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Köln, wie es wirklich ist. Raffiniert, wendungsreich, kultig. Am Aachener Weiher wird ein Mann erstochen aufgefunden, gekleidet wie ein tibetischer Mönch. Der Schock ist groß, als sich herausstellt, dass es sich um den Bruder des Oberbürgermeisters handelt. Als wenige Tage später ein weiterer Mord im Umfeld von Kölns oberstem Bürger geschieht, sieht Hauptkommissar Jan Schiller den OB selbst in Gefahr. Könnte er das nächste Opfer sein? Oder hat er womöglich etwas mit den Taten zu tun? Eine Spur führt die Ermittler schließlich zum Deutzer Hafen und zu einem zweifelhaften Bauprojekt …
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Seitenzahl: 295
Köln, wie es wirklich ist. Raffiniert, wendungsreich, kultig. Am Aachener Weiher wird ein Mann erstochen aufgefunden, gekleidet wie ein tibetischer Mönch. Der Schock ist groß, als sich herausstellt, dass es sich um den Bruder des Oberbürgermeisters handelt. Als wenige Tage später ein weiterer Mord im Umfeld von Kölns oberstem Bürger geschieht, sieht Hauptkommissar Jan Schiller den OB selbst in Gefahr. Könnte er das nächste Opfer sein? Oder hat er womöglich etwas mit den Taten zu tun? Eine Spur führt die Ermittler schließlich zum Deutzer Hafen und zu einem zweifelhaften Bauprojekt …
Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman "Rote Frauen", der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.
Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über "Matthias Brasch". Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.
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Reinhard Rohn
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Archaïscher Torso Apollos
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
Rainer Maria Rilke
Er saß da wie auf einer Sünderbank, aber nein, in Wahrheit war es vermutlich auch eine. Er hatte mehrere widerrechtliche Einsätze durchgeführt, er war in eine Wohnung eingedrungen, er hatte seine Schusswaffe eingesetzt und zweimal auf einen Menschen geschossen, er hatte eine Kollegin fahrlässig in Lebensgefahr gebracht und Birte, seine Kollegin, die ja viel mehr als eine Kollegin war … Er wollte gar nicht an Birte denken, wie es ihr ging. Er hatte völlig versagt. Durch das, was er getan hatte, war die ganze Stadt ins Wanken geraten. Die Schlagzeilen überschlugen sich. »Eine Stadt versinkt im Chaos!«, hatte eine geheißen. »Panik im Rathaus« eine andere. Vor dem Präsidium waren drei Kamerateams vorgefahren. Gleich würde man ihm mitteilen, ob er überhaupt noch ein Angehöriger der Kölner Polizei war.
Jan Schiller spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Wann hatte er eigentlich zuletzt etwas gegessen? Egal. Sogar sein Smartphone hatten sie ihm abgenommen, und seine und Birtes Dienstwaffe hatte er nach dem letzten Einsatz abgegeben; sie befanden sich vermutlich noch zur Auswertung in der Kriminaltechnik. Er dachte daran, dass er vor einigen Monaten einmal in einem Moment der Müdigkeit und Resignation seine Kündigung geschrieben hatte. Damals hatte er überlegt, mit einem Bekannten, einem ehemaligen Polizisten, eine Art Sicherheitsdienst zu gründen. Nun war alles anders gekommen. Vermutlich würde er nicht einmal für die Gründung solch einer Sicherheitsfirma eine Genehmigung erhalten.
Was hätte Therese, die alte Hebamme, die ihn wie eine Mutter sein Leben lang begleitet hatte, ihm in dieser Lage geraten? Jung, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und du hast Nadine, und freue dich über die gute Nachricht. Doch Therese war tot, sie lag in dunkler, kalter Erde und war nur noch in seinen Gedanken lebendig.
Er blickte durch das Fenster am Ende des Flurs zum Dom hinüber. Wie vor einem strahlend blauen Tuch ragte die Kathedrale da auf; seit Tagen herrschte in Köln schönstes Sommerwetter, und bald brach der längste Tag des Jahres an. Die Tür zum Vorzimmer des Polizeipräsidenten wurde geöffnet.
»Herr Kriminalhauptkommissar, kommen Sie bitte herein«, sagte eine förmliche Männerstimme.
Schiller erhob sich langsam. Er versuchte zu lächeln.
Die Entscheidung über seine Zukunft bei der Kölner Polizei war offenbar gefallen.
Jan Schiller saß auf der Fensterbank und schaute den vollen Mond an. Ein bleiches Licht breitete sich über den Dächern der Nachbarhäuser aus. Die eine große Linde im Hinterhof wirkte, als hätte sie jemand silbern angestrichen. Nadine lag im Bett und schlief; ihr blondes Haar hatte sich um ihren Kopf aufgefächert; manchmal seufzte sie leise im Schlaf. Nachdem sie sich geliebt hatten, hatte sie sich nur ein dünnes gelbes T-Shirt übergestreift. Ihr Gesicht wirkte völlig entspannt; sie hatte sich ganz der Ruhe und dem Schlaf ergeben. Er aber konnte nicht schlafen.
Der Mond zog langsam weiter; weißlich schimmernde Wolken schwebten um ihn herum.
Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, dachte Schiller. Vor ein paar Wochen war es noch ganz anders gewesen; da hatte er Therese, die alte Hebamme, die fast dreißig Jahre lang eine Art Familienersatz für ihn gewesen war, zu Grabe tragen müssen. Den Verlust hatte er jeden Tag gespürt, ein Schmerz, als würde ihm ein wichtiger Teil seines Körpers fehlen, als hätte man ihm etwas herausgerissen, das er unbedingt für sein Gleichgewicht und Wohlergehen brauchte. Seine Kollegin Birte Jessen und er hatten den Mord an Therese zwar aufgeklärt, aber das war letztlich kaum mehr als ein schwacher Trost gewesen.
Wenn er die Augen schloss, das milchige Mondlicht für Momente aussperrte, konnte er ihre mädchenhafte keckernde Stimme hören: Jung, et es jot, wie et es.
Ihr Gottvertrauen hatte sie niemals verlassen.
Und nun …
Nadine drehte sich herum, sie flüsterte etwas im Schlaf, das wie ein Name klang. Rief sie ihn ins Bett? Sie schien sich kurz aufzurichten, doch dann sank sie wieder zurück und atmete ganz regelmäßig ein und aus. Sie war die schönste und klügste Frau, die er jemals getroffen hatte, und nun war sie schwanger. Sie hatte es ihm am Abend gesagt, ganz unprätentiös, beim Kaffee, in einem Nebensatz. »Übrigens, mir war in den letzten Tagen immer so schlecht morgens. Da bin ich heute auf die Aachener Straße in die Apotheke gegangen und habe mir einen Schwangerschaftstest gekauft. Positiv. Schön, oder?«
Schön, oder? Er hatte zuerst gar nicht reagieren können. Nadine erlaubte sich manchmal schlechte oder ganz schlechte Scherze; sie konnte herausfordernd, spöttisch, sarkastisch sein, doch an ihrem forschenden Blick hatte er bemerkt, dass es ihr ernst war. Sie hatte keinen Witz gemacht, um ihn irgendwie auf die Probe zu stellen.
»Ein Kind«, stammelte er. »Wir bekommen ein Kind?«
Sie nickte, lächelnd. »Ja, eine unbefleckte Empfängnis war es wohl nicht.«
Er küsste sie auf den Mund, dann zogen sie sich gegenseitig aus und liebten sich.
Was das alles bedeutete, hatte er erst später begriffen, als er allein mit sich im Mondlicht am Fenster saß. Er würde ein Kind haben, er war zweiundvierzig Jahre alt, längst nicht mehr jung, und nun war es so weit. Carla, seine frühere Freundin, hatte es irgendwann aufgegeben, mit ihm übers Kinderkriegen zu sprechen, bei ihr war er unsicher und zögernd gewesen, doch bei Nadine war alles viel einfacher und eindeutiger.
Therese war tot, und er wurde Vater.
Stumm hatte er ihr davon erzählt. Therese, stell dir vor, ich, der eigensinnige, oft missgelaunte Polizist, werde bald mit einem Kinderwagen durch die Gegend laufen. Er hörte wieder ihr meckerndes Lachen. Dat war och Zick, min Jung.
Auch seinem Vater, dem seit fast dreißig Jahre toten Motorradpolizisten, schickte er eine stumme Botschaft ins Nirgendwo. Im Gegensatz zur redseligen Therese antwortete er jedoch nicht.
Birte müsste er sofort davon erzählen, überlegte er sich, und Broder, dem Maler, seinem besten Freund. Birte würde vielleicht ein wenig neidisch werden. Insgeheim rechnete er allerdings damit, dass sie und ihr Freund Max sich schon länger über ein gemeinsames Kind Gedanken machten.
Der Mond zog immer weiter – einen silbrigen Schweif zog er hinter sich her.
Wann würde das Kind kommen? Nun war Mitte Juni. Vermutlich im Februar, hatte Nadine gesagt. Er hatte seinen Kopf auf ihren Bauch gelegt und gelauscht, ob schon etwas zu hören war.
»Nee«, hatte Nadine gesagt, »ich glaube, es spricht noch nicht zu dir.«
Nie hatten sie darüber geredet zu heiraten, mit keiner Silbe, und Nadine würde es auch nicht tun. Das wusste er genau. Sie war Dramaturgin am Theater, ihre Freiheit und Unabhängigkeit gingen ihr über alles, doch nun das Kind …
Er hörte sich selbst seufzen. Das erste Tageslicht schwebte von Osten heran, dann begannen zaghaft Vögel zu singen. Ein Lichtfleck glitt durch das Zimmer und legte sich auf Nadines Gesicht. So kam es ihm zumindest vor.
Heute würde er nicht ins Präsidium gehen, auf keinen Fall. Gegen acht würde er Nele, ihre Assistentin, anrufen und einen Tag Urlaub nehmen. Dann würde er Nadine zum Frühstücken einladen. In einem der teuersten Hotels der Stadt, im Gerling-Viertel, auf einer Terrasse mit Blick auf den Dom.
Er sah auf die Uhr; es war mittlerweile zehn Minuten vor fünf. Zwei Stunden würde er noch neben Nadine schlafen können.
Sein Smartphone war auf stumm geschaltet. Trotzdem bemerkte er sofort, dass ihn jemand anrief. »Birte Jessen« leuchtete auf dem Display auf.
Nein, dachte er, so telepathisch kann unsere Verbindung nicht sein, dass sie weiß, dass ich hier seit Stunden vor dem Fenster hocke und den Mond anstarre.
»Sorry, dass ich deinen Schönheitsschlaf störe«, sagte sie mit noch schläfriger Stimme, und er wusste sofort, dass sie einen ganz bestimmten Grund hatte, warum sie anrief.
