Der Richter von Köln - Reinhard Rohn - E-Book

Der Richter von Köln E-Book

Reinhard Rohn

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Beschreibung

Er nennt sich selbst 'der Richter von Köln'. Zuerst tötet er einen türkischen Jungen, der wegen Totschlags vor Gericht stand, dann einen Lehrer, der vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurde; das dritte Opfer ist ein junger Italiener. Ganz Köln ist entsetzt und die Polizei machtlos. Bis Kommissar Schiller auf einen verwegenen Plan verfällt. Er will seinen alten Schulfreund Broder als Lockvogel einsetzen. Als dieser spurlos verschwindet, überschlagen sich die Ereignisse …

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Über das Buch

Er nennt sich selbst 'der Richter von Köln'. Zuerst tötet er einen türkischen Jungen, der wegen Totschlags vor Gericht stand, dann einen Lehrer, der vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurde; das dritte Opfer ist ein junger Italiener. Ganz Köln ist entsetzt und die Polizei machtlos. Bis Kommissar Schiller auf einen verwegenen Plan verfällt. Er will seinen alten Schulfreund Broder als Lockvogel einsetzen. Als dieser spurlos verschwindet, überschlagen sich die Ereignisse …

Über Reinhard Rohn

Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman "Rote Frauen", der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.

Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über "Matthias Brasch". Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.

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Reinhard Rohn

Der Richter von Köln

Übersicht

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Titel

Inhaltsverzeichnis

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Epilog

Nachbemerkung

Impressum

Buchtipps, die Ihnen ebenfalls gefallen könnten!

»Mordet man denn so? Geht man zu einem Mord so,

wie ich damals gegangen bin? Habe ich die Alte ermordet?

Mich selbst habe ich ermordet und nicht die Alte!

Mit einem Schlag habe ich mir den Garaus gemacht.«

Fjodor Dostojewski, »Schuld und Sühne«

1

Er war der Richter, und der Richter erkannte ihn sofort. Der Junge war nicht schwer zu finden. Das Foto im Stadt-Anzeiger war sehr gut gewesen. Erhan lungerte in Chorweiler an der S-Bahn herum. Er hielt eine Zigarette in der Hand, die er nach einer Taube schnippte, die erschreckt aufflog. Er sah gelangweilt aus und verschlagen, ja, als wäre er nur darauf aus, Ärger zu machen. Als drei andere Jungen vorbeikamen, klatschten sie sich ab, und Erhan rief ihnen eine Beschimpfung nach, die alle zum Lachen brachte. Dann warf Erhan ihnen eine leere Bierdose hinterher, die aber keiner beachtete. Als ein heruntergekommen aussehender Mann von einer Bank aufstand, um die Dose aufzuheben, befahl Erhan ihm, sie ja liegen zu lassen. Der Mann nickte heftig und zog sich zu seinen zwei Kumpanen auf die Bank zurück.

Erhan, dachte der Richter, wozu bist du auf der Welt? Du hast es nicht kapiert und wirst es nie kapieren. Die Schreie in seinem Kopf waren endlich für ein paar Augenblicke verstummt. Ruhig atmete er ein und aus und genoss die Stille um ihn. Es war ein friedlicher Tag. Friedliche Tage waren gut, um Gerechtigkeit zu bringen.

Erhan blickte zum grauen Oktoberhimmel, dann musterte er die Passanten, die aus der S-Bahn-Station hochkamen. Er taxierte sie – wer war ein Opfer, wer war ein Täter? Ja, so schien dieser Junge die Welt zu sehen.

Nun, es war eindeutig, auf welcher Seite er stand. Ein Opfer würde er niemals sein, dachte Erhan zumindest, aber da hatte er sich getäuscht. Ein paar Minuten würde der Richter ihm noch geben, bis er ihn über die Grenze stoßen würde.

Als hätte er das Gefühl, beobachtet zu werden, sprang der Junge plötzlich auf und schlenderte in Richtung des Parkplatzes vor den Hochhäusern. Zwei kleinere Jungen, die ihn offensichtlich kannten, wichen ihm ängstlich aus. Erhan zischte ihnen trotzdem einen Fluch zu.

Der Richter folgte ihm. Merkwürdig, dachte er, ich habe das Gefühl, unsichtbar zu sein, als wäre ich ein Racheengel, den nur derjenige sehen kann, für den er auf die Welt hinabgestiegen ist. Aber nein, Unauffälligkeit hatte er ja gelernt.

Auf dem Parkplatz war Wochenmarkt. Erhan griff sich einen Apfel und biss hinein, dann nickte er dem schnauzbärtigen Mann hinter dem Marktstand frech zu und schlenderte weiter.

Wie hast du dich gefühlt, als du diesen Jungen getötet hast, nur weil er dich angerempelt hat?, sprach der Richter stumm vor sich hin.

Als hätte er ihn tatsächlich gehört, wandte Erhan sich um, doch er sah den Richter nicht, blickte tatsächlich durch ihn hindurch, weil er ein Fremder war, nicht mehr als ein Gesicht auf einem Wochenmarkt. Dann drehte er wieder den Kopf, grüßte ein Mädchen, indem er sich an die Stirn tippte, doch die dunkle Schönheit, die etwa so alt war wie er, tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt, dabei war ihr die Anspannung anzusehen. Erhan hatte zweifellos einen gewissen Ruf im Viertel.

Kurz bevor er den Markt verließ, steckte Erhan sich einen Kamm ein. In einer schnellen, fließenden Bewegung packte er das silberfarbene Ding von dem Samttuch eines Standes und schob es sich in die Tasche. Wahrscheinlich brauchte er den Kamm gar nicht, es war so eine Art Übung, ein Machtbeweis für ihn selbst, dass er alles mitnehmen konnte, was er wollte.

Der Richter blieb ihm auf den Fersen. Ruhig atmete er ein und aus. Niemand war in seinem Kopf. Da war er ganz allein, er und sein Wunsch, Gerechtigkeit zu bringen.

Erhan steuerte auf den anderen Eingang zur S-Bahn-Station zu. Auf einmal, als hätten die Menschen die Gefahr gespürt oder als wäre ein fremder Gott dem Richter gnädig, war niemand mehr in der Nähe. Kurz schaute der Richter sich um. Der Schnellimbiss zur Linken war noch geschlossen. Er spürte, dass er nun doch ein wenig nervös wurde. Er hatte so etwas noch nie getan, doch es musste getan werden. Er musste etwas gegen seine Schlaflosigkeit tun, gegen die Schreie in seinem Kopf. Er wollte wieder der Sanftmütige werden.

»He, Bursche!«, rief er Erhan nach. In dem schmalen Durchgang hallte seine Stimme und kam ihm selbst fremd vor.

»Bursche« – was für ein altmodisches Wort!

Erhan wandte sich langsam um, als hätte er ein untrügliches Gefühl für Gefahr. Er kniff die Augen zusammen. »He, meinst du mich?«, erwiderte er. »Was willst du?« Breitbeinig stellte er sich auf. Er war jung, viel jünger als auf dem Foto, wenn man ihn von Angesicht zu Angesicht sah. Ein Großmaul, jemand, der aus Angst zuschlug, doch der Richter zögerte nicht.

