fahren«, sagte er.
Es war kurz nach neun. Für eine Stunde würde er Birte allein lassen können.
Gabriel Hagen war Jude gewesen, aber seine Schwester hatte es vorgezogen, ihn nicht auf dem jüdischen Friedhof im abseitigen Bocklemünd, sondern auf dem altehrwürdigen Melatenfriedhof begraben zu lassen. Offenbar war Hagen hier oft aus Sülz mit seinem Fahrrad hingefahren, um zwischen den Gräbern herumzuspazieren oder an seinen Manuskripten zu arbeiten, wenn er nicht weiterkam. Viele prominente Kölner waren auf Melaten bestattet worden – angefangen von Johann Maria Farina, der das Kölnisch Wasser erfunden hatte, bis hin zu Willy Millowitsch. Auch ein jüdischer Dadaist mit dem Künstlernamen Johannes Theodor Baargeld, über den Hagen eine kurze Abhandlung geschrieben hatte, lag hier.
»Ich glaube, es wird mir guttun, an seinem Grab zu stehen«, sagte Carla. Nicht einmal in seinem Dienstpassat nahm sie das Kopftuch ab.
Schiller spürte, wie viel Kraft ihn die letzten Wochen gekostet hatten. Fünf Tage in absoluter Dunkelheit und Todesangst – er hatte versucht, es sich vorzustellen, aber es war ihm nicht gelungen. Einmal hatte Carla in ihrer Praxis in der Palanterstraße einen Termin mit einem jungen Mädchen wahrgenommen, das am Borderline-Syndrom litt, aber sie hatte das Gespräch nach einer halben Stunde wegen Konzentrationsstörungen abbrechen müssen.
Um überhaupt etwas zu sagen, sprach er über den Fall der toten Intendantin und erwähnte sogar die Armbrust, ein Detail, das er eigentlich nicht preisgeben durfte, weil es zum Täterwissen gehörte.
»Wahrscheinlich ein ehemaliger Geliebter, der sich rächen wollte«, meinte Carla mäßig interessiert.
Dreimal klingelte während der Fahrt sein Handy, doch er nahm kein Gespräch an.
Nervös begann Carla aus ihrer Wasserflasche zu trinken, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, als sie sich Melaten näherten. Die Sonne schien, ein später Sommertag mit wenigen Wolken – so schön war das Wetter in Köln lange nicht mehr gewesen.
»Sie wartet schon!« Carla deutete auf eine Frau in einem langen weißen Mantel, die vor dem Eingang Piusstraße stand.
Schiller war der Therapeutin noch nicht begegnet. Barbara Stahl war eine kleine, vollkommen unscheinbare Frau, die mit ihren zurückgekämmten dunkelblonden Haaren eher wie eine strenge Oberstudienrätin denn wie eine Psychotherapeutin aussah. Sie blickte ihnen ernst und ein wenig unwillig entgegen, als sie sich ihr näherten, doch dann lächelte sie, und plötzlich wirkte sie verändert. Ihre Augen leuchteten, und ihre Begrüßung zeugte von Warmherzigkeit und Einfühlungsvermögen. Obwohl Carla sie erst viermal getroffen hatte, schien es ein tiefgründiges Einverständnis zwischen den beiden Frauen zu geben.
Schiller stellte sich vor.
Barbara Stahl lächelte erneut. »Ich kenne Sie ja schon ein wenig. Sie sind der Kommissar und Marathonläufer, nicht wahr?«
»Ich bin noch nicht so recht im Training, obwohl der Lauf schon in vier Wochen stattfindet«, erwiderte Schiller. Er war überrascht, dass die Therapeutin ihn wie einen guten Bekannten behandelte.
»Ich habe mich auch für den Köln-Marathon angemeldet«, sagte sie ein wenig leiser, als würde sie ein Geheimnis verraten, dann nahm sie Carla am Arm. »Ich glaube, es ist besser, wenn Carla und ich allein einen Spaziergang machen. Finden Sie nicht auch?«
Schiller nickte, auch wenn er sich völlig überrumpelt fühlte. Selten hatte er so charmant und gleichzeitig so bestimmt eine Abfuhr erhalten. Ein paar Momente schaute er den beiden Frauen nach, wie sie den Friedhof betraten, stumm und mit ernsten Gesichtern. Carla hatte anscheinend nichts dagegen, dass er sie nicht begleitete, aber vielleicht war es tatsächlich besser, wenn sie ihre Trauer über Gabriel Hagen am Grab mit einer Fremden teilte.