Nachtengel von Köln - Reinhard Rohn - E-Book

Nachtengel von Köln E-Book

Reinhard Rohn

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Beschreibung

Eine geheime Organisation stellt das Ermittler-Duo Schiller und Jessen vor Rätsel. Kommissar Jan Schiller ist gerade dabei, in den langersehnten Urlaub aufzubrechen, da erreicht ihn ein Hilferuf seiner Ersatzmutter Therese. Eine junge Rumänin, die bei ihr Schutz gesucht hatte, ist spurlos verschwunden. Wenig später wird in einem abgelegenen Haus der verbrannte Körper einer Frau gefunden. Die Spur führt nach Rumänien, und Schiller weiß, dass er seine Ferien absagen muss. Doch er ahnt nicht, dass seine Kollegin Birte Jessen und er vor ihrem bislang rätselhaftesten Fall stehen.

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Über das Buch

Eine geheime Organisation stellt das Ermittler-Duo Schiller und Jessen vor Rätsel. Kommissar Jan Schiller ist gerade dabei, in den langersehnten Urlaub aufzubrechen, da erreicht ihn ein Hilferuf seiner Ersatzmutter Therese. Eine junge Rumänin, die bei ihr Schutz gesucht hatte, ist spurlos verschwunden. Wenig später wird in einem abgelegenen Haus der verbrannte Körper einer Frau gefunden. Die Spur führt nach Rumänien, und Schiller weiß, dass er seine Ferien absagen muss. Doch er ahnt nicht, dass seine Kollegin Birte Jessen und er vor ihrem bislang rätselhaftesten Fall stehen.

Über Reinhard Rohn

Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman "Rote Frauen", der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.

Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über "Matthias Brasch". Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.

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Reinhard Rohn

Nachtengel von Köln

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

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Epilog

Dank

Impressum

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Es steht an jeder Laterne und in manchem Gesicht

So als hätte man Wölfe unter die Menschen gemischt

Dauert nicht mehr so lange, dann schlägt hier irgendwas ein.

Fortuna Ehrenfeld

1

Was sie vermisste, war Zärtlichkeit – die Zärtlichkeit, die sie gespürt hatte, wenn ihr Großvater ihr über die Wange gestrichen hatte. Er war der Ziegelmacher des Dorfes, seine Hände waren voller Risse und Schwielen, und doch hatte er sie mit der größten Zärtlichkeit berührt. Ihre erste Erinnerung galt auch ihm – es war der Geruch von feuchtem Lehm und Tabak. Ihre Großmutter hatte sich immer im Hintergrund gehalten, sie war die Schweigerin, und ihre Eltern hatten sich 1995 in den Westen aufgemacht; da war sie ein Jahr alt gewesen. Zwei Jahre später waren sie bei der Fahrt zurück verunglückt, ein Lastwagen hatte sie überrollt, und ihr Versprechen, sie eines Tages nachzuholen, wenn sie eine große, schöne Wohnung hatten, hatte sich in nichts aufgelöst.

Ohne ihren Großvater wäre sie verloren gewesen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie ihn neben sich spüren, sie konnte nach seiner Hand tasten, und sie konnte die Wiesen riechen, auf denen die Arnika wuchs, und sie konnte die Schmetterlinge hören. Ja, davon war sie überzeugt – dass sie Schmetterlinge und deren Flügelschlag wahrnehmen konnte. Am liebsten mochte sie den Segelfalter. Ihr Großvater kannte sich wie kein anderer mit Schmetterlingen aus. Er kannte alle Namen, die deutschen und rumänischen und sogar die lateinischen. Als Kind hatte sie sich mit geschlossenen Augen auf die Wiese hinter seiner Werkstatt gestellt, hatte die Arme ausgebreitet und darauf gewartet, dass ein Schmetterling kommen und sich auf ihren Handrücken setzen würde. Meistens war auch einer herangeflogen – ein sanfter Lufthauch war bereits entstanden, wenn er sich ihrer Haut genähert hatte.

In Köln hatte sie noch nie einen Schmetterling gesehen. Wahrscheinlich gab es hier gar keine. Es gab Autos, Geschäfte, Menschen, sehr viele Menschen, aber keine Schmetterlinge.

Die Sehnsucht nach dem Großvater trieb ihr die Tränen in die Augen. Warum war sie nur hierhergekommen? Es war doch alles ein Irrtum.

Nein, war es nicht, musste sie sich eingestehen. Ihre Eltern waren hier gewesen, und sie hatte immer schon den Ort sehen wollen, an dem sie so viel Geld hatten verdienen wollen, um in ihrem Dorf ein Haus zu kaufen und es zum schönsten in der ganzen Gegend zu machen. Und außerdem hatte sie gedacht, dass sie ja die Sprache sprechen konnte. Ihre Großeltern hatten immer Deutsch mit ihr geredet, von klein auf, ihr Großvater war stolz darauf gewesen, ein Siebenbürger Sachse zu sein, Nachfahre von deutschen Auswanderern, aber als der Mann, der sich Radu genannt und sie in Sibiu angesprochen hatte, sie mit seinem Bus in Köln abgesetzt hatte, hatte sie zuerst kaum ein Wort verstanden. Ihr Großvater hatte seine Worte langsam und deutlich betont, hier jedoch redeten die Leute schnell, in einem merkwürdigen Singsang, und sie verwendeten Begriffe, die sie noch nie gehört hatte.

Radu war auch sofort wieder abgefahren, und Vladan, der andere Mann, der älter und viel unfreundlicher war, hatte sie zu einem Arzt gebracht. Sie hatte sich auf eine Liege legen müssen, und dann war ein noch älterer gebückter Mann ins Zimmer gekommen und hatte sie untersucht, ohne ein einziges Wort zu sagen.

Als Radu sie in Sibiu gefragt hatte, wie alt sie sei, hatte sie sich vier Jahre jünger gemacht. Zweiundzwanzig, hatte sie gesagt.

