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Hauptkommissar Jan Schiller wird frühmorgens zum Rheinauhafen gerufen. Eine Leiche soll dort im Wasser treiben, doch was man herausfischt, ist nicht mehr als ein Holzbein, das offenbar zu einer sehr alten Puppe gehört. Wenig später aber wird ein echter Mord gemeldet. In einem Apartmenthaus in Köln-Mülheim wurde die junge Prostituierte Eva Engels erschossen aufgefunden. Doch nicht nur Schiller will den Mord aufklären, sondern auch Evas faszinierend schöne Schwester Ellen. Während Schiller noch versucht, ihr den gefährlichen Alleingang auszureden, wird der engste Freund der Toten erhängt in seiner Wohnung entdeckt …
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Seitenzahl: 331
Hauptkommissar Jan Schiller wird frühmorgens zum Rheinauhafen gerufen. Eine Leiche soll dort im Wasser treiben, doch was man herausfischt, ist nicht mehr als ein Holzbein, das offenbar zu einer sehr alten Puppe gehört. Wenig später aber wird ein echter Mord gemeldet. In einem Apartmenthaus in Köln-Mülheim wurde die junge Prostituierte Eva Engels erschossen aufgefunden. Doch nicht nur Schiller will den Mord aufklären, sondern auch Evas faszinierend schöne Schwester Ellen. Während Schiller noch versucht, ihr den gefährlichen Alleingang auszureden, wird der engste Freund der Toten erhängt in seiner Wohnung entdeckt …
Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman "Rote Frauen", der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.
Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über "Matthias Brasch". Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.
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Reinhard Rohn
Kölnisch Wasser
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Impressum
»My heart is empty
But the songs I sing
Are filled with love for you«
A man said that to me
That’s how I know
Nico (bürgerlich Christa Päffgen,
geboren am 16. 10. 1938 in Köln,
gestorben am 18. 7. 1988 auf Ibiza)
Therese hatte die Leiche entdeckt und ihn angerufen. Was tat eine zweiundachtzigjährige Hebamme morgens um sieben am Schokoladenmuseum? Als Jan Schiller auf der Brücke vor dem Museum hielt, saß Therese auf der Treppe und winkte ihm fröhlich zu. Sie trug wie immer ihren babyblauen Wollmantel. Ein Streifenwagen war schon vor Ort, wie Schiller mit einem raschen Blick feststellte. Zwei Beamte standen auf der Brücke und schauten ihm entgegen.
»Die Wasserschutzpolizei ist informiert«, erklärte ihm der ältere der beiden, den Schiller vom Sehen kannte.
»Ist der Tote ein Mann oder eine Frau?«, fragte Schiller.
Er war müde. Bis nachts um drei hatte er mit Carla diskutiert. Sie hatte ihn gebeten, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Er sollte die zwei Wochen nutzen, die sie mit einer Gruppe straffällig gewordener Jugendliche auf einem Segelschiff auf dem Mittelmeer verbringen würde. Seinen Schrecken hatte er sich nicht anmerken lassen. Gut, die letzten Wochen hatten sie sich kaum gesehen, und wenn, hatten sie fast nur geschwiegen. Aber dass er ausziehen sollte … Wie kam sie dazu, so etwas von ihm zu verlangen? Nach dem Schrecken war der Zorn gekommen und hatte sich tief in ihn hineingefressen.
»Ehrlich gesagt, wissen wir es nicht«, antwortete der ältere Polizist. »Wir warten auf die Kollegen …«
Therese schob sich heran und strich Schiller über die Wange. »Jan«, sagte sie zärtlich, als hätte sie ein kleines Kind vor sich, aber für sie war er immer noch der Junge, der mit vierzehn seine Eltern verloren hatte und um den sie sich kümmern musste. »Da ist dieses fahle Bein – hat mich ganz schön erschreckt.«
»Wieso läufst du morgens um sieben am Rhein herum?«, fragte Schiller ein wenig vorwurfsvoll.
Therese lächelte, ihr Gesicht hinter der viel zu großen Brille legte sich in Falten. »Hatte heute Nacht einen Notfall in der Südstadt, und dann habe ich mir gedacht, ich sehe nach, ob du vielleicht an deinem Boot bist. Ich habe mir plötzlich gewünscht, mit dir eine kleine Ausfahrt zu machen, und außerdem …« Sie kicherte. »Neulich nachts habe ich Stiche in der Brust gehabt und mir überlegt, dass es Zeit für ein Testament ist. Ich werde im August dreiundachtzig«, fügte sie mit ernster Stimme hinzu.
»Du bist meinetwegen hier am Yachthafen?«, fragte Schiller ungläubig.
Therese nickte. Hinter ihr kam ein zweiter Polizeiwagen heran. Vom Rhein näherte sich ein Polizeiboot.
»Und dann hast du die Leiche gesehen?«, fragte Schiller weiter.
Die alte Hebamme war äußerst umtriebig, sie kannte in Köln Gott und die Welt, aber dass sie möglicherweise Zeugin in einem Mordfall war, war bisher noch nicht vorgekommen.
»Ich habe nur dieses Bein gesehen, das da im Wasser trieb.« Sie deutete in den Hafen, in dem auch Schillers eigenes kleines Motorboot lag, das er aber kaum noch benutzte. Vor einigen Jahren hatte er es aus einer Laune heraus gekauft. Tatsächlich machte es den Kopf frei, den Fluss hinaufzufahren und das Gesicht in den Wind zu halten. Leider kam er selten dazu. Er hatte noch ein paar andere Vorlieben, Tango tanzen etwa oder Marathon laufen. Auch das hatte Carla ihm vorgeworfen.
Schiller trat an das Geländer und starrte auf das Wasser hinunter, jedoch ohne etwas zu entdecken. Das Polizeiboot war mittlerweile herangekommen. Ein Beamter grüßte von Deck zu ihm herauf.
»Ein Toter im Wasser?«, fragte Schiller.
»Hinten an den Booten!«, rief der uniformierte Polizist neben ihm.
