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Wenn du ihr Leuchten am Himmel siehst, bist du so gut wie tot: Die Geisterquallen. Doch durch ihren Kuss hat für mich ein neues Leben angefangen und das will ich gerne behalten. Niemand darf wissen, wer ich wirklich bin und das ist gar nicht so leicht, wenn man in einem fremden Körper steckt. Zwischen Videospiele zocken, Küchendienst und medizinischen Tests ist alles ein ständiges Risiko. Und dann gibt es noch diese bedrohlichen Geheimnisse, die in der Vergangenheit meines neuen Körpers schlummern.
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Seitenzahl: 518
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Wilma Müller, geboren 2003, hat gerade ihr duales Studium im Bereich Physiotherapie begonnen. Mit 13 Jahren fing sie an ihre Ideen zu Papier zu bringen und das Schreiben ist aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken. 2019 wurde ihr erster Fantasy-Roman „Aufgelöst – Hinterm Nebel liegt die Wahrheit“ veröffentlicht. „Quallenkuss“ ist nach „Anatopia – Im Kreuzfeuer der Synapsen“ ihr zweiter Roman mit Science-Fiction-Elementen.
Für all die Dinge im Leben, die mich immer wieder inspirieren.
P.S. Ich weiß, dass Dinge sich dadurch nicht geehrt fühlen, aber sie brauchen einfach auch mal Anerkennung.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 27
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
„Bli Bla Blubberdiblub Blub Blub Blub Blub!”, sang ich ausgelassen und rollte durch den Aquarium-Tunnel.
Diese Erinnerung war schon alt, keine Ahnung wie alt genau.
Damals hatte ich meine Haare immer gerne in diesen seitlichen Pippi-Langstrumpf-Zöpfen getragen und auf meinen Rollstuhl hatte ich lauter Sterne geklebt.
Ein verträumter, hellblauer Schein lag über diesem glücklichen Augenblick und die Welt wirkte hier so zauberhaft schwerelos.
„Guck mal Mama! Die brauchen keine Beine und sind trotzdem so flink!“, begeistert deutete ich auf einen kleinen Schwarm gelber Fische, der nur so durchs Wasser schoss. Weiter hinten konnte ich einen großen Hai bedächtig gleiten sehen und einige blasse Quallen trieben weltvergessen in diesem sanft blauen Paradies.
Wie schön musste diese Freiheit sein…
Unglaublich laut dröhnte mir mein eigener Atem in den Ohren. Mein Kopf schien zu explodieren! Dieses Atmen! Warum musste es so laut sein?! Es klang so falsch! Und es tat weh! Alles brannte und war gleichzeitig schrecklich kalt.
Vor meinen Augen war alles total verschwommen und selbst das dämmrige Licht bohrte sich wie Speere in meinen Kopf! Undeutlich mischten sich noch andere Geräusche zu diesem unwirklich lauten Atem, das alles zu zerreißen schien.
Verzweifelt scharrte ich mit meinen Beinen über den Boden. Ich musste mich einfach bewegen, ich musste einfach spüren, dass dieser Körper noch mir gehörte. Warte! Was?! Aber ich war doch seitdem ich denken konnte gelähmt! Das konnte nicht sein!
Zittrig zuckte ich mit meinem Fuß und ich konnte spüren, wie die kleinen Steinchen bei jeder Bewegung über den rauen Untergrund kratzten. Es fühlte sich viel zu echt an. Nie und nimmer war das nur Einbildung!
Warum lag ich überhaupt hier?! Wo war ich?! Was war mit mir passiert?!
Heiße Tränen liefen über mein Gesicht und ich wollte meine Hände heben, um sie an meinen bestialisch rumorenden Schädel zu drücken. Es war als würden Wellen von Innen gegen meinen Kopf branden, um den viel zu kleinen Raum zu sprengen. Vor Schmerz stockte meine Atmung für einen schwindeligen Herzschlag. Meine rechte Schulter!
Schwach berührte ich mit meiner linken Hand diese brutale Stelle und mir blieb wieder kurz die Luft weg. Obwohl sich meine Fingerspitzen ganz taub und steif anfühlten, spürte ich die Feuchtigkeit. Wie gelähmt hielt ich meine Hand direkt vors Gesicht. Ich konnte nichts Besonderes sehen. Es schien kein Blut zu sein. Oder? Bildete ich es mir nur ein? Wieso war meine Haut so dunkel? Lag das am Licht? Sie wirkte auch irgendwie größer…
Die Angst erreichte mich kaum, als ich meine Hand tranceähnlich drehte. Auf meinem Handrücken waren dunkle Muster, Tätowierungen scheinbar. Das war nicht meine Hand! Sie gehörte nicht zu mir! Sie konnte nicht zu mir gehören!