»Du bist hübsch«, hatte er auf Rumänisch gesagt, »und du sprichst Deutsch. Im Westen könntest du viel Geld verdienen. In einem Restaurant in Deutschland suchen sie so jemanden wie dich. Könnte es dich interessieren, viel Geld zu verdienen und eine eigene schöne Wohnung zu haben? Außerdem bist du nicht allein. Irina ist auch in Deutschland. Du kennst doch Irina, nicht wahr?«

Ja, sie kannte Irina, die auf ihre Schule gegangen war und auch deutsche Vorfahren hatte, trotzdem hatte sie Nein sagen wollen. Nein, ich bin zufrieden hier, in diesem Café in Sibiu zu arbeiten, aber es stimmte ja nicht. Und dann hatte sie gezögert und Radu gefragt, von welcher Stadt in Deutschland er spreche, und zu ihrer Überraschung hatte er Köln genannt, die Stadt, in der ihre Eltern gearbeitet hatten.

Davon, dass sie das Haus, in dem sie ein kleines Zimmer hatte, gar nicht mehr verlassen sollte, hatte Radu nichts gesagt; auch nicht, dass Vladan, ihr Aufpasser, ein mürrischer, wortkarger Mann war. Irina, die sie gleich nach ihrer Ankunft im Haus getroffen hatte, hatte sie gewarnt, dass er nachts in die Zimmer der Mädchen kommen würde. Und genau eine Nacht später hatte sie Irina schreien gehört, schreckliche Schreie, die noch in ihrem Kopf widerhallten. Vladan oder jemand anderes hatte Irina geschlagen, da war sie ganz sicher, auch wenn die Schreie abrupt aufgehört hatten. Doch am nächsten Tag war Irina nicht mehr da gewesen. Sie war ganz allein gewesen und hatte beschlossen zu fliehen. Aus dem Fenster hatte sie springen müssen und sich dabei den Fuß ein wenig verstaucht, doch nun würde alles gut werden. Sie hatte am Bahnhof Therese, eine freundliche alte Frau, getroffen, und sie würde nur noch einmal zurückgehen in dieses dunkle Haus, in dem noch zwei andere Mädchen eingesperrt waren, wie Irina gemeint hatte, die sie selbst aber nie gesehen hatte.

Es war fast Mitternacht. Irina hatte ihr verraten, wo der Schlüssel für die Kellertür lag, unter einem schweren Aschenbecher aus Stein, und dann würde sie hinaufschleichen in ihr Zimmer und ihre Tasche mit ihren Sachen, mit den Fotos und dem Geld holen, das Radu ihr als Anzahlung gegeben hatte – dreihundert Euro in sechs schönen neuen Fünfzig-Euro-Scheinen.

Sich anzuschleichen hatte sie immer schon vermocht; das hatten ihr die Schmetterlinge auch beigebracht – dass es Momente gab, in denen man ganz lautlos sein musste.

Sie hatte sich zuerst beinahe verirrt. Wo war das Haus, aus dem sie vor drei Tagen aus dem Fenster geklettert war?

Sie war am Rhein entlanggegangen, dann hatte sie ein Haus mit einem kleinen Turm gesehen, und da hatte sie gewusst, dass sie in der richtigen Gegend war.

Das Haus war weiß und sehr verwinkelt. Nur in einem Fenster, unten neben der Tür, brannte Licht. Wahrscheinlich wohnte Vladan, der Wächter, da. Ihm durfte sie auf keinen Fall über den Weg laufen.

Als sie an der Haustür entlangstrich, sprang sofort das Licht an. Hastig zog sie sich in die Dunkelheit zurück. Die Kellertreppe lag rechter Hand, da befand sich auch der schmale Kiesweg in den Garten, der von ihrem Fenster hübsch ausgesehen hatte. Eine Terrasse mit einer Rasenfläche und Büschen rundherum.

»Du wirst noch einmal untersucht werden«, hatte Vladan gemeint, »und dann darfst du auch in den Garten. Bevor deine Mission beginnt.«

Sie hatte nie herausgefunden, was das für eine Mission sein sollte, aber eines hatten ihr Irinas Schreie verraten: Mit einem Restaurant hatte diese Mission nichts zu tun.

Vorsichtig schlich sie die Kellertreppe hinunter. Und wenn der Schlüssel da gar nicht lag, wie Irina gemeint hatte?

Hier war es so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnte.

Plötzlich surrte das alte Nokia-Handy, das Therese ihr gegeben hatte, in der Hosentasche ihrer Jeans. Wahrscheinlich machte die alte Frau sich Sorgen, wo sie abgeblieben war.

Sie tastete auf einem schmalen Fenstersims nach dem Aschenbecher. Tatsächlich, da stand etwas, das sich wie ein schwerer Stein anfühlte. Darunter kam in dem Lichthauch, der bis in die Treppenwinkel drang, ein silberner großer Schlüssel zum Vorschein.

»Abends betrinkt Vladan sich, obwohl er der Aufseher ist«, hatte Irina gemeint, »und dann steht er vor der Tür und raucht, und wenn die Tür zuschlägt und er den Schlüssel vergessen hat, kommt er durch den Keller ins Haus zurück.«

Sie nahm den Schlüssel, der sich wie ein Stück Eis anfühlte. Das Handy surrte immer noch. Mit größter Vorsicht schob sie den Schlüssel ins Schloss.

War es ein Fehler, dass sie ihre Sachen holen wollte? Nein, das Geld gehörte ihr und die Fotos und ihre wenigen Sachen, der Wollpullover, den ihre Großmutter ihr zum zwanzigsten Geburtstag gestrickt hatte. Diese Sachen konnte sie nicht einfach aufgeben. Und in ein paar Tagen war sie zurück, bei ihrem Großvater und den Schmetterlingen. Deutschland ist schön, würde sie ihre Großeltern belügen, aber es ist nichts für mich – zu laut, zu viel Verkehr und die Sprache verstehe ich auch nicht so richtig. Sibiu und euer Haus sind meine Heimat.