»Wo?«, fragte er leise, um Nadine nicht zu wecken. »Wo ist ein Toter gefunden worden?«
So hatte sie Max noch nie erlebt – schweigsam und in sich gekehrt. Er redete nur das Nötigste, und neuerdings ging er auch wieder in seine winzige Wohnung am Ubierring. Neulich hatte er sogar zwei Nächte dort verbracht, was in den letzten Monaten nicht mehr vorgekommen war. Sie kannte den Grund. Sein Buch war erschienen – mit großen Hoffnungen, doch nun interessierte sich niemand dafür. Max hatte einen Roman über den 3. März 2009 verfasst, den historischen Tag, an dem das Stadtarchiv in Köln eingestürzt war. Drei Jahre hatte er daran recherchiert und geschrieben, Erzählstimmen ausprobiert und verworfen. Der Roman war ein Panorama dieses einzigartigen Tages – eine Perspektive gehörte dem Jungen, einem Bäckerlehrling, der im Nachbarhaus, das ebenfalls eingestürzt war, zu Tode gekommen war. Birte war sehr beeindruckt gewesen, als sie das Buch gelesen hatte. Doch nun war es endlich gedruckt und veröffentlicht worden, und es passierte nichts.
Zwei Journalisten hatten Max interviewt, von denen einer das Buch gar nicht gelesen hatte, und eine Lesung hatte stattgefunden. Max war viel zu nervös gewesen, und daher hatte er auch nicht gut gelesen. Achtzehn Besucher waren in die Buchhandlung an der Neusser Straße gekommen; zwölf von ihnen hatten Eintritt bezahlt. Am Ende der Veranstaltung hatte die Buchhändlerin ihn mit ein paar knappen Worten verabschiedet.
»Nächste Woche rufe ich in der Agentur an«, hatte Max am Abend gesagt. »Ich steige wieder als Fahrradkurier ein. Ein richtiger Schriftsteller bin ich wohl nicht.«
Sie hatte versucht, ihn zu trösten, die richtigen Worte zu finden. Warte ab … Vielleicht fehlt nur die eine große Rezension im Stadt-Anzeiger.
»Die hat es schon gegeben«, antwortete er. »Im hintersten Lokalteil – zehn Zeilen. Eine knappe Inhaltsangabe.«
Die Lektorin in seinem Verlag in Berlin, die die Rechte des Buches eingekauft hatte, stellte sich taub. Sie sei auf Dienstreise, hatte man Max geantwortet.
Er hatte sich die Prothese abgeschnallt und war ins Bett gegangen. Als er auf einem Rennrad für einen Triathlon trainiert hatte, war er von einem Lastwagen angefahren worden; man hatte ihm den rechten Unterschenkel amputieren müssen. Damit war der Traum zerplatzt, einmal am Ironman-Wettkampf auf Hawaii teilzunehmen. Das Desinteresse an seinem Buch empfand er nun als zweite große Niederlage.
Der Mond schien hell ins Zimmer. Birte konnte nicht schlafen.
»Schreib ein neues Buch«, hatte sie zu Max gesagt, aber damit hatte sie offenbar einen wunden Punkt getroffen. Er war wütend geworden. Ob sie nicht wisse, wie viel Zeit und Mühe und Gedankenarbeit ihn der erste Roman gekostet habe?
Schreib über dich, hätte sie ihm am liebsten gesagt, wie es ist, ein Bein zu verlieren, aus dem Olymp eines erfolgreichen Sportlers hinabzustürzen in die Hölle eines Behinderten.
»Ich habe es schon versucht«, hatte er geflüstert, bevor er eingeschlafen war. »Ich wollte über mein Bein schreiben, das es nicht mehr gibt. Mein Bein ist tot, es ist schon im Himmel, nur ich bin noch da.«
Es hatte geklungen, als hätte ein zehnjähriger Junge diese Worte gesprochen – kein Mann von achtunddreißig Jahren, der nun wieder Fahrradkurier werden wollte.
Sie küsste ihn auf die Wange und drückte sich an ihn, doch irgendwie, offenbar aus einem Instinkt heraus, rückte er von ihr ab. Dann hörte sie ihn leise schnarchen und wurde sogar ein wenig wütend auf ihn.
Nun hatte er seinen Frust auf sie abgeladen und schlief friedlich, während sich in ihrem Kopf ein Gedankenkarussell drehte. Damit würde Max bestimmt nicht zufrieden sein – wieder durch die Stadt zu kurven, um dringende Sendungen auszufahren. »Nur Essen«, hatte er gesagt, »so etwas kommt für mich nicht in Frage, dass ich Sushi oder Nudelsuppe ausfahre.« Und sie? Die letzten Jahre bei der Kölner Polizei waren anstrengend gewesen. Eigentlich hatte sie nur eine kurze Auszeit von Hamburg nehmen wollen, nachdem Martin, ihr Lebensgefährte, der Geigenbauer von Sankt Pauli, gestorben war. Aber irgendwie war sie in dieser seltsamen Stadt gestrandet, wo alles ein wenig anders gehandhabt wurde – hier ging es kleinbürgerlich anarchisch zu. Die Stadt war hässlich, hatte aber – wie es so hieß – ein paar schöne Ecken, und der Klüngel war sprichwörtlich. Wollte sie für immer hierbleiben, oder war nun der Moment gekommen, mit Max zu überlegen, ob sie nicht etwas anderes anfangen wollten? Eine Rückkehr nach Hamburg etwa – der Hafen, die Alster, Övelgönne, das Alte Land. Manchmal hatte sie doch heftige Anflüge von Heimweh.
