Basar der Zeit - Wilma Müller - E-Book

Basar der Zeit E-Book

Wilma Müller

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Beschreibung

Ein Basar, auf dem Zeit in jeder Form gehandelt wird, eine Diebin, die ihre Vergangenheit ändern will, eine Kriegerin, die um jeden Preis die Ordnung aufrechterhalten will und ein Geheimnis, das alles zerstören könnte.

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Wilma Müller, geboren 2003, hat gerade ihr Abitur bestanden. Mit 13 Jahren begann sie ihre Ideen zu Papier zu bringen. „Der Basar der Zeit“ ist ihr sechster Fantasyroman. Außerdem stammten zwei weihnachtliche Kurzgeschichtensammlungen und die Kinderbuchreihe „Bougoslavien“ – eine Katzenwelt aus ihrer Feder.

Für Charlotte, die mich herausgefordert hat meine Komfortzone zu verlassen.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Epilog

Glossar

1. Kapitel

„Stundengläser! Die besten Stundengläser! Passgenau! Immer verlässlich!“, pries einer der Händler seine Ware an. Von wegen passgenau und immer verlässlich! Gestern hatte ich mitbekommen, wie eine stämmige Dame mit einer durchgelaufenen Sanduhr angedampft war und ihn zur Rede gestellt hatte.

Natürlich hatte er sich sofort unterwürfig entschuldigt und ihr einen fetten Rabatt auf ein neues Stundenglas angeboten. Das hatte die Dampfwalze allerdings nur noch weiter aufgeregt und sie hatte damit gedroht, die Zs zu rufen.

Niemand wollte es mit dem Zirkel der Zeitordnung zu tun bekommen und so hatte er ihr zähneknirschend statt dem Rabatt ein gratis Stundenglas gegeben.

Ich würde wetten, dass dieser Trickser sich die Arbeit sparte und alte Stundengläser von irgendwelchen Personen einfach weiterverkaufte. Das war ein absoluter Klassiker und es funktionierte ja auch gut, nur eben nicht, wenn der alte Besitzer vor dem neuen starb, das konnte dann für Verwirrung sorgen, wenn die Zeit schon abgelaufen war und man immer noch lebte.

Aber ich verstand sowieso nicht, warum sich Menschen so einen Müll kauften. Was brachte es mir schon zu wissen, wie lange mein Körper leben könnte? Es konnte immer ein Unfall passieren oder die Männer der Stunde kamen und stahlen sich deine Zeit für den Schwarzmarkt. Und selbst wenn alles glatt ging, machte es mein Leben schöner zu wissen, wieviel Zeit mir noch bleiben könnte?

Besonders weil bestimmt über die Hälfte der Stundengläser entweder schlampige, ungenaue Arbeit oder schlichtweg auf einen anderen zugeschnitten war. Am Ende machte man sich noch tierischen Stress, weil man denkt die letzte Stunde schlägt jeden Moment und dann: Überraschung, da hat dich jemand reingelegt!

Nein, danke. Auf diesen Quatsch konnte ich gerne verzichten. Ich hatte fettere Beute im Sinn.

Unauffällig ließ ich mich vom Strom der Menschen treiben. Den ersten Minuten-Händler ließ ich links liegen. Ihr Name war Latifa und sie machte aus ihrem Handwerk eine echte Kunst. Aus ihren Minutenfäden webte sie Teppiche und Umhänge, für etwas bescheidenere Käufer auch Armbänder, Schleifen und so etwas.

Bei ihr gab es wirklich wunderschöne Stücke, die meisten trugen sie noch eine ganze Zeit, bis sie sie schließlich nutzten. Und das war etwas, das ich voll und ganz verstehen konnte. Ihre Minutenkunst war einfach zu schön, um sie sofort in sich aufzunehmen.

Einmal hatte sie mich dabei erwischt, wie ich mir ein dünnes Armband hatte stehlen wollen. Damals war ich noch sehr jung gewesen und als Diebin wirklich nicht zu gebrauchen. Doch statt mich zu bestrafen, wie es so ziemlich jeder andere Händler getan hätte, hatte sie mir einen kühlen Zitronensaft mit Pfefferminze und einen Feigen Briouat geschenkt. Und das war sogar noch nicht alles! Sie hatte mir einen Minutenfaden gegeben! Einfach so!

Dafür musste ich ihr versprechen, nicht mehr zu stehlen. Na ja, ganz dran gehalten hatte ich mich nicht, aber bei ihr würde ich es nie tun.

Kein Kind würde das machen. Obwohl sie jetzt schon alt war, hatte sie sehr scharfe Augen und erwischte wirklich jeden Dieb und genau wie ich damals bekam jedes Kind von ihr etwas zu trinken, etwas zu essen und einen kostbaren Minutenfaden.

Meinen hatte ich immer noch. In der Zwischenzeit hatte ich schon einige gestohlen und verwendet, aber diesen nicht. Ich hatte ihn in einen Ring eingearbeitet, sodass ich ihn für den absoluten Notfall sicher dabei hatte.

Manchmal war ich schon kurz davor gewesen, ihn einzusetzen, doch ich hatte ihn aufgehoben, für den wichtigsten Moment, wann auch immer das sein würde.

Nach Latifas Stand kam Bassam mit seinen Springerstiefeln. Nur die ganz feinen Leute konnten sich die leisten. Wie immer juckte es mir in den Fingerspitzen mir ein Paar mitzunehmen oder wenigstens einen.

Eine Sekunde nach vorne zu springen wäre so verlockend! Allerdings könnte ich sie nicht anziehen, jemand mit Springerstiefeln erregte Aufmerksamkeit und das war für Diebe nicht gerade hilfreich.

Außerdem musste man bei Bassam sehr aufpassen, hinter seinem Verkäufergrinsen steckte ein herzloser, gieriger Widerling. Genau wie Latifa bot er jungen Kindern Essen und Trinken an, dann lud er sie in sein Haus, angeblich damit sie nachts ein Dach überm Kopf hatten, und man sah die Kinder nie wieder.

Es gab verschiedene Gerüchte, was mit ihnen passierte. Man hörte, dass er sie als Arbeiter in den Zeitgräben oder an die Manufakturen verkaufte. Aber ich war überzeugt, dass er mit den Männern der Stunde zusammenarbeitete. Kinder hatten noch ein ganzes Leben vor sich, viel Zeit für den Schwarzmarkt…

„20 Mins!“, verlangte ein Traumschleifen-Händler. „5!“, fing ein Mann an zu feilschen. „5 Mins?! 20 ist schon ein guter Preis! Das ist Qualitätsarbeit! Ich habe stundenlang an der Zusammenstellung dieser Schleife gesessen!“, protestierte der Händler und fuchtelte so wild mit den Händen, dass es ein Wunder war, dass die Phiole nicht in hohem Bogen über den Basar flog. „Das letzte Mal konnte ich danach einen Tag nicht arbeiten, weil meine Kopfschmerzen so schlimm waren!“, entgegnete der Käufer ungehalten: „7 Mins!“

Und ihre gestenreiche Diskussion würde wohl noch eine Weile so weitergehen. Feilschen gehörte einfach dazu. Hier war es immer so schön chaotisch und laut.

Da war ja mein Minuten-Händler. Auch er hatte gerade Kundschaft. Schnell musterte ich die Frau.

Sie trug einen roten Kaftan mit goldenen Verzierungen, recht hochwertig, aber schon oft getragen, ihre schwarzen Haare waren sehr gepflegt und eine schlichte, feingliedrige Kopfkette zierte ihre Stirn. Um ihre Hüfte hatte sie einen metallischen Gürtel mit eingelassenen Zahnrädern und ihre bestickten Leder-Babouche waren zwar auch nicht schlecht, allerdings konnte ich einen kleinen Ölfleck darauf sehen.

Mein Fazit: Wahrscheinlich war sie hier bei einer Zeitumstellung tätig, die hatten einen ziemlich starken Wechsel an Assistenten, das würde auch erklären, warum ich sie hier noch nie gesehen hatte.

Woher ich das schloss? Gefühl, Erfahrung und diese Mischung aus unmodischem Zahnradgürtel und Schickimicki-Auftreten.

Mal sehen ob sie geschult genug war, um einen echten Minutenfaden von einer Fälschung zu unterscheiden…

„Dieses Schwein! Wie konnte er mich mit diesem Flittchen betrügen?!“, ich redete sehr schnell, laut und so empört wie möglich, dafür ergänzte ich auch ein paar sehr entrüstete Schnauben.