Das Surren des Telefons hörte auf. Geräuschlos drehte sie den Schlüssel herum. Mit einem leisen Knirschen drückte sie die Klinke herunter. Die Metalltür sprang sofort aus dem Schloss. Sie drückte die Tür einen Spaltbreit auf. Sie hatte keine Taschenlampe dabei, aber ihr Handy verbreitete ein wenig Licht. Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Sie hoffte, dass es nicht abgeschlossen war, aber falls doch, hatte sie sich von Therese einen Dietrich geliehen, na, ausgeborgt, ohne sie danach zu fragen.

Nach zwei Schritten in den Keller hinein lauschte sie. War da irgendwo jemand? Nein, nur ihr Herz schlug hart und sandte ein dumpfes Pochen bis in ihre Ohren hinauf.

Geh nicht weiter, sagte ihr dieses Pochen. Es ist dumm, was du tust. Du bist hier abgehauen, und nur für ein paar Geldscheine und ein paar Erinnerungsfotos kehrst du zurück – zu einem Mann wie Vladan, der dich einsperrt hat.

Sie zögerte. Sie sollte auf ihr Herz hören. Bei Florim hatte sie es auch getan, obschon er sie dann betrogen hatte. Florim mit den langen blonden Haaren, der ihr die Unschuld genommen hatte.

Sie seufzte; es klang viel zu laut, ein Geräusch, das sie selbst erschreckte.

Großvater, flüsterte sie stumm, ich habe versprochen, sofort zurückzukommen, wenn es mir hier nicht gefällt. Und du hattest recht: Es gefällt mir nicht. Ich will zurück in unser langweiliges Dorf, ich will dir zusehen, wie du deine Ziegel brennst, und dann will ich mit dir über die Wiese gehen zu den Schmetterlingen und zu deinen Bienen, oder wir pflücken Arnika und bringen sie zu Daria, die es an den Apotheker in Sibiu verkauft.

Sie wandte sich um. Sie würde auf ihr Herz hören. Ja, das würde sie tun – sie würde zurück zu der alten Frau gehen und dann mit der Eisenbahn nach Rumänien fahren – ohne Geld und ohne ihren Pullover und ihre Fotografien.

Immer mehr, immer schnellere Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Zurück, ja zurück nach Daia, ihr Dorf, zu dem Großvater und seiner kleinen Werkstatt.

Doch da, kaum dass sie einen Schritt retour in Richtung Tür gemacht hatte, sprang ein Licht über ihr an, ein gleißendes, hässliches Licht, das ihr in den Augen wehtat und ein hartes Netz aus grellweißen Strahlen über sie warf.

Vladan stand auf der Treppe. Sein Schnauzbart verzog sich, seine Zähne sprangen darunter hervor, er grinste. Er war kein bisschen betrunken.

»Schön, dass du wieder da bist, Julika«, sagte er auf Rumänisch. Seine Stimme klang heiser, als hätte er den ganzen Tag geschrien. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.« Sein Grinsen erfasste nun auch seine Augen.

Nun musst du aber abhauen, sagte ihr Herz, ganz schnell. Die Beine in die Hand nehmen, sozusagen.

Aber nein – das, was Vladan, da in der Faust hielt, war schwarz und aus Metall, der kurze Lauf einer Pistole, die eindeutig auf sie gerichtet war.

2

»Bordeaux«, hatte Nadine gesagt, »hast du Lust, mit mir nach Bordeaux zu fliegen? Wir fliegen am Dienstag hin und kommen am Freitag zurück. Ein alter Freund von mir inszeniert dort an der Oper. ›Fidelio‹ – deutsch mit französischen Untertiteln –, keine ganz leichte Angelegenheit.«

Seit zwei Monaten sahen sie sich regelmäßig, aber waren sie zusammen? Nein, wohl nicht. Zu mehr als ein paar zarten Wangenküssen war es bisher nicht gekommen, noch nie hatte Schiller bei ihr übernachtet, obschon sie nur eine Etage unter ihm wohnte. Einmal, als er sie vom Theater abgeholt hatte, hatte Nadine mit einem Regisseur, einem typischen Schönling mit Dreitagebart, und einer jungen Schauspielerin zusammengestanden. Sie hatte ihn recht uncharmant als ihren Nachbarn vorgestellt.

Trotzdem hatte er sofort Ja gesagt. Es würde ihm guttun, einmal aus Köln herauszukommen. Drei Brandanschläge auf Autos von lokalen Politikern hatte er zu ermitteln. Nichts, was keinen Aufschub duldete.

Erst als er begann, seine Sachen zu packen, wurde ihm wieder mulmig zumute. Er hatte nicht nachgefragt, wo sie übernachten würden. Bei diesem Freund? Und er sprach kein Wort Französisch – nichts außer oui und non und café au lait. Es könnte peinlich werden, tumb und sprachlos neben Nadine herzulaufen, die wahrscheinlich fließend Französisch sprach. Er war nur ein Polizist, großer Gott! Mit ein wenig Englisch in internationalen Fällen kam man da prächtig durch. Und von Oper verstand er auch rein gar nichts. Einmal war er mit Carla in der Kölner Oper gewesen – er erinnerte sich nur daran, dass eine zu korpulente Sängerin, die nicht tanzen konnte, mit einem Männerkopf, der eindeutig aus Wachs gewesen war und auf einem Tablett gelegen hatte, herumgehüpft war. Nein, eigentlich war die Oper nichts für ihn.

Aber Nadine nur neben sich zu wissen, im Flugzeug, wenn sie die Augen für Momente schloss, ihr wunderschönes Profil zu sehen, würde ihn für alles entschädigen. Er war verliebt in sie. Ja, das war er wirklich.

Die Maschine würde morgen in Köln um sieben Uhr dreißig abheben – und er würde neben ihr sitzen. Auf jeden Fall.