»Bleib bitte hier und warte auf mich.« Schiller strich Therese über den Arm. Dann lief er zur Uferstraße und sprang in den Hafen hinunter. Kleinere Yachten lagen hier, einige Plätze waren auch für Gäste reserviert, die eine Rheintour machten und für ein, zwei Tage anlegten. Eine Leiche war an dieser Stelle allerdings schon länger nicht mehr gefunden worden.
Schiller winkte das Polizeiboot heran, um an Bord gehen zu können.
»Na, hat sich da einer ins Wasser gestürzt – oder hat die Alte vielleicht einen Wassergeist gesehen?«, fragte der Beamte lächelnd.
»Die Alte hat bessere Augen als wir beide«, erwiderte Schiller unfreundlich. Dann ging er zum Bug und blickte auf das grünliche Wasser.
Der Beamte trat mit einer langen Stange in der Hand neben ihn.
»Seid ihr blind?«, rief Therese von der Brücke. »Genau vor euch treibt das Bein.«
Sie schien tatsächlich Adleraugen zu haben.
Der Polizist tauchte die Stange ins Wasser ein. Hatte er etwas entdeckt? Schiller kniff die Augen zusammen. Die Müdigkeit machte ihm zu schaffen. Nichts hätte er nun dringender gebraucht als einen starken schwarzen Kaffee. In knapp zwei Stunden ging Carlas Maschine nach Nizza. Er hatte versprochen, zum Flughafen zu kommen.
»Da treibt tatsächlich etwas«, sagte der Mann von der Wasserschutzpolizei. »Nehmen Sie die Stange mit dem Netz!« Er deutete hinter sich.
Schiller brauchte einen Moment, um zu kapieren, dann griff er nach einer anderen Metallstange. Wasser war ein schwieriger Tatort, fiel ihm ein, bestens geeignet, um Spuren zu verwischen.
»Ein Bein!«, rief der Polizist. »Mehr kann ich nicht entdecken.« Er stieß einen länglichen Gegenstand an, der daraufhin auf sie zutrieb und ein paar kleine Wellen schlug.
Schiller brauchte drei Versuche, um den Gegenstand einzufangen. Ein Bein – tatsächlich, aber nichts sonst.
Der Polizist half ihm, ihren Fund an Bord zu schaffen. Wasser pladderte aus dem Netz, aber was sich darin verfangen hatte, war unzweifelhaft ein halbes Bein, sauber unterhalb des Knies abgetrennt. Grober brauner Stoff umgab das Bein, und der Fuß, anscheinend ein rechter, steckte in einer schwarzen, unmodernen Gamasche.
Ratlos blickte der Polizist Schiller an. »Was ist das?«, fragte er. »Hat hier jemand Leichenteile versenkt?«
Schiller zuckte mit den Achseln und streifte sich Latexhandschuhe über.
Nun kam auch der zweite Kollege, der das Boot gesteuert hatte, neugierig heran. Stilecht trug er eine Mütze. »Falscher Alarm?«, fragte er.
Schiller beugte sich über das Bein. So einen Schuh hatte er noch nie gesehen. Niemand trug heutzutage Gamaschen. Als er den groben Stoff der Hose anhob, brach er plötzlich in ein lautes Lachen aus.
»Da will uns jemand zum Narren halten!«, rief er.
Das Bein war aus Holz, das eine helle Färbung angenommen hatte, und hatte wahrscheinlich zu einer Puppe gehört, die jemand ins Wasser geworfen hatte. Als er es drehte, entdeckte er eine kleine Metallplatte, die man ihm umgeschnallt und die sich in den groben Wollstoff gedrückt hatte.
»Kölner auf die Barrikaden«, stand in groben Druckbuchstaben da. Was sollte das Ganze? Schiller war mehr erstaunt als verärgert. Auch wenn es sich um einen makaberen Scherz handelte, würde er veranlassen, dass das Bein aufs Präsidium gebracht wurde. Einen Bericht würde er auch schreiben müssen. Vielleicht war das Bein auch irgendwo gestohlen worden – aus einem Museum oder aus einer Schule.
Dr. Schroeter, der in einem weißen Audi angefahren kam, wirkte sogar ein wenig enttäuscht, als Schiller ihm das falsche Bein entgegenhielt.
»Schade«, sagte der Rechtsmediziner, ein sportlicher Mittdreißiger, der selbst bei der Arbeit in seiner Ärztekluft immer elegant wirkte. »Ein echtes abgetrenntes Bein – das wäre eine richtige Herausforderung gewesen.«
Therese baute sich vor ihm auf und ließ ihn ihre Lymphknoten abtasten, von denen sie meinte, dass sie geschwollen seien.
Schroeter lächelte. »Eigentlich sind meine Patienten eher Tote, bei Ihnen will ich aber gerne eine Ausnahme machen.«
Therese kicherte, während Schroeter sich ihren Hals besah. Sie war keine Spur abergläubisch. Wer jeden Tag mindestens eine halbe Stunde betete, war offenbar gegen alles gefeit. Schiller kannte niemanden in dieser Stadt, der seinen katholischen Glauben so fröhlich lebte wie die alte Hebamme. Wenn sie ausnahmsweise einmal nichts zu tun hatte, konnte sie halbe Tage im Dom verbringen, rückte von Bank zu Bank vor, um am Ende unterhalb des Richter-Fensters zu sitzen und dem Farbenspiel zuzusehen, das Licht und Sonne hinter dem Fenster trieben.
Als sein Telefon klingelte, sah Schiller, dass es acht Uhr neun war. Er würde sich beeilen müssen, um noch pünktlich am Flughafen zu sein.
»Jan«, sagte Carla, »ich dachte, du wolltest kommen.« Im Hintergrund war Stimmengewirr zu vernehmen, dann die blecherne Stimme einer Ansage.
»Ich bin auf dem Weg«, sagte er. »Der Einsatz hat ein wenig länger gedauert.«
»Bemühe dich nicht. Wir sind schon durch den Sicherheitscheck.« Carlas Stimme klang kalt und abweisend.
»Aber euer Flug geht doch erst …« Schiller begriff, dass er sich verrechnet hatte. Er sah, wie Schroeter sich vorbeugte und Therese die Hand küsste, als wäre sie eine Königin. Anscheinend war alles in Ordnung mit ihr.