„Diego!“, bildeten sich die schwammigen Geräusche zu einem verzerrten Wort. Etwas Helles, Rundliches schob sich in mein Blickfeld. Irgendwie kamen die Bewegungen abgetrennt bei mir an und sie überlagerten sich merkwürdig, doch ich konnte trotzdem erkennen, dass es ein Gesicht war.
„Halt durch! Bitte! Diego!“, wie ein Schwarm aufgescheuchter Fische schossen die Worte durch meinen Kopf und es pochte dumpf. Fest spürte ich wie jemand sich an meine andere Schulter klammerte, als wäre ich ein Floß auf einem tosenden Ozean.
Unverständlich redete die Person neben mir weiter. Sie wirkte verzweifelt und sehr hektisch, ich hingegen wurde immer langsamer. Meine Gedanken steckten fest, hingen ziellos in der Leere. Da war nur noch dieses Atmen, mein Atmen.
Mir fiel es unendlich schwer konzentriert zu bleiben, da zu bleiben. Erschöpft blinzelte ich in dieses matte Licht, das immer noch zu hell war. Ich war verwirrt und voller Angst, doch vor allen Dingen war ich müde, so müde… Langsam, ganz langsam ging ich in diesem gedankenverlorenen Meer unter und nichts konnte mich mehr erreichen…
Sanft dämmerte ich wieder aus der schwarzen Welt des Schlafes. Was ich geträumt hatte, wusste ich nicht mehr, aber das war auch nicht ungewöhnlich. Da war nur noch dieses Gefühl… Es war hektisch, regelrecht fieberhaft und panisch.
Die Erinnerungen an diesen schrecklichen Moment im Nirgendwo stiegen aus den Untiefen meines Bewusstseins auf, wie Blasen aus einem Unterwasservulkan. Schlagartig verspannte ich mich. War ich immer noch dort?! Was würde mit mir passieren?! Würde ich vielleicht sogar sterben?!
Aber schon im nächsten Moment fühlte ich die warme Decke über mir und die weiche Matratze in meinem Rücken. Ich war in meinem Bett, zu Hause, hier konnte mir nichts passieren.
Gedankenverloren starrte ich in die Dunkelheit. Dieser Traum hatte mich seltsam gefangen genommen. Es hatte sich gleichzeitig so falsch und doch so real angefühlt und die wenigen Sekunden hatten sich wie eine Ewigkeit in die Länge gezogen. Fast schon konnte ich immer noch die schrecklichen Schmerzen in meiner Schulter fühlen und meine Beine… Völlig selbstverständlich hatte ich sie bewegt.
Das war doch schon der ultimative Beweis dafür, dass das alles nur ein sehr lebhaftes Hirngespinst war. 16 Jahre Forschung, Tests und Experimente ohne Erfolg und dann die Wunderheilung. Aber sicher doch.
Es wurde Zeit, dass ich diesen Schwachsinn losließ. Nach der Gewohnheit griff ich nach links, wo meine Nachttischlampe war oder wo sie sein sollte. Meine Finger berührten nichts als Luft. Was? Verwirrt tastete ich weiter. Da war kein Nachttisch und das Bettgestell war aus kaltem Metall!
In der Luft hing dieser undefinierbare Geruch nach Metall und Krankheit. Wie hatte ich das nicht bemerken können?! Das war nicht mein Zimmer! Panisch wollte ich mich aufrichten, doch ein tauber Stich in meiner rechten Schulter ließ mich dieses Vorhaben augenblicklich vergessen. Außerdem hatte ich dort an meinem Unterarm so ein unangenehmes Zupfen gefühlt…
Voller Angst was ich vorfinden könnte, tastete ich meinen Arm ab. Da! Ein dünner Schlauch! War das etwa… Mit einer ganz üblen Ahnung fuhr ich daran entlang und er endete… in mir. Ich hatte in meinem Leben schon an genug Infusionsbeuteln gehangen, um eine solche Braunüle zu erkennen. Setzte man mich hier etwa unter Drogen?! Was war hier los?!
Mein Atem zitterte. Bedrohlich wurde die Dunkelheit um mich herum immer größer und ich konnte mich dagegen nicht wehren. Ich war völlig hilflos.
„Diego?“, fragte eine Stimme aus der lauernden Schwärze. Vor Schreck kam ein erstickter Laut aus meiner Kehle, der überhaupt nicht nach mir klang. Alles hier war so falsch! Das war ein einziger Alptraum!