Während er ein paar Kleidungsstücke zusammensuchte, lauschte er, ob Nadine nach Hause kam. Es war erst siebzehn Uhr. Er hatte das Präsidium bereits am frühen Nachmittag verlassen, aber sie musste noch eine Premiere vorbereiten, ein Stück über den Dreißigjährigen Krieg, das sie als Dramaturgin bearbeitet hatte.

Als er Schritte im Treppenhaus hörte und es dann an seiner Tür klingelte, spürte er, dass all seine Befürchtungen von ihm abfielen. Auch wenn er dumpf und stumm hinter ihr herlaufen würde, ein langes Wochenende mit Nadine an einem warmen südlichen Ort – etwas Schöneres könnte ihm nicht passieren.

Er hörte ein leises Schnaufen, gefolgt von einem langen Seufzen, während er die Tür noch nicht ganz geöffnet hatte. Nicht Nadine stand vor der Tür, sondern Therese, die alte Hebamme, nun fast vierundachtzig Jahre alt und nach dem frühen Tod seiner Eltern die Frau, die ihn all die Jahre begleitet hatte.

Therese trug wie immer ihren babyblauen Wollmantel, sie hielt ihre abgewetzte braune Ledertasche in der Armbeuge, obschon sie nun keine Hausgeburten mehr betreute, und lächelte. »Jan«, keuchte sie, »mein Junge. Die Haustür war offen. Da musste ich nicht klingeln. Ich brauche einen Kaffee, ganz dringend. Du hast doch richtigen Kaffee?«

Sie nahm ihm immer noch übel, dass Carla und er sich getrennt hatten, und war erst ein Mal in seiner neuen Wohnung gewesen. Ungewöhnlich missgelaunt hatte sie sich umgesehen und war nach einer halben Stunde wieder gegangen – mit den Worten: »Ich komme erst wieder, wenn du dir ein paar vernünftige Möbel angeschafft hast.«

»Natürlich habe ich Kaffee«, sagte Schiller. »Aber ich habe nicht viel Zeit. Ich muss packen. Morgen fliege ich nach Frankreich. Ein kurzer Urlaub …«

Therese winkte ab und ging an ihm vorbei in die Wohnung. Ihr langes graues Haar stand noch wirrer von ihrem Kopf ab; sie war eigentlich immer in Eile, stets auf dem Sprung, die Berufskrankheit einer Hebamme, die mehr als fünftausend Kindern auf die Welt verholfen hatte, doch nun wirkte sie noch abgehetzter als gewöhnlich.

Sie wird nicht mehr ewig leben, ging es Schiller durch den Kopf. Dieser Gedanke erschreckte ihn.

In der Küche sank Therese auf den einzigen gepolsterten Stuhl, den er besaß. Sie seufzte wieder. »Stark und mit viel Zucker«, sagte sie. Ihr Kopf sank ihr auf die Brust, dann holte sie etwas aus ihrer Ledertasche hervor.

Was willst du?, wollte er sie fragen. Warum kommst du ohne Ankündigung vorbei? Aber sie blickte mit ernster Miene auf ein ziemlich neues Smartphone, das er noch nie bei ihr gesehen hatte. Bisher hatte sie stets ein altes Nokia benutzt.

Er kochte mit einer Espressomaschine Kaffee für sie und sich. Nach dem ersten Schluck richtete Therese sich mühsam auf.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie. »Es ist etwas passiert. Vielleicht ein Verbrechen. Eine junge Frau ist verschwunden.« Sie hielt ihm das Smartphone hin. Auf dem Display war, schlecht belichtet, eine junge Frau zu sehen: dunkelblonde halblange Haare, ein zusammengepresster Mund, braune, irgendwie traurig wirkende Augen. Offenkundig war die Aufnahme in Thereses Küche gemacht worden. Schiller glaubte ihren stets mit Zeitungen, Babysachen, Zetteln, Tellern und Tassen vollgestellten Küchentisch zu erkennen.

»Das ist Julika«, sprach Therese weiter. »Sie kommt aus Rumänien, spricht aber Deutsch. Na, mit einem ziemlichen Akzent, ihre Eltern waren Deutsche – Rumäniendeutsche. Irgendjemand hat sie hierhergelockt und irgendwo in der Stadt eingesperrt. Und jetzt ist sie verschwunden.«

»Wie kommst du an ein Mädchen aus Rumänien?«, fragte Schiller. Wieder meinte er Schritte im Treppenhaus zu hören. War Nadine nun nach Hause gekommen? Nein, die Schritte gingen an seiner Tür vorbei. Der Mann aus der vierten Etage, von dem es hieß, er sei Pharmavertreter, vermutlich.

Therese winkte wieder ab. Offensichtlich hatte er die falsche Frage gestellt.

»Ich kenne sie eben, habe das arme Mädchen am Bahnhof getroffen. Bei Gulliver. Da helfe ich manchmal aus. Verteile Essen und solche Sachen. Sie ist mir gleich aufgefallen. Ihre Verzweiflung … und da habe ich sie mitgenommen. Zwei Nächte war sie bei mir, dann wollte sie nur etwas holen. Aus einem Schließfach, habe ich geglaubt. Ganz hat sie es mir nicht verraten. Sie hat versprochen, sofort zurückzukommen. Ist sie aber nicht.« Therese seufzte und schloss die Augen.

Sie so erschöpft zu sehen schmerzte ihn.

»Wahrscheinlich hat sich eine Gelegenheit ergeben, dass sie nach Rumänien zurückkonnte, und die hat sie genutzt«, sagte er.

Therese hob abrupt den Kopf. Ihre grauen Augen hinter den dicken Brillengläsern musterten ihn. »Nein«, sagte sie, »niemals. Ich kenne mich mit Menschen aus. Julika wollte unbedingt wiederkommen. Wir wollten zusammen einen Brief an ihre Großeltern schreiben, damit die sich keine Sorgen machen. Sie wohnen auf dem Land bei Hermannstadt, in einem Dorf ohne Telefon. Außerdem …«, sie zog etwas aus der Tasche hervor und hielt es hoch, »… außerdem hat Julika ihren Pass bei mir gelassen.«

Er nahm ihr den Pass ab. Romania – tatsächlich. Julika Sophia Bottesch, geboren am 6. Juli 1994 in Sibiu.