»Ich habe dir gesagt, dass wir mindestens eine Stunde vorher einchecken müssen.« Carla flüsterte beinahe – das tat sie oft, wenn sie wütend war. »Überleg dir, was ich dir gesagt hatte.« Dann legte sie auf.
Er hatte es vermasselt – nicht zum ersten Mal. Aber, verdammt, es konnte schon mal passieren, dass man mit irgendwelchen Zeiten durcheinandergeriet. Er war gereizt und übermüdet. Für einen Moment überlegte er, Carlas Handynummer zu wählen, aber er wusste, dass sie nicht an den Apparat gehen würde.
Nun hatte er genau zwei Wochen, um sich klar zu werden, ob er sie noch liebte.
Als es im nächsten Moment wieder klingelte, nahm er das Gespräch sofort an, ohne einen Blick auf das Display zu werfen. Hatte Carla doch eingesehen, dass sie so nicht abfahren konnte?
»Jan«, sagte Birte Jessen, seine Kollegin von der Mordkommission. »Es gibt Arbeit für uns, und diesmal ist es kein falsches Bein aus Holz.«
Ihren letzten Worten schickte sie ein spöttisches Lachen hinterher. Klar, dass sie schon wusste, was für einen seltsamen Fund er aus dem Rhein gefischt hatte.
Hinrichs stellte ihr seit einer Woche nach, suchte jede Möglichkeit, ihr einen Blick zuzuwerfen oder sich in der Kantine neben sie zu setzen. Sie hatte einen Fehler gemacht, der ihr in Hamburg nie unterlaufen wäre, aber Köln war anders – launiger, freundlicher, scheinbar unkomplizierter. Was war schon dabei, sich von einem netten Kollegen, dem charmanten Pressesprecher der Polizei, der ein wenig den Fremdenführer spielen wollte, in ein Brauhaus führen zu lassen? Sie hatte nicht sagen können, ob ihr das Kölsch überhaupt schmeckte, aber plötzlich war sie so gelöst gewesen, dass sie von Martin gesprochen hatte – von seinem schrecklichen Krebstod und dass sie es ohne ihn in Hamburg nicht mehr ausgehalten hatte.
Dann hatte ihr Hinrichs seine Wohnung zeigen wollen, von der man angeblich auf den Rhein blicken konnte, und dann … Sie schüttelte sich, wenn sie daran dachte.
Mitten in der Nacht war sie aus dem Bett gesprungen, hatte ihre Kleider zusammengerafft und sich in einem öden, schmutzigen Treppenhaus angezogen. In den dunklen, engen Straßen hatte sie sich verirrt, war einmal um den Block gelaufen, dann zu der Stelle, wo vor gut vier Wochen das Archiv eingestürzt war. Schließlich hatte sie am Waidmarkt ein Taxi angehalten und sich in ihre Wohnung nach Sülz fahren lassen.
Jan, dachte Birte Jessen, er darf es nie erfahren, aber wenn Hinrichs sich weiter so auffällig benahm, würde bald das halbe Präsidium wissen, dass sie eine Nacht zusammen verbracht hatten.
Sie fuhr über die Mülheimer Brücke über den Rhein, den sie mittlerweile auch schon lieben gelernt hatte. Jan hatte recht – unwillkürlich hielt man nach dem Dom Ausschau und freute sich immer, wenn man die zwei Spitzen entdeckte.
Der Tatort lag in einem neuen Apartmenthaus am Fluss, das dem Stadtteil etwas Flair vermitteln sollte. Drei Streifenwagen standen vor dem Haus, zwei Kollegen sicherten den Zugang. Die Kriminaltechnik war noch nicht eingetroffen. Kaum hatte Birte Jessen ihren Alfa verlassen, rauschte auch Jan mit ihrem Dienstpassat heran. Zu ihrer Überraschung war er nicht allein. Therese hockte auf dem Beifahrersitz und winkte ihr fröhlich zu, allerdings ohne auszusteigen.
»Sie hat mir diese Geschichte mit dem Bein eingebrockt«, sagte Jan und deutete auf die alte Hebamme. Dann beugte er sich vor. »Du riechst gut.« Er schnupperte an ihr. »Heute Morgen schon auf dem Fühlinger See gerudert?«
Birte Jessen lächelte matt. »Leider nicht. Der Anruf kam mir dazwischen. Aber was ist mit dir? Wieder in Kölnisch Wasser gebadet?«
Er sagte nichts. Das war eine Marotte, die er von seinem Vater übernommen hatte – nach der Rasur ein Schuss Kölnisch Wasser ins Gesicht.
Sie gingen an zwei weiteren Beamten vorbei in die erste Etage hinauf. Jan wirkte bedrückt. Er war viel schweigsamer als gewöhnlich, dabei machte es ihm – anders als ihr – wenig aus, sich eine Leiche anzusehen. Bevor sie die Wohnung betraten, streiften sie sich Latexhandschuhe über und zogen auch einen Gummischutz über ihre Schuhe.
Bert Cremer, die Nummer drei in ihrem Team, blickte auf die Uhr. Er trug einen weißen Papieranzug. »Eine junge Frau – vielleicht dreißig Jahre alt«, sagte er und seufzte. »Ein Schuss in den Hinterkopf – kleines Kaliber, trotzdem kein erhebender Anblick. Die Putzfrau hat sie entdeckt. Eine blutjunge Polin, die einmal in der Woche kommt – sie musste mit einem Schock ins Krankenhaus.«
Jan nickte und schob sich vorsichtig an Cremer vorbei in einen Raum, der wie ein Schlafzimmer aussah. Nein, nicht wie ein gewöhnliches Schlafzimmer, korrigierte Birte sich. An der Wand hingen erotische Fotos – nackte junge Frauen in aufreizenden Posen. Eine Lichterkette baumelte über zwei Fotos, und zwei große Kerzenständer mit roten zerlaufenen Kerzen konnte sie auch entdecken.
»Du solltest dir auch einen Anzug anziehen«, bemerkte Cremer nörgelnd, als Jan weiter in den Raum vordrang.
»Mache ich nachher«, erwiderte Jan mürrisch.