»Ich will dich etwas fragen«, sagte der Richter. Nun klang er so sanftmütig und freundlich, wie er eigentlich war. »Du hast diesen Jungen getötet, nicht wahr? Auf dem Schulhof, weil er dich mit seinem Skateboard angefahren hat. Bereust du deine Tat? Weißt du, was es heißt, einem Menschen sein Leben zu nehmen?«

Der Junge machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was soll der Scheiß?«, knurrte er. »Das war ein Unfall – geht dich nichts an.«

»Dann bereust du es nicht?«, fragte der Richter, während er schon die Pistole aus seinem schwarzen Mantel zog. Er wusste, dass er dem Jungen keine Chance zur Flucht geben durfte.

Erhan lachte und verzog den Mund. Seine Pupillen zuckten hin und her. »Was soll das?«, stieß er hervor.

Wie ein Tier, das einen hohlen Drohruf ausstößt, dachte der Richter.

»Willst du mir Angst machen?«

»Nein«, sagte der Richter, »ich will nur dein Urteil verkünden.« Dann drückte er ab.

Der Schuss war dröhnend laut, doch er hörte ihn gar nicht. Er blickte auch nicht auf den Jungen, der mit einem Ausdruck von Entsetzen und Überraschung im Gesicht zu Boden stürzte.

In der S-Bahn, mit der er seelenruhig zum Hauptbahnhof fuhr, wäre er beinahe eingeschlafen, so ruhig fühlte er sich. Dann, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, kam das Zittern über ihn. Was hatte er getan? Nichts, nichts, sagte er sich, gar nichts. Er hatte sich nur einmal angemaßt, Recht zu sprechen, um diese Welt ein wenig gerechter zu machen. Nun wurde er wieder der Freundliche, Sanftmütige. Er zog die Vorhänge zu und ließ Mahler spielen, die Kindertotenlieder. Den Richter begann er zu vergessen. Er war kein Richter mehr, jedenfalls für eine Weile.

Irgendwann später läuteten die Glocken.

2

Die ersten Kilometer lief es sich leicht. Der Himmel war bewölkt, zum Glück regnete es nicht, ein nicht zu kalter Oktobertag. Jan Schiller hatte ein Lied im Kopf, einen älteren Song von Snow Patrol. Außerdem hatte er die ganze Zeit Carla vor Augen, wie sie ihn am Morgen verabschiedet hatte. Sie hatte ihn geküsst, ihn liebevoll Marathonmann genannt, und ihre Augen hatten gefunkelt wie schon lange nicht mehr. Er würde ihr einen Heiratsantrag machen, nahm er sich vor, als er durch die Straßen von Köln rannte. Sie würden heiraten und endlich ein Kind bekommen, und er würde weniger arbeiten, und vielleicht würden sie ein Haus kaufen, nicht zu weit draußen, in Nippes, ja, Nippes wäre perfekt, mit einem kleinen Garten und Nachbarn, die einem nicht zu sehr auf die Nerven gingen … und dann vielleicht noch ein Kind …

Die ersten Ermüdungserscheinungen, die sich nicht mehr ignorieren ließen, hatte er in der Roonstraße, Kilometer zweiundzwanzig. Seine Knie begannen zu schmerzen, er wurde langsamer, etliche Läufer zogen leichtfüßig ihm vorbei. Die meisten sahen noch frisch aus, bemerkte Schiller neidisch. Einige trugen sogar Kostüme, als kämen sie soeben vom Karneval und als wäre ein Marathonlauf nicht mehr als ein kleiner Aufgalopp zu größeren Festivitäten.

An der Dürener Straße tauchte plötzlich Therese, die alte Hebamme, auf und rief laut seinen Namen. Sie winkte und lachte über das ganze faltige Gesicht. Neben ihr stand der alte Professor Goldmann, der die Faust ballte und »forza, forza« brüllte, als wäre er ein Italiener. Schiller winkte müde zurück. Er hatte nicht genügend trainiert, und er wurde älter. Vielleicht sollte man mit zweiundvierzig nicht mehr dem Wahnsinn nachhängen und zweiundvierzig Kilometer über knüppelharten Asphalt rennen. Irgendwann registrierte er Schultke von der Kriminaltechnik mit ein paar Kollegen und Brasch, ja, Matthias Brasch. Der ehemalige Hauptkommissar, der sich nun als Privatdetektiv durchschlug, feuerte ihn auch irgendwo an der Strecke an, aber dessen Gesicht verschwamm ihm schon vor Augen.

Ab Kilometer fünfunddreißig wurde es die Hölle. Da war Schiller irgendwo am Hansaring. Immer wieder hob er den Blick und suchte den Dom. Wo war die verdammte Kathedrale? Wenn er am Dom war, hatte er noch einen Kilometer. Diesen Kilometer würde er noch schaffen, aufgeben würde er nicht, wenn er am Dom war, aber bis dahin …

Seine Füße bewegten sich nur noch mechanisch, jeder Schritt auf dem harten Asphalt sandte einen dumpfen Schmerz bis in die Knie hinauf. Er war verrückt. Was wollte er sich da beweisen? Dass er noch nicht zum alten Eisen gehörte? Nein, es war sein siebter Marathonlauf durch Köln – das war Tradition, aber so schwer war es ihm noch nie gefallen.

Er versuchte, den Song von Snow Patrol zurück in seinen Kopf zu zwingen – »Run« hieß das Lied, doch irgendwie ging nichts mehr. Er nahm den heißen Tee von einer Versorgungsstation, sah das mitleidige Gesicht einer jungen Helferin und stürzte die lauwarme Flüssigkeit die Kehle hinunter.

Komm, sagte er sich, komm, Junge, quäl dich!

In seinem Kopf hämmerte es – ein hässliches Wummwumm. Sein Herz, das bis in den letzten Winkel in seinem Schädel dröhnte. Dann drang ein anderes Geräusch in dieses monotone Wummwumm. Ein schriller Klingelton. Er geriet beinahe ins Straucheln, als er versuchte, dieses Geräusch einzuordnen. Der verdammte Dom kam einfach nicht näher, aber immerhin gelang es ihm, zwei Läufer zu überholen. Gut, er hatte seine Schwächephase überwunden. Der schrille Ton aber verstummte nicht. Dann fiel es ihm endlich ein. Sein Smartphone! Er hatte sich das Ding hinten in die schmale Tasche gesteckt. Er zog es hervor. Wahrscheinlich erwartete Carla, dass er bereits kurz vor dem Ziel war, während er Kilometer achtunddreißig entgegentaumelte. Noch vier Kilometer – wie sollte er viertausend Meter hinter sich bringen?

Das Klingeln verstummte nicht. Am liebsten hätte er das Telefon genommen und auf den Boden geschleudert. Verflucht, ja, er war deutlich langsamer als letztes Jahr. Er war noch nicht im Ziel, noch nicht im Ziel …

Keuchend nahm er das Gespräch an.