Dann strich Max ihr über die Schulter. Der Mond leuchtete nicht mehr wie eine große weiße Papierlaterne ins Zimmer. Anscheinend war sie doch irgendwann eingeschlafen, bedrängt von ihren sorgenvollen Gedanken.
»Dein Telefon klingelt«, sagte er leise und wandte sich wieder ab.
Es war Nele, die immer bereite, immer perfekte Kriminalassistentin, die so viel mehr hätte sein können, wenn sie denn gewollt hätte.
»Schiller und du, ihr habt einen Einsatz. Am Aachener Weiher, da haben sie einen Toten mit einer üblen Bauchverletzung aus dem Wasser gezogen.«
Eigentlich liebte sie die erste helle Stunde des Tages, besonders im Juni, wenn es sehr früh hell wurde. Die Vögel sangen, als sie zu ihrem alten Alfa lief, von dem sie immer hoffte, dass er ansprang. Irgendwo zwischen den Häusern ging die Sonne auf. Doch wie oft war sie so früh zu einem Einsatz gerufen worden. Die Szenerie änderte sich dann binnen Sekunden – von Morgenidylle zum Tatort.
Es herrschte wenig Verkehr. In kaum zehn Minuten war sie von ihrer Wohnung am Hermeskeiler Platz am Aachener Weiher angekommen. Zwei Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht markierten den Tatort, der auf der südlichen Seite des Weihers hinter dem Ostasiatischen Museum lag.
Birte parkte vor dem Museum und lief dann um das Gebäude herum auf einen der Polizeiwagen zu. Eine junge Polizistin mit einem langen roten Haarzopf begrüßte sie.
»Der Tote wird gerade geborgen. Zwei Kollegen von der Kriminaltechnik waren schnell vor Ort.« Sie deutete zum Ufer. Drei uniformierte Polizisten waren dabei, auf einer schmalen, abschüssigen Rasenfläche hinter dem Museum eine Plastikplane auszubreiten. Zwei weitere Beamte standen in Schutzkleidung im Wasser, das hier aber nicht besonders tief war.
»Wer hat sie alarmiert?«, fragte Birte.
Die Beamtin lächelte. »Das war Frisbee, ein Obdachloser, der oben in dem Wäldchen wohnt. Er sitzt dahinten an einen Baum gelehnt und wartet schon auf Sie.«
Birte nickte. Ein Stück abseits auf einer lang gestreckten Wiese hockte jemand, der eine große bunte Tasche im Arm hielt und sie mit düsterer Miene ansah, als sie auf ihn zuging. Der Mann, den die Polizistin Frisbee genannt hatte, mochte Mitte dreißig sein, er hatte lange schwarze Haare und einen ebenso schwarzen Vollbart, er trug einen roten Pullover und eine blaue Trainingshose, er war barfuß. Erst als sie vor ihm stand, wandte er den Blick.
»Sie haben den Toten gefunden?«, fragte sie.
Der Mann schaute sie an. Er hatte beinahe kohlschwarze Augen, sein Mund war in dem dichten Bart gar nicht zu erkennen, doch irgendwie brachte er einen Laut hervor. »Er hat mich gerufen.«
»Der Tote hat Sie gerufen?«, fragte Birte verwirrt. »Er war also noch nicht tot?«
Der Bart in dem Gesicht des Mannes bewegte sich; kurz blitzten erstaunlich weiße Zähne auf. Ein Lächeln – der Mann hatte anscheinend gelächelt.
»Nein, ich bin zum See gegangen. Als es noch dunkel war, kurz vor dem ersten Licht, um zu meditieren, und da hat der Tote mich gerufen. Sein Geist hat nach mir verlangt.«
»Okay«, sagte Birte gedehnt. »Sie gehen morgens an den Weiher, um zu meditieren.«
Der Mann nickte. »Im Sommer schlafe ich manchmal oben in dem Wäldchen auf einer Matte, frühmorgens meditiere ich, nachmittags spiele ich Frisbee.«
Also gut, daher der Name, den die Polizistin ihm verliehen hatte. Birte hatte das Gefühl, ein wenig weiterzukommen.
»Der Tote lag schon im Wasser, als er Sie gerufen hat. Ja? Ist Ihnen etwas aufgefallen? Ist jemand weggelaufen?«
Der Mann musterte sie, als müsste er sich ihr Gesicht einprägen, als wäre das plötzlich wichtig für ihn. »Nein«, sagte er dann, »gesehen habe ich niemanden, aber irgendwo ist ein Motorrad weggefahren, und ein Duft hing in der Luft, ein Duft von Kräutern, und im Wasser war Blut – Schlieren von Blut.« Er griff in seine Tasche und holte ein nagelneues iPhone hervor. »Ich habe ein Foto gemacht, nachdem ich ganz brav die Polizei verständigt hatte.«
Er hielt es ihr hin; seine Hände waren schmutzig, als hätte er in der Erde gegraben.
Birte kniff die Augen zusammen. Sah sie nun zum ersten Mal den Toten? Nein, ein Gesicht oder ein toter Körper war auf dem Display nicht zu erkennen, sondern eine grünliche Flüssigkeit, die von roten Fäden durchzogen wurde.
»Sieht aus wie ein Bild von Gerhard Richter, nicht wahr?«, sagte der Mann, und wieder funkelten seine Zähne in dem dichten Bartwuchs auf.
