Kölner Lichter - Reinhard Rohn - E-Book

Kölner Lichter E-Book

Reinhard Rohn

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Beschreibung

Kommissar Jan Schiller ist verzweifelt. Carla, die Frau, die er liebt und die ihn aus ihrer gemeinsamen Wohnung hinausgeworfen hat, ist spurlos verschwunden. Als in einem ausgebrannten Wohnmobil auf dem Straßenstrich im Kölner Süden eine verkohlte Leiche gefunden wird, will Schiller die Ermittlung eigentlich seiner Kollegin Birte Jessen überlassen. Doch als die Identität des Toten feststeht, sieht er die Verbindung zu Carla und weiß, dass sie in tödlicher Gefahr ist – falls sie überhaupt noch lebt.

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Über das Buch

Kommissar Jan Schiller ist verzweifelt. Carla, die Frau, die er liebt und die ihn aus ihrer gemeinsamen Wohnung hinausgeworfen hat, ist spurlos verschwunden. Als in einem ausgebrannten Wohnmobil auf dem Straßenstrich im Kölner Süden eine verkohlte Leiche gefunden wird, will Schiller die Ermittlung eigentlich seiner Kollegin Birte Jessen überlassen. Doch als die Identität des Toten feststeht, sieht er die Verbindung zu Carla und weiß, dass sie in tödlicher Gefahr ist – falls sie überhaupt noch lebt.

Über Reinhard Rohn

Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman "Rote Frauen", der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.

Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über "Matthias Brasch". Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.

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Reinhard Rohn

Kölner Lichter

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Zitat

1. Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

2. Teil

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

Epilog

Impressum

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Alle Dunkelheit der Welt kann das

Licht einer einzigen Kerze nicht auslöschen.

Chinesisches Sprichwort

1. Teil

1.

Er sah sie dort stehen.

Elegant begann sie zwischen den Tischen herumzugehen, blickte auf die Bücher vor ihr und stützte sich auf einen knallroten Regenschirm. Dann wieder warf sie ihm einen lächelnden Blick zu. Auf ihren schwarzen Haaren lag ein matter Glanz, sie trug ein langes rotes Kleid, das perfekt zu dem Regenschirm passte. Vielleicht hat sie ihn nur deshalb mitgenommen, dachte er. Draußen schien die Sonne.

Sie nahm ein Buch in die Hand, blätterte einen Moment versonnen darin, dann hob sie den Kopf und bedachte ihn wieder mit einem Blick. Diesmal lächelte sie nicht, sondern wirkte ernst und gleichzeitig voller Liebe.

Das ist meine Frau, dachte er. Sehnsucht erfasste ihn. Ja, Carla ist meine Frau – was immer auch geschehen sein mag.

Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Er hätte immer so dastehen mögen, am Rande einer Buchhandlung, und zusehen, wie sie anmutig zwischen Tischen voller Büchern dahinglitt.

Plötzlich lief ein großer, grauer, hässlicher Hund durch den Laden, ein beinahe wolfsartiges Tier. Er fletschte die Zähne, drehte den Kopf, jemand schrie auf, doch dann war der Hund auch schon wieder verschwunden, hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst.

Jan Schiller wandte sich ab. Wo war Carla abgeblieben? Er suchte sie, glaubte, ihre rote Gestalt irgendwo an der Kasse finden zu müssen, aber da war sie nicht. Ein Gefühl von Panik überkam ihn – als wäre er sicher, dass etwas Unerhörtes geschehen war.

Der leuchtend rote Regenschirm lehnte verlassen an einem Büchertisch. »Liebe ist alles«, stand da. »Die schönsten Romane für sie und ihn«.

Wo war Carla?

Schiller spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Er lief auf den Schirm zu, nahm ihn in die Hand. Der Griff war eiskalt, als hätte Carla ihn nie berührt. Suchend ließ Schiller seinen Blick durch die Buchhandlung schweifen. Wo konnte sie sein? Er lief auf eine Metalltür zu, die in einer auffällig kahlen Betonwand eingelassen war. Er öffnete sie und rief in den Schacht, der sich vor ihm auftat: »Carla, wo bist du?«

Doch niemand antwortete ihm. Nur ein kalter Wind wehte ihn an.

Abrupt schreckte Schiller auf. Dunkelheit hüllte ihn ein. Lediglich ein vager Schatten schien durch den Raum zu schweben. Eine Ahnung von Licht, das durch ein schmales Fenster fiel. Wo war er? In seinem Bett an der Sülzburgstraße? Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Das Bett war schmal, mit einem leicht erhöhten Holzrahmen, und es lag niemand neben ihm.

Carla – wo war Carla?

Dann fiel ihm sein Traum ein – in einer Buchhandlung war sie spurlos verschwunden. Seltsam! Wann war er zuletzt in einer Buchhandlung gewesen?

Er erhob sich und ging über breite Holzdielen zum Fenster. Er blickte in eine beinahe undurchdringliche Dunkelheit hinaus. Nirgends ein Licht. Eine Wiese war zu erahnen, dahinter der Umriss eines Deiches.

Er war im Haus von Matthias Brasch – draußen auf dem Acker in Worringen. Sein Domizil war ein enges Gästezimmer, das früher, bevor sie sich von ihm getrennt hatte, das Arbeitszimmer seiner Frau, einer Lehrerin, gewesen war.

Zwei Verlassene hatten sich zusammengetan.

Als Schiller sich auf dem Fensterbrett abstützte, fiel eine leere Weinflasche um. Getrunken hatte er auch noch – großer Gott! Brasch war bei Sylvie gewesen, und Schiller hatte das ganze leere Haus am Abend für sich gehabt. Trübsinnig hatte er vor dem Fernseher gehockt und sich eine Tanzshow angesehen, ausgerechnet.