Mit schnellen Schritten lief ich in die Frau mit dem Zahnradgürtel. Durch den heftigen Aufprall fiel ihr der Beutel mit den Minutenfäden, die sie gerade gekauft hatte, auf den Boden und einige Spulen rollten raus. Perfekt!

Sofort bückte ich mich und las die verstreuten Spulen auf, dabei brabbelte ich ohne Punkt und Komma: „Oh! Das tut mir leid! Ich hätte besser aufpassen sollen wo ich hinlaufe! Aber mein Freund! Dieses Arschloch! Sie ist fünf Jahre jünger als ich! Fünf Jahre! Kannst du dir das vorstellen?! Das ist ja fast noch ein Kind! Er hat mich mit einem Kind betrogen! Und wie die sich immer kleidet! So schamlos! Es tut mir leid! Ich sollte mich nicht so aufregen! Aber…“

Ich reichte ihr die sechs Spulen und entschuldigte mich noch ein letztes Mal. „Ist ja alles gut gegangen“, murmelte sie und ich konnte sehen wie sie nachzählte. „Ich brauch jetzt einen Drink“, ohne Eile entfernte ich mich. Es wäre verdächtig gewesen Hals über Kopf zu verschwinden.

Die Frau hielt eine der sechs heruntergefallenen Spulen in der Hand und betrachtete sie genauer. Gleich würde sie dem Minuten-Händler die Hölle heiß machen. Fälschungen zu verkaufen war doch ein Verbrechen, wie konnte man nur so dreist betrügen…

Grinsend steckte ich meine Hand in die versteckte Tasche meines Kaftans und ließ die sechs Spulen durch meine Finger gleiten. Ein guter Fang.

Locker schlenderte ich weiter über den Basar. Heiß schien die Mittagssonne auf die verschachtelten Straßen herab. Obwohl ich das gerade eben nur aus Theater gesagt hatte, könnte ich wirklich etwas zu trinken gebrauchen.

Kurzerhand zog ich einem vorbeigehenden Mann die Wasserflasche aus dem Beutel. Er bekam es gar nicht mit. Völlig selbstverständlich drehte ich den Deckel ab und nahm einen kräftigen Schluck. Das Wasser war warm und abgestanden. Nicht gerade berauschend, aber um den Durst zu stillen, war es gut genug.

Jetzt vielleicht noch einen Happen zu Essen… Ah! Sehr schön!

Unter dem einfachen Holztisch eines Standes für Vergangenheitsformen stand ein Korb mit Oliven, Pfirsichen und getrockneten Datteln, ein fruchtiger Snack. Dummerweise war hier auf der Straße gerade nicht so viel Betrieb, es würde also etwas schwerer werden mir mein Essen zu besorgen, doch ich hatte schon schwierigere Situationen gemeistert.

Spontan strauchelte ich und fiel auf den Boden. Dabei stieß ich auch leicht gegen den Stand und die Flaschen auf dem Tisch wackelten klirrend. Eine Erinnerung musste sich dadurch gestartet haben.

„Papa! Erzähl mir nochmal die Geschichte vom Schlüssel der Zeit!“, verlangte ein kleiner Junge. Sofort hatte ich den Obstkorb wieder vergessen und stand auf. „Ist alles in Ordnung?“, fragte mich der Verkäufer höflich. „Bist du dir sicher?“, fragte ein Mann mit einem warmen Lächeln in der Stimme.

„Ja, ich bin nur umgeknickt“, antwortete ich dem Verkäufer, während ich meinen Blick auf die Vergangenheitsform gerichtet hatte. Die Momentaufnahme wurde durch das Glas der Flasche verzerrt, aber ich konnte trotzdem gut erkennen, wie der kleine Junge auf den Schoß seines Vaters kletterte. Breit grinsend rief der Junge: „Ja! Papa!“

„Also gut…“, kurz räusperte sich der Mann und fuhr dann mit seiner besten Erzählerstimme fort: „Vor langer Zeit war das alles hier eine vergessene Ruine, halb verschluckt vom Sand der Nachtwüste. So nannten die Menschen diesen Ort, wegen dem schwarzen Sand. Die Menschen hielten sich fern, weil sie glaubten, hier würde der Tod leben, denn keine Pflanzen wuchsen auf dem schwarzen Sand und manchmal lag im Wind ein unheimliches Murmeln.“

Mit einem nicht wirklich schauerlichen: „Uuaaaah!“, fing der Vater an, den Jungen zu kitzeln. Erst erschreckte er sich ordentlich, dann fing er jedoch an zu lachen. Vom ganzen Lachen ein wenig außer Puste forderte er seinen Vater auf: „Erzähl weiter!“

„Doch eines Tages wagte sich Ali, der junge Sohn eines Uhrmachers, hinaus in die Nachtwüste. Seine Familie war arm und er war der Überzeugung, dass die rausten Orte, die größten Schätze verbargen. Und da hatte er recht. Lange war seine Suche erfolglos und die schwarze Wüste raubte ihm fast alle Hoffnung. Aber dann fand er sie: Die Zeitgräben. Zum ersten Mal wurde er sich seiner Zeit bewusst, er fing an sie zu verstehen und mit ihr zu arbeiten. Mit einem Schlag strömten die Menschen nur so in die Nachtwüste. Alle wollten einen Anteil an der Zeit haben. Gemeinsam bauten sie die Ruinen wieder auf, viel prachtvoller, als in der Vergangenheit und der Basar der Zeit entstand. Alle lebten in Frieden und Wohlstand. Doch andere wurden neidisch und wollten die Zeit für sich alleine haben. Um die Zeit vor der grenzenlosen Gier der fremden Völker zu schützen, baute Ali die Zeitschaltuhr“, an dieser Stelle unterbrach der Sohn seinen Vater: „Die Turmuhr!“

„Genau. Die Turmuhr“, bestätigte der Erzähler lächelnd: „Und er erschuf einen Schlüssel, den Schlüssel der Zeit. Damit brachte er die Turmuhr zum Stehen und schaltete somit die Zeit aus. Keiner außerhalb der Nachtwüste konnte uns mehr bedrohen, denn wir lagen jetzt auf einer anderen Zeitebene, sie konnten uns nicht mehr erreichen und wir konnten genauso wenig zu ihnen. Aber wenn jemand den Schlüssel der Zeit wieder in den Turm bringt, kann er die Zeitschaltuhr vor oder zurück drehen und damit unser ganzes Land in die Zukunft oder Vergangenheit versetzen und wenn die Uhr wieder schlägt, werden die Grenzen der Zeit fallen. Deswegen bewacht der Schlüsseldienst ihn ja auch so gut. Der Schlüssel der Zeit ist das mächtigste Instrument von allen.“

„Ich fände es aufregend zu sehen, was jenseits der Nachtwüste ist!“, verkündete der Kleine strahlend. „Du kannst es so aufregend finden, wie du willst, unsere Zeit ist noch nicht abgelaufen. Es haben schon viele versucht den Schlüssel der Zeit zu stehlen und sie wurden alle gefangen genommen. Am Schlüsseldienst kommt niemand vorbei und das ist auch gut so. Wenn die Menschen von außerhalb sehen was wir haben, werden sie es auch haben wollen und dann sind wir nicht mehr sicher“, erklärte der Mann überzeugt.

„Und warum teilen wir nicht einfach mit ihnen?“, verstand der Junge das Problem nicht. „Weil sie nie genug haben können und erst aufhören würden, wenn das hier wieder eine Ruine ist, die im schwarzen Sand versinkt“, und mit diesem Worten verblasste die Szene und die Flasche sah nur noch aus wie eine ganz normale Glasflasche.