»Jan«, meinte Birte Jessen, seine Kollegin von der Mordkommission, »sag bloß, du bist noch auf der Strecke?« Sie lachte leise. »Wo bist du? Welcher Kilometer?«

»Siebenunddreißig«, stieß er hervor. »Fast achtunddreißig.«

»Dann lauf mal ein bisschen schneller – wir haben wieder einen Toten. Ein Mann wurde im Parkhaus an der Arena erschossen. Ist ja ganz in deiner Nähe.« Dann unterbrach sie die Verbindung.

Schiller brauchte einen Moment, um zu Atem zu kommen. Das ist nicht ihr Ernst, dachte er. Eher breche ich tot zusammen, als dass ich gleich zu einem Tatort gehe.

Vier Stunden, sieben Minuten – die schlechteste Zeit, die er je gelaufen war. Carla wartete am Ziel auf ihn. Besorgt legte sie ihm eine Jacke über die Schulter.

»Du hast es geschafft«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Er brachte es lediglich fertig zu nicken. Was tat ihm eigentlich nicht weh? Er trank das Bier aus. Eigentlich hasste er Bier, aber nach so einem Lauf musste man möglichst schnell seinen Flüssigkeitshaushalt wieder ins Gleichgewicht bringen.

»Wir haben einen zweiten Toten«, sagte er dann und sah, wie Carla ihn forschend anschaute.

»Ja und?«, fragte sie.

»Im Parkhaus an der Arena. Ich muss kurz nach dem Rechten sehen.«

Carla lachte und küsste ihn noch einmal. »Du bist verrückt«, sagte sie, »und du bist bleich wie ein Gespenst.«

Eine halbe Stunde später stakste Schiller durch das Parkhaus an der Kölnarena. Schon an der Einfahrt hatten uniformierte Polizisten alles abgeriegelt. Bert Cremer, der Dritte in ihrem Team, starrte ihn entsetzt an.

»Kein Mitleid«, sagte Schiller und versuchte zu lächeln. »So sehe ich immer nach einem Marathonlauf aus.« Hinter Cremer entdeckte Schiller drei Kriminaltechniker. Schultke, der Chef der Abteilung, und zwei andere waren bereits bei der Arbeit. Zwei große Scheinwerfer leuchteten drei Parkbuchten aus.

Cremer eilte auf Schiller zu und packte ihn am Ellbogen, als wolle er ihn stützen.

»Wir kommen schon zurecht«, erklärte er leise und sah sich um, als wolle er von irgendwoher einen Stuhl organisieren.

»Der Tote wollte offenbar zum Eishockey, er trug jedenfalls einen Schal der Haie um den Hals«, sagte eine helle Frauenstimme. Birte Jessen trat hinter einem Auto hervor. In der Hand hielt sie einen Kaffeebecher, den sie Schiller reichte. »Du siehst aus, als könntest du ein wenig Koffein gebrauchen.«

Schiller lächelte und trank. »Mir geht es schon wieder besser«, sagte er. »Aber ab Kilometer fünfunddreißig war ich wirklich fix und fertig.« Er lehnte sich gegen einen weißen Audi. Seine Knie fühlten sich an, als wären sie porös und würden gleich auseinanderbrechen. Er blickte wieder zu den Technikern hinüber. Dann entdeckte er zwei Beine, die neben einem roten Passat lagen. »Der Tote ist noch da?«

Birte nickte. »Zwei Schüsse in die Brust. Der Mann war sofort tot. Wir haben seinen Pass in seiner Brieftasche gefunden. Er heißt Thorsten Sawatzki, dreiundvierzig Jahre, Lehrer und leider kein Unbekannter.« Sie zog ein Stück Papier aus ihrer hinteren Jeanstasche. Ein Zeitungsausschnitt. »Er stand letzte Woche vor Gericht. Er soll eine Kollegin vergewaltigt haben, wurde aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. War vor drei Tagen ein großer Artikel im Stadt-Anzeiger.« Birte hielt ihm den Ausschnitt hin. »Freispruch dritter Klasse« lautete die Überschrift. »Trotz begründeter Zweifel an der Unschuld des Angeklagten kam das Gericht nicht zu einer Verurteilung. ›Skandal!‹, rief das dunkelhaarige Opfer, bevor es im Gerichtssaal zusammenbrach.«

Schiller sah Birte an. Sie nickte und steckte den Zeitungsausschnitt wieder ein.

»Ja«, sagte sie dann. »Auch bei dem türkischen Jungen, der vor drei Tagen erschossen wurde, gab es vorher einen Bericht über seine Verhandlung und das milde Urteil. Wenn sich herausstellt, dass es dieselbe Tatwaffe ist –«

»Die Kriminaltechnik soll das als Erstes untersuchen«, unterbrach Schiller sie.

Schultke hatte ihn erspäht und streckte ihm den Daumen entgegen. »Tolle Leistung!«, rief er. Dann wandte er sich wieder dem Tatort zu und begann, mit einer Spezialkamera Fotos zu machen.

»Wir werden hier kaum irgendwelche Spuren finden.« Schiller trank den letzten Rest Kaffee, der ihn tatsächlich ein wenig belebte. »Aber wieso gibt es keine Zeugen? Vor einem Eishockeyspiel müssen doch etliche Leute im Parkhaus sein.«

»Sawatzki war ziemlich früh dran. Außerdem war es nur ein Testspiel der Haie. Mehr als drei-, viertausend Zuschauer wurden nicht erwartet«, erwiderte Birte. »Und die meisten Marathonläufer, die hier geparkt haben, waren noch auf der Strecke.« Sie lächelte ein wenig spöttisch. »Die Überwachungskameras haben wir noch nicht ausgewertet. Hat Cremer sich vorgenommen.«

»Also gibt es keine Zeugen?« Schiller ging nicht auf ihren Spott ein.

»Bisher nicht. Wir haben nicht einmal jemanden gefunden, der den Schuss gehört hat. Aber es muss jemand da gewesen sein – oder unser Mörder hat die Polizei selbst gerufen. Um vierzehn Uhr siebenundvierzig ging ein anonymer Anruf bei der Polizei ein – von einem Telefon im Deutzer Bahnhof. Eine Frauenstimme hat eine Schießerei gemeldet und dann aufgelegt.«

Schiller schaute sich um. Der Tatort befand sich auf der zehnten Parkebene. Man blickte auf die Gleise der Bahn hinaus. Könnte jemand in einem vorbeifahrenden Zug etwas von der Tat mitbekommen haben? Nein, wahrscheinlich nicht. Die Gleise lagen etliche Meter tiefer.