Zwei Wochen wohnte er nun schon hier – zwei Wochen, in denen er aus seinem Leben gefallen war.

Vor dem Fenster rauschte ein Nachtvogel vorbei. Schiller kehrte zu dem schmalen unbequemen Bett zurück. Wie beiläufig nahm er sein Mobiltelefon zur Hand. Es war drei Uhr vierunddreißig.

Dann sah er, dass jemand versucht hatte, ihn anzurufen.

Carlas Name leuchtete auf. Um ein Uhr zwölf hatte sie ihn von ihrem Handy angerufen. Das erste Lebenszeichen nach zwei Wochen, und dann zu so einer ungewöhnlichen Zeit.

Hoffnung erfüllte ihn.

Das konnte nur ein gutes Zeichen sein, dass sie versucht hatte, mitten in der Nacht mit ihm zu sprechen. Versöhnung – sie wollte Versöhnung, noch einen neuen Versuch, weil sie eingesehen hatte, dass auch sie ohne ihn nicht auskam.

Kurz entschlossen rief er sie an, doch eine mechanische Stimme erklärte, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei.

Der Traum verfolgte ihn – im fremden Bad beim Rasieren, in der Küche, als er sich den ersten Kaffee des Tages kochte.

Brasch kam herein, im weißen T-Shirt, unausgeschlafen, aber zufrieden mit sich. Irgendwann mitten in der Nacht musste er zurückgekehrt sein.

»Sylvie«, sagte er, »ist das Beste, was mir in den letzten Jahren passiert ist.«

Schiller konnte nur matt lächeln. Eigentlich war Sylvie seine Tangolehrerin gewesen; er hatte Brasch, der sich als Privatdetektiv durchschlug, seit er als Hauptkommissar bei der Kölner Polizei in Ungnade gefallen war, den Rat gegeben, zu ihr zu gehen; noch am selben Abend waren die beiden ein Paar geworden. Eine mehr als erstaunliche Entwicklung. Seither war er selbst nicht mehr bei Sylvie tanzen gewesen.

»Wir sollten etwas Richtiges essen«, meinte Brasch, »ein Sonntagsfrühstück. Ich könnte zur Tankstelle fahren, Brötchen besorgen …«

Schiller winkte ab. Kaffee genügte ihm. Was war mit Carla? Er hatte noch einmal versucht sie anzurufen, aber ihr Mobiltelefon war nicht angeschaltet. Was hatte das alles zu bedeuten? An ihrem gemeinsamen Anschluss an der Sülzburgstraße sprang nicht einmal der Anrufbeantworter an.

Mit wenigen Worten erzählte er Brasch von seinem Traum und dem Anruf in der Nacht.

Brasch wischte sich über das unrasierte Gesicht. »Ich kenne Carla nicht … aber eine Freundin hat mir mal erzählt, dass sie nach dem besten Sex ihres Lebens ihren Exmann angerufen hat, nur um ihm zu sagen: ›He, ich hatte gerade einen perfekten Orgasmus.‹ …« Er verzog den Mund. »Oh, tut mir leid, war keine gute Idee, so etwas zu sagen.«

Schiller dachte kurz darüber nach. Würde Carla zu so etwas fähig sein? Sie hatte zwar kürzlich eine Affäre mit einem Sozialarbeiter gehabt, wie sie ihm gestanden, nein beinahe vorgeworfen hatte, aber eigentlich nur, um ihn auf die Probe zu stellen. Würde er, der ewig Abwesende, der Gedankenlose, etwas bemerken?

»Ich würde gern ein Kind mit ihr haben, sie heiraten, eine neue Wohnung einrichten«, sagte Schiller vor sich hin. Er wunderte sich über sich selbst – all diese Dinge hatten bis vor Kurzem keine Bedeutung für ihn gehabt.

Brasch zündete sich eine Zigarette an. »Ich liebe Sylvie«, sagte er. »Ich liebe es, zu sehen, wie sich ihre Schulterblätter bewegen, wenn sie nackt durch das Zimmer geht … Sie ist fast sechzig, aber sie hat eine Figur wie eine Fee. Und was die Musik mit ihr macht … wenn sie zu tanzen beginnt …«

Plötzlich mussten sie beide lachen. Zwei wehmütige Männer an einem Sonntagmorgen.

»Falls es noch eine Chance gibt, Carla zurückzugewinnen, werde ich sie nutzen«, sagte Schiller entschlossen vor sich hin.

Dann trank er den letzten Rest Kaffee und lief zu seinem Wagen.

Zwanzig rote Rosen, frische Brötchen, eine Flasche Rotwein, den teuersten, den er in der Tankstelle am Lindenthalgürtel finden konnte. Aber war es richtig, rote Rosen zu verschenken? Machte Carla sich überhaupt etwas aus Rosen? Vielleicht wäre eine einzige Orchidee viel angemessener gewesen. Verdammt, er kam sich beinahe wie ein Schuljunge vor, der nicht wusste, wie er sein erstes Rendezvous angehen sollte.

Er parkte auf dem Auerbachplatz und lief die wenigen Schritte zu seinem Haus.

Der alte Kellner aus der Pizzeria an der Ecke grüßte ihn. »Lange nicht gesehen!«, rief er.

Schiller nickte freundlich, ohne ein Wort zu entgegnen. Früher war er mindestens einmal die Woche mit Carla bei ihm zu Gast gewesen. Früher … war ein paar Monate her. Wann genau hatten sie sich aus den Augen verloren? Schiller wusste es nicht.