„Diese Vergangenheitsform ist eine meiner Schönsten. Die Geschichte vom Schlüssel der Zeit, erzählt von einem liebenden Vater. Ein Klassiker. 15 Mins“, versuchte der Händler sie mir zu verkaufen und riss mich damit aus meinen Gedanken. Sofort setzte ich ein nettes Lächeln auf und entgegnete: „So viele Goldmünzen habe ich leider nicht. Und ich kann sie auch nicht für eine Vergangenheitsform ausgeben. Meine Mutter hat mich geschickt, damit ich eine Traumschleife für meinen Vater kaufe, er arbeitet so schrecklich viel und ein bisschen Entspannung wird ihm guttun.“

„Ich habe auch sehr entspannende Vergangenheitsformen, wunderschöne Erinnerungen, die man sich immer wieder ansehen kann. Viel besser als eine Traumschleife, von der man nur einmal etwas hat“, ließ der Verkäufer noch nicht locker: „Oder vielleicht lieber etwas Lustiges? Lachen ist die beste Medizin und hält gesund!“

„Ich bin eigentlich nur stehen geblieben, weil mich dieser Moment daran erinnert hat, wie mir mein Vater früher diese Geschichte erzählt hatte. Aber ich will wirklich nichts kaufen“, das war mal zur Abwechslung die reine Wahrheit.

Ganz nach dem Motto: „Alle guten Dinge sind drei“, startete der Händler noch einen dritten Versuch: „Er würde sich sicher freuen, auch daran erinnert zu werden.“ „Ja, das würde er sicher. Und mich hat es auch sehr gefreut. Aber ich muss jetzt leider weiter“, blieb ich freundlich.

Plötzlich huschte etwas Schwarzes unter dem Tisch hervor. Rattengroß, spitze Ohren, platter Schwanz, leichter Grünschimmer im dunklen Fell und zwei große Insektenflügel, eindeutig eine dieser lästigen Eintagsfliegen! Und sie hatte zwei Datteln geklaut!

Ohne lange zu zögern warf ich den Deckel der Flasche nach ihr. Zielsicher traf ich den Futterdieb am Rücken und seltsamerweise gab es dabei ein metallisches Klirren. Die Eintagsfliege verlor eine Dattel und ergriff hektisch die Flucht. Ich dachte mir nicht mehr dabei.

Mit langen Schritten war ich bei der getrockneten Dattel, hob sie hoch und wischte den Staub ein bisschen ab. Sah noch gut aus. „Hier“, mit einem kleinen Lächeln hielt ich dem Händler meine Ausbeute hin.

„Du kannst sie ruhig behalten“, reagierte er wie erwartet. „Danke. Und auf Wiedersehen“, zum Abschied winkte ich ihm sogar kurz.

Als ich ihm den Rücken zuwandte, warf ich triumphierend die Dattel in die Luft und fing sie mit meinem Mund auf. Verstohlen schielte ich zum Turm der Zeit, der alle anderen Gebäude weit überragte. Die Zeiger standen genau auf der Zwölf, wie schon seit einer Ewigkeit. Zeit das zu ändern.

2. Kapitel

Gedankenverloren ließ ich meinen Blick über die Stände schweifen, an denen ich vorbeikam. Mein Weg führte mich an den Rand des Basars. Hierhin verschlug es nur wenige Leute und besonders zur Mittagszeit, wenn die meisten mit ihrer Familie aßen, traf man hier kaum eine Menschenseele an.

Ein Mann ganz in weiß wollte mir eine Zeitschrift verkaufen. Abwehrend hob ich nur die Hand und ging weiter. Meiner Erfahrung nach waren die meisten Zeitzeugen nichts als Betrüger. Immer diese Versprechungen, sie könnten durch die Zeit sehen und sie für einen niederschreiben.

Ich war mir nicht einmal sicher, ob es wirklich Zeitzeugen gab. Das war doch alles nur Hokuspokus, den man nicht beweisen konnte. Lieber schrieb ich meine Zukunft selbst.

Schließlich bog ich in eine so schmale Nebengasse ein, dass keine zwei Personen zwischen die Mauern gepasst hätten. Stofftücher hingen über der gesamten Gasse, ähnlich wie Markisen. Doch das bisschen Schatten half nicht, um die drückende Luft abzukühlen. Eine schwache Brise ließ oben die Tücher schwach flattern und die Sonne blitzte hervor. Hier unten kam leider nichts vom Wind an.

Heiß, stickig, düster. Der perfekte Ort für einen versteckten Eingang. Mit meiner Hand fuhr ich über die Backsteine. Mittlerweile hätte ich eigentlich wissen können, welcher es ist, aber die sahen alle so gleich aus.

Dann spürte ich die unscheinbare Eingravierung. Eine kleine Uhr mit den Zeigern kurz vor Zwölf. Wie symbolisch. Vorsichtig zog ich den Mauerstein aus der Wand. Dabei hatte ich mir schon mehr als einen Fingernagel eingerissen, doch heute ging alles glatt.

Dort wo der Backstein gesessen hatte, wurde ein Schlüsselloch sichtbar, eingelassen in ein Zahnrad, das von ein paar weiteren, kleineren Zahnrädern eingefasst wurde. Und in der hohlen Innenseite des Mauersteins verbarg sich auch der passende Schlüssel. Silber, mit ein paar Zahnrädchen und kleinen Verzierungen. Die falsche Spur sollte immerhin mysteriös und glaubhaft aussehen.

Als ich zum ersten Mal hier gewesen war, war ich auch darauf reingefallen. Den gleichen Fehler würde ich definitiv nicht noch einmal begehen, der Schlüssel verpasste einem nämlich einen fetten, elektrischen Schlag, wenn man ihn ins Schlüsselloch steckte und man hatte noch Stunden danach einen Brummschädel. Nicht lustig.

Ohne den Schlüssel weiter zu beachten, drückte ich den Backstein senkrecht an seinen Platz und drehte ihn einmal, als wäre dieser viereckige Stein ein Schlüssel. Sofort fing die ganze Mauer an mit zu rotieren. Immer wieder ein verwirrendes Schauspiel.

Plötzlich ging ein flatterndes Beben über die Wand und der Backstein rastete wieder ein. „Sesam öffne dich“, flüsterte ich mit einem Grinsen, nicht weil es eine notwendige Losungsformel war, sondern einfach nur weil ich es lustig fand. Dann streckte ich meine Hand aus und berührte den Stoff mit Mauer-Optik. Man musste schon genau hinsehen, um zu erkennen, dass es keine echte Wand war, na ja, für die nächsten 30 Sekunden.

Ich sollte nicht so rumtrödeln. Also zog ich den Vorhang ein Stück zur Seite und trat in Aziz geheime Schneiderei. Wie immer fand ich ihn an einem seiner chaotischen Tische basteln. Hier lag wirklich alles verstreut rum, Maßbänder, Fäden, Scheren, Stoffe.

„Dafür, dass du so paranoid und akribisch bei deinem Eingang bist, ist es hier sehr durcheinander“, sagte ich statt einer Begrüßung. Obwohl er zweifelsohne gemerkt hatte, dass jemand die Geheimtür geöffnet hatte, blickte er erst jetzt von seiner Arbeit auf.

„Ah! Die Blume des Basars!“, rief er, als er mich erkannte. „Du weißt genau, dass ich diesen Spitznamen nicht mag! Ich bin keine Blume!“, beschwerte ich mich, ohne wirklich böse auf ihn zu sein. „Naaa! Auch die schönsten Blumen können Dornen haben“, erwiderte er und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu: „Komm! Lass dich umarmen mein Kind!“

Lächelnd schüttelte ich den Kopf und drückte meinen alten Freund kurz. Nachdem meine Eltern gestorben waren und mein Onkel von den Zs erwischt worden war, war er in meiner Kindheit für mich das gewesen, was Familie am nächsten kam. Trotzdem gab es auch für mich keine extra Rabatte.

„Hast du meine Bestellung fertig?“, wollte ich ernst von ihm wissen. „Ja, aber…Was auch immer du damit vorhast… es wird nicht gut enden“, besorgt musterte er mich aus seiner einfachen Drahtgestell-Brille. Ich konnte ihn mir gar nicht ohne dieses uralte Ding vorstellen.

„Es ist lieb, dass du dir um mich Sorgen machst, aber ich weiß schon, was ich mache. Es wird alles gut gehen“, entgegnete ich überzeugt. Auf diese Sache hatte ich mich so lange vorbereitet, es musste einfach alles gut gehen.

„Ich wünschte, du würdest mir sagen, was du da planst“, ließ er immer noch nicht locker. „Aziz. Vor vier Jahren hast du mir gesagt ich soll selbstständig werden und das bin ich jetzt. Hier geht es um eine Sache zwischen Auftraggeber und Verkäufer. Wenn du befürchtest in irgendetwas mit reingezogen zu werden, kann ich dich beruhigen. Das wird ein einmaliges Geschäft und morgen ist alles wieder beim Alten“, versprach ich ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Du bist so erwachsen geworden Kleines!“, sagte er mit einem stolzen Lächeln. Statt einer Antwort lächelte ich einfach zurück. Für ihn würde ich wohl immer die Kleine bleiben.