»Könnten Sie mir das Foto schicken?« Birte nahm eine Visitenkarte hervor und hielt sie dem Mann hin.
Zögernd nahm er sie entgegen.
»Haben Sie einen festen Wohnsitz?«, fragte sie weiter. »Wir brauchen Ihre Daten für unsere Ermittlungen.«
Der Mann griff in die hintere Tasche seiner Trainingshose. »Solche Karten hatte ich früher auch«, sagte er mit einem spöttischen Unterton. »In meiner Wohnung leben ein paar Freunde und deren Freunde. Manchmal gehe ich dahin, aber im Moment bin ich lieber im Wäldchen.«
»Dr. Christian Prahl, Biostatistiker«, stand da – auf der Rückseite eine Mobilnummer und eine Adresse: »Auf dem Berlich 8«. Eine Straße in der Innenstadt, wenn sie sich nicht irrte.
»Sie sind gar kein Obdachloser«, rief Birte verblüfft aus.
»Doch«, sagte Prahl, »im Moment schon. Ich habe mir eine Auszeit genommen. Zuletzt habe ich mich zu viel mit Krankheiten beschäftigt. Falls Sie mich einmal suchen sollten, finden Sie mich hier – am besten morgens gegen fünf Uhr, wenn die Sonne aufgeht.«
Birte nickte ihm zu. Der spöttische Tonfall in seiner Stimme war mit jedem Wort deutlicher geworden. Sie wandte sich ab, und während sie zu den Polizisten hinüberging, die nun den Leichnam geborgen hatten, rief Prahl ihr nach: »Ach, der Tote war übrigens nicht traurig, dass er starb. Es hat ihm nicht viel ausgemacht.«
Schiller sah, wie Birte zum Wasser hinunterlief. Klar, dass sie nicht zuerst zum Toten gegangen war; Leichen anzuschauen überließ sie gern ihm.
Sie nickte ihm zu. »Ich habe den Zeugen befragt, der uns alarmiert hat«, sagte sie, als müsste sie sich rechtfertigen.
Der Mann blickte zu ihnen herüber, er hockte an einem Baum; offensichtlich trug er eine Trainingshose und keine Schuhe. »Ein Obdachloser aus dem Park?«
»Ein promovierter Biostatiker, der zwischen den Bäumen schläft«, erwiderte Birte und hielt ihm eine Visitenkarte hin.
»Was soll das sein – ein Biostatiker?«
Birte lächelte. »Keine Ahnung – hat wohl irgendwas mit Medizin zu tun. Jedenfalls ein merkwürdiger Typ.«
Sie hatten sich der Plastikplane genähert, auf die zwei Techniker den Toten gelegt hatten. Die beiden trugen hohe Gummistiefel und Gummihosen, wie Schiller sie von Anglern kannte.
»Morgenstund hat Gold im Mund«, sagte einer der beiden, ein glatzköpfiger Mittvierziger, der tatsächlich Schmitz hieß, der kölscheste aller Familiennamen, und der für seinen seltsamen und oft deplatzierten Humor bekannt war. »Gut, dass ich an Schlaflosigkeit leide.«
Der Tote mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, er war mager, hatte ein bleiches, eingefallenes Gesicht, sein Schädel war kahl rasiert, er trug eine graue Leinenhose und ein ebenso graues Hemd, das in Höhe des Bauchnabels aufgerissen war und sich blutig verfärbt hatte. An seinen Füßen steckten weiße Stoffschuhe.
»Schlaf wird gemeinhin überschätzt«, sagte eine Stimme hinter Schiller. Dr. Monika Grams, die Rechtsmedizinerin, eilte in ihrer roten Lederjacke auf sie zu. »Na«, sagte sie zu Schiller, »wir beiden Hübschen haben uns ja lange nicht gesehen.« Birte hingegen bedachte sie mit keinem Blick, als wäre sie nicht mehr als eine unbedeutende Assistentin. Das war schon bei früheren Gelegenheiten so gewesen. »Was haben wir denn hier?«, fuhr die Rechtsmedizinerin dann fort, während sie einen Metallkoffer abstellte und sich Latexhandschuhe überstreifte. »Sieht aus, als hätte sich ein tibetischer Mönch nach Köln verirrt.«
»Tragen tibetische Mönche nicht alle orangefarbene Kleidung?«, fragte Birte in einem unfreundlichen Tonfall.
Monika Grams antwortete nicht. Sie beugte sich vor, hob das feuchte zerrissene Hemd an und runzelte die Stirn. »So eine tiefe Messerwunde sieht man nicht alle Tage. Da hat ihm jemand wirklich eindrucksvoll den Bauch aufgeschlitzt. Schätze, dass ein ziemlich langes Messer dem armen Kerl die Aorta durchtrennt hat. Das macht einem beinahe sofort den Garaus.«
»Mord also«, sagte Schiller.
Die Rechtsmedizinerin richtete sich wieder auf. »Wo genau hat man den Toten gefunden?«
Schiller deutete hinter sich. Die Wasserkante lag nur einen Schritt hinter ihnen. »Er hat wohl direkt hier im Wasser gelegen. In diesem Weiher bewegt sich nichts. Da gibt es nicht viel Abtrieb.«
»So ein Schnitt bedeutet einen sofortigen erheblichen Blutverlust«, erklärte Monika Grams. »Da müsste die Stelle schnell zu finden sein, wo man ihm das Messer in den Bauch gestoßen hat.«
»Ja«, sagte Birte in einem vorgeblich einschmeichelnden Ton, »Sie haben wieder einmal recht, Frau Doktor.« Sie deutete auf eine Stelle im Gras, nur einen halben Meter von ihnen entfernt. »Hier genau hat der Mann gestanden und ist dann ins Wasser gekippt.«
Nun entdeckte Schiller auch die Blutspritzer auf dem Boden; es sah aus, als hätte ein Maler nachlässig mit roter Farbe herumgespielt.