Birte spähte weiter in den Raum hinein. Die Tote lag vor einem ausladenden Bett, das mit einer bordeauxroten Samtdecke und etlichen Kissen in derselben Farbe versehen war. Sie trug ein weißes T-Shirt und blaue Jeans. Sie hatte lange blonde Haare – so viel war trotz der Blutlache, die ihren Kopf umgab, noch zu erkennen. An der gegenüberliegenden Wand hingen keine Fotos, sondern ein riesiger Spiegel mit einem goldenen Rahmen, in dem Birte ihr eigenes aschfahles Gesicht erkennen konnte. Auf einem grazilen Metallregal standen eine teuer aussehende Hi-Fi-Anlage und einige CDs, DVDs und Bücher.
Jan hatte sich der Toten bis auf drei Schritte genähert und musterte sie. Dann wandte er sich zu Birte um.
»Was ist das hier? War die Kleine eine Hure? Ist sie in ihrem kuscheligen Liebesnest von ihrem letzten Gast ermordet worden?«
Insgeheim hatte sie mit ihm gerechnet. Bei aller Geschäftigkeit hatte sich das Gefühl irgendwo in ihrem Hinterkopf eingenistet, dass er kommen würde – scheinbar um sich vor Ort ein Bild zu machen. Zwei Kriminaltechniker hatten sich mit Cremer an die Arbeit gemacht, Grauer war gekommen, um Fotos zu schießen, und auch Dr. Schroeter stand plötzlich in der Tür. Die Rechtsmedizin war für die Leiche zuständig. Ohne dass ein Forensiker sich die Tote angeschaut hatte, konnte sie nicht abtransportiert werden.
Birte spürte, dass sie die ganze Zeit ein wenig schwitzte – und dass sie den Blick zur Toten vermied.
»Eine Kugel in den Kopf – kleines Kaliber, ordentlich platziert«, erklärte Schroeter tonlos. Nie zuvor hatte Birte Jessen gehört, dass jemand so nüchtern und gefühllos reden konnte wie er. Als hätte er ihre Gedanken erraten, fügte er hinzu: »Eine richtig schöne Frau – ein Jammer. Hätte vielleicht mit etwas anderem ihr Geld verdienen sollen.«
Birte verzog das Gesicht, ohne etwas zu erwidern. Zwei Männer von einem Beerdigungsinstitut waren eingetroffen. Sie würden die Leiche in die Rechtsmedizin bringen. Und dann stand Hinrichs da. Er machte ein ernstes Gesicht, wie ein Schauspieler, der glaubte, seine Rolle besonders gut zu beherrschen. Es ekelte sie bereits, ihn zu sehen. Dabei sah er nicht schlecht aus – groß, recht schlank, blond, mit ein paar gefärbten Strähnen, die ihm ins Gesicht fielen und die er ständig beiseitestrich. Jan hatte ihn einmal als einen aufgeblasenen Schönling bezeichnet.
»Hallo, Birte«, raunte er ihr zu. Er lächelte – seine Zähne hatten eine leicht bräunliche Färbung, zu viele Zigaretten – ein echtes Manko. Auch seine Wohnung hatte nach Zigaretten gestunken. »War sie eine Prostituierte?« Er wies mit dem Kopf ins Schlafzimmer.
Schroeter hatte die Tote herumgedreht. Nun konnten sie ihr Gesicht sehen. Eine echte Schönheit, erste Liga – so viel war noch zu erkennen. Die Kugel war an der rechten Schläfe wieder ausgetreten, jedenfalls befand sich da ein dunkler, blutiger Fleck. Ihre Augen waren von einem starren, schrecklichen Blau, und ihr Mund hatte die Farbe dunkler Kirschen. Schauspielerinnen im Fernsehen sahen so aus.
»Wir wissen noch nicht genau, wer sie ist«, erwiderte Birte. An der Klingel hatten nur Initialen gestanden. Sie wandte den Kopf und blickte an Hinrichs vorbei. »Kommst du immer an einen Tatort?«, fragte sie unfreundlich.
Er berührte sie flüchtig am Arm. »Nur wenn die Sache groß in den Medien kommen könnte«, sagte er sanft. »Dann mache ich mir gerne vor Ort ein Bild – oder wenn ich einen guten anderen Grund habe.«
Für einen Moment hatte sie den Impuls, ihn ins Gesicht zu schlagen. Gleichzeitig überkam sie die Sehnsucht nach Martin. Was war er für ein wunderbarer Mann gewesen – der schüchterne Geigenbauer von St. Pauli, der Bach und Vivaldi geliebt hatte!
Abrupt ging Birte an Hinrichs vorbei. Wo war Jan? Warum rettete er sie nicht? Nun erst fiel ihr auf, dass sie ihn schon in der letzten halben Stunde nicht mehr gesehen hatte.
Lächelnd kam ihr Bert Cremer entgegen. Er hatte sich auch die Kapuze des Papieranzugs über das Haar geschlagen. »Sie heißt Eva Engels.« Er wedelte mit einem Personalausweis. »Hatte zwei Apartments auf dieser Etage – das eine für private, das andere für … berufliche Angelegenheiten.«
»Also war sie tatsächlich eine Hure«, sagte Birte. Sie spürte, dass Hinrichs ihr gefolgt war und hinter ihr stand. Sie roch sein herbes Rasierwasser.
»Ich würde es ein wenig vornehmer ausdrücken«, erklärte Cremer. »Ich glaube, solche Frauen nennen sich Model oder Gesellschaftsdame. Wenn die Leiche im Institut ist, sollen die Techniker loslegen. Ich fürchte, es wird hier von Spuren nur so wimmeln. Wir können uns schon mal die andere Wohnung vornehmen. Vielleicht hat die Frau ja ordentlich Buch geführt und aufgeschrieben, wer sie als Letztes besucht hat.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Cremer wieder ab und verschwand im Hausflur, um in die andere Wohnung hinüberzugehen. Seit sich seine Frau endgültig von ihm getrennt hatte, hatte er eine erstaunliche Wandlung vollzogen – er war ruhiger geworden, hetzte nicht ständig nach Hause oder blickte auf sein Telefon, ob irgendwelche Nachrichten eingegangen waren.