Jetzt wollte ich aber mal meine Bestellung sehen, immerhin hatte ich dafür ein halbes Vermögen bezahlt. Alles was ich mir in den letzten vier Jahren erarbeitet hatte, war dafür drauf gegangen, abgesehen von dem, was ich noch als Zusatzmaterial für meinen Plan beiseitegelegt hatte.

„Zeigst du es mir jetzt vielleicht mal? Du willst mich doch nicht übers Ohr hauen, oder?“, mein familiäres Lächeln verwandelte sich in ein freches Grinsen. „Aaah!“, rief er auf eine spaßhafte Art abfällig: „Auf was für Ideen du immer kommst!“ Mit schlafwandlerischer Sicherheit bahnte er sich den Weg durch sein vollgestopftes Atelier zu einem der Tische weit hinten. Locker folgte ich ihm. Unter dem Tisch fand sich eine Ansammlung geflochtener Holzkörbe.

In den Teilen bewahrte er immer alles Mögliche auf. Fertige Aufträge, besondere Materialien, beim Stöbern als Kind hatte ich in einem sogar mal lauter kleine Andenken gefunden, darunter auch eine Vergangenheitsform von meiner Mutter.

Sie war gestorben, bevor ich alt genug gewesen war, mich an sie zu erinnern. Also hatte ich die große Glasmurmel einfach geklaut. Keine Ahnung ob es ihm aufgefallen war, er hatte auf jeden Fall nichts gesagt. Aber insgeheim fand ich es schön zu wissen, dass dieser abgebrühte Geschäftsmann auch eine sentimentale Seite hatte, machte ihn irgendwie menschlicher.

Ohne groß überlegen zu müssen, hievte er einen der identisch aussehenden Körbe auf die Ablage. „Deine Bestellung!“, verkündete er zufrieden und öffnete den Deckel. Neugierig trat ich näher heran und nahm mein neues Kleidungsstück heraus.

Eigentlich sah es nicht wirklich spektakulär aus. Es war eher ein langer Mantel als ein Kaftan und der Stoff war in einem schlichten Schwarz, ohne jede Verzierung. Dazu ein weißliches Stoffband zum Zusammenbinden an der Hüfte, ein Gürtel für den Säbel und den Krummdolch und ein ebenfalls schwarzes Kopftuch, das ähnlich wie ein Niqab angelegt wurde, also auch den Mund bedeckte. Darunter trug man noch eine enganliegende Hose aus schwarzem Stoff und ein leichtes Oberteil, für das das Gleiche galt.

Das würde doch ein deutlicher Unterschied zu der leichten Kleidung sein, die ich sonst anhatte. Aber damit würde ich schon fertig werden.

Unten im Korb lagen noch die kleinen Extrateile: Zuerst die beiden Waffen, dann eine gefälschte Atempause als Halskette, einen nachgemachten Schlüsselbund und Springerstiefel, leider auch Fälschungen, für echte hatten meine Ersparnisse nicht mehr gereicht.

Mit ein paar Jahren mehr Zeit hätte ich mir auch eine bessere Ausrüstung zulegen können, aber ich konnte einfach nicht noch ein paar Jahre länger warten. Jeder Tag der verstrichen war, hatte sich angefühlt, als hätte ich schon einen Tag zu lange gewartet. Ich musste es endlich tun.

Und jetzt hatte ich auch die Macht dazu. Mit meinen Händen strich ich über den schwarzen Stoff des Schlüsseldienstes.

Alles in allem ziemlich unauffällig. Tja, anders als die Zs war der Schlüsseldienst nun mal weniger demonstrativ unterwegs, sondern wirklich eine Elite-Kämpfertruppe. Nicht zu unterschätzen.

Niemand würde es wagen ihre Kleidung unrechtmäßig zu tragen. Und falls doch gab es noch ein feines Muster aus besonderen Fäden, das nur im Schein der speziellen Laternen aus Sekundenbruchteilen im Zeitschloss sichtbar wurde. Für dieses knifflige Detail hatte ich dem Schneider auch so viel zahlen müssen.

„Und das Erkennungsmuster funktioniert?“, fragte ich nach und drehte meine Schlüsseldienst-Uniform hin und her, doch es war nicht einmal ein schwaches Schimmern auf dem dunklen Stoff zu sehen. Ansonsten hatte Aziz allerdings ganze Arbeit geleistet, er hatte sogar an manchen Stellen für leichte Gebrauchsspuren gesorgt, damit es nicht so auffällig neu wirkte.

„Natürlich funktioniert es!“, ein leicht entrüsteter Unterton lag in seiner Stimme, als er eine Vergangenheitsform von einem Sonnenaufgang hervorholte. In dem Licht konnte man tatsächlich ein schwaches Funkeln erkennen.

„Gut. Gegen Abend komme ich nochmal und hole es dann ab. Ich hab vorher noch… Besorgungen zu erledigen“, ich konnte mir ein kleines, diebisches Grinsen nicht verkneifen. „Willst du vielleicht etwas essen?“, bot er mir fast schon väterlich an: „Wir haben lange nicht mehr gemeinsam gegessen.“

„Gerne. Ich hatte bis jetzt nur einen kleinen Snack“, stimmte ich sofort fröhlich zu. Obwohl mein Vorhaben für heute Abend riskant war, hatte ich ein gutes Gefühl. Nach so langer Zeit war es endlich soweit und ich konnte es kaum noch erwarten.

Zufrieden ging Aziz zu der Kuckucksuhr und drehte den Stundenzeiger eine Stunde vor. Jetzt stand die Uhr genau auf seiner Geburtsuhrzeit: 5:25 Uhr.

Tick, tack, tick, tack schwang das Pendel viermal hin und her. Dann öffnete sich die kleine Doppeltür über dem Ziffernblatt und das winzige Vögelchen schnellte mit einem glockenhellen „Kuckuck!“ hervor.

Ein nostalgisches Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Als der Schneider sein Rufsystem gekauft hatte, war ich schon bei ihm gewesen. Eigentlich hatte er nur die Technik verwenden und das Äußere völlig umbauen wollen. Alles sollte viel edler aussehen und statt dem Kuckuck hatte er geplant ein Glöckchen einzusetzen. Aber als Kind hatte mir das kleine Vögelchen so gut gefallen, dass er es doch so gelassen hatte.

Hier hatte ich wirklich einige schöne Erinnerungen. Hinter seiner Paranoia und seinem eisernen Geschäftssinn hatte Aziz ein gutes Herz, auch wenn er es nur selten offen zeigte. Vom Öffnen der verborgenen Dienstbotentür wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Malik kam mit seinen beiden Cousinen rein. Unsere Blicke begegneten sich und mein Kumpel zwinkerte mir spitzbübisch zu.

Früher als Kinder hatten wir oft miteinander gespielt. Fast seine ganze Familie arbeitete schon seit Jahren für Aziz. Sie waren für so ziemlich alles zuständig, putzen, kochen, einkaufen.

Der Schneider verließ so gut wie nie sein Haus, auf offener Straße fühlte er sich immer schutzlos und angreifbar. Also ließ er das alles von seinen Bediensteten erledigen und weil sie schon seit einer Ewigkeit für ihn tätig waren, vertraute er ihnen auch. Von niemandem sonst nahm er Essen an. Außer vielleicht von mir, allerdings hatte ich das noch nie ausprobiert.

Mit routinierten Handgriffen breiteten die Angestellten die Decke auf dem Boden aus und legten für uns zwei Kissen hin. Danach kamen lauter lecker duftende Schüsseln mit Essen und drei Glaskaraffen mit Getränken.

Das eine sah schwer nach Granatapfelsaft aus. Den hatte ich immer am liebsten getrunken. Bei der klaren Flüssigkeit würde ich mal auf Wasser tippen und das leicht gelbliche müsste Weißwein sein, Aziz Lieblings-Luxusgut Nummer eins.

„Du hast damit gerechnet, dass ich komme“, stellte ich schmunzelnd fest. „Du warst schon immer so schrecklich misstrauisch. Es war klar, dass du die Ware vorher prüfen würdest“, erwiderte er und zog seine Schuhe aus. „Das habe ich dann wohl von dir“, entgegnete ich unbeschwert und tat es ihm gleich.