»Ihr muss etwas zugestoßen sein. Sonst hätte sie sich gemeldet. Ich habe ihr mein altes Handy mitgegeben.« Therese beugte sich vor und griff nach seiner Hand. »Ich dachte, du könntest dich mal erkundigen. Ich habe bei ein paar Krankenhäusern angerufen, aber da gibt man mir keine richtige Auskunft. Am Bahnhof bei Gulliver war ich auch mehrmals. Keiner hat sie da gesehen. Du hast doch diese Nele, deine Assistentin, die alles herausbekommt. Vielleicht hatte Julika einen Unfall und liegt irgendwo bewusstlos auf der Intensivstation. Hat es nicht gestern wieder einen schweren Unfall mit der Straßenbahn gegeben?«

Nun hörte er die Tür in der Wohnung eine Etage tiefer. Er atmete erleichtert durch. Nadine war nach Hause gekommen. Gleich würde sein Telefon klingeln. Er würde zu Ende packen und dann hinuntergehen. Sie könnten noch ein Glas Wein trinken, roten Bordeaux, gewissermaßen als Vorbereitung auf ihre erste gemeinsame Reise.

»Kannst du sie nicht einmal anrufen?«, fragte Therese und umklammerte seine linke Hand.

Er nickte. »Ich rufe sie an, und wenn Nele etwas herausgefunden hat, soll sie sich mit dir in Verbindung setzen. Ich bin sicher, es wird sich alles klären. Wahrscheinlich hat diese Julika dir nicht alles gesagt. Sie ist jung und ganz hübsch. Vielleicht hat sie einen Mann getroffen, oder sie ist einem Freund nachgereist.«

»Unfug!«, stieß Therese laut hervor und ließ endlich seine Hand los. »Man hatte sie eingesperrt, und jemand hatte sie untersucht. Gibt es so etwas nicht, dass man Menschen eine Niere wegnimmt? Habe ich mal gelesen.«

Schiller lächelte sie an. Ja, wollte er sagen, solche abenteuerlichen Geschichten geisterten durch manche Zeitungen, er hatte so etwas allerdings noch nie erlebt. Sein Smartphone summte. Nadine rief ihn erst an, bevor sie ihre Sachen packte, vermutete er. Der Blick auf das Display verriet ihm jedoch, dass der Anruf aus dem Präsidium kam. Nele Krach, ihre Assistentin.

»Nele, was für ein Zufall«, sagte Schiller launig, »ich wollte dich eben auch anrufen. Ich brauche deine Hilfe. Therese hat …«

»Jan«, unterbrach Nele ihn mit ungewohnt ernster Stimme, »tut mir leid, dass ich dich störe. Es ist etwas passiert, das dir nicht gefallen wird. Der Fund einer Leiche, stark verbrannt. In einer verlassenen Siedlung in Weidenpesch. Ich fürchte, Birte und du, ihr müsst euch das ansehen. Jetzt gleich.«

3

»Geh nicht ans Telefon«, hatte Max gesagt, während sie noch auf ihr Telefon geschaut hatte.

Selten hatte sie ihn so aufgekratzt gesehen. Er hatte Fotos und Kataloge um sich ausgebreitet. Hawaii – bevor sein Buch herauskommen würde, würden sie nach Hawaii fliegen, seinem Sehnsuchtsort. Zwei Wochen auf der Insel. Im Mai waren die Temperaturen noch erträglich, selten über dreißig Grad, anders als im September, wenn der berühmte Triathlon stattfand. Das war sein Plan gewesen – ein Mal an diesem Wettbewerb teilzunehmen –, aber mittlerweile hatte er sich damit abgefunden, dass dieser Lebenstraum sich nicht erfüllen würde. Beim Training auf dem Rennrad hatte ihn ein Lastwagen überfahren, der Unterschenkel seines rechten Beines hatte ihm amputiert werden müssen. Der Phantomschmerz machte ihm immer noch zu schaffen.

»Geh nicht«, sagte er wieder. »Ich will dir ein paar Fotos zeigen, und für die zweite Woche müssen wir noch ein Hotel buchen.«

Birte schaute ihn an. Sie versuchte besänftigend zu lächeln. Seit vier Wochen waren sie verlobt. Max hatte auf einem altertümlichen Ritual bestanden: Ringe überstreifen und einen Schwur leisten, danach waren sie in einem edlen Hotel essen gegangen und hatten von einer Dachterrasse auf Köln hinabgeblickt.

»Es ist Nele.« Sie warf einen letzten Blick auf die Kataloge. »Sie würde nicht anrufen, wenn es nicht dringend wäre. Und Jan will morgen mit seiner neuen Freundin in einen kurzen Urlaub fliegen. Bis Freitag, damit wir am Samstag abreisen können. Da kann ich nicht so tun, als wäre ich nicht da.«

Fünf Minuten später saß sie in ihrem alten Alfa, der immer mehr Rostflecken aufwies, und gab die Adresse einer Straße in Weidenpesch ein – Auf dem Ginsterberg. Obschon sie nun schon über drei Jahre in Köln lebte, kannte sie immer noch nicht jeden Winkel dieser Stadt.

Sie hatte das Gefühl, aus der Stadt herauszugeraten – in eine einsame, öde Gegend. Eine schmale Straße führte am Bahndamm entlang, rechter Hand befanden sich ein paar Gärten, ein Schrotthändler. Dann sah Birte eine Ansammlung weiß getünchter Häuschen. »Im Volksmund heißt diese Ecke auch Zigeunersiedlung«, hatte Nele noch gesagt. »Nicht sehr nett.«

Sie bremste ab. Zwei Polizeiwagen parkten da. Ja, sie war also richtig. Langsam rollte sie auf das erste der Häuser zu. Aus der Entfernung hatte es hübsch ausgesehen, doch je näher sie kam, desto mehr erkannte sie, wie heruntergekommen dieses Ensemble von Häusern war. Der Putz war abgeblättert, die Jalousien waren überall heruntergelassen; nur an einigen Fenstern waren die Plastiklamellen abgerissen worden.