Als Birte ihm folgen wollte, packte Hinrichs sie am Arm. »Ich finde es nicht fair, wie du mit mir umgehst«, flüsterte er ihr zu. Jeder Hauch von Charme war aus seiner Stimme gewichen. »Du weichst mir aus, dabei hatten wir doch einen sehr schönen Abend – oder nicht?«
Mit einer schnellen Bewegung schüttelte sie ihn ab. »Wo ist eigentlich Jan?«, fragte sie Roland Grauer, den Polizeifotografen, der begonnen hatte, auch im Flur Fotos zu machen.
Grauer blickte auf. Erst sah er Hinrichs an, dann sie. »Ich bin eben mit dem Wagen an ihm vorbeigefahren«, erklärte er gleichmütig. »Jan steht unten an der Straße und trinkt Kaffee.«
Die Routine nach einem Mord hatte ihm noch nie behagt, doch heute empfand er sie als schier unerträglich. Carla schwebte nun irgendwo über den Wolken, Richtung Mittelmeer. Im Schlepptau hatte sie zwanzig Jugendliche, die seit ihrer frühesten Kindheit Straftaten begangen hatten und die nun in der Gemeinschaft lernen sollten, sich an gewisse Regeln zu halten. Gehörte wirklich auch ein Segeltörn zu der Reise? Er war sicher, dass sie es ihm erzählt hatte, aber er wusste es nicht mehr genau. Damit hatten die Probleme vielleicht angefangen: zuhören, sich Dinge merken, von sich aus etwas ansprechen. Und wer war eigentlich ihr Begleiter? Wenn sie mit solch einer Bande Halbwüchsiger unterwegs war, musste doch mindestens ein Sozialarbeiter dabei sein.
Jan Schiller winkte Therese zu, und dann gingen sie gemeinsam die Straße hinunter. Eine Ecke weiter stand ein Wagen, an dem es Kaffee und Bier gab.
Leute liefen hektisch hin und her, ein Scheinwerfer wurde ausgeladen. Schiller erinnerte sich, dass der WDR hier seit Jahren eine Fernsehserie drehte und daher einen ganzen Wohnblock zu Kulissen umgebaut hatte.
»Musst du nicht helfen?«, fragte Therese neugierig. »Hat man dich nicht deshalb gerufen?«
Schiller bestellte bei einer dünnen blonden Frau, die in dem Wagen auf einem Hocker saß, zwei Kaffee. Mürrisch machte sie sich an die Arbeit, aber getraute sich offenbar nicht zu fragen, ob er zum Filmteam gehörte.
»Klar muss ich helfen«, erwiderte Schiller. »Ich gehe auch gleich zurück.« Er wusste nicht, wie er anfangen sollte, von Carla zu sprechen – dass sie ihn gebeten, nein, aufgefordert hatte auszuziehen. Therese war immer gut mit Carla ausgekommen, die beiden mochten sich, Tatmenschen, die praktisch veranlagt waren.
Einzelne Kommandos schallten von dem Häuserblock herüber, der hinter einem Metallzaun lag.
Die Frau reichte ihnen zwei Plastikbecher mit dampfendem Kaffee, den einen setzte Schiller sofort an die Lippen und trank. Wie heißes Gift glitt die schwarze Flüssigkeit seine Kehle hinab.
Ganz gegen ihre Gewohnheit schwieg Therese. Ihre Augen, die hinter den dicken Brillengläsern immer ein wenig zu groß wirkten, musterten ihn stumm. Sein Telefon klingelte. Klar, Birte suchte nach ihm und würde ihn fragen, ob er den Verstand verloren hatte, einfach ohne ein Wort zu verschwinden. Dann sah er etwas, das ihn erstarren ließ. Eine blonde Frau lief suchend die Straße hinunter, sie trug Jeans, flache schwarze Schuhe. Einen blauen Rollkoffer zog sie hinter sich her, während sie immer wieder den Kopf wandte und nach Straßenschildern suchte.
Es konnte nicht sein! Schiller trank den Kaffee aus und legte einen Fünfeuroschein auf die Theke des Wagens.
»Du kannst mich noch weiter anschweigen«, sagte Therese und verzog beleidigt den Mund, »oder aber du sagst mir, was mit dir los ist.«
Schiller nickte. Als er sich wieder umblickte, war die Frau ein Stück weitergelaufen. Sie hielt inne, holte ein Telefon hervor. Anscheinend wollte sie telefonieren, überlegte es sich dann jedoch anders und steckte das Handy in die rechte Tasche ihres schwarzen Blazers.
»Therese.« Schiller beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Ich habe eine dringende Sache zu erledigen – macht es dir etwas aus, mit dem Taxi nach Hause zu fahren?«
»Ich nehme die Straßenbahn«, erwiderte die Hebamme missmutig. »Wenn du so schweigsam bist, kann man dich kaum aushalten. Und mein Testament mache ich auch ohne dich.«
Er warf ihr noch eine Kusshand zu, dann eilte er der Frau nach. Sie schleifte den Koffer hinter sich her, der offenbar defekt war, jedenfalls rollte er nicht mehr richtig. Eine Wolke von Parfüm umgab sie. Unter einem Straßenschild blieb sie stehen und zog eine Zigarettenschachtel hervor.
Schiller war zur Stelle, um ihr Feuer zu geben. Endlich waren die Streichhölzer aus Franks Café vom Ehrenfeldgürtel, wo er einmal am Tag seinen Kaffee trank, zu etwas nütze. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
Ihre blauen Augen trafen ihn. Sie hauchte ein leises »Danke« heraus.
Er hatte sich nicht geirrt. Sie glich der Toten aus dem Apartment – nur dass sie quicklebendig war und ihr blondes Haar an der Seite gescheitelt trug.
Eine Zwillingsschwester – es konnte nicht anders sein, oder aber die Frau aus dem Apartment war unbemerkt von den Toten wiederauferstanden.
»Sie haben sich hier verirrt?«, fragte Schiller. Er nahm wahr, wie heiser er klang. Ein Leichenwagen fuhr an ihnen vorbei zum Tatort, und sein Nokia klingelte wieder.
Die Frau nickte. »Ich besuche jemanden – kenne mich hier aber nicht richtig aus.«
»Sie sind nicht aus Köln?« Schiller beobachtete, wie sie hektisch rauchte. Bevor sie antwortete, strich sie sich eine lange blonde Strähne aus dem Gesicht. Ein Ring mit einem großen grünen Stein zierte ihre rechte Hand.