Als er klingelte, wurde ihm nicht aufgedrückt. Carla war nicht zu Hause – oder hatte sie vielleicht einen ihrer Migränetage? Hatte sie deshalb angerufen, aus falscher Not und einem kurzen Gefühl der Einsamkeit, das längst vergangen war?

Er nahm seinen Schlüssel heraus und öffnete. Er würde die Rosen in eine Vase stellen, den Tisch für zwei decken, den Wein neben eine Kerze platzieren und wieder gehen. Damit hätte er immerhin ein Zeichen hinterlassen.

Die Wohnung lag in der zweiten Etage, und mit jedem Schritt hatte er das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Auf der Straße herrschte eine aufgeräumte Sonntagsstimmung, doch hier lauerte etwas Düsteres, Unheimliches.

Er hörte seine eigenen Schritte auf den Steinstufen, eine Wasserspülung irgendwo im Haus. Plötzlich meinte er zu ahnen, dass Carla ausgezogen war – mit unbekanntem Ziel. Kaum dass er bei Brasch untergekrochen war, hatte sie Köln verlassen. New York – sie träumte von einem Leben im Village, wo sie einmal bei einer Freundin sechs Wochen verbracht hatte.

Die Tür war nicht abgesperrt, wie Carla es sonst immer tat, wenn sie die Wohnung verließ. Ein dumpfer Geruch schlug ihm entgegen. Er sah sich selbst in dem länglichen Spiegel in der Diele. Eine schattenhafte, schmale Gestalt – er hatte abgenommen. Es hatte ihn immer gestört, dass man sich selbst begegnete, wenn man die Wohnung betrat, aber Carla hatte auf diesem bodenlangen Spiegel bestanden.

Zaghaft rief er ihren Namen, doch niemand antwortete.

Abwesenheit atmete die Wohnung aus. Hier, sagte sie, lebt niemand mehr.

Schiller begab sich in die Küche, die vollkommen aufgeräumt war. Er stellte die Rosen, die Brötchen und den Wein auf den Tisch. Eine benutzte Tasse stand da, der Stadtanzeiger vom Freitag daneben, ungelesen. In einer Vase verwelkte Blumen. Eine merkwürdige Anspannung erfasste ihn. Niemals hätte Carla die Blumen stehen lassen, wenn sie in den letzten Tagen in der Wohnung gewesen wäre.

Im Wohnzimmer fand er nichts Auffälliges. Allenfalls war das schwarze Ledersofa ein wenig verrückt worden. In den Regalen schien nichts zu fehlen. Bücher, CDs, alles war an seinem Platz. Nur das Bild aus ihrem letzten gemeinsamen Urlaub in Italien fehlte. Eine Beobachtung, die ihm einen Stich versetzte.

Noch einmal rief er ihren Namen, ohne jedoch eine Antwort zu erwarten.

Dann eilte er in ihr Schlafzimmer, wappnete sich, sie hier zu sehen – in einer Blutlache, ermordet, mit offenen Augen …

Nein, dieses Zimmer wirkte ebenfalls vollkommen unberührt. Ihn irritierte lediglich, dass sie sein Kissen und seine Bettdecke irgendwo verstaut hatte. Einsam lag ihr Bettzeug da, als wollte sie sich selbst beweisen, dass sie nun allein war.

Das nächste Zimmer war ihr Arbeitszimmer. Auch hier keine Unordnung. Die wenigen Bücher und Ordner, die sie zu Hause für ihre Arbeit als Jugendtherapeutin brauchte, befanden sich an ihrem Platz. Es sah allerdings nicht aus, als hätte Carla hier in der letzten Zeit irgendetwas gearbeitet.

Als er sich schon abwenden wollte, fiel ihm etwas auf. Ihr Laptop – er war nicht da. Sie oder jemand anders hatte ihren Laptop mitgenommen.

Einen Moment später klingelte sein Mobiltelefon. In der vagen Hoffung, es könne Carla sein, nahm er das Gespräch an, ohne auf das Display zu schauen.

»Schönen Sonntag«, sagte Birte Jessen, seine Kollegin bei der Mordkommission, »na, heute Morgen schon ordentlich trainiert?«

»Keine Spur«, sagte Schiller. Sein Lauftraining hatte er in den letzten krisenhaften Wochen auf ein Minimum heruntergefahren.

»Dann wird daraus heute nichts mehr«, erklärte sie. »Am Militärring hat ein Wohnwagen gebrannt. In dem Wrack hat die Feuerwehr eine Leiche gefunden. Könnte ein Brandanschlag auf eine Prostituierte gewesen sein.«

2.

Sie hatte sich völlig verausgabt – zwei Bahnen im Skiff auf dem Fühlinger See. Auf den letzten zweihundert Metern war ihr so schlecht gewesen, dass sie glaubte, sich übergeben zu müssen, aber es war ein Gefühl, das ihr gefiel, weil es sie an ihre Jugend erinnerte – an die Freundinnen aus der Schule, vier Mädchen in einem Rennboot, die nahezu unschlagbar gewesen waren, wenn sie nicht gerade gegen vier stämmige Russinnen oder Rumäninnen hatten antreten müssen. Wo waren die Freundinnen jetzt? Sie wusste es nicht – Barbara war wohl nach Neuseeland gegangen, Janett hatte einen Motorradunfall gehabt, ein Bein verloren …

Verluste, dachte Birte Jessen, es gab so viele Verluste, dass man manchmal glauben musste, es nicht ertragen zu können. Erst hatte sie Martin verloren – den zarten Geigenbauer aus St. Pauli – Leukämie –, das war nun fast ein Jahr her, und nun war auch Martha, seine Mutter, gestorben.