»Wir müssen das alles absperren«, rief er einem Beamten zu. »Und dann werden wir Taucher brauchen, die sich den Grund des Weihers ansehen. Vermutlich hat der Täter das Messer gleich vor Ort weggeworfen.«
Monika Grams lächelte ihn süffisant an. »Wie gut, dass es bei der Kripo noch Leute gibt, die eindeutige Befehle erteilen können. Ich habe noch etwas für Sie. Könnte Ihnen und Ihrer hübschen Kollegin helfen.« Zum ersten Mal warf sie Birte einen kurzen Blick zu. Das Portemonnaie jedoch, das sie dem Toten aus seiner Leinenhose gezogen hatte, hielt sie Schiller hin.
Der Tote hieß Henner Brohl, er war sechsundvierzig Jahre alt und in Köln geboren.
Das Bild in seinem Personalausweis hätte jedoch nicht auf den Mann schließen lassen, den sie erstochen aus dem Weiher geborgen hatten. Brohl wirkte auf der Aufnahme wie ein drahtiger, muskulöser Sportler, sein Haar war halblang und so blond, als hätte er es gefärbt. Als Adresse war auf dem Ausweis Lindenstraße 8 vermerkt, eine Straße also gleich um die Ecke. Der Ausweis war allerdings bereits elf Jahre alt und abgelaufen.
»Wir könnten vorbeigehen und uns irgendwo einen Kaffee besorgen«, sagte Schiller mit dem Blick auf Birte. Zwei Beamte machten sich daran, mit Flatterband das gesamte Ufer bis zum Museum und zu dem Japanischen Kulturinstitut, das sich anschloss, abzusperren, während Monika Grams in ein Smartphone sprach.
»Frau Doktor nervt ein wenig«, sagte Birte so laut, dass man sie bis zum Ufer verstehen konnte. »Sie will dich und mich provozieren, scheint mir, aber das tun frustrierte Frauen bekanntlich gerne. Kennst du dich ja mit aus.« Birte lächelte.
Schiller wandte sich ab. Die Anspielung war zu leicht zu verstehen. Mit der Vorgängerin von Monika Grams hatte er eine kurze Affäre gehabt; zumindest war es für ihn eine Affäre, nein, eigentlich ein bedauerlicher Irrtum gewesen, während Almut Schwäbe an die große Liebe geglaubt hatte; mittlerweile arbeitete sie zum Glück in Frankfurt am Institut für Rechtsmedizin und schickte ihm seit geraumer Zeit auch keine Kurznachrichten mehr.
»Brohl«, sagte er, statt auf Birtes Worte einzugehen, »so heißt doch auch unser Oberbürgermeister, oder irre ich mich? Friedrich Brohl … Zumindest von der Gesichtsform ähneln die beiden sich schon sehr. Wenn wir Pech haben, haben wir eben den Bruder unseres höchsten Bürgers aus dem Wasser gezogen.«
Schiller probte die Worte, während sie auf der Lindenstraße auf einen Kiosk zusteuerten, an dem soeben die Rollladen hochgezogen worden waren. Nadine, sie hat mir gestern etwas eröffnet, eine wirklich schöne Neuigkeit. Ich war ein wenig überrascht, aber es sieht wohl so aus, dass ich Vater werde … Nein, das waren nicht die richtigen Worte. Der schwarze Kaffee, den ihm der türkische Kioskbesitzer reichte, tat gut. Birte hatte einmal gemeint, bei dem, was er an Koffein den ganzen Tag zu sich nahm, müsste eigentlich Kaffee statt Blut durch seine Adern pulsieren.
»Polizei?«, fragte der Türke freundlich. »Ist was passiert?«
Schiller antwortete nicht, doch Birte sagte: »Nichts passiert. Wir suchen nur jemanden, der in der Gegend wohnt – Henner Brohl. Kennen Sie einen Mann, der so heißt?«
Der Kioskbesitzer lächelte. »Henner – der Schwimmer. Ja, hat hier gewohnt. Gegenüber. Er ist wieder da, war vorgestern bei mir. Trinkt aber kein Kaffee mehr, nur Tee. Sah schlecht aus, krank, richtig elend.«
Schiller setzte den Kaffee ab. »Sie haben ihn vorgestern gesehen?«
Der Mann nickte. »Brohl wollte alte Heimat sehen. Er war lange in Japan, war da Yogalehrer, glaube ich.«
Birte holte ihr Notizbuch hervor. Sie warf Schiller einen Blick zu. War dieses Gerede von tibetischen Mönchen gar nicht so weit hergeholt gewesen? »Was wissen Sie genau über Henner Brohl?«
Der Kioskbesitzer griff sich durch sein kurz geschorenes schwarzes Haar. »Was ist mit Henner?«, fragte er, nun in einem anderen, lauernden Tonfall.
»Wir führen Ermittlungen durch, in denen Herr Brohl eine Rolle spielt«, erklärte Schiller förmlich. »Es geht um ein Verbrechen gegen das Leben, also keine Kleinigkeit.«
»Brohl hat hier gelebt, hat immer seinen Stadt-Anzeiger bei mir gekauft und manchmal eine Flasche Bier, nur eine Flasche, nie zwei, dann war er auf einmal weg. Nach Japan, hat er mir vorgestern gesagt, weil er Ärger mit dem Gericht hatte.«
»Wann war das?«, fragte Birte.