»Frankfurt – ich komme aus Frankfurt«, hauchte die Frau. Sie lächelte wieder. Makellose Zähne blinkten auf. Schiller musste sich eingestehen, dass ihm gefiel, wie sie lächelte.
»Ich könnte Ihnen helfen«, hörte Schiller sich sagen. Er zögerte. »Falls Sie mir sagen wollen, wo Sie hinwollen. Ich kenne mich hier aus.«
»Meine Schwester muss hier in der Gegend wohnen, aber irgendwie finde ich den Weg heute nicht.« Sie nannte eine Straße und eine Hausnummer.
»Kein Problem – ist ganz in der Nähe.« Schiller griff nach ihrem Rollkoffer, den sie ihm dankbar überließ.
Gemeinsam gingen sie weiter.
Wieder strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Sie sind ja ein echter Kavalier.«
Für einen Moment hatte er das absurde Gefühl, sie von ihrem Weg abbringen zu müssen. Lassen Sie uns irgendwo einen Kaffee trinken gehen! Ich kenne hier ein nettes Bistro. Ihre Schwester können Sie auch später noch treffen!
»Verraten Sie mir Ihren Namen?«, fragte er. Nun kam der erste Polizeiwagen ins Blickfeld, was die Frau aber nicht zu irritieren schien.
»Regina«, sagte sie, kein bisschen überrascht über seine Bitte. »Regina Engels.«
Schiller nickte. »Ein schöner Name – und Ihre Schwester … heißt sie auch Engels?«
Die Frau warf ihm einen forschenden Blick zu – ihre blauen Augen nahmen ihn strenger ins Visier. »Eva Engels – fand meine Mutter schön. Das eine Mädchen stammt aus dem Paradies, das andere ist eine Königin. Na, so ganz hat es nicht gestimmt.« Sie lächelte verlegen, als hätte sie ihm ein Geheimnis verraten.
Noch waren es zehn Schritte bis zur Haustür, die offen stand. Ein Polizist hatte sich da postiert und blickte Schiller interessiert an. Der Beamte hatte offenbar bisher keinen Blick auf die Tote geworfen, jedenfalls zeigte er keinerlei Erstaunen.
»Wann haben Sie Ihre Schwester zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«, fragte Schiller.
Regina Engels blieb stehen und warf ihre Zigarette vor sich auf das Pflaster. »Sie stellen merkwürdige Fragen«, sagte sie argwöhnisch. »Kennen Sie meine Schwester? Haben Sie mich deshalb angesprochen?«
»Ich bin Jan Schiller, Hauptkommissar bei der Polizei Köln«, erwiderte Schiller. »Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten für Sie.«
Sie beugte sich vor und legte ihm die Hand auf die Schulter, dann griff sie nach seinem rechten Arm und zerrte daran, während sie ein leises, wütendes »Nein« vor sich hin murmelte.
Schiller machte sich ganz steif. Eine lange Sekunde später richtete Regina Engels sich auf und fragte mit leerem Blick: »Wann ist es passiert? Ist meine Schwester noch da? Kann ich sie sehen?«
Schiller nickte, und einen Moment später eilte Regina Engels an ihm vorüber und rannte die Treppe hinauf, vorbei an dem zweiten Polizisten, der so verwirrt über ihren Anblick war, dass er sie nicht aufhielt.
»Frau Engels, bitte!« Schiller setzte ihr nach. Die Wohnung mit der Toten lag in der ersten Etage. An der Tür erreichte er sie und packte ihre Hand, die eisig kalt war. »Sie sollten jetzt nicht …« Wie musste es sein – dieser Gedanke jagte ihm durch den Kopf – vor einer Toten zu stehen, die das eigene Ebenbild war? »Die Kriminaltechniker sind bei der Arbeit …«
»Ich muss meine Schwester sehen!«, rief Regina Engels und wand sich aus seinem Griff. In dem Flur sah sie sich um, als müsse sie sich orientieren.
Grauer stand mit seiner Kamera da. Sie stieß ihn beiseite und lief in das Schlafzimmer. Zwei Männer waren im Begriff, die Leiche in einen Zinksarg zu legen. Schultke von der Spurensicherung und Schroeter wiesen die beiden an, wie sie vorgehen sollten.
Schiller hörte ein tiefes, kehliges Schluchzen, das Schmerz und einen grenzenlosen Schrecken ausdrückte, und dann hatte Regina Engels sich über ihre tote Schwester gebeugt, die mit starren blauen Augen zu ihr aufsah.
»Jan!«, hörte er Birtes Stimme hinter sich, während ihn ein Schauer durchfuhr. »Konntest du das nicht verhindern, verdammt?«
Birte Jessen mochte die Schwester der Toten auf den ersten Blick nicht. Sie konnte selbst nicht sagen, warum. Regina Engels verhielt sich, wie jemand sich verhielt, der plötzlich, ohne jede Vorbereitung vor der Leiche eines nahen Angehörigen stand. Sie umklammerte ihre Zwillingsschwester, schüttelte sie, ohne auf das Blut zu achten, als wollte sie die Tote zum Leben erwecken, und schluchzte hemmungslos ihren Namen. Dann ließ sie sich langsam von Jan wegziehen und legte ihren Kopf gegen seine Schulter, als wären sie miteinander vertraut. Auch der verständnisvolle, sanfte Blick, den Jan ihr zuwarf, gefiel Birte nicht. Kannten die beiden sich? War Jan schon einmal hier gewesen – als Kunde vielleicht? Bei ihm konnte man nie wissen, was er aus einer Laune heraus alles tat.
Hinrichs stand unvermittelt neben ihr und räusperte sich. »Ich denke, wir sollten in die andere Wohnung hinübergehen«, sagte er. Immerhin ein vernünftiger Vorschlag, auch wenn es überhaupt nicht sein Job war, hier irgendwelche Dinge vorzuschlagen.