Birte war sicher, dass sie Selbstmord begangen hatte. Fünf leere Packungen Schlaftabletten hatte sie in Marthas Nachttischschublade gefunden, doch der Hausarzt, ein alter knurriger Hamburger, hatte ihr nur einen kurzen Blick zugeworfen und dann »Herzversagen« auf den Totenschein geschrieben. Was hätte eine Obduktion auch für einen Sinn gehabt? Jeder, der Martha gekannt hatte, hatte gewusst, dass sie nach dem Tod ihres Sohnes jeden Lebensmut verloren hatte.

Nun waren die Wohnung und die Werkstatt leer – niemand, der sich darum kümmern konnte, nur sie, eine Polizistin, die nichts von Geigen und Musik verstand und nach Köln geflohen war.

Manchmal war es, als verblasste die Erinnerung an Martin zusehends, so als würde sie sich bereits an Erinnerungen erinnern, nicht an wirkliche Erlebnisse. Ausflüge ins Alte Land, eine lange Fahrt in seinem Saab Cabriolet, das er sich geleistet hatte, obwohl es so gar nicht zu ihm passte, und er in der Werkstatt, mit einer halb fertigen Geige, umgeben von den Gerüchen von Holz und Leim und seine Haut an ihrer …

Nur seine Krankheit stand ihr noch genau vor Augen. Er war zuletzt eine blasse, ausgemergelte Gestalt in einem weißen Krankenbett gewesen, die immer versuchte zu lächeln, wenn sie kam. Zuletzt war sein schmales Gesicht nur noch dieses schreckliche, schmerzhafte, maskenhafte Lächeln gewesen.

Sollte sie nach Hamburg zurückkehren? Köln war ihr fremd geblieben, und dann ihre Affäre mit Hinrichs, dem Pressesprecher der Polizei. Nein, es war nicht einmal eine Affäre, ein One-Night-Stand, so hieß das wohl, der eine Kette von Missverständnissen nach sich gezogen hatte. Hinrichs hatte sie verfolgt, von Liebe gesprochen. Zum Glück war in den letzten zwei Wochen Ruhe eingekehrt. Offenbar hatte er endlich kapiert, dass sie nichts von ihm wollte.

Ich bin fünfunddreißig, sagte sie sich. Kann ich mich noch mal verlieben, nach all diesen Verlusten …?

Sie hörte das schrille Klingeln ihres Handys, als sie aus der Dusche kam. Das Rudern hatte sie angestrengt, aber die Erschöpfung, die sie fühlte, tat ihr gut. Sie musste das Training wiederaufnehmen, körperlich zu Kräften kommen.

Nele Krach, ihre Assistentin, meldete sich. Eine verkohlte Leiche in einem Wohnwagen.

Auf der Hitliste der öden Orte Kölns würde die Gegend am Militärring in der Nähe des Eifeltors mit Leichtigkeit einen der vorderen Plätze einnehmen. Birte hatte von Nele erfahren, dass sich hier nahe der Autobahn in den letzten Jahren ein Straßenstrich etabliert hatte. Zumeist osteuropäische Damen warteten in Wohnmobilen oder Wohnwagen auf Kundschaft.

Der ausgebrannte Wagen befand sich nicht am Militärring, sondern schon ein Stück die Straße zum Eifeltor hinein. Die Polizei hatte die Zufahrt weiträumig abgesperrt. Lastwagen, die zu einer Verladestelle oder zu einem Autohof wollten, konnten jedoch im Schritttempo passieren.

Birte parkte vor der Absperrung. Insgeheim hoffte sie, dass man die Leiche schon abtransportiert hatte. Wie sah ein völlig verkohlter Mensch aus? So ähnlich wie eine Mumie?

Jan, den sie alarmiert hatte, war noch nicht eingetroffen, aber Roland Grauer von der Spursicherung lief in seinem Papieranzug schon um den Wohnwagen herum. Nein, es war ein Wohnmobil, korrigierte Birte sich. Sie grüßte zu Grauer hinüber, der kurz nickte und dann weiter Fotos machte. Zwei Feuerwehrwagen standen auch noch da. Mehrere Feuerwehrmänner liefen umher und räumten ihre Ausrüstung wieder ein. Einer kam zu ihr herüber und tippte sich an den Helm.

»Sie sind von der Kripo, nicht wahr?« Er wartete ihre Antwort gar nicht ab. »Ist heute Morgen gegen sechs in Flammen aufgegangen, die Kiste. Als wir ankamen, war nichts mehr zu retten. Wir dachten, der Wagen sei leer. Die Huren machen meistens Schluss, wenn es hell wird.«

Birte verzog das Gesicht. Woher wusste der Mann das so genau?

»Brennen hier häufiger mal Wohnwagen?«, fragte sie.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Die Leiche ist noch da«, sagte er und deutete auf den Wagen.

Als Birte sich umwandte, sah sie, wie Jan sich näherte. Er sah müde aus, als hätte er die halbe Nacht wach gelegen. Dass Carla ihn aufgefordert hatte auszuziehen, war ihm nicht bekommen. Bisher hatte er ihr nicht verraten, wo er inzwischen untergekrochen war.

»Hat einer nicht bezahlen wollen und dann gleich alles abgefackelt?«, fragte er mäßig interessiert.

Birte zuckte mit den Achseln.

Dann kamen auch Schultke und zwei weitere Männer von der Kriminaltechnik. Ihnen war die Begeisterung anzusehen – Sonntagmorgen und dann auch noch ein Brandanschlag, wo Spuren nur sehr aufwendig zu sichern waren.