»Der Tote war verheiratet«, sagte Birte. »Jemand muss es der Ehefrau sagen.«

Schiller blickte sie an. Irgendwie waren diese Worte wohl eine Aufforderung, sie bei diesem unangenehmen Besuch zu begleiten. Er nickte. Carla war schon nach Hause gefahren, weil sie dringend ein Gutachten schreiben musste. Sie war lange krank gewesen, nachdem sie versucht hatte, einen Tierquäler zu fangen; bei dem Versuch, ihr dabei zu helfen, war Gabriel Hagen, ein alter Schriftsteller, ermordet worden. Dafür hatte sie sich die Schuld gegeben, doch nun arbeitete sie seit zwei Wochen endlich wieder als Kindertherapeutin.

»Was ist mit diesem Opfer – dieser Kollegin, die Sawatzki angeblich vergewaltigt hat? Sie könnte sich erst an ihm gerächt und dann die Polizei gerufen haben«, sagte Schiller.

»Ich habe Nele angerufen und ins Präsidium bestellt – sie versucht gerade, an die Gerichtsakte zu kommen«, erwiderte Birte. Nele Krach war der gute Geist ihres Teams, eine bildschöne blonde Mittzwanzigerin, die auf den ersten Blick als Model durchgehen konnte und sich als großartige Rechercheurin erwiesen hatte.

Ein Leichenwagen rollte langsam die Auffahrt hinauf. Schiller blickte sich um. Schroeter, der Rechtsmediziner, war noch nicht eingetroffen, aber bevor er sich den Toten nicht angesehen hatte, konnte der nicht zur Obduktion abtransportiert werden.

Plötzlich stand Schultke neben ihm. »Hast ganz schön fertig ausgesehen«, sagte er und legte Schiller den Arm kurz auf die Schulter, dann hielt er ihm ein zerknittertes Stück Papier hin. »Das hat unter dem Auto gelegen, könnte vom Wind dort hingeweht worden sein.«

»›Die Rache ist mein – ich will vergelten. Der Richter von Köln‹«, las Schiller. Die Wörter waren mit Bleistift geschrieben und wirkten völlig unbalanciert. Eine krakelige Handschrift, als hätte jemand schnell etwas hingewischt oder als hätte ein Rechtshänder die linke Hand benutzt. Schiller sah Birte an und beobachtete, wie sie die Augen zusammenkniff und ihre makellose glatte Stirn in Falten legte.

»Klingt wie ein Bibelspruch«, sagte Schiller. »Ich hoffe nicht, dass da jemand angefangen hat, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Wir müssen ihn stoppen, so schnell wie möglich.«

3

Leichen anzuschauen war das Schlimmste in ihrem Job. Die Toten verfolgten Birte Jessen bis in ihre Träume. In ihrem letzten großen Fall war ein Mann direkt vor ihrer Haustür erschossen worden. Zwei Wochen lang hatte sie das Haus nur durch die Tiefgarage betreten, um nicht an den Anblick erinnert zu werden. Auch der junge Türke, den man an der S-Bahn-Station Chorweiler erschossen hatte, hatte ihr den Schlaf geraubt. Ein Siebzehnjähriger, der noch zur Schule gegangen war, jedoch ein ellenlanges Vorstrafenregister gehabt hatte, bevor er auf dem Schulhof komplett ausgerastet war: Einen fünfzehnjährigen Kurden, der ihn mit seinem Skateboard versehentlich angerempelt hatte, hatte er so verprügelt, dass der Junge zwei Tage später an Hirnblutungen gestorben war.

Manchmal fragte Birte sich, woher diese Gewalt kam. War es vor zwanzig Jahren, in ihrer Schulzeit, auch so heftig zugegangen? Nein, sie konnte sich an solche Übergriffe nicht erinnern. Der Anwalt des Türken hatte nachweisen können, dass der Junge wegen eines vereiterten Zahns starke Schmerzmittel genommen hatte, deshalb hatte der Richter ihn nur zu einer Jugendstrafe auf Bewährung und hundertachtzig Sozialstunden plus Anti-Gewalt-Training verurteilt. Danach hatte es Tumulte im Gerichtssaal gegeben. Zahlreiche Kurden hatten sich auf der Luxemburger Straße vor dem Gericht versammelt und antitürkische Parolen skandiert, als wäre es tatsächlich um einen politischen Prozess gegangen. Für ein paar Tage war die gesamte Polizei in Köln in Alarmbereitschaft gewesen.

Und nun war der Junge tot, in Chorweiler, seinem Stadtteil, von einem Täter erschossen, von dem jede Spur fehlte.

Für Jan war sofort klar gewesen, dass es sich um einen Racheakt handelte. Jemand aus der Familie des Opfers hatte beschlossen, Recht zu sprechen und die Todesstrafe zu verhängen. Doch dafür hatten sie bisher keinen einzigen Anhaltspunkt gefunden. Die Eltern des toten Jungen hatten Köln, gepeinigt von Kummer und Trauer, verlassen und waren zu Verwandten nach Berlin gezogen, wo sie in einem Imbiss mitarbeiteten. Lediglich Ardan, der ältere Bruder, lebte noch in Köln, und er hatte ein Alibi. Mit Freunden hatte er in Mülheim in der Keupstraße Pisti gespielt, ein orientalisches Kartenspiel. Obwohl Jan sich alle Mühe gegeben hatte, war es ihm nicht gelungen, Ardan einzuschüchtern und dessen Alibi ins Wanken zu bringen. Stoisch hatte Ardan alle Fragen beantwortet.

»Was hättest du am liebsten mit dem Mörder deines Bruders getan?«

»Ich hätte ihm am liebsten eine Pistole so weit in den Hals geschoben, dass er fast kotzen müsste. Und dann hätte ich abgedrückt und zugesehen, wie das Schwein stirbt«, hatte Ardan lächelnd und ohne jeden Akzent geantwortet.

»Hast du eine Pistole?«, hatte Jan dann gefragt und war dem jungen Kurden gefährlich nahe gekommen, doch Ardan war keinen Millimeter zurückgewichen.

»Vielleicht«, hatte er erwidert. »Vielleicht auch nicht.«

»Was hast du deinen Freunden gegeben, damit sie dir zu einem Alibi verhelfen?«

»Nichts. Wir treffen uns jeden Donnerstag zum Kartenspielen.«

Wenig später hatten sie ihn laufen lassen müssen. Ardan hatte sich einen deutschen Prominentenanwalt genommen, der im Präsidium gefürchtet war. Außerdem hatte er keinerlei Vorstrafen und einen gut dotierten Job als IT-Fachmann bei einer großen türkischen Firma, die in Chorweiler ansässig war und Lamm- und Geflügelwurst produzierte.

Trotzdem war Jan sicher, dass Ardan hinter diesem Mord steckte, auch wenn er ihn möglicherweise nicht selbst verübt hatte.

Und nun der zweite Mord. Wenn tatsächlich dieselbe Waffe benutzt worden war, dann hatte sich der Fall gedreht, dann schied die Blutrache einer kurdischen Familie an einer türkischen aus. Denn warum hätte Ardan oder einer seiner Freunde oder Verwandten einen deutschen Lehrer, der ebenfalls vor Gericht davongekommen war, töten sollen?

»Vielleicht ist dieser Ardan schlauer, als wir denken«, sagte Jan plötzlich vor sich hin, als hätte er ihre Gedanken erraten.