Danach ließen wir uns im Schneidersitz auf die bequemen Sitzkissen sinken. Dabei hörte man das Murmelsäckchen in meiner versteckten Innentasche leise klackern. Aziz bemerkte das sicherlich, doch er ließ es unkommentiert.

Begierig ließ ich meinen Blick über das Essen schweifen. Es gab Couscous mit Gemüse als Hauptspeise, dazu Lamm-Shawarma, Falafeln, Baba Ganoush und Hummus. Als Nachtisch hatten sie auch schon Reispudding aufgedeckt.

Schon seit einer gefühlten Ewigkeit hatte mich nicht mehr eine so leckere Mahlzeit erwartet. Ungeduldig wartete ich, bis sich Aziz ein Glas Weißwein ausgeschenkt und ein Lamm-Shawarma genommen hatte. Danach bediente auch ich mich an der reich gedeckten Tafel.

Nachdem wir eine Weile in zufriedenem Schweigen gegessen hatten, sagte der Schneider: „Acelya. Du bist für mich fast wie eine eigene Tochter.“ Toll seine eigene Tochter für sich arbeiten zu lassen und dann mit 15 quasi vor die Tür zu setzen. Das Verhalten eines liebevollen Vaters.

Statt einen scharfzüngigen Kommentar abzugeben, tunkte ich eine Falafel in das Baba Ganoush und nahm einen großen Bissen. Für solche Moralpredigten gab es wirklich unangenehmere Situationen.

„Sich für den Schlüsseldienst auszugeben ist sehr gefährlich. Wenn sie dich erwischen hast du noch Glück, wenn sie dich in die Zeitgräben schicken“, eindringlich sah er mich durch seine runden Brillengläser an.

„Sie werden mich schon nicht erwischen. Ich habe sie die letzten vier Jahre beobachtet, ich habe geübt, ich habe mich vorbereitet, ich habe alles durchdacht. Du kannst mich nicht davon überzeugen, jetzt klein beizugeben nur weil es riskant ist. Ich bin bereit“, stellte ich klar und nahm einen Schluck Granatapfelsaft.

Jetzt war es an ihm nostalgisch zu lächeln: „Du erinnerst mich an deine Mutter. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie auch nichts und niemand davon abbringen.“ „Du hast mir nie von ihr erzählt, warum jetzt?“, eigentlich kannte ich die Antwort schon, er hoffte mir damit Zweifel einzureden.

„Du weißt, wie sie gestorben ist“, auch wenn es eine Tatsache war, sprach er es wie eine Frage aus. „Nachts hatte sie sich mit einem Mann der Stunde getroffen, um ihr Diebesgut gegen Zeit für meinen kranken Vater zu tauschen. Am nächsten Morgen hat man sie tot gefunden“, gab ich trocken wieder. Jeglicher Appetit war mir vergangen.

„Das ist nur ein Teil der Geschichte“, starr hatte er den Blick auf den Wein in seinem Glas gerichtet: „Deine Mutter war eine Diebin und sie hat sich zu viel aufgebürdet. Sie hatte nicht genug Gold beschaffen können, also hat sie versucht die Männer der Stunde zu hintergehen. Als sie ihren Betrug bemerkt haben, haben sie als Entschädigung ihre Zeit genommen. Sie hatte sich auch mit Leuten angelegt, die mächtiger waren als sie und musste einen hohen Preis dafür zahlen. Bist du dazu auch bereit?“

Todernst hob er seinen Blick und sah mir direkt in die Augen. Fest kniff ich meine Lippen zusammen, um sie am Zittern zu hindern.

Irgendwie schaffte ich es meine Stimme emotionslos klingen zu lassen: „Sie hat ihnen die Zeit gelassen ihre Täuschung zu erkennen. Diesen Fehler werde ich nicht machen.“

Langsam nickte Aziz. Dann machte er wieder den Mund auf, doch bevor er auch nur einen Piep sagen konnte, unterbrach ich ihn: „Deine Zweifel kommen reichlich spät. Darf ich dich daran erinnern, dass du meine Mins und meine Materialien bedenkenlos angenommen hast? Du wusstest von Anfang an was es werden würde. Du wusstest von Anfang an, mit wem ich es dadurch zu tun bekommen würde. Aber es hat dir Spaß gemacht, nicht wahr? Es hat dir gefallen etwas Verbotenes zu schneidern, eine echte Herausforderung mit einer Prise Gefahr, etwas das sich sonst niemand wagen würde.“

Wie versteinert schaute er mich an. „Was? Fühlst du dich ertappt? Ist deine nette, kleine, fürsorgliche Vorstellung aufgeflogen? Das tut mir aber leid“, provozierend hob ich eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich hätte dich auch auf der Straße verrecken lassen können! Ich habe dich aufgenommen! Ich war immer gut zu dir! Ist das der Dank dafür?!“, vor Wut war sein Gesicht rot angelaufen. „Denkst du ich weiß nicht, warum du es getan hast?! Du hast mich hier nur leben gelassen, weil du meine Mutter geliebt hast! Und mich wolltest du nur sehen, wenn es dir gerade gepasst hat und du in nostalgischer Stimmung warst! Nur weil du Gold hast, denkst du, du könntest dir alles erlauben!“, platzte einfach alles aus mir heraus.

Früher hätte ich nie im Traum daran gedacht, so mit ihm zu reden. Immerhin hatte er mich quasi großgezogen. Aber dass er gewissenlos fast meinen ganzen Besitz angenommen hatte und jetzt sogar den Tod meiner Mutter gegen mich benutzte und mich dabei auch noch seine Tochter nannte… „Das muss ich mir nicht gefallen lassen! Nicht von so einer nichtsnutzigen Diebin! Ihr beschuldigt andere der Grund für eure Unfähigkeit zu sein! Nur weil ihr nichts erreichen könnt, stellt ihr alle andere als herzlose Betrüger dar!“, so zornig hatte ich Aziz lange nicht gesehen. Das letzte Mal hatte ich, glaube ich, rotes Einfärbemittel über einem seiner Aufträge verschüttet.

Tief atmete ich ein und zwang mich wieder ruhig zu werden. Kühl sagte ich: „Es hat mich gefreut mit Ihnen Geschäfte zu machen. Ich werde meine Bestellung doch jetzt schon mitnehmen. Auf Wiedersehen.“

Steif stand ich auf, ging durch den Raum und holte meine Sachen. Immer noch in Rage erhob sich auch der Schneider: „Du kannst nicht immer davonlaufen! Schon als Kind hast du das immer gemacht! Du wirst nie etwas erreichen! Du hast nicht die Stärke!“

Ich nahm mir nicht einmal die Zeit meine Schuhe anzuziehen. „Geh jetzt nicht!“, befahl er mir. Doch ich riss nur die Dienstbotentür auf und knallte sie hinter mir wieder zu.

3. Kapitel

Da stand ich also nun, barfuß, mit dem Rücken an die Tür gelehnt und ich fühlte mich so mies, wie schon lange nicht mehr. Trotz allem war er alles was ich all die Jahre gehabt hatte und es fühlte sich so unglaublich falsch an, mit ihm zu streiten.

Tränen brannten mir in den Augen. Nein! Ich würde nicht weinen, weil ich ihm die Wahrheit gesagt hatte und schon gar nicht würde ich um mich selbst weinen. Entschlossen blinzelte ich diese albernen Tränen weg.

Malik kam um die Ecke, wahrscheinlich hatte er unseren Streit gehört. „Alles in Ordnung?“, fragte er mich mit einem kleinen, tröstenden Lächeln. „Ja“, antwortete ich knapp und schaffte es sogar meine Stimme dabei fest klingen zu lassen. „Ich konnte nicht anders als ein bisschen zu lauschen“, sagte er entschuldigend und hielt mir einen schlichten Stoffbeutel hin: „Hier. Für deine Sachen. Ich hab dir auch ein bisschen was zu essen rein gemacht. Was auch immer du vor hast, du solltest es nicht mit leerem Magen unternehmen.“

„Danke Malik! Du bist der Beste!“, fest umarmte ich ihn und mein gefälschter Schlüsselbund landete scheppernd auf dem Boden. „Keine Ursache“, mit diesen Worten tätschelte er mir kurz den Rücken und ich ließ ihn wieder los.