»Von allein ist der Wohnwagen bestimmt nicht in die Luft geflogen«, meinte Jan. Er ging auf den Feuerwehrmann zu, der Birte zuvor unterrichtet hatte, und fragte tatsächlich nach Kaffee.

Der Mann deutete vor sich. »Am Autohof drüben – da gibt es ordentlichen Kaffee.«

Jan nickte. Dann sprachen die beiden leiser weiter. Birte meinte, das Wort »Brandstiftung« wahrzunehmen. Warum hatte sie nicht danach gefragt? Zögernd näherte sie sich dem Wagen. Es stank nach Rauch und Gummi. Sie hatte die Männer nie verstanden, die in so einem Campingwagen ihrer Lust frönten.

Schultke hatte sich seinen Anzug und einen Mundschutz übergestreift. »Man muss aufpassen, dass man sich nicht die Schuhsohlen ankokelt«, sagte er vor sich hin. Angewidert verzog er das Gesicht.

Von dem Wagen war nichts übrig geblieben. Nicht einmal die ursprüngliche Farbe war zu erahnen, auch das Nummernschild konnte Birte nicht mehr lesen. Da würden die Techniker ganze Arbeit leisten müssen.

Als Birte bis auf drei Schritte an den Wagen herangetreten war, meinte sie, die Leiche zu sehen – ein schwarzes, längliches Etwas, das quer zur Tür lag. Zwei Beine ragten hervor, die eher verkohltem Holz glichen als Knochenresten. Schaudernd wandte sie sich ab und ging an dem Wagen vorbei. Auch das Gebüsch hinter dem Wohnmobil war angesengt worden. Die Blätter hatten sich braun verfärbt. Der Geruch von verbranntem Gummi setzte ihr so zu, dass sie Atemnot bekam.

Ein Farbeimer lag hinter dem Buschwerk, ein kaputter Regenschirm, Plastiktüten – der übliche Müll, der in Köln so an Straßen herumlag. Dann entdeckte sie den Benzinkanister, ein schweres olivgrünes Ungetüm, wie es wahrscheinlich beim Militär benutzt wurde. Und daneben …

Ihr schnürte sich die Kehle zu. Übelkeit stieg in ihrem Magen auf. Zuerst sah sie nur die leeren Augenhöhlen, dann die heraushängende Zunge und den Draht um den Hals. Die Katze, die hier lag und die jemand grausam gequält hatte, musste schon länger tot sein. Ihre Eingeweide quollen hervor, und ihr linker Hinterlauf fehlte ganz. Ratten oder andere Tiere hatten sich schon gütlich daran getan.

Birte wandte sich ab und spürte im nächsten Moment, wie sich ihr Magen zusammenzog. Bittere Galle schoss ihr in den Mund. Am ersten Baum hinter dem Gebüsch stützte sie sich ab und erbrach sich. Der Anblick von Leichen hatte ihr schon immer zugesetzt, doch solch eine Übelkeit hatte sie noch nie gefühlt.

Dann, während sie würgte und Hitzewellen durch ihren Körper rauschten, traf sie ein anderer Gedanke. Ihre Periode – seit wann war ihre Periode ausgeblieben?

Sie versuchte einige Daten zu überschlagen, aber ihre Gedanken verirrten sich.

Verdammt, konnte es sein, dass sie schwanger war? Dass ihre Nacht mit Hinrichs noch ganz andere Folgen gehabt hatte – nicht nur, dass ein verrückter Pressesprecher ihr nachstellte und unentwegt von Liebe faselte.

Eine weitere Übelkeitsattacke erfasste sie.

Schwanger – das klang beinahe wie ein Urteil: Sie werden dazu verurteilt, sich die nächsten achtzehn Jahre um einen anderen Menschen zu kümmern.

Nein, sie richtete sich auf und versuchte zu lächeln. So aberwitzig konnte das Leben nicht sein.

Plötzlich, ohne dass sie ein Geräusch wahrgenommen hatte, legte sich ihr eine Hand auf die Schulter.

Hinrichs, funkte es in ihrem Kopf, was macht er denn hier – woher weiß er …?

Die Paranoia hatte jedoch schon um sich gegriffen.

Jan musterte sie, als wäre er der Arzt und sie die Patientin.

»Probleme?«, fragte er und hob die Augenbrauen.

Sie schüttelte den Kopf und wischte sich über den Mund. Sich die Seele aus dem Leib zu kotzen war selbst vor Jan peinlich. »Vielleicht etwas Falsches gegessen«, murmelte sie entschuldigend.

»Lass uns irgendwo einen Kaffee trinken.« Jan zog sie ein wenig an sich, als würde er sie trösten wollen. »Hier können wir im Moment ohnehin nicht viel tun. Zuerst müssen uns Schultke und seine Leute Ergebnisse bringen.«

Sie nickte stumm und spürte die fatale Nachricht, die ihr Körper ihr vermittelte. Sie war schwanger – zur falschen Zeit, vom falschen Mann.

3.

Das nagende Gefühl im Bauch wurde Schiller nicht los. Wo war Carla? Weder am Handy noch in der Wohnung war sie zu erreichen. Wahrscheinlich war alles harmlos, redete er sich ein. Ein Kurzurlaub, ein Ausflug in die Eifel, die sie liebte. Doch nachdem er Birte in ihre schicke Wohnung am Hermeskeiler Platz gebracht hatte, weil sie sich offenbar den Magen verdorben hatte, fuhr er statt ins Präsidium erneut zu der Wohnung, die er immer noch als ihre gemeinsame betrachtete.