»Vor zehn Jahren«, sagte der Kioskbesitzer. »Ja, ist lange her. Vorgestern habe ich ihn zum ersten Mal wiedergesehen. He, habe ich gesagt, was gibt es da in Japan zu essen – nur Reis?« Er schaute Schiller aus tiefbraunen Augen an. »Brohl war dünn wie ein Strich. Ja, hat er gemeint, nur Reis. Dann hat er mir die Hand gegeben, hat sie gedrückt und ist zwei Minuten später wieder gegangen. Mehr kann ich nicht sagen.« Er blickte auf seine rechte Hand, als müsste da noch eine Spur der Begegnung mit Brohl zu sehen sein.
»Mehr können Sie nicht sagen?«, wiederholte Birte skeptisch. Schiller sah ihr an, dass sie meinte, dass der Kioskbesitzer nun doch nicht so offen mit ihnen sprach, weil das Ganze zu offiziell und bedeutsam geworden war.
Der Mann nickte. »Mehr nicht. War nur ein Nachbar, guter Nachbar. Hat nie Schulden gemacht.«
»Brohl wohnt also nicht mehr drüben in Haus Nummer 8? Wissen Sie vielleicht, wo er sich zuletzt aufgehalten hat?«, fragte Birte. Ihr Notizbuch hielt sie noch aufgeschlagen in der Hand.
»Nein«, sagte der Kioskbesitzer. »Bedaure, das weiß ich nicht.«
»Aber eines«, erklärte Schiller, den die plötzliche Einsilbigkeit zu ärgern begann, »wissen Sie vielleicht doch. Ist Henner Brohl der Bruder unseres Oberbürgermeisters?«
Der Türke musterte ihn und runzelte die Stirn, als müsse er seine Antwort sorgfältig abwägen. »Ja«, sagte er, »ist wohl so. Der Oberbürgermeister ist älterer Bruder von Henner.«
Schiller ging zu dem Kriminaltechniker hinüber, während Birte mit ihrem Alfa ins Präsidium fuhr.
Max hatte ihr eine Nachricht geschrieben. »Platz 182.645« lautete sie. Also hatte er bei einem Onlinebuchhändler wieder nachgeschaut, auf welchem Rang sein Roman stand. Das tat er mindestens zehn Mal am Tag – es war eine regelrechte Marotte geworden. Sie hatte es ihm nicht ausreden können. Einmal war sie versucht gewesen, zehn Bücher zu bestellen, damit wenigstens für eine Stunde das Buch eine bessere Platzierung bekam. Vielleicht würde sie Jan bitten, das für sie zu erledigen. Nadine, seine Freundin, war Dramaturgin am Theater, sie könnte das Buch ja unter ihren Kollegen verteilen.
Als sie am Deutzer Bahnhof an einer Ampel hielt, sah sie einen Zeitungsautomaten, in dem der Express angeboten wurde. Ein Foto des Oberbürgermeisters zierte den Titel, daneben die Schlagzeile: »Wo sind die neuen Wohnungen für Köln? Hat der Oberbürgermeister gelogen?«
Birte parkte auf dem Gehsteig und kaufte sich eine Ausgabe. Jan mochte recht haben; wenn man die Gesichtsform des Oberbürgermeisters betrachtete, konnte man eine vage Ähnlichkeit mit dem toten Henner Brohl feststellen. Für die Lokalpolitik hatte sie selbst sich nie interessiert. Offenbar hatte der Oberbürgermeister etwas versprochen, was er nun nicht einhalten wollte oder konnte. Eines war jedoch eindeutig: Falls der Tote tatsächlich der Bruder war, würden einige Journalisten das Präsidium regelrecht belagern.
Nele Krach, ihre Assistentin, saß wie üblich an ihrem Schreibtisch. Sie war Mitte zwanzig und von einer Schönheit, dass sie auch als Model Karriere hätte machen können, aber das hier war ihr Metier: am Computer recherchieren und jeder Spur nachgehen, die sie im Netz finden konnte. Außerdem stand sie mit allen anderen Dienststellen in Kontakt.
»Vier weitere Kriminaltechniker sind zum Aachener Weiher gefahren«, sagte sie. »Und ein Taucher von der Wasserschutzpolizei wird in einer Stunde eintreffen. Die waren zuerst nicht sonderlich kooperativ.«
Birte legte ihr den Express hin. »Ist der Tote Henner Brohl der Bruder des Oberbürgermeisters?«
Nele lächelte. »Jan hat mich eben angerufen und auch schon danach gefragt. Die Antwort ist einfach. Friedrich Brohl hat zwei jüngere Brüder. Rudolf Brohl ist Kardiologe in Bonn, Henner Brohl war Lehrer am Hansa-Gymnasium, bis er vor zehn Jahren gekündigt hat und –«
»Und nach Japan ausgewandert ist«, beendete Birte den Satz.
»Das wisst ihr also schon.« Nele blickte auf ihren Bildschirm.
»Ein Kioskbesitzer in der Lindenstraße, wo Henner Brohl gewohnt hat, hat es uns erzählt.«
»Brohl war Schwimmtrainer bei Rhenania. Er hatte wohl einigen Ärger wegen seiner Trainingsmethoden. Habe dazu jedenfalls einen Artikel im Netz gefunden. Gab allerdings keine Anklage.«
»War er verheiratet?«, fragte Birte.