Birte schaute ihn an. Meistens bestand er darauf zu fahren, das hieß, wie selbstverständlich nahm er die Schlüssel und stieg hinter das Lenkrad, doch nun hatte der Marathonlauf ihm offenbar so zugesetzt, dass er dankbar auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

»Du glaubst, weil wir ihm auf den Fersen waren, hat er gleich noch jemanden umgebracht, mit dem er nichts zu tun hat, um uns zu verwirren?«

Jan nickte. »Könnte doch sein, und es funktioniert ja auch. Als ich diesen Zettel gelesen habe, habe ich auch gedacht, dass jemand begonnen hat, durch die Stadt zu laufen und Leute abzuknallen, weil sie vor Gericht zu milde beurteilt worden sind. Aber mittlerweile kommen mir Zweifel. Ardan ist ein Computerfachmann – er denkt logisch und konsequent. Und nun fällt der Verdacht auf eine völlig andere Person.«

»Ardan war dir sofort unsympathisch, weil er einen auf Macho gemacht hat«, erwiderte Birte. »Deshalb kommst du auf so einen Gedanken.«

»Nein«, meinte Jan. Er rutschte auf dem Sitz hin und her und verzog das Gesicht. Wahrscheinlich tat ihm jeder Knochen im Leib weh. »Ardan steht unter Verdacht. Immer noch. Schade, dass wir es nicht durchgekriegt haben, ihn beschatten zu lassen.«

Birte bog von der Inneren Kanalstraße auf die Aachener Straße ab. Sawatzki hatte in der Friedrich-Schmidt-Straße in Braunsfeld gewohnt, eine gutbürgerliche Gegend. Sie blickte Jan an. »Du bist der erste Polizist, der im Trainingsanzug eine Todesnachricht überbringt.«

Er blickte an sich herunter und winkte dann ab. »Ich glaube, das wird nicht so wichtig sein«, sagte er.

Dann stiegen sie aus und schritten auf ein schmuckes weiß verputztes Doppelhaus zu.

»Hier wohnen Maike, Thorsten und Lea Sawatzki«, stand neben der Klingel.

Birte musste nur einmal auf den Klingelknopf drücken, bevor ihnen geöffnet wurde.

Eine Frau mit langen blonden Haaren öffnete ihnen, sie war vielleicht fünfunddreißig, aber auf jeden Fall eine absolute Schönheit. Sie trug eine modische Jeans und einen gelben eng anliegenden Kaschmirpullover.

»Ja, bitte?« Freundlich lächelte die Frau sie an.

Birte hörte, wie Jan neben ihr tief einatmete. War er von dieser Schönheit so beeindruckt, oder ging es darum, den ersten richtigen Satz zu finden?

Er räusperte sich und blickte an sich herunter, als wäre ihm sein Aufzug nun doch peinlich. »Sind Sie Frau Sawatzki?«

Die Frau nickte. »Ja, um was geht es denn?«

»Wir müssen Ihnen leider eine sehr traurige Mitteilung überbringen«, fuhr Jan fort. Er wischte sich verlegen über das Gesicht.

»Thorsten«, sagte die Frau tonlos und wich einen Schritt zurück. Klassische Musik war nun zu hören, Geigen, ein Klavier. »Er ist tot, nicht wahr? Sind Sie von der Polizei?«

Jan nickte und hielt ihr seinen Dienstausweis hin. »Meine Kollegin Birte Jessen und ich, wir haben ein paar Fragen an Sie.«

»Ich habe ihn umgebracht«, flüsterte Maike Sawatzki. »Ich hätte ihn niemals heiraten dürfen.« Dann wandte sie sich mit einem Schluchzen ab und verschwand in ihrem Haus.

Birte stand einen Moment schweigend da, sie blickte Jan an und zuckte mit den Achseln. Wohin war die Frau so schnell verschwunden? Sie gingen über weiße, teuer aussehende Fliesen in den Flur hinein. Die klassische Musik war verstummt. An der Wand hing ein Schwarz-Weiß-Foto, das die Hausherrin in einem weißen luftigen Kleid zeigte. Lasziv hatte sie eine nackte Schulter leicht nach vorn gereckt und lächelte. Ein perfektes Foto.

»Sie war ein Model«, sagte Jan leise und deutete auf das Foto. »Klar, daher kommt sie mir bekannt vor.«

Links ging eine Treppe ab, die in die erste Etage hinaufführte, geradeaus lag das Wohnzimmer. Eine breite Fensterfront gab den Blick auf eine Rasenfläche mit ein paar alten Bäumen frei.

Das Wohnzimmer war sparsam, aber geschmackvoll möbliert. Ein rotes Ledersofa, ein roter niedriger Tisch aus Metall, zwei schmale, ebenfalls rote Sessel und Bücherregale, an der Wand ein abstraktes Bild.

Birte blickte sich um. Leblos sah es aus, so als hätte eben eine gewissenhafte Putzfrau noch einmal feucht durchgewischt. Dann sprang plötzlich eine schwarze Katze fauchend unter dem Sofa hervor, und aus der ersten Etage hörte man ein Schreien und Keifen.

»Tot?«, schrie jemand. »Was soll das heißen?« Die Stimme eines Mädchens erkannte Birte. Offensichtlich war Lea, die Tochter, auch zu Hause. Dann antwortete Maike Sawatzki etwas, das nicht zu verstehen war, und eine Tür schlug krachend zu.

»Umgebracht!«, schrie das Mädchen. »Wieso hat er sich umgebracht? Du bist schuld – schuld!«

»Sie glaubt, Sawatzki hat sich umgebracht«, sagte Jan. Er hatte eine Zeitung vom Tisch genommen und verscheuchte die Katze damit, die, noch immer fauchend, durch die Tür raste und irgendwo in der Diele verschwand. »Mistvieh!«, murmelte er vor sich hin und ließ sich stöhnend in einen Sessel sinken.

Birte entdeckte ein Foto an der Wand, das den Toten mit seiner Frau und seiner Tochter zeigte. Ein blasser, freundlich aussehender Mann mit einer randlosen Brille und dunklen, etwas zu langen Haaren. Die Tochter war vielleicht zwölf, sie hatte die Zunge ausgestreckt und hatte feuerrot gefärbte Haare. Doch auch auf diesem Bild überstrahlte die Hausherrin mit ihrer Schönheit alles. Gedankenvoll blickte sie mit einem angedeuteten Lächeln in die Kamera, so als wären die beiden anderen gar nicht da.

Von oben war ein dumpfes Poltern zu hören, dann noch eins. »Schlampe!«, schrie die Tochter. »Pornobraut!«

Jans Augenbrauen zuckten in die Höhe. »Pornobraut!«

»Sollen wir hier warten und zuhören, wie sie sich die Köpfe einschlagen?«, sagte Birte.

»Du kannst ja nachsehen und dich heldenhaft zwischen Mutter und Tochter werfen«, erwiderte er. »Scheint ja eine ganz besondere Beziehung zu sein.«

Dann vernahmen sie Schritte, und wenig später erschien Maike Sawatzki in der Tür.