Jan nickte ihnen zu und sprach beruhigend auf die Frau ein. »Frau Engels, ich verstehe Ihren Schmerz, aber Sie müssen uns nun helfen.«
An Birte vorbei führte er die Schwester, die den Kopf gesenkt hielt, ins Treppenhaus, um dann in die andere Wohnung zu gehen, obwohl er keine Handschuhe trug und sich auch keinen Gummischutz über die Schuhe gestreift hatte.
Birte machte Anstalten, ihm zu folgen, doch plötzlich klingelte hinter ihr das Telefon, das in dem kleinen Flur auf einem Glastisch stand. Unwillkürlich schienen alle zu erstarren, selbst die Männer, die den Zinksarg hielten. Nach dem dritten Klingeln sprang ein Anrufbeantworter an.
»Hallo«, sagte eine einschmeichelnde Frauenstimme. »Hier spricht Elaine – leider kann ich deinen Anruf im Moment nicht annehmen. Du musst ein wenig Geduld haben, aber wenn ich etwas für dich tun soll, dann nenne einfach deinen Vornamen und deine Nummer, und ich rufe dich vielleicht zurück.«
»Elaine«, sagte eine Männerstimme. »Ich bin’s – der Professor. Ich brauche dich – kann ich morgen kommen? So gegen acht? Kerzenlicht und Sekt, und du liest mir etwas vor? De Sade – wie wäre es mal wieder mit de Sade?«
Ein Klacken verriet, dass er aufgelegt hatte. Ein Stammkunde – sie würden sich eine Menge Daten von der Telefongesellschaft kommen lassen müssen.
»Was war das?«, fragte die Schwester und hob den Kopf, als wären die Stimmen mit einer gewissen Zeitverzögerung zu ihr gedrungen. »Was hat Eva hier gemacht?«
»Sie war anscheinend eine Hure«, erklärte Birte unfreundlich. »Hat hier vermutlich auf eigene Rechnung gearbeitet. Das wussten Sie nicht?«
Regina Engels schüttelte stumm und mit leerem Blick den Kopf. »Nein, wir waren uns nicht richtig … nah.«
»Ich bringe Frau Engels ins Präsidium«, erklärte Schiller. »Ich glaube, da können wir ungestörter miteinander reden.«
Birte Jessen sah ihm nach. Als würde er fürchten, sie könnte gleich zusammenbrechen, geleitete er die Schwester mit einem sanften Griff die Treppe hinunter und verschwand außer Sicht.
Hinrichs schob sich schon wieder viel zu dicht an sie heran. »Vielleicht sollte man Schiller jetzt mit dieser Person nicht alleine lassen«, sagte er mit Blick zu Bert Cremer, der aus einem Nebenzimmer aufgetaucht war.
Birte spürte, dass sie immer zorniger und ungerechter wurde.
»Dann fahr doch du hinter den beiden her, Rainer«, stieß sie hervor. Seinen Vornamen spuckte sie förmlich aus, beinahe wie eine Beleidigung. Nicht einmal während ihrer einen gemeinsamen Nacht hatte sie ihn beim Vornamen genannt. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Cremer das Gesicht verzog. Die Männer vom Beerdigungsinstitut hatten sich aus ihrer Starre gelöst. Sie hoben die Tote in den Zinksarg. Es war erschreckend, wie ähnlich Eva Engels ihrer Schwester sah. Zwei wunderschöne blonde Puppen mit Porzellangesicht – nur dass jemand der einen aus nächster Nähe eine Kugel in den Kopf gejagt hatte.
Ohne auf Hinrichs zu achten, wandte Birte sich um. In der anderen Wohnung befanden sich die persönlichen Sachen der Toten. Dort würde sie eher auf Hinweise stoßen. Das erneute Klingeln des Telefons hielt sie zurück. Birte blickte auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor zehn. Eigentlich hatte sie gedacht, dass eine Dame aus dem horizontalen Gewerbe um diese Zeit wenig bis gar nichts zu tun hatte, aber anscheinend hatte sie sich schwer getäuscht.
Nachdem die automatische Eva Engels ihren Spruch aufgesagt hatte, fragte eine warme, noch recht jugendliche Männerstimme: »Eva, warum gehst du nicht an dein Mobiltelefon? Ist alles in Ordnung bei dir?«
Mit einer schnellen Bewegung hob Birte Jessen den Hörer ab. »Ja, bitte?«, sprach sie mit einer neutralen Stimme in den Hörer.
»Gott sei Dank«, sagte die Männerstimme mit spürbarer Erleichterung. »Ich hatte schon Angst, es sei etwas passiert.«
»Was sollte denn passiert sein?«, fragte Birte Jessen zurück.
Der Mann zögerte plötzlich. »Eva?«, sagte er zweifelnd. »Sind Sie die Putzfrau? Wo ist Eva?«
Birte Jessen zögerte einen Moment. Der Mann war kein Kunde – so viel war sicher. »Ich würde gerne wissen, wer Sie sind«, erklärte sie. »Sind Sie ein Freund von Eva Engels?«
»So könnte man es nennen«, entgegnete der Mann argwöhnisch. »Ich bin Tom, ihr Tanzlehrer. Was ist mit Eva? Ist ihr etwas passiert?«
Birte Jessen zögerte. »Wie schnell können Sie hier sein?«, fragte sie dann.
Sie gewöhnte sich Jans ungewöhnliche Methoden an – jemanden, der mit dem Mord zu tun haben konnte, zum Tatort zu bestellen, stand jedenfalls nicht im Handbuch für angehende Kriminalbeamte. Cremer reichte ihr einen kleinen, bereits abgegriffenen Frauenkalender, der voll von alten Emanzensprüchen war und in den die Tote offenbar ihre Termine eingetragen hatte – allerdings nur mit Kürzeln oder Tarnnamen. »Der Professor« schien jede zweite Woche zu kommen, andere hießen »Der Beobachter«, »Der Coole«, »Der Schmeichler«, »Der Blinzler« oder schlicht »C.S.«. Ansonsten gab es auch in der privaten Wohnung wenig persönliche Dinge. Ein großer Flachbildschirm in einem recht karg eingerichteten Wohnraum verriet, dass Eva Engels eine Vorliebe für Filme hatte. Die CDs, die sie hier fanden, waren zumeist Opernaufnahmen. An der Wand hingen vier Fotografien, die nur Wasser zeigten – ein namenloses Meer bei wechselndem Licht.