Schnell hob ich den Schlüsselbund auf und stopfte mein Zeug grob in den Beutel. Der Stoff würde dadurch zwar knittern und der Schneider würde die Krise kriegen, wenn er sah wie ich mit seiner aufwändigen Ware umging, aber mir war es egal.

„Aziz wird sich schon noch beruhigen. Du kennst ihn ja“, legte mein alter Kumpel ein gutes Wort für den nach wie vor tobenden Geschäftsmann ein. „Ich kenne ihn nicht als besonders versöhnlich“, zweifelte ich an seinen gut gemeinten Worten. „Weißt du noch, als wir uns einmal mit seinen teuren Bestellungen verkleidet hatten und dann in der Werkstatt fangen gespielt haben? Ich war mit dem Ärmel an einem der Körbe hängen geblieben und hatte den Stoff zerrissen. Als er uns erwischte, hast du gesagt, du wärst es gewesen. Da hat er dir doch auch verziehen“, erinnerte sich der gutherzige Diener zurück: „Und du weißt doch, Gold hat ihm schon immer mehr bedeutet als Worte. Wie schlimm kann es schon sein? Oder hast du etwa seine ganze Werkstatt verwüstet?“

Mit der Vorstellung brachte er mich doch tatsächlich zum Lächeln.

„Hätte ich das gemacht, hätte er sich aus meiner Haut einen neuen Gürtel geschneidert“, erwiderte ich scherzhaft. „Einen Gürtel? Das wäre doch noch viel zu gut für so ein Verhalten. Eher Schuhe und er wäre extra damit durch jeden Ziegenköttel gegangen, der ihm über den Weg kam“, machte er auf seine sonnige Art weiter und ich konnte mir ein kleines Kichern nicht verkneifen.

„Dafür müsste er aber erst einmal rausgehen“, erinnerte ich meinen Freund. „Nein, nein. Er lässt sich die Scheiße extra von mir liefern. Du wirst schon sehen“, lachte auch Malik.

Plötzlich hörte ich drinnen die Schüsseln vom Essen scheppern. „Ich sollte gehen“, sagte ich und drückte ihn noch einmal kurz zum Abschied: „Und danke für alles.“ „Pass auf dich auf“, bat er mich jetzt doch mit einer Spur Sorge. „Mach ich“, versprach ich ihm und nach einem weiteren lauten Scheppern ergänzte ich: „Aber momentan musst du wohl eher auf dich aufpassen.“

Mit einem kleinen Winken schlich ich mich raus, meine Schuhe immer noch in den Händen. Barfuß tappte ich ein Stück durch die Stadt. Die gepflasterten Straßen waren glühend heiß von der Sonne.

Doch irgendwie fand ich das Gefühl schön. Es hatte was von Freiheit und Unbeschwertheit. Ich konnte jeden der glatten, abgetretenen Pflastersteine unter meinen nackten Fußsohlen spüren und manchmal bohrte sich auch ein kleines, fieses Steinchen in meine Ferse.

Weit abseits vom großen Hauptzentrum des Basars setzte ich mich auf eine niedrige Mauer und ließ die Beine baumeln. Immer noch ein bisschen hungrig, kramte ich jetzt in meinem Beutel nach dem Essen. Nach ein wenig Sucherei hatte ich die Metallbüchse gefunden.

Vorfreudig öffnete ich sie. Im Inneren erwartete mich eine dicke Lamm-Shawarma. Perfekt! Genüsslich machte ich mich über meinen Proviant her, während ich dem entfernten Stimmengewirr auf dem Basar lauschte.

Obwohl ich mir wirklich viel Zeit gelassen hatte, war meine kleine Mittagspause irgendwann zu Ende und ich hatte keinen Vorwand mehr, mich auf die faule Haut zu legen. Kurz schloss ich meine Augen und streckte mein Gesicht zur Sonne. So schön warm.

Dann mal los. Mein letztes Hilfsmittel stahl sich nicht von allein.

Schnell zog ich meine Schuhe an und stand schwungvoll auf. Mir fehlte noch eine wichtige Komponente für meinen leicht waghalsigen Plan und die würde ich mir jetzt noch beschaffen. Wenn ich noch länger trödelte, könnte ich am Ende meinen Zeitplan nicht mehr einhalten und das galt es selbstverständlich zu vermeiden.

Locker den Stoffbeutel in der Hand, schlenderte ich zurück zum Basar. Ich mochte die bunten Gewänder und all die Menschen, die von unbeschwert bis aufgebracht miteinander redeten. Dazwischen natürlich immer das Feilschen und die Personen, die ganz geschäftig hin und her huschten.

Hier war alles immer so lebendig. Und man konnte sich leicht in der Zeit verlieren.

Apropos Zeit… Flott warf ich einen Blick auf meine alte, zerkratzte Armbanduhr, die meine Mutter einmal für meinen Vater gestohlen hatte.

Genau 15:15 Uhr. Zeit für die Patrouille.

Pünktlich wie immer marschierte eine Gruppe vom Schlüsseldienst auf. Fünf Personen, alle in der unauffälligen, schwarzen Tracht, die dennoch trotzdem augenblicklich für Respekt sorgte. Bei jedem ihrer Schritte klimperten ihre Schlüsselbunde leise, ansonsten waren sie nahezu lautlos.

Jetzt wurde ich doch ein kleinwenig unruhig und verstärkte den Griff um meinen Stoffbeutel. Wenn sie wüssten, was ich da drin hatte, war es aus mit mir. Aziz hatte recht, die Strafe für einen Fehler wäre bei meinem Vorhaben verheerend.

Aber ich musste es trotzdem tun. All die Jahre durften nicht umsonst gewesen sein. Ich hatte mir diese Chance nicht erarbeitet, um sie jetzt zu verschenken. Drei Stunden und drei Minuten, dann war es soweit. Nur nicht die Nerven verlieren. Geschult ließen die Wächter des Schlüssels der Zeit ihren Blick über die versammelten Menschen schweifen. Sie erwarteten keine Gefahr, das war nur ein Routinegang. Damit wollten sie schlicht ihre Anwesenheit zeigen, als Abschreckung. Na ja, hatte bei mir wohl nicht so gut funktioniert.

Viele der Verkäufer nahmen sie allerdings mittlerweile gar nicht mehr richtig wahr, bis auf die, die Hehlerware hatten natürlich. Denen schlotterten jedes Mal die Knie, auch wenn die meisten es gut verbergen konnten. Solche Patrouillen waren einfach Normalität und sorgten in der Regel recht zuverlässig für Recht und Ordnung, oder sagen wir mal einfach nur für Ordnung. Gerechtigkeit sah anders aus.

Eine Frau mit einem großen Obstkorb ging an mir vorbei. Wahrscheinlich verkaufte sie die Früchte an die Standbesitzer, da machte man ein ganz gutes Geschäft. Hier harrten viele stundenlang auf ihren Posten aus und da war ein bisschen frisches Obst zwischendurch genau das Richtige.

Die ideale Gelegenheit für mich. Während die vom Schlüsseldienst da waren, würde niemand mit einem Diebstahl rechnen. Unauffällig ließ ich zwei Glasmurmeln auf den Boden fallen.

Genau wie beabsichtigt trat die ahnungslose Frau drauf und ihr Fuß rutschte weg. Aus ihrem Mund kam ein glockenheller, erschrockener Laut und sie griff haltsuchend nach meinem Arm. Gespielt überrascht ließ ich mich von ihr runterziehen, halb auf die Auslage des Standes.

Feigen, Aprikosen, Maulbeeren und wertvolle Sekundenkleber-Tuben prasselten auf den Boden. Und mitten in diesem netten Chaos lag ich. Flink griff ich mir wieder meine beiden Murmeln und sicherheitshalber gleich zwei Sekundenkleber-Tuben, als kleinen Nachtisch erlaubte ich mir sogar eine Maulbeere mitgehen zu lassen.

Ich half nicht beim Aufräumen. Stattdessen zeterte ich, dass sie ja so ungeschickt wäre und jetzt meine Klamotten Flecken hatten und so ein Müll. Dieses Verhalten war zwar nicht besonders nett, aber immer noch in gewisser Weise nachvollziehbar und somit nicht verdächtig. Außerdem konnte ich so schnell weg, bevor der Händler noch auf die Idee kam seine Ware nachzuzählen und merkte, dass etwas fehlte.