Ihre Wangen waren leicht erhitzt, eine blonde Strähne hing ihr im Gesicht. Sie lächelte ein wenig verlegen. »Tut mir leid«, sagte sie. »Unsere Tochter … ich musste ihr sagen, dass ihr Vater sich umgebracht hat … Sie hat sehr emotional reagiert … Sie ist sechzehn und …« Maike Sawatzki ging zu dem Regal, öffnete ein antik aussehendes Kästchen und nahm eine Schachtel Zigaretten heraus. Mit einer eleganten Bewegung steckte sie sich eine an.

»Frau Sawatzki«, sagte Jan leise. Birte beobachtete ihn. Diese Frau beeindruckte ihn. Er wollte ihr entgegenkommen, sie nicht zu sehr verletzen. »Wie kommen Sie darauf, dass Ihr Mann sich umgebracht hat?«

Sie hielt in der Bewegung inne und erstarrte, dann blickte sie sich um, als würde neben ihr jemand stehen, der ihr die unverständlichen Worte des Polizisten übersetzen konnte. Sie strich sich über das Haar. Birte registrierte, dass sie tief einatmete.

»Wieso«, sagte Maike Sawatzki dann, »was ist denn passiert? Haben Sie mir nicht sagen wollen, dass Thorsten tot ist?«

»Ihr Mann wurde erschossen«, erwiderte Jan. »In dem Parkhaus an der Kölnarena. Er wollte zu einem Eishockeyspiel.«

Maike Sawatzki warf die Zigarette vor sich auf die Fliesen und trat sie aus. Dann legte sie anmutig den Kopf zurück und gab ein Seufzen von sich, das echt und voller Trauer klang. »Irrsinn«, flüsterte sie. »Das ist ja alles Irrsinn.« Einen Moment später funkelte sie Jan mit ihren braunen Augen an. »Hat diese Frau ihn erschossen? Hat sie ihn abgeknallt, weil er unschuldig ist?«

Von oben war ein weiteres Türknallen zu hören, dann laute Musik. Ein dumpfer Beat dröhnte durch die Decke.

»Wir wissen noch nicht, wer Ihren Mann getötet hat«, sagte Birte. »Aber Sie haben einen Verdacht?«

»Allerdings.« Die Frau sah Birte nun genauso düster an wie Jan zuvor.

Die braunen Augen irritierten Birte. Vielleicht war das blonde Haar gefärbt, dachte sie. In Wahrheit war die Frau dunkelhaarig, sie hatte aber komplett ihren Typ geändert.

»Wir wissen, dass Ihr Mann kürzlich vor Gericht gestanden hat«, übernahm nun Jan wieder. »Freispruch dritter Klasse, wie es in der Zeitung hieß. – Können Sie uns mehr dazu sagen? Und warum haben Sie gesagt, dass Sie Ihren Mann getötet haben?«

Die Frau sah ihn an und schwieg, dann sprang sie plötzlich auf, ging zu einem kleinen Schrank neben der Tür und kehrte mit einer Flasche Whiskey und einem Glas zurück, die sie vor sich auf den Tisch stellte.

»Ich habe ein paar Fehler«, sagte sie vor sich hin, während sie sich einschenkte. »Ich trinke manchmal zu viel und, nun ja … Manchmal gefallen mir andere Männer.« Mit einer heftigen Bewegung stürzte sie den Whiskey herunter und verzog das Gesicht. Für einen winzigen Moment sah sie älter und überaus verletzlich aus; es war, als hätte sie einen kurzen Blick hinter ihre Fassade gewährt. »Thorsten ist damit nicht immer gut zurechtgekommen, auch wenn ich mit meinen Geschichten stets sehr offen umgegangen bin.« Sie goss sich noch einen Schluck ein, an dem sie aber nur nippte. »Und dann hat er diese Affäre angefangen. Eigentlich wollte er mir nur eins auswischen, sich rächen, aber diese Person hat es ernst genommen, sie hat ihm geglaubt und hat ihn verfolgt …« Maike Sawatzki trank den zweiten Whiskey aus und blickte von Birte zu Jan. »Ich bin sicher, dass diese Person ihm aufgelauert und ihn erschossen hat.«

»Diese Person?«, fragte Jan behutsam.

»Christina Fetzer, eine alte verknöcherte Lehrerin, die sich in Thorsten verliebt hat. Als er sie abservieren wollte, hat sie ihn angezeigt. Versuchte Vergewaltigung – sie hat versucht, ihm eine Falle zu stellen.«

Von oben waren nun noch schnellere Beats zu hören.

Jan nickte. »Wir werden das alles überprüfen. Hat Ihr Mann etwas darüber gesagt, dass diese Christina Fetzer ihn verfolgt und vielleicht bedroht?«

Maike Sawatzki blickte erst in den Garten, dann visierte sie die Decke an. »Thorsten ist ausgezogen – schon vor einiger Zeit, als das mit dem Prozess losging. Er wollte uns damit nicht belasten. Er hat eine Wohnung im Uni-Center genommen, ganz nah an seiner Schule. Er war suspendiert, aber irgendwie wollte er jeden Tag seine Schule sehen. Manchmal hat er sich auch mit Schülern in der Pause getroffen.« Plötzlich begann sie zu schluchzen, zwei Tränen rollten über ihre Wange.

Birte beobachtete, dass Jan fast aufgesprungen wäre, um ihr ein Taschentuch zu reichen. Streng blickte sie ihn an. Ja, für solche Frauen war er empfänglich.

»Wir brauchen einen Schlüssel für seine Wohnung«, sagte Birte. »Und dann werden Sie Ihren Mann identifizieren müssen.«

Maike Sawatzki nickte. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich nun um unsere Tochter kümmere?«

Jan erhob sich mühsam in seinem blauen Trainingsanzug. »Nein«, sagte er, »aber eines müssen Sie uns noch verraten. Warum hat Ihre Tochter Sie Pornobraut genannt?«

Maike Sawatzki war aufgestanden. Sie richtete ihren Pullover und straffte sich. Für einen Augenblick wirkte es, als hätte sie Jans Frage gar nicht gehört. »Lea ist gelegentlich sehr drastisch in Ihrer Ausdrucksweise. Ich bin Filmproduzentin, und manchmal produziere ich auch erotische Filme. Ich habe ein kleines Studio in Fühlingen. Ja, damit verdiene ich das meiste Geld.«

4

Ich sollte mich nach Hause fahren lassen, dachte Schiller. Ein langes warmes Bad nehmen, dann mit Carla ein Glas Rotwein trinken. Er musste sich um sie kümmern, sie war noch nicht ganz über den Berg nach dem Unglück mit Gabriel Hagen. Jeden zweiten Tag ging sie zu dessen Grab auf den Melatenfriedhof. Ihre Art, Buße zu tun. Vor einer Woche hatte sie Schiller gestanden, dass sie manchmal mit Hagen sprach, so tat, als würde er ihr zuhören, und dass sie auch schon im Dom war, um eine Kerze für ihn aufzustellen. Hagen sei zwar jüdischen Glaubens gewesen, aber der Dom sei eindeutig für alle Menschen da.