Nele schüttelte den Kopf. »Wohl nicht. Muss ich aber noch genauer checken.«
Birte blickte auf ihr Smartphone. Keine Nachricht mehr von Max. Es war mittlerweile kurz vor acht Uhr. »Dann ist der Oberbürgermeister offenbar der nächste Angehörige. Ich muss ihn sprechen. Kriegst du eine Telefonnummer heraus, oder weißt du, wo wir ihn finden können?«
Nele lächelte sie an. »Fitschen kennt den OB. Er weiß schon über den Fall Bescheid und hat sich gemeldet. Friedrich Brohl wohnt in Junkersdorf. Und hier steht seine private Mobilnummer. Die haben nicht viele Leute in der Stadt.«
Kriminaldirektor Fitschen machte sich neuerdings Hoffnung, der nächste Polizeipräsident von Köln zu werden. Anscheinend tummelte er sich deshalb in letzter Zeit häufiger in politischen Kreisen.
Birte wählte die Nummer, doch niemand hob ab. »Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar«, meldete eine mechanische Stimme.
»Wahrscheinlich geht der Oberbürgermeister nicht ans Telefon, wenn ihn eine unbekannte Nummer anruft«, meinte Nele. »Ich habe auch noch seine Festnetznummer in Junkersdorf.«
Doch da hob ebenfalls niemand ab.
»Vielleicht ist der Oberbürgermeister schon im Rathaus, oder er hat einen anderen Termin.« Nele wählte eine andere Nummer.
Das Vorzimmer des Oberbürgermeisters, wie Birte mitbekam. Nele erklärte den Grund ihrer Anfrage, und anscheinend erhielt sie auch eine Antwort.
»Herr Brohl ist nicht im Rathaus?«, fragte sie nach. »Noch nicht eingetroffen? Aber er hat heute Termine?«
Nachdem sie aufgelegt hatte, schaute sie Birte mit ungewöhnlich düsterer Miene an. »Die Dame hat mir natürlich nicht alles erzählt, doch irgendwie klang es, als hätte Brohl spätestens um acht an seinem Schreibtisch sitzen sollen, aber er ist noch nicht da.«
»Hat so jemand nicht einen Chauffeur, der ihn abholt?«, fragte Birte.
»Klar, genau wie unser Präsident. Mit der Straßenbahn fahren die jedenfalls nicht durch die Gegend.«
Birte nahm sich ihre Jacke, die sie bereits ausgezogen hatte. »Dann muss ich wohl oder übel einen Hausbesuch machen«, sagte sie.
Friedrich Brohl wohnte in einer stillen Seitenstraße in Junkersdorf, ein Stück stadtauswärts hinter der Sporthochschule. Keine Villengegend, aber recht vornehm und gutbürgerlich. Hier hatte auch Max früher gelebt, als er noch ein Triathlet gewesen war, der sich Hoffnungen machte, irgendwann den Ironman auf Hawaii zu gewinnen.
Birte parkte direkt vor der Adresse, die Nele ihr gegeben hatte. Ein weißes kastenförmiges Haus mit einer breiten Einfahrt und einer Doppelgarage. Ein Apfelbaum stand davor auf einer kleinen gepflegten Rasenfläche. An dem Eingang entdeckte Birte ein goldenes Messingschild: »Brigitte Brohl – Architektin«.
Wie sagte man dem Stadtoberhaupt, dass der eigene Bruder ermordet worden war? Dazu hatte sie sich auf der Fahrt keinerlei Gedanken gemacht. Sie war beschäftigt gewesen. Jan hatte ihr berichtet, dass bisher keine Tatwaffe gefunden und der Leichnam bereits in die Rechtsmedizin überführt worden war.
Und Max hatte wieder eine Zahl geschickt. »165.612«. Als sie an einer Ampel warten musste, hatte sie seinen Roman online bestellt. Im letzten Moment war ihr glücklicherweise eingefallen, ihre Adresse zu ändern. Nun würde der Roman zu ihren Eltern nach Travemünde geschickt werden.
Erst nach dem fünften Klingeln zeigte sich ein Schatten hinter dem Fenster in der Eingangstür. Eine Frau öffnete und schaute sie misstrauisch an. »Ja bitte?«
Birte hatte ihren Dienstausweis gezückt und hielt ihn hoch. »Hauptkommissarin Jessen von der Kripo Köln. Ich würde gerne mit Herrn Brohl sprechen.«
Die Frau mochte Anfang fünfzig sein. Sie trug einen schwarzen, teuer aussehenden Rollkragenpullover und weiße Jeans, ihre Frisur war makellos, schwarze, vermutlich gefärbte und von einem guten Friseur halblang geschnittene Haare.
»Mein Mann ist nicht da«, erwiderte sie mit einer angenehmen weichen Stimme. »Worum geht es denn?«
»Könnten Sie Ihren Mann erreichen?«, fragte Birte, statt zu antworten. »Es ist wirklich dringend.«
»Gibt es einen Notfall im Rathaus? Ist etwas passiert?« Die ohnehin schon dunklen Augen der Frau schienen noch dunkler zu werden.
»Was passiert ist, kann ich leider nur Ihrem Mann mitteilen«, erwiderte Birte.
Ein schwarzer Pudel zeigte sich nun hinter der Frau, er bellte nicht, sondern hielt seine Schnauze hoch, als versuche er, etwas zu wittern.