Meine restliche Wartezeit schlenderte ich ziemlich sinnlos auf dem Basar rum. Natürlich hätte ich mir noch ein paar Minutenfäden stehlen können, die konnte man immer gebrauchen, aber jetzt so kurz vorm Ziel war mir das Risiko, geschnappt zu werden, doch zu hoch. Und meine Innentaschen sollten vielleicht nicht zu vollgestopft sein, nicht dass einem noch etwas auffiel.

Es gab so viele Möglichkeiten, was schief gehen konnte. Rastlos drehte ich meine Runde. Noch nie hatte ich das Gefühl gehabt, dass die Zeit so langsam verging. Eine echte Qual.

Um fünf Uhr hielt ich es einfach nicht mehr aus. Ich musste etwas tun, sonst wurde ich noch verrückt!

Trotz meines Warterei-Wahnsinns war ich noch geistesgegenwärtig genug, nicht sofort loszuziehen und irgendwelches Zeug zu klauen. Also entschied ich mich meine Informantin aufzusuchen.

Auf dem Weg zu ihr stahl ich dann doch eine Kleinigkeit, ich konnte es einfach nicht lassen. Alte Gewohnheiten und so. Außerdem war es doch unhöflich jemanden ohne Geschenk zu besuchen.

Ihre Unterkunft war sehr bescheiden. Pari verdiente zwar sehr gut, aber davon ging fast alles für ihre Gesundheit drauf. Sie hatte sehr blasse Haut und weiße Haare. Durch dieses besondere Aussehen nannten sie die meisten einfach nur die weiße Fee.

Doch ihre exotische Erscheinung hatte auch ihre Schattenseiten: Zu viel Sonnenlicht war gefährlich für sie, deswegen blieb sie tagsüber meistens in Gebäuden und ließ regelmäßig eine spezielle Zeitumstellung durchführen, ebenso wie Behandlungen mit Minutenfäden. Alles sehr teuer, aber um zu leben immer noch ein geringer Preis.

Hoffentlich war sie schon da und nicht noch bei der Arbeit oder noch schlimmer: arbeitete zu Hause. Da wollte ich wirklich nicht reinplatzen.

Vorsichtig lauschte ich an ihrer Tür. Nichts war zu hören. Am Arbeiten war sie ziemlich sicher nicht. Erleichtert klopfte ich an. Kurz darauf wurde die Tür aufgesperrt und meine alte Freundin stand im Türrahmen.

Irritiert runzelte sie die Stirn, was unter ihrem halb transparenten Schleier nicht ganz leicht auszumachen war. Wie gesagt, sie tat alles um Sonnenstrahlen zu meiden. „Wolltest du nicht erst später kommen?“, fragte sie mich mit der gleichen Verwirrung, die sich auch auf ihrem farblosen Gesicht abzeichnete.

„Lässt du mich rein? Dann können wir reden“, bat ich sie mit einem ungeduldigen Fußwippen: „Solche Sachen sollte man vielleicht nicht auf offener Straße besprechen.“ Obwohl offene Straße vielleicht ein bisschen übertrieben war, es war mehr ein verlassenes Gässchen.

„Natürlich“, mit einem kleinen Nicken trat sie einen Schritt zur Seite und ich betrat ihre dunkle, stickige, kleine Wohnung. Damit man überhaupt etwas sehen konnte, hatte sie einige Kerzen aufgestellt. Und auch wenn alles sehr beengt und kaum persönlich war, war es immer noch schöner als meine Bleibe. Allerdings war das nicht gerade eine Kunst.

Nachdem sie die Tür zugesperrt hatte, kam Pari direkt zum Wesentlich: „Brauchst du noch mehr Informationen?“ „Nein, eigentlich nicht. Ich hab das Warten nur nicht mehr ertragen“, antwortete ich ehrlich. Wir hatten uns als Kinder auf der Straße kennengelernt, ich vertraute ihr.

„Du kriegst doch nicht etwa kalte Füße, oder?“, prüfend musterte sie mich aus ihren leicht rötlichen Augen. „Nein! Nein! Definitiv nicht!“, stellte ich sofort klar. Dann fiel mir ein, dass ich ja für sie noch etwas geklaut hatte und übergab es ihr mit den Worten: „Als kleiner Dank für deine Unterstützung.“

Es war ein kleines silbernes Armband mit einem Stundenglas, gefüllt mit schwarzem Sand, als Anhänger. Das Einzige was da an besonderer Zeit drin steckte, war die, die der Handwerker für die Anfertigung aufgewendet hatte. Keine besonderen Extras, keine Zeitmagie, nur Arbeitszeit.

In meinen Augen war so etwas Geldverschwendung, aber Pari mochte Schmuck und weil sie ja so viel für ihre Gesundheitsbehandlungen zahlen musste, gönnte sie sich da nur selten was.

„Das hast du gestohlen“, stellte sie tierisch geistreich fest. „Du kennst mich doch“, erwiderte ich mit einem lockeren Schulterzucken. Sie machte keine Anstalten es entgegen zu nehmen. Verwundert zog ich die Augenbrauen hoch: „Moralische Zweifel? Und das von DIR?“

„Ja. Du hast recht“, mit einem kleinen Grinsen schnappte sie sich das feine Armband.

Für Gold mit verheirateten Männern zu schlafen, war ja wohl nicht gerade ein Paradebeispiel für moralisches Verhalten. Außerdem wurde sie als Prostituierte vom Gesetz fast genauso ungern gesehen, wie ich als Diebin. Nur dass die Gesetzeshüter ihre Dienste selbst großzügig nutzten und sie daher geflissentlich übersehen wurde, was gesetzliche Maßnahmen betraf.

Genau das hatte ich mir zunutze gemacht. Obwohl sie ein Keuschheitsgelübte abgelegt hatten, waren auch Angehörige des Schlüsseldienstes öfters mal bei ihr und über Bettgeflüster konnte man so einiges erfahren. Sie war die perfekte Informationsquelle und zusätzlich der perfekte Ort, um später meine schwarze Uniform anzulegen. Niemand würde Fragen stellen, wenn jemand in dieser Aufmachung ihre Wohnung verließ, sowas war normal.

Zwischen uns hatte sich ein unruhiges Schweigen eingeschlichen. „Du wirst den Schlüssel der Zeit stehlen, oder?“, Pari sagte es ganz gefasst und das überraschte mich deutlich mehr, als die Tatsache, dass sie meinen jahrelangen Plan durchschaut hatte.

Wahrscheinlich hatte ich sie ziemlich ungläubig angestarrt, denn sie ergänzte mit einem kleinen, schiefen Lächeln: „Du hast es doch selbst gesagt, ich kenne dich.“ „Ich…“, setzte ich an, doch sie hob die Hand und unterbrach mich: „Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich verstehe dich. Wenn ich eine Chance hätte, eine heile Familie zu bekommen, würde ich es auch tun, aber bei mir hilft da alle Zeit der Welt nichts. Und ich habe einfach nicht dein Können. Aber… Ich wünsche dir alles Gute. Wirklich.“

Wieder überkam mich diese unnötige Sentimentalität und ich umarmte Pari. Auch wenn ich für die Informationen einiges an Goldmünzen hatte blechen müssen, war sie doch irgendwie meine Freundin und ich war froh sie zu haben.

Kurz drückte sie mich ebenfalls und dann ließen wir beide wieder los. Zu viel Sentimentalität konnte man sich in dieser Welt nicht leisten. Man musste vorsichtig sein, ich musste vorsichtig sein.

„Ich glaube ich zieh mich schon mal um“, meinte ich und hatte dabei immer noch dieses Gefühl, vor Energie und Anspannung bald platzen zu müssen. Zur Bestätigung nickte sie einfach nur.

Pari hatte ja schon nackte Haut ohne Ende gesehen und sie machte keine große Sache draus, als ich ihr den Rücken zukehrte und anfing mich auszuziehen. Mir behagte das zwar trotzdem nicht so ganz, aber ich zog es ohne lange zu fackeln durch.

Als ich schließlich meine Kleidung gewechselt hatte, bewegte ich mich probehalber ein wenig. Der Stoff war gut, kein verräterisches Rascheln beim Anschleichen und keine Bewegungseinschränkung. Am ungewohntesten war noch das Kopftuch. Dadurch konnte ich zwar immer noch gut Luft bekommen, allerdings war es schon ein merklicher Widerstand beim Atmen.