Als wäre es ein Tatort, sah er sich in allen Räumen um. Im Flur, auf dem Holzparkett, fand er drei Flecken, die wie getrocknetes Blut aussahen. Wie lange mochte das Blut schon hier kleben? Oder hatte er diese Flecken früher schlicht übersehen?

Während er den Anrufbeantworter abhörte, wurde er noch unruhiger. Zehn Gespräche waren gespeichert, danach wurde auf dem alten Gerät nichts mehr aufgezeichnet.

Zweimal fragte eine Frau Dörner vom Jugendamt Köln nach einem Termin. Ihre beste Freundin Anja erkundigte sich, wie es Carla ginge, und schlug für den Samstag einen Kinobesuch vor. Ein Mann, der sich Roland Kuttner nannte, bestätigte einen Termin am Adenauer Weiher am Sonntagnachmittag. Schiller spürte einen Stich Eifersucht. Verabredete Carla sich neuerdings mit irgendwelchen Männern zum Spazierengehen? Zwei besorgte Mütter und ein Vater riefen an, weil sie Carla am Freitag nicht in ihrem Büro angetroffen hatten. Dann eine Frau aus einem Reisebüro, die ihr ein Angebot für eine New-York-Reise machen wollte. Der vorletzte Anruf stammte von Therese, der alten Hebamme, die für Schiller nach dem Tod seiner Eltern zu einer Art Elternersatz geworden war. »Liebchen«, sagte Therese in ihrem breiten Kölsch, »Jan ist völlig von der Rolle – gib ihm noch eine Chance. Ruf mich bitte mal an.«

Zuletzt hörte Schiller sich selbst. Am Donnerstagabend hatte er sie angerufen. Er klang leise, es war ihm anzuhören, dass er getrunken hatte. Widerwillen, Zuneigung, Verzweiflung sprachen aus seiner Stimme. Er wollte sie nicht anrufen, nicht um ein Treffen betteln, aber er konnte nicht anders. Armselig wirkte er, klein und peinlich.

»Lass mich nicht hängen« waren seine letzten Worte, die in einem heiseren Flüstern erstarben.

Nein, sagte Schiller sich, so war er nicht – am Donnerstagabend, nachdem Brasch zu Sylvie zum Tanzen gefahren war, hatte er sich nur besonders elend gefühlt.

Noch einmal strich er durch die Wohnung, schaute nun auch in Carlas Schränken nach. Hatte sie für einen Kurzurlaub Kleider mitgenommen? Es schien nichts zu fehlen. Am meisten beunruhigte ihn, dass sie Termine in ihrer Praxis nicht wahrgenommen hatte.

Neben dem bodenlangen Spiegel hing der Ersatzschüssel für ihr Büro, das fünf Minuten entfernt in der Palanterstraße lag. Wann war er zuletzt in ihrer Praxis gewesen? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Carla war als Psychologin auf die Betreuung von Jugendlichen spezialisiert. Gelegentlich kam es sogar vor, dass sie Patienten mit nach Hause brachte, um mit ihnen zu kochen, Kuchen zu backen, alltägliche Dinge zu tun, aber was sie genau mit ihnen in ihrer Praxis anstellte – darüber hatte Schiller nie nachgedacht.

Es gab so viele Dinge, die er nicht beachtet hatte, fiel ihm ein, als er aus der Wohnung schlich.

Er versuchte Therese zu erreichen, doch auch sie meldete sich nicht.

Dann ging er zu Gabriel Hagen hinauf. Der Schriftsteller wohnte über ihnen – am Anfang hatte Carla ihn nicht leiden können, fand ihn zu exaltiert, wie er mit Hut und weißem Anzug durch Sülz spazierte und alle, die er kannte, mit großen Gesten grüßte. Nachdem sie eines seiner Bücher gelesen hatte, in dem es um einen Musiker ging, der sein Gehör zu verlieren drohte, hatte sie sich ein wenig mit ihm angefreundet.

Schiller hörte die laute Klingel, die jeden innerhalb weniger Sekunden aus dem hintersten Winkel der Wohnung locken musste, doch niemand öffnete. Auch Hagen war nicht zu Hause.

Für einen Moment blitzte bei Schiller der absurde Gedanke auf, Carla könnte sich mit dem alten Schriftsteller eingelassen haben.

Schiller war pünktlich am Adenauer Weiher. Nervös hielt er nach Carla Ausschau. Tauchte sie irgendwo auf? Ihren Wagen, einen alten schwarzen Peugeot, hatte er auf dem Parkplatz nicht entdeckt. Er konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen, warum sie sich hier mit einem Mann traf. Eine langweilige Ausflugsgegend: ältliche Spaziergänger, Leute, die ihre Hunde ausführten, Jogger in bunten Trainingsanzügen. Vom Laufen hatte Carla nie viel gehalten. Wenn er für den Köln-Marathon trainierte, hatte sie es sich in ihrer Wohnung mit einem Buch gemütlich gemacht.

Er umrundete den kleinen See einmal. Keine Spur von Carla. Auch sonst schien niemand auf sie zu warten. Nein, auf einer Bank saß ein schwarzhaariger Mann, der einen Hund bei sich hatte. Er las in einer Zeitung und blickte gelegentlich auf die Uhr. Als Schiller genauer hinblickte, sah er, dass der Mann eine modische Jacke trug, auf die ein großes K aufgestickt war.