Verzweifelt fuhr ich mir mit der linken Hand durchs Gesicht. Kalt spürte ich meine Finger auf meiner Haut. Und dann berührte ich meine Haare. Sie waren kurz geschnitten! Die Entführer hatten meine Haare abgeschnitten! Was hatten sie sonst noch mit mir gemacht?! Was würden sie noch tun?!
„Nein“, wimmerte ich völlig am Ende. Egal was hier auch lief, es sollte einfach nur aufhören! Wieso klang meine Stimme so fremd?! Warum war ich hier?! Ich war doch nichts Besonderes!
„Hey, Diego, alles in Ordnung?“, erkundigte sich die gleiche Stimme wie eben und an dem besorgten Unterton war klar, dass er schon wusste, dass die Antwort „Nein“ lauten würde. „Ich bin nicht Diego“, brachte ich irgendwie hervor, doch das war nicht meine Stimme, sie war viel tiefer und… männlicher. Das konnte nicht allein an meiner zugeschnürten Kehle liegen. Etwas war hier grundlegend falsch!
„Ja klar. Was soll das Spielchen? Bist du doch heftiger auf den Kopf gefallen, als gedacht?“, erwiderte der andere jetzt schon deutlich entspannter. „Klinge ich so, als würde ich Scherze machen?!“, entgegnete ich aufgebracht und die falsche Stimme klang vor Panik ganz schrill. Es war meine Panik, es waren meine Worte, aber es hörte sich nicht so an…
„Beruhig dich“, eine gewisse Unsicherheit hatte sich wieder in seine Stimme geschlichen, nur wusste ich nicht, ob das daran lag, dass er tatsächlich in Erwägung zog mir zu glauben oder einfach nur befürchtete ich könnte ausrasten.
„Warum ist es hier so dunkel?“, wollte ich verloren wissen. „Es ist Nacht. Da gibt es keine Beleuchtung“, gab er mir ruhig Auskunft. Ich kannte diesen Ton! So hatten die Ärzte immer mit den Psycho-Patienten geredet! Er hielt mich für verrückt! Aber ich war nicht verrückt! Diese Situation war verrückt! Nicht ich!
Doch wenn ich es bestritt, würde das nur seinen Irrglauben bestätigen, nein, ich musste jetzt klug vorgehen. Vielleicht würde er mir noch mehr hilfreiche Informationen geben, um mich zu beruhigen. Vielleicht waren alles aber auch nur Lügen. Egal, ich musste es wenigstens versuchen!
„Wer bist du?“, seine Identität zu klären war doch ein logischer erster Schritt, nur diese Stimme, die aus meinem Mund kam, war immer noch so schrecklich verkehrt. „Ich bin’s, Tad“, stellte er sich locker vor und ich hatte fast schon das Gefühl, dass er auf etwas warten würde… „Was? Kein flotter Spruch?“, er klang stichelnd, beinahe sogar verächtlich.
Womöglich hätte ich doch zuerst weiter nach den äußeren Umständen fragen sollen. „Sind wir hier alleine?“, versuchte ich meinen Fehler im Nachhinein zu ändern. „Warum? Willst du mir etwa eine Liebeserklärung machen?“, seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Dabei hatte ich ihm doch überhaupt nichts getan! Ich wusste ja nicht einmal wirklich, wer er war! Meine verzweifelte Wut zeigte sich auch in dieser Stimme: „Nein! Ich will wissen, was ihr mit mir gemacht habt! Wo bin ich hier?! Was habt ihr mit mir vor?!“ „Das ist selbst für dich eine neue Stufe der Dummheit!“, kam von dem anderen keine Spur Verständnis mehr.
Mir reichte es! Entschieden setzte ich mich auf, wobei ich mich natürlich nur auf den linken Arm stützte und schlug die Decke zurück. Mit einer Verletzung und ohne Rollstuhl hier wegzukommen, wäre nicht leicht. Niemand würde einen Fluchtversuch von einem Mädchen, das nicht gehen konnte, erwarten. Aber ich würde dieses kranke Spiel nicht länger mitmachen!
Kämpferisch wollte ich mein rechtes Bein über die Bettkante ziehen, doch mein Oberschenkel war viel dicker… das waren Muskeln! Wieso verpassten mir diese irren Entführer eine Kurzhaarfrisur und Beinmuskeln?! Ich konnte sie doch sowieso nicht ansteuern! Oder… Was, wenn doch?
Mein Verstand