Hinter ihr tauchte plötzlich ein weißer Golf auf. Offenbar hatte Nele auch Jan Bescheid gegeben. Im Rückspiegel beobachtete sie, dass er ausstieg, mit düsterer Miene, und er war nicht allein. Therese, die alte Hebamme, stieg auf der Beifahrerseite aus. Birte stellte gleichfalls den Motor ab.

»Therese kann uns vielleicht weiterhelfen«, sagte Jan statt einer Begrüßung.

Birte nickte der alten Frau zu, die sie freundlich, aber mit erschöpfter Miene anlächelte. Sie schien ihren blauen abgewetzten Wollmantel niemals auszuziehen.

»Er wollte gar nicht herkommen«, sagte sie mit ihrer schrillen Mädchenstimme. »Weil er in Urlaub fahren will, aber ich habe ihn gezwungen. Ich suche Julika, ein Mädchen aus Rumänien.«

Jan schaute sich um, ohne Thereses Worte weiter zu erklären. »Was für ein trostloser Ort«, sagte er.

Vor einem der Häuser tauchte ein uniformierter Polizist auf und winkte sie zu sich. Beim Näherkommen roch Birte das Feuer, das hier gebrannt haben musste.

»Ein Spaziergänger hat uns angerufen«, erklärte der Polizist. »Sein Hund hat ihn hierhergelockt.« Er verzog das Gesicht und deutete hinter sich.

Ein schmaler Flur, der mit Scherben übersät war, führte in das Haus. Der Geruch von Rauch und verbranntem Fleisch wehte ihnen entgegen. Therese stöhnte auf. In einem Raum, der vielleicht einmal die Küche gewesen war, jedenfalls gab es noch ein altes Spülbecken und einen Wasserhahn, der aus der Wand ragte, lag ein verkohlter Leichnam auf dem nackten rissigen Betonboden. Von dem Gesicht war nichts mehr zu erkennen; es war völlig verbrannt, doch Birte hatte sofort den Eindruck, dass da der Körper einer Frau vor ihnen lag, die jemand mit Benzin übergossen und in ihrer Kleidung, die auf der Haut geschmolzen war, angezündet hatte.

»Oh, wie schrecklich!«, stieß Therese aus, während Jan zwei Schritte näher trat und sich über den Leichnam beugte. Ein Taschentuch hielt er sich dabei vor den Mund.

»Da werden Schultke und seine Leute von der Technik viel Arbeit haben«, sagte er. »Und die Rechtsmedizin obendrein. Sieht aus, als hätte man die Frau in einer Daunenjacke verbrannt. Ein paar Fetzen sind noch zu erkennen und …« Er stockte. »Sogar die Hände. Sie gehören einer Frau, ganz sicher, das sind die Hände einer Frau.«

Therese stöhnte wieder auf, während Birte das Gefühl hatte, kaum noch Luft zu bekommen. Der Geruch von verbrannter Haut verursachte ihr Übelkeit.

Als ein Smartphone summte, griff sie in ihre Tasche. Max, dachte sie schuldbewusst, er schickte ihr eine SMS. In letzter Zeit fiel es ihm schwer, Verständnis dafür aufzubringen, dass sie von einem Moment auf den nächsten einen Einsatz haben konnte.

Aber es war Thereses Smartphone, das gesurrt hatte. Birte beobachtete, wie Therese auf das Display blickte.

Hinter ihren dicken Brillengläsern kniff sie die Augen zusammen, als fiele es ihr schwer, den Text zu lesen.

»Hat sich die verschwundene Rumänin gemeldet?«, fragte Birte.

Therese blickte auf und hielt ihr das nagelneue Smartphone hin.

»Liebe Therese«, stand da, »tut mir leid bin nach Hause. Vater krank Überraschung. Dank für immer Deine Julika.«

»Na, das ist doch eine gute Nachricht.«

Vor dem Haus konnte Birte endlich wieder durchatmen, obwohl der Brandgeruch immer noch sehr stark war. Sie sah, wie zwei Vans der Spurensicherung von der Straße abbogen und langsam auf das Haus zurollten.

»Nein«, sagte Therese leise und nachdenklich. »Das ist gar keine gute Nachricht. Die Nachricht stammt nicht von Julika. Sie hat keine Eltern mehr, nur noch Großeltern. Deshalb war sie ja in Sibiu geblieben. Nun beginne ich mir erst recht Sorgen zu machen. Kann man mein altes Telefon nicht orten? Geht so etwas nicht?«

4

Schiller sah die Verzweiflung in ihrem alten faltigen Gesicht. Du kannst nicht morgen irgendwohin in den Süden fliegen, sagten ihre Augen. Diese verschwundene junge Frau … Falls sie es ist, die da angezündet wurde, musst du ihren Mörder finden.

Wenn Therese Kummer hatte, wurde sie schweigsam und fahrig. Sie zupfte dann an allem herum, mit zusammengepressten Lippen und starrem Gesichtsausdruck.

Als er vor ihrem Bungalow in Seeberg abbremste, griff er nach ihrer Hand. »Ich werde nicht fliegen«, sagte er. »Wir werden diese Rumänin finden. Ich bin sicher, dass ihr nichts passiert ist. Und diese verbrannte Leiche … Die Rechtsmedizin wird bald Genaueres herausfinden. Deine Julika ist es bestimmt nicht.«

Therese seufzte. Er spürte, wie sich ihre Hand unter seiner entspannte. »Du fährst nicht? Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest. Ich würde dich auch nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«

Er nickte.

»Es ist noch etwas anderes«, sprach sie weiter. »Morgen? Du weißt, was morgen für ein Tag ist?«

»Ja«, sagte er einsilbig und stieg aus.