Für einen Moment war Schiller versucht, seinen Polizeiausweis zu zücken. Dann jedoch trat er auf den Mann zu und fragte: »Sind Sie vielleicht Herr Kuttner?«

Der Mann sah von seiner Zeitung auf und blickte Schiller freundlich interessiert an. »Ganz recht«, erklärt er mit einer überraschend piepsigen Stimme. Auch der Hund neben ihm, ein Golden Retriever, schien auf den Namen »Kuttner« zu hören. Er richtete sich jedenfalls auf und spitzte die Ohren.

»Kann es sein, dass Sie hier auf meine … Frau warten?«, fuhr Schiller fort.

»Wenn Ihre Frau Carla Mohn heißt – dann warte ich wohl auf sie«, erwiderte Kuttner. Er blickte auf die Uhr. »Ist wohl nicht die Pünktlichste – Ihre Gattin. Zehn nach drei – sie ist spät dran.«

Der Hund streckte sich und gähnte laut, als wolle er die Worte seines Herrchens unterstreichen.

»Weshalb wollte sich Carla mit Ihnen treffen?«, fragte Schiller.

Kuttner faltete die Zeitung geschickt zusammen und musterte ihn spöttisch. »Haben Sie Probleme? Warum fragen Sie das Ihre Frau nicht selbst?«

»Sie ist verschwunden«, erwiderte Schiller. Kraftlos setzte er sich neben Kuttner. Aufmerksam kam der Hund um die Bank herum. Er schaute Schiller an, als müsste er abschätzen, ob dieser Zweibeiner eine Gefahr für sein Herrchen darstellen konnte. Kuttner strich ihm gedankenverloren über den Kopf.

»Ich kenne Ihre Frau nicht«, erklärte Kuttner. »Habe mit ihr nur zweimal telefoniert. Ich bin Hundetrainer. Sie wollte von mir etwas über Hunde wissen. Hat mich nach Wolfshunden gefragt, nach Kampfhunden … Ach, eigentlich nach Hunden überhaupt.«

»Wollte sie sich einen Hund zulegen?« Schiller konnte seine Verwunderung nicht zurückhalten.

Kuttner lächelte ihn an. »Keine Ahnung. Sie hat sich sehr für Wölfe und Wolfshunde interessiert, wollte mich so schnell wie möglich treffen. Mein Stundensatz beträgt fünfundfünfzig Euro, aber das hat Ihre Frau nicht abgeschreckt.« Kuttner erhob sich. »Zahlen Sie mein Honorar? Sollen wir uns über Hunde unterhalten? Ansonsten muss ich jetzt gehen. Ich habe noch Kundschaft. Der Sonntag ist einer meiner wichtigsten Arbeitstage.«

»Wann hat meine Frau mit Ihnen telefoniert?«, fragte Schiller weiter.

»Am Anfang der Woche – Montag und Dienstag. Sie hat echt Druck gemacht – wollte mich so schnell wie möglich sehen.« Kuttner schaute sich um. »Scheint aber nicht zu kommen – Ihre werte Gattin.«

Schiller holte seine Visitenkarte hervor. »Rufen Sie mich an, falls Carla sich bei Ihnen meldet.«

Kuttner betrachtete die Karte. »Kriminalpolizei – suchen Sie Ihre eigene Frau, oder glauben Sie, dass etwas passiert ist?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Schiller wahrheitsgemäß.

Er schaute dem Hundetrainer nach, wie er zum Parkplatz ging, und hatte plötzlich das Gefühl, dass Kuttner ihn angelogen hatte und dass er ein Geheimnis besaß. Warum sollte Carla sich nach Hunden erkundigen? Nie hatte sie auch nur eine Andeutung gemacht, dass sie sich ein Haustier wünschte. Allenfalls hätte sie sich für ein Pferd interessiert, weil sie als Kind früher geritten war.

Während er noch eine Runde um den See drehte, nahm er sich vor, in Sülz nach ihrem Wagen zu suchen, danach würde er ihre Freundinnen anrufen und sich in ihrem Büro umsehen. Niemand verschwand einfach so, ohne eine Spur, und Carla würde niemals ihre Patienten im Stich lassen.

Als er erneut ihre Nummer wählen wollte, klingelte sein Handy.

Nele meldete sich.

»Sind Schultke und seine Leute mit dem Wohnwagen fertig?«, fragte Schiller.

»Die Leiche ist in die Rechtsmedizin gebracht worden«, erwiderte Nele. »Außerdem sieht es so aus, als wäre der Wagen erst am frühen Morgen da abgestellt worden. Hat eine Zeugin der Feuerwehr gesagt.« Sie räusperte sich. »Aber wir haben noch einen Einsatz. Eine Messerstecherei in der U-Bahn-Station Florastraße. Ein Toter und ein Schwerverletzer. Könnte der Täter sein.«

4.

Wie lange hatte sie mit Martin versucht, schwanger zu werden! Selbst als seine Krankheit schon ausgebrochen war, hatten sie sich wie Verzweifelte geliebt, als könnte ein Kind alles ändern. Später hatte sie gedacht, dass Martin in einem Kind weiterleben würde. Er wäre nicht mehr da, aber dann hätte sie sein Kind, das ihm vielleicht wie aus dem Gesicht geschnitten wäre, aber nie hatte es geklappt. Und nun?

Martin war fast ein Jahr tot, und sie saß in einer Kölner Wohnung, die ihr noch immer fremd war, und hatte das sichere Gefühl, schwanger zu sein.

Kaum hatte Jan sie am Hermeskeiler Platz abgesetzt, hatte sie sich erneut übergeben müssen. Sie kam sich wie eine Verräterin vor, sie hatte Martin verraten, sich selbst und sogar die tote Martha.