Schiller spürte, dass Birte ihn von der Seite ansah. »Es ist Sonntag«, sagte sie. »Ich kann diese Christina Fetzer auch allein aufsuchen.«

Schiller nickte. »Was hättest du eigentlich gemacht, wenn dir heute keine Leiche vor die Füße gefallen wäre?«, fragte er.

Sie lächelte und kniff ihre blauen Augen zusammen. »Ich hätte ausgeschlafen, irgendwo in Sülz ausgiebig gefrühstückt, und dann hätte ich mir einen ganz speziellen Marathonläufer angeschaut.«

»Kein besonders interessantes Programm.« Schiller winkte ab. Dann klingelte sein Smartphone.

Der Name Therese blinkte auf seinem Display auf. Die alte Hebamme war so etwas wie seine Ersatzmutter geworden, nachdem seine Eltern, als er vierzehn Jahre alt gewesen war, bei einem Wohnungsbrand umgekommen waren. Danach war Schiller, weil er nicht zu seiner Tante nach Bad Godesberg hatte ziehen wollen, in ein Kinderheim eingewiesen worden, und nur Therese hatte sich um ihn gekümmert.

»Keine Sorge«, sagte Schiller, ohne Thereses Begrüßung abzuwarten. »Hat vielleicht nicht so ausgesehen, aber ich habe den Lauf überlebt.«

Therese kicherte, ein eigentümliches heiseres Krächzen, wie nur sie es zustande brachte. »Habe ich gar nicht daran gezweifelt«, sagte sie. »Hast aber ganz schön müde ausgesehen, vorhin … Nächstes Jahr solltest du einmal aussetzen, aber vielleicht ist Carla dann ja auch schwanger, oder ihr habt schon euer Kind. Dann hast du ohnehin keine Zeit mehr für solch einen Blödsinn.«

He, wollte Schiller entgegnen, was hat Carla dir da erzählt? In letzter Zeit hatten die beiden Frauen sich häufiger ohne ihn getroffen.

»Ich brauche deine Hilfe«, fuhr Therese mit ungewohnt ernster Stimme fort. »Es geht um Broder. Er hat ein paar Probleme. Heute Nacht – oder nein, heute in der Früh – ist er aus Holland gekommen. Mit dem Wagen. Leider haben sie ihn erwischt.«

Schiller hörte mit einem Ohr, dass Birte mit Nele telefonierte und sich offenbar die Adresse von Christina Fetzer geben ließ.

»Broder hat öfter Probleme«, erwiderte Schiller. »Was habe ich damit zu tun?«

Henning Broder war sein ältester Freund. Im Kinderheim hatten sie ein Zimmer geteilt. Eigentlich war Broder Maler, aber sein Geld verdiente er wohl eher mit Gelegenheitsarbeiten.

»Er hat in Holland eingekauft. Deine Kollegen haben ihn angehalten und dann einen Drogenhund geholt. Broder hatte eineinhalb Kilo Marihuana im Wagen. Nun haben sie ihn eingesperrt und wollen ihn nicht nach Hause lassen, weil er im Moment keinen festen Wohnsitz mehr hat.«

»Wohnt er immer noch in diesem besetzten Haus in der Moselstraße?«, fragte Schiller.

Therese kicherte. »Ich habe gesagt, dass er bei mir wohnt. Das hat man mir leider nicht geglaubt. Professor Goldmann hat einen Anwalt angerufen, damit Broder freikommt, aber vielleicht wäre es ganz gut, du würdest deinen Leuten sagen, dass Broder kein übler Mensch ist und auf jeden Fall kein Dealer, wie einer dieser Polizisten gesagt hat.« Sie schnaufte ins Telefon, um ihrem Ärger Luft machen.

»Eineinhalb Kilo Marihuana sind nun kleine Kleinigkeit«, erklärte Schiller. Birte hatte ihr Telefonat beendet und fuhr los. »Und vielleicht tut es Broder ganz gut, mal über ein paar Dinge nachzudenken.«

»Aber nachdenken kann er auch woanders. Dazu muss er nicht im Gefängnis sitzen.« Thereses Empörung steigerte sich noch. »Jan, tu etwas für ihn. Broder ist ein guter Mensch. Ruf deine Leute an, ja?« Nach einem letzten Schnauben legte sie auf.

Schiller steckte sein Telefon ein und blickte Birte an. »Broder ist mit eineinhalb Kilo Marihuana erwischt worden. Therese will, dass ich ihm helfe – als müsste ich nur irgendjemanden anrufen und er würde freigelassen.«

»Für diese Menge kann man leicht für ein bis zwei Jahre im Knast landen«, sagte Birte. Sie kannte Broder – er hatte ihnen einmal bei einem Fall geholfen.

Schiller bemerkte, dass sie auf die Luxemburger Straße eingebogen war und nun in Richtung Barbarossaplatz fuhr. »Du siehst fürchterlich aus«, sagte sie. »Vielleicht solltest du einmal einen ganzen Tag schlafen.«

Als sie an einer Ampel hielten, sah er die Schlagzeile auf dem Sonntagsexpress. »Droht ein Bandenkrieg in Köln?«, stand da in fetten Lettern. Der Mord an dem jungen Türken hielt die Stadt noch immer in Atem, aber darauf, dass sich irgendwelche Banden bekriegen würden, gab es keinen Hinweis. Morgen früh jedoch würde der zweite Mord der Aufmacher sein.

Für einen Moment schloss Schiller die Augen. Manchmal, wenn er erschöpft war, überfielen ihn Gerüche – wie sich sein Vater, der Motorradpolizist, nach der Rasur mit Kölnischwasser eingerieben hatte, der muffige Geruch nach Schweiß in den Gängen des Kinderheims und der Duft der Bäume im Beethovenpark, wo er sich oft mit Broder herumgetrieben hatte. Ohne Broder wäre er im Kinderheim verloren gewesen. Er war gerade vierzehn Jahre alt geworden, seine Eltern waren tot, und plötzlich musste er sich mit irgendwelchen Typen in einem Kinderheim auseinandersetzen, die ihn nachts aus dem Bett zerrten und in irgendwelche Abstellkammern einsperrten. Später hatten Broder und er sich in dasselbe Mädchen verliebt – Hilde.

Schiller stöhnte. Es war alles schon so lange her, und nun würde Broder vermutlich für eine Weile im Gefängnis sitzen.

Als er die Augen wieder aufschlug, war Birte am Chlodwigplatz. »Du fährst zu dieser Lehrerin, dieser Kollegin von Sawatzki?«, fragte Schiller. »Weil du denkst, dass sie die Frau sein könnte, die anonym den Mord gemeldet hat?«

Birte nickte. »Ich habe mir das Band von Nele vorspielen lassen. Mit einer Stimmprobe kommen wir sicherlich weiter. Wenn sie Sawatzki aufgelauert hat, könnte sie doch etwas gesehen haben, oder nicht?«

Als Birte vom Ubierring abbog und auf das Eierplätzchen zusteuerte, überkam Schiller eine weitere Erinnerung. Hier hatte er bei einem Straßenfest Carla kennengelernt – vor über sieben Jahren. Eine kubanische Band hatte gespielt, in der eine Freundin von ihr gesungen hatte.