Der Vorwurf, der in ihrer Stimme lag, gefiel ihm nicht. Es war der Todestag seiner Eltern. Achtundzwanzig Jahre war es nun her, seit sie bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen waren. Und an diesem Tag wolltest du durch Bordeaux laufen, mit einer neuen Frau? Dieser stumme Vorwurf hatte in ihrer Stimme mitgeschwungen.

Ein muffiger Geruch schlug ihnen entgegen, nachdem Therese die Tür aufgeschlossen hatte. Es war stickig und warm. Schon in dem schmalen Flur standen die ersten Kartons. Kleidung quoll daraus hervor. Therese bedachte irgendwelche Heime oder einzelne Familien mit allem, was sie irgendwo auftrieb. Er hatte noch nie erlebt, dass sie etwas nicht gebrauchen konnte.

Auch in der Küche, die wie immer völlig überhitzt war, weil sie selbst im Sommer die Heizung nicht ausschaltete, türmten sich Kartons. Auf dem Tisch lagen Ordner, Zeitungen, aufgeschlagene Bücher – und auf einem Stück Plastik ein toter Vogel, der aussah, als schliefe er.

»Meine treue Amsel«, sagte Therese beiläufig, »hat sechs Jahre in meinem Garten gewohnt, muss ich nun begraben.«

Auf der winzigen freien Fläche des Tisches standen zwei Tassen und zwei Teller.

»Ich sollte mal wieder aufräumen.« Therese schaute sich um, dann lächelte sie. »Julika hat es hier gefallen. Sie hat kein Wort über die Unordnung verloren. Geschlafen hat sie in den zwei Nächten, die sie hier war, hinten in meinem Bügelzimmer, und gewaschen hat sie sich auf der Gästetoilette. Wollte sie so.«

Während Therese einen Tee zu kochen begann, ging Schiller in den Flur zurück, um in den hinteren Teil des Bungalows zu gelangen. Er warf einen kurzen Blick in das Wohnzimmer, das eher wie ein Möbellager aussah. Von dem Fernseher, der, umringt von etlichen Büchern, in einer Schrankwand stand, war er nicht sicher, ob er überhaupt noch sendete, und wenn, dann möglicherweise nur schwarz-weiß. Vermutlich nahm Therese sich auch nie die Zeit, fernzusehen. Wenn sie sich entspannen wollte, hörte sie Musik. Mozart – sie liebte Mozart, und einmal im Monat, wenn eine Generalprobe mittags umsonst war, ging sie in die Philharmonie und hörte mit geschlossenen Augen zu.

In dem Bügelzimmer, in dem sich ein altes Sofa und tatsächlich auch ein Bügelbrett befanden, schaute Schiller sich um. Gab es irgendetwas, das die Rumänin zurückgelassen hatte? Eine schwarz-gelb gemusterte Decke lag auf dem Sofa, daneben ein Kissen, und über dem einzigen Stuhl hing ein Schal, rot, aus Wolle, der so neu wirkte, dass er kaum Therese gehören konnte. Wenn sie Glück hatten und die Rumänin ihn häufig genug getragen hatte, würde man in der Kriminaltechnik genug DNA-Spuren finden, und vielleicht war es sogar möglich, einen Abgleich mit der verbrannten Leiche zu machen.

Schiller streifte sich einen Latexhandschuh über und steckte den Schal vorsichtig in eine Plastiktüte. Dann besah er sich das winzige Bad eine Tür weiter. In einem Kamm, der auf der Ablage vor dem Spiegel lag, entdeckte er ein paar lange dunkelblonde Haare.

Als er den Kamm in eine andere Tüte versenkte, summte sein Smartphone.

Es war kurz nach zwanzig Uhr. Nadine hatte nun ihre Sachen gepackt und wunderte sich, warum er sich noch nicht gemeldet hatte.

Der Blick auf das Display bestätigte seine Vermutung.

»Mein Polizist«, sagte Nadine in dem leicht spöttischen Tonfall, den er so sehr an ihr liebte, »welche Verbrecher hast du heute schon gefangen?«

Schiller zögerte. Er räusperte sich. »Nadine …«, sagte er. »Ich habe ein Problem …«

Sie lachte. »Ich verstehe schon«, sagte sie. »Du hast keine Lust, mit mir nach Frankreich zu fliegen. Oper magst du auch nicht, stimmt’s? Wen hast du zu einem Verbrechen angestiftet?«

Er musste unwillkürlich lächeln. »Eine Rumänin, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, die Therese bei sich aufgenommen hat, ist verschwunden, und dann haben wir die verkohlte Leiche einer Frau in einem leeren Haus in Weidenpesch gefunden.«

»Also«, sagte Nadine nun ernster, »der Platz neben mir wird frei bleiben. Aber ich möchte dich noch sehen, bevor ich abfliege.«

»Ich kümmere mich um diese Rumänin«, sagte Schiller, bevor er wieder fuhr. »Es ist nicht mehr nötig, dass du in der Gegend herumläufst und sie suchst.«

»Sie hat einen Namen – sie heißt Julika«, entgegnete Therese, »und sollte ich zufällig am Bahnhof sein, werde ich mich trotzdem umhören, ganz bestimmt. Aber auf jeden Fall werde ich im Dom eine Kerze für sie aufstellen. Und für sie beten. Dass ihr nichts passiert ist.«

Schiller küsste sie zum Abschied auf die Wange. Es war hoffnungslos: In dieser alten Frau würde bis zu ihrem letzten Atemzug ein störrisches Mädchen stecken, das sich von niemandem etwas sagen ließ. Gewiss würde sie, keine fünf Minuten nachdem er ihren Bungalow verlassen hatte, in die nächste Tram steigen, um zum Bahnhof zu fahren und diese Julika zu suchen.

Vom Auto aus rief er Nele im Präsidium an. Gab es neue Hinweise zu der Leiche?