»›La Traviata‹«, sagte Cremer, während er ein gläsernes Regal absuchte, »geht es da nicht auch um eine Hure? Ist doch von Puccini, oder nicht?«
»›La Traviata‹ ist von Verdi«, erklärte eine leicht heisere Männerstimme. »Und die Hauptfigur war eine Mätresse – das ist ein großer Unterschied.«
Birte Jessen wandte sich um. »Sie sind der Tanzlehrer, nicht wahr?«
Der Mann nickte, er war vielleicht Mitte dreißig, recht klein, eine elegante Erscheinung, dunkle, modisch kurz geschnittene Haare, braune Augen und ein Mund, der aussah, als hätte er einen Hauch von Lippenstift aufgelegt.
»Tom Hinzen«, sagte er und verharrte unschlüssig an der Tür. Er hatte kaum fünfzehn Minuten gebraucht, um hier zu sein. »Was ist mit Eva? Warum haben Sie mich herbestellt?«
Der Mann trug eine enge schwarze Lederhose und weiße modische Turnschuhe, die Birte Jessen noch nie gesehen hatte, und er war schwul – da war sie sich auf Anhieb sicher. Also nicht der Liebhaber der Toten.
»Ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Ihre Freundin ist nebenan in der …« Sie stockte für einen Moment. »… anderen Wohnung ermordet worden. Vermutlich von ihrem letzten Kunden.«
Tom Hinzen sank an der Tür herab, als wäre er vom Blitz getroffen. Er legte die Hände vor das Gesicht und hockte da, ohne einen Laut von sich zu geben.
»Sie müssen uns helfen«, sagte Birte.
Er nickte stumm, dann blickte er auf. Nun war sein Gesicht kalkweiß, und seine Augen waren noch dunkler.
»Warum haben Sie sich nach Eva erkundigt?«, fragte Birte. »Warum waren Sie besorgt?«
»Sie bekam anonyme Anrufe in letzter Zeit – von einer Frau«, erwiderte Tom Hinzen leise. »Die Frau eines Freiers … der Mann hatte sich in Eva verliebt … eine seltsame Geschichte …«
»Wissen Sie Namen?« Birte zog ihr Notizbuch hervor. Im Treppenhaus waren Stimmen zu vernehmen. Jemand wollte das Haus betreten und wurde von einem Uniformierten zurückgeschickt, was ein heftiges Wortgefecht auslöste.
Tom Hinzen schüttelte den Kopf. Langsam richtete er sich auf. Er hatte eine athletische Figur – kein Gramm Fett, leicht gebräunte Haut. »Ich kann es nicht fassen«, sagte er. »Aber ich hatte so ein Gefühl. Eva war in den letzten Wochen ganz verändert … abwesend, als würde sie etwas beschäftigen … ein Mann, der Plan, von hier wegzugehen … Sie hat es mir nicht genau erzählt.«
»Was ist mit ihrer Familie?« Birte beobachtete, wie er sich nun umsah, ein wenig unsicher und so, als wäre er noch nicht oft hier gewesen.
»Ich war ihr bester Freund – vielleicht ihr einziger.« Er lächelte matt. »Sie hatte immer Schwierigkeiten mit Männern. Bis sie sich entschloss, diese Schwierigkeiten zu Geld zu machen … Sie ist im Kinderheim aufgewachsen, war dann bei zwei, drei Familien, aber sie konnte sich nirgends einordnen. Entweder stiegen die Männer ihr nach, und die Frauen wurden eifersüchtig, oder sie hat alle mit ihren Plänen genervt. Schauspielerin, Tänzerin – sie wollte so viel werden.«
»Was ist mit ihrer Schwester?«, fragte Birte Jessen.
Schultke, der Kriminaltechniker, blickte herein. Er sah müde aus, als habe er zu wenig geschlafen. »Wir werden noch zwei Leute herholen müssen. Die Dame scheint viel Kundschaft gehabt zu haben – hat wohl auch Frauen beglückt.« Er hielt ihr zwei Plastiktüten hin – in der einen lag ein offenbar benutztes Präservativ und in der anderen ein langes schwarzes Frauenhaar.
Birte Jessen nickte, und Schultke verschwand mit dem Satz: »Jetzt brauche ich einen Kaffee.«
Tom Hinzen war ein Stück herangekommen. »Von welcher Schwester sprechen Sie? Eva hatte keine Schwester.«
Eva Engels war eine Einzelgängerin gewesen – sie hatte Einzelunterricht genommen, war mit Tom Hinzen mittags, nachdem sie in seiner leeren Tanzschule getanzt hatten, immer in ein bestimmtes Restaurant auf der Venloer Straße gegangen, fernab von ihrer Wohnung.
»Ich war sicher, dass sie keine Angehörigen mehr hatte«, sagte Tom Hinzen. Er hatte keinen eigenen Wagen, sondern war mit dem Taxi gekommen. Bleich saß er neben Birte in ihrem Alfa. »Ich habe lange nicht gewusst, womit sie ihr Geld verdient – dann hat sie es mir einmal erzählt, ist noch nicht lange her, vor fünf Monaten, kurz vor Weihnachten. Da war sie in einer seltsamen Stimmung gewesen.«
»Hat sie von den Männern gesprochen, die sie besucht haben?«, fragte Birte. »Der Mörder wird zu ihrer Kundschaft gehört haben.« Auf St. Pauli hatte sie einmal so einen Fall gehabt – da hatte ein Freier geglaubt, eine Prostituierte habe ihn ausgelacht, weil er nicht so gekonnt hatte, wie er eigentlich wollte. Er hatte durchgedreht und sie erwürgt. Doch nach einem Mord im Affekt sah es in diesem Fall nicht aus.
»Ihre Kunden waren tabu – darüber hat sie nie ein Wort verloren. Nur dass sie besorgt war, wegen dieser seltsamen Anrufe. Ich glaube, diese Frau hat ihr auch einmal aufgelauert und sie geschlagen.« Tom Hinzen schluchzte wieder. Er wand sich auf dem Sitz hin und her, und als Birte Jessen an einer Ampel anhalten musste, sah es beinahe so aus, als überlege er, aus dem Wagen zu springen und wegzulaufen.