Für einen Moment, während sie in ihr Wohnzimmer zurückschlich, in den Raum, in dem sie in einer gläsernen Vitrine Martins letzte Geige aufbewahrt hatte, dachte sie daran, Hinrichs anzurufen und ihn zu beschimpfen. Er hatte sie überrumpelt und sie danach förmlich belagert. Erst in den letzten Wochen hatte er sich ein wenig zurückgezogen.

Aber was sollte sie ihm sagen? Ich bin wahrscheinlich schwanger, du verfluchter Scheißkerl?

Noch allerdings fehlte der letzte Beweis.

Einen Schwangerschaftstest gab es in jeder Apotheke – und irgendeine in der Nähe hatte bestimmt einen Notdienst.

Birte hielt den Hörer in der Hand, um sich ein Taxi zu rufen, aber dann erfasste sie ein Zittern, als wäre eine unbekannte, heimtückische Krankheit in ihr aufgebrochen. Sie würde keinen Schritt tun können, und vielleicht wollte sie es auch gar nicht ganz genau wissen.

Was sollte sie mit einem Kind anfangen?

Plötzlich musste sie sich vorstellen, wie Martin mit einem Kind umgegangen wäre. Tränen traten ihr in den Augen, als sie ihn vor sich sah: mit einem winzigen Säugling im Arm bei sanften Geigenklängen durch seine weitläufige Werkstatt schreitend. Ein Kind hätte diese besondere Atmosphäre von Kunst und Handwerk, von Musik und erlesenen Hölzern noch mehr veredelt.

Das Schrillen ihres Telefons ließ sie zusammenzucken. Obwohl sie das Gefühl hatte, keinen Ton herauszubringen, nahm sie ab.

Eine uralte Stimme meldete sich. Therese, Jans mütterliche Freundin, die, obschon sie über achtzig war, noch immer als Hebamme arbeitete. Noch nie hatte sie Birte in ihrer Wohnung angerufen.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, erklärte die Alte entschuldigend, »aber weißt du, was mit Jan los ist? Er meldet sich nicht mehr, und Carla …«

Birte spürte einen beinahe unüberwindlichen Kloß im Hals. »Keine Ahnung«, brachte sie beinahe schluchzend hervor.

»Kindchen, was ist passiert?«, rief die alte Hebamme mit einem schier grenzenlosen Verständnis. Dann fuhr sie, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Ich bin in zehn Minuten bei dir.«

Therese trug ihren babyblauen Wollmantel, den sie anscheinend auch bei der größten Hitze nicht ablegte. Ihre Augen wirkten hinter den dicken Brillengläsern wach und riesig. Die dünnen grauen Haare hatte sie wie gewöhnlich zu einem Zopf zusammengebunden. Jan hatte einmal erzählt, dass sie ungefähr fünftausend Kindern auf die Welt verholfen hatte und in Köln eine Institution war, die jeden kannte. Selbst die Bürgermeisterin hatte bei ihr entbunden.

Zart strich sie Birte über die Wange. »Diese schwankenden Stimmen am Telefon kenne ich allzu gut«, sagte sie mitfühlend. »Da gibt es bei Frauen nur drei Möglichkeiten: Sie haben ihr Kind verloren oder ihren Mann – oder sie sind ungewollt schwanger.«

Therese lächelte und schickte diesem Lächeln gleich ein heiseres Kichern hinterher.

»Könnte sein«, erwiderte Birte. Sie hatte sich ein wenig gefasst, kam sich aber immer noch ungewohnt schwach und hilflos vor.

Mit einem weiteren Kichern, das beinahe hexenhaft klang, holte Therese aus einer vollkommen abgewetzten Ledertasche, die sie stets bei sich trug, weil sie offenbar immer geradewegs von einem Hausbesuch kam, eine kleine Packung hervor. »Bin gar nicht gegen die Segnungen der Moderne, wie Jan immer behauptet.« Sie schüttelte das Päckchen. »Ein Schwangerschaftstest – muss jede Hebamme, die Nachsorge betreibt, bei sich haben. Du glaubst gar nicht, wie manche Frauen es darauf anlegen, möglichst schnell wieder schwanger zu werden.«

Dann ging sie in die Küche und kochte umständlich und mit lautem Geklappere Tee.

»Ich hoffe nicht, dass Jan der Vater ist«, rief sie herüber.

»Nein, ist er nicht«, beeilte sich Birte zu antworten.

»Gott sei Dank. Jan hat schon genug Probleme. Manchmal denke ich, er ist ein guter Polizist, aber trotzdem nicht sehr helle im Kopf – zumindest nicht, was seine eigenen Sachen angeht.«

Sie brauchten eine gute halbe Stunde, um die Wahrheit herauszufinden.

Die Antwort auf dem schmalen Streifen war eindeutig.

»Meine Gratulation«, sagte Therese und reichte ihr feierlich die Hand. »Ein Kind ist immer etwas Schönes, auf das man sich freuen sollte. Auch wenn die Schwierigkeiten jetzt erst anfangen.«

Birte hätte beinahe gelacht, so absurd kam ihr die Situation vor. Wie gut, dass die alte Hebamme bei ihr war!

»Das Kind hat keinen Vater«, sagte sie.

Therese lächelte und berührte sie am Arm. »Keinen richtigen vielleicht. Aber das kommt vor. Dann müssen wir Frauen eben einen Plan machen. Bis es Abitur hat, werde ich nicht für das Kind da sein können, aber eine Weile schon noch.« Sie lachte lauthals auf. »Willst du es Jan sagen? Er wird Augen machen – hat selbst kein Kind hingekriegt, und nun ist seine liebste Kollegin schwanger.«