»Die Kriminaltechnik ist immer noch in der Siedlung. Kameras oder so etwas gibt es da leider nicht. Auch in der Gegend hat niemand etwas mitbekommen. Allerdings auch kein Wunder. Ist ja alles verlassen da – das letzte der sechs Häuser war bis vor zwei Jahren bewohnt«, erklärte Nele. »Die Siedlung heißt übrigens Zigeunersiedlung, weil die Stadt die Häuser Ende der siebziger Jahre errichtet hat, um dort Sinti- und Romafamilien anzusiedeln.«

»Das ist bestimmt super gelungen«, erwiderte Schiller. »Da ist nichts in der Nähe, kein Laden, keine Kneipe, nicht einmal eine Bushaltestelle. Und der Name ›Zigeunersiedlung‹ spricht ja auch für sich.«

Seine Laune hatte sich wieder um etliche Grad abgekühlt. Eigentlich sollte er nun in seiner Wohnung sitzen und seine Reisetasche packen. Er unterbrach die Verbindung mit einem kurzen Gruß und dem Versprechen, später noch im Präsidium vorbeizukommen, obschon er es in Wahrheit nicht vorhatte.

Birtes Alfa stand auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin. Eine Frau von etwa vierzig Jahren öffnete ihm. Sie war die neue Rechtsmedizinerin, seit Almut Schwäbe, mit der er eine kurze, unfreundliche Affäre gehabt hatte, nach Frankfurt gegangen war.

»Sie sind von der Kripo?«, fragte die Frau ihn, ohne sich selbst vorzustellen. Er nickte. »Ihre Kollegin führt gerade ein Telefonat. Ich bin eben dabei zu diktieren, was ich bereits herausgefunden habe. Ich habe aber lediglich die erste oberflächliche Leichenschau hinter mir. Viel können Sie da nicht erwarten.«

Die Rechtsmedizinerin führte ihn in ein winziges, dunkles Büro. Sie setzte sich, deutete auf einen Stuhl vor sich und nahm ein Diktiergerät in die Hand. Schiller sah ein Foto von ihr auf dem mit Papieren übersäten Schreibtisch. Da saß sie mit längeren, deutlich rötlicheren Haaren auf einem Pferd. Sie beugte sich zu einem älteren Mann hinab, der ihr offenbar eine Medaille überreichte.

»Bei der Toten handelt es sich vermutlich um eine fünfundzwanzig- bis dreißigjährige Frau, die etwa fünfundfünfzig Kilogramm schwer und einen Meter siebzig groß war. Der Zahnstatus deutet nicht darauf hin, dass die Person sich im Milieu der Obdachlosen aufgehalten hat. Gepflegte Zähne, keine Lücken. Die Person ist vermutlich komplett bekleidet gewesen, als sie mit einem Brandbeschleuniger übergossen und angezündet wurde. Überall außer am linken Bein sind Brandverletzungen dritten Grades entstanden. Ob das die Todesursache ist, lässt sich aber …«

Die Rechtsmedizinerin unterbrach ihr Diktat, als Birte hereinkam.

»Frau Dr. Grams«, sagte sie. »Mein Kollege von der Kriminaltechnik hat mich soeben angerufen. Ein leerer Kanister Benzin ist in dem Haus gefunden worden.« Dann wanderte ihr Blick zu Schiller. »Und noch etwas. Ein recht neuwertiger Schal mit einem Symbol. Eine Krone auf einem roten Schild und zwei gekreuzten Schwertern. Das Wappen von Sibiu, einer Stadt in Rumänien.«

5

Warum war die Frauenleiche angezündet worden? Die Antwort konnte nur lauten: um die Identifizierung der Frau zu verhindern. Nur hatte der Täter den Schal übersehen, den die Frau getragen hatte. Sibiu hatte früher Hermannstadt geheißen. Viele Deutsche hatten sich dort angesiedelt. Also war es möglich, dass sie die verschwundene Julika tatsächlich gefunden hatten und Thereses Sorgen begründet gewesen waren. Jan hatte versprochen, das alte Nokia orten zu lassen, aber bisher war nichts dabei herausgekommen.

Birte spürte, wie erschöpft sie war, als sie nach Hause kam. Sie würde sofort duschen müssen, um den Brandgeruch abzuwaschen. Was musste das für ein Bild sein, einen lebendigen Menschen, der vor einem lag, mit Benzin zu übergießen, als wäre er ein Stück Holz? Bei dem Gedanken erschauderte sie.

Es war kurz vor Mitternacht. Max war auf dem Sofa eingeschlafen, zu seinen Füßen aufgeschlagene Kataloge. Hawaii – die Strände, die Bars und Cafés. Sie betrachtete die Aufnahmen mit einem gewissen Unbehagen. Eigentlich hatte sie nicht nach Hawaii fliegen wollen, aber Max meinte, es müsse sein – nur so könne er endlich mit seinem Unfall und der Amputation seines Beines abschließen.

Sie setzte sich an den Esstisch und klappte ihren Laptop auf. Noch stand nichts von dem Fund der Frauenleiche im Internet, doch lange würde man die Nachricht nicht zurückhalten können.

Als Nächstes gab sie »rumänische Mädchen« ein. Sie landete auf mehreren Seiten, auf denen Frauenbekanntschaften offeriert wurden. Rumänische Mädchen seien attraktiv, zärtlich, treu und nicht sehr anspruchsvoll. Mindestens zehn Anbieter präsentierten dazu im Netz ihre Dienste mit aufreizenden Fotos junger, stark geschminkter Frauen.

War diese Julika deshalb nach Köln gelockt worden – um verheiratet zu werden oder als Prostituierte zu arbeiten? Vermutlich. Aber wie passte da ein Mord ins Bild?

Birte klappte ihren Laptop zu. Die Fotos dieser Mädchen, die sich leicht bekleidet und in lasziven Posen anboten, deprimierten sie.

Max schlug kurz die Augen auf. »Bist du wieder da?«, flüsterte er.

»Ja«, erwiderte sie, aber im nächsten Moment war er schon wieder eingeschlafen.