Trotzdem war ich ganz dankbar für die Verschleierung. Da niemand die Gesichter der Kämpfer des Schlüsseldienstes kannte, konnte auch niemand merken, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Mit ihrer Anonymität hatten sie sich selbst ins Knie geschossen.

„Wenn du nicht so seltsam rumhampeln würdest, sähst du wirklich glaubhaft aus“, kommentierte die weiße Fee belustigt. „Willst du wirklich jemanden vom Schlüsseldienst herausfordern?“, fragte ich sie und zog spaßhaft meinen Säbel. „Ich hab schon oft über dem Schlüsseldienst gethront“, entgegnete sie ziemlich anrüchig.

„Die Geschichten kannst du gerne für dich behalten“, wehrte ich sofort ab. „Bis jetzt wolltest du doch immer, dass ich alle Geschichten mit dir teile“, offensichtlich konnte sie es sich nicht verkneifen, noch ein bisschen mit mir zu spielen. „Für die Geschichten musste ich aber immer zahlen und jetzt verschleuderst du sie gratis?“, konterte ich, immer noch den schweren Säbel in der Hand. „Sind im Sonderangebot“, meinte sie nur frech.

Kurz grinste ich ausgelassen zurück, doch dann wurde mir schlagartig wieder bewusst, was ich hier tat, oder im Begriff war zu tun und meine kindische Stimmung war Geschichte.

Ernst steckte ich den Säbel weg und wandte mich meinen kleinen Extras zu, die immer noch in den Taschen meiner normalen Kleidung waren.

Sechs Spulen Minutenfäden, zwei Tuben Sekundenkleber, ein Säckchen Murmeln, die Vergangenheitsform meiner Mutter, die Armbanduhr meines Vaters, der Ring mit dem Minutenfaden von Latifa, ein Seil, das zwar dünn aber sehr stabil war und zwei Handschuhe, die ich mir nach meinen Lektionen bei Aziz stümperhaft selbst genäht hatte.

Schon gut ausgestattete Widerstandsgruppen waren daran gescheitert ins Zeitschloss zu gelangen und ich würde es mit diesem Häufchen Zeug versuchen… Klang irgendwie wirklich nach Selbstmordmission. Na ja. War mir egal.

„Ich frage mich echt, wie du das anstellen willst“, hatte Pari wohl den gleichen Gedanken wie ich. „Ein bisschen Schauspiel. Ein bisschen Diebstahl. Ein bisschen Improvisation“, blieb ich vage. Vertrauen hin oder her, bei so einer heiklen Angelegenheit sollte man lieber nicht gleich alles ausplaudern.

„Ich fände es schade, wenn du dabei draufgehst“, auch wenn ihre Wortwahl wenig mitfühlend oder sorgenvoll klang, wusste ich, dass das von Herzen kam. Bevor wir uns noch weiter in dieser Gefühlsduselei verloren, zog ich lieber einen glatten Schlussstrich: „Ich werde sehen, was ich tun kann. Vielleicht bringe ich dir ja was mit.“

Zum Abschied zwinkerte ich ihr frech zu und winkte kurz: „Es ist Zeit.“ Verständnisvoll nickte sie und ich ging einfach. Natürlich hätte sie mir noch Glück wünschen können oder ich hätte sagen können, dass ich die Zeit mit ihr wirklich geschätzt hatte, doch was hätten solche Worte schon geändert?

Ich musste konzentriert bleiben und auch Pari durfte sich in ihrem Metier keine emotionale Schwäche erlauben. So war es besser.

Aufrecht und zielstrebig marschierte ich durch die Gassen, genauso wie es jedes selbstgerechte Mitglied des Schlüsseldienstes getan hätte. In einem schattigen Winkel blieb ich stehen, lehnte mich unauffällig gegen die Wand und checkte mit der Armbanduhr meines Vaters die Uhrzeit. Es war vier Minuten vor sechs Uhr.

Bei Pari hatte ich also fast eine ganze Stunde verbracht, dabei war es mir deutlich kürzer vorgekommen. Aber das war gut, denn so musste ich nun weniger warten. Und ich wusste jetzt schon, dass sich die verbliebenen 22 Minuten wie eine Ewigkeit dahinziehen würden.

Im Schutz meines zurückgezogenen Plätzchens nahm ich die große Murmel heraus, die ich Aziz vor Jahren gestohlen hatte.

Wie einen unendlich kostbaren Schatz hielt ich sie in meinen Händen, meine einzige Erinnerung an sie.

Ausgelassen grunzend hörte ich ihr Lachen und ihr Bild tauchte auf, wie sie sich im Regen drehte, dass der Stoff nur so wirbelte. Sie strahlte so eine Freude und Freiheit aus, sie war so lebendig. Dann blieb sie stehen und kam näher, nicht ganz gerade, ihr war vom vielen Drehen wohl etwas schwindelig.

Kichernd griff sie nach dem Beobachter: „Komm schon! Das macht Spaß!“ Unbeschwert streckte sie die Zunge raus und fing damit die Regentropfen auf. „Hör auf so herum zu albern, wir haben noch Arbeit!“, das war die Stimme meines Onkels, besagter Beobachter. Diese Erinnerung stammte von ihm.

„Nein! Jetzt werde ich den Regen genießen! Sei nicht so ein Sorgenmuffel und lebe mehr! Es kann so schön sein!“, lachend ließ sie ihren Bruder wieder los und lief zurück in den Regen und die Erinnerung ging von vorne los.

19 Sekunden. Mehr hatte ich von ihr nicht. Und wenn ich es mir ansah, war ich mir nie sicher, ob ich lachen oder weinen sollte, meistens tat ich beides. Heute nicht. Wie erstarrt ließ ich es ablaufen, immer und immer wieder.

Vielleicht konnte ich sie bald treffen, richtig treffen. Sie war ein guter Mensch gewesen, sie hatte das Leben geliebt. Ihr Tod war zu früh gewesen. Ich wollte sie um alles in der Welt wiederhaben. Ich wollte meine Familie zurück.

Das Geräusch von klirrenden Schlüsselbunden drang aus der Gasse zu mir. Blinzelnd erwachte ich aus meiner Starre und steckte meine Vergangenheitsform weg. Es war Zeit.

4. Kapitel

Selbstbewusst kam ich aus meinem kleinen Versteck hervor und schloss mich völlig selbstverständlich der Gruppe an, die auf dem Weg zum Zeitschloss war. Von hier aus war es nicht mehr weit und das Herz schlug mir bis zum Hals. Jetzt gab es ganz offiziell kein Zurück mehr.

Schweigend marschierten wir bis zu der imposanten Festung. Sie lag nahe der Stadtmauer und war kreisförmig aufgebaut. Eine hohe Mauer bildete das erste Hindernis und dahinter sah man das große Hauptgebäude emporragen (ebenfalls rund mit abgerundetem Dach). Mehr war von außen nicht auszumachen und was den inneren Aufbau betraf musste ich mich ganz auf Paris Informationen verlassen.

Immer mehr Mitglieder des Schlüsseldiensts sammelten sich in unserer Nähe. Pünktlichkeit wurde hier eben sehr großgeschrieben.

Über dem metallverstärkten Tor hing eine große Uhr. Eifrig drehte der Sekundenzeiger seine Runde und vollendete die achtzehnte Minute nach achtzehn Uhr. Ein metallisches Klicken hallte über den Platz, gefolgt von dem Geräusch einrastender Zahnräder. Dann schwang das schwere Tor lautlos auf.

Zum ersten Mal konnte ich wirklich ins Innere blicken. Obwohl ich jetzt nur einen Ausschnitt der massiven Mauer des Hauptgebäudes sehen konnte, was kein wirklich besonderer Anblick war, fühlte es sich an, als hätten sich soeben die Himmelstore für mich geöffnet. Auf diesen Augenblick hatte ich so lange gewartet…

Als ich mich mit den anderen in Bewegung setzte, versuchte ich mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Und es schien zu klappen. Niemand schaute auffällig zu mir oder zeigte sonstige Anzeichen eines Verdachts.

Laut rauschte mir das Blut in den Ohren, als es so weit war und ich den Durchgang passierte. Direkt dahinter waren die Laternen aus Sekundenbruchteilen angebracht. Bei allen vor mir waren die Muster silbern aufgeleuchtet. Hoffentlich hatte Aziz da auch wirklich keine Fehler gemacht. Wenn es nicht richtig funktionierte, wäre alles vorbei.