»Aufwachen!«, sagte Birte und stieß ihn lächelnd an. »Oder willst du im Auto warten?«

Schiller folgte ihr zu dem Eckhaus in der Teutoburger Straße. Die Gegend hatte sich überhaupt nicht verändert. Vor dem Café saßen noch ein paar Leute in Decken gehüllt, ein Hund rannte herrenlos über den Platz.

Christina Fetzer wohnte in der dritten Etage. Wie hatte die schöne Maike Sawatzki sie genannt? Eine alte verknöcherte Lehrerin? Eine glatte gehässige Übertreibung. Eine gepflegte schwarzhaarige Frau, die allenfalls Anfang fünfzig war, erwartete sie in der Tür. Sie trug ein schwarzes Gewand, das Schiller erst auf den zweiten Blick als einen Bademantel erkannte. Eine üppige Brust hob sich unter dem Stoff ab. Vielleicht hatte sie für ihre Größe von etwa ein Meter sechzig ein paar Pfund zu viel, aber sie war eine überaus attraktive Erscheinung.

Birte hielt ihr den Dienstausweis hin. »Frau Fetzer, wir sind von der Polizei. Wir haben ein paar Fragen an Sie.«

Wusste die Frau schon, warum sie kamen? Für einen Moment hatte Schiller den Verdacht. Christina Fetzer zeigte keine Überraschung, sondern bat sie mit einer Geste hinein.

»Es geht um Sawatzki?«, fragte sie dann und betrachtete Schillers Aufzug ein wenig verwundert. »Seinetwegen kommen Sie an einem Sonntagnachmittag?« Ihre Stimme war dunkel, leicht gehaucht. Sie hätte auch eine Sängerin sein könnte, dachte Schiller.

»Es ist etwas vorgefallen«, erwiderte Birte vage.

Sie wurden in ein weitläufiges Wohnzimmer geführt – dunkle konservative Möbel, eine große Wand voller Bücher.

»Bis letztes Jahr habe ich mit meiner Mutter hier gewohnt«, sagte Christina Fetzer, als müsste sie sich für ihre Einrichtung entschuldigen. »Sie ist dreiundneunzig und lebt nun im Altenheim. Rasch fortschreitende Demenz.«

Birte nickte, und Schiller nahm schwerfällig in einem abgewetzten gelben Sessel Platz. Jeder Muskel tat ihm weh. Morgen würde er sich nicht mehr rühren können. Einen Moment später meldete sein Mobiltelefon eine SMS. Carla, dachte er, sie fragte sich, wo er blieb, doch dann sah er, dass Cremer eine Nachricht geschickt hatte. »Fehlanzeige. Etliche Kameras im Parkhaus defekt. Nichts Verdächtiges zu sehen.« Ein paar Sekunden später klingelte auch Birtes Handy. Sie blickte auf das Display und nickte ihm zu. Auch ihr hatte Cremer die Nachricht geschickt.

Birte setzte sich nicht. »Frau Fetzer«, sagte sie, »wir können es kurz machen. Wo waren Sie heute gegen Mittag?«

Die Lehrerin atmete tief ein. »Was soll das?«, fragte sie. »Geht es nicht um Sawatzki? Er hat mich missbraucht – in jeder Hinsicht … Aber vor Gericht …« Sie verstummte abrupt und griff sich an den Hals, als könnte sie auf einmal nicht mehr atmen.

Schiller tat sie plötzlich leid – ein mittelalte Frau, die mit ihrer Mutter zusammengelebt und die dann eine Affäre mit einem Kollegen angefangen hatte, die völlig aus dem Ruder gelaufen war.

»Liebe Frau Fetzer«, sagte Birte. »Ich möchte von Ihnen nur wissen, wo Sie heute gegen Mittag waren.« Sie blickte die Lehrerin an und nickte ihr zu. »Wir wissen bereits, dass Sie ihm aufgelauert haben. Ein Zeuge hat Sie gesehen, wie Sie zum Deutzer Bahnhof gelaufen sind.« Eine Lüge und ein Schuss ins Blaue hinein, der für Birte völlig untypisch war, aber er tat seine Wirkung.

Christina Fetzer senkte den Blick. »Ich weiß, dass mir niemand glaubt, dass alle meinen, ich hätte mir die Verletzungen selbst beigebracht, dabei stimmt alles … Er hat mich missbraucht, hat mich gezwungen …« Sie begann zu husten und schüttelte den Kopf.

Birte setzte sich neben sie und legte ihr eine Hand beruhigend auf die Schulter. »Wir glauben, dass Sawatzki Ihnen Unrecht getan hat«, sagte sie leise. »Aber darum geht es nicht. Was war heute? Sie sind ihm gefolgt, nicht wahr? Wollten Sie ihn zur Rede stellen?«

Die Lehrerin blickte auf und nickte dankbar. Ein seltsamer Ausdruck stand in ihren Augen – Schmerz und Trotz, meinte Schiller zu erkennen. Eine große Träne rollte über ihre Wange. Ihr Lidschatten war verlaufen.

»Haben Sie die Polizei angerufen?«, fragte Birte sanft.

Christina Fetzer nickte wieder. »Er hat mir alles versprochen«, sagte sie. »Seine Frau zu verlassen, mich zu heiraten, alles … und als ich dann nicht mehr wollte, hat er mich gezwungen … aber der Richter … Ich kann nicht mehr arbeiten seither …«

Ein Hustenanfall schüttelte sie. Birte strich ihr behutsam über die Schulter.

»Wer hat Sawatzki erschossen?«, fragte sie. »Sie haben es nicht getan, nicht wahr?«

Schiller beobachtete, wie die Lehrerin verharrte. Ein leises Husten drang aus ihrem Mund, dann erstarrte sie und blickte vor sich hin. Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte noch einmal mit ihm reden«, sagte sie. »Deshalb stand ich da und habe auf ihn gewartet. Ich habe mir gedacht, dass er zum Eishockey geht. Er liebt dieses Spiel. Und dann ist er mit dem Wagen hinaufgefahren, an mir vorbei, obwohl er mich genau gesehen hat. Aber er hat mich nicht einmal angeschaut.« Sie verstummte für einen Moment, dann blickte sie Schiller an, aber nun nicht mehr eingeschüchtert, sondern voller Aggressivität. »Im Gerichtssaal hat er mich einen Moment lang triumphierend angeguckt, als hätte er mich besiegt, als könnte er sein altes Leben zurückhaben, aber das konnte er nicht. Wer weiß, vielleicht hätte ihn seine Frau sogar zurückgenommen, diese schöne, kühle Filmproduzentin, die ihn ständig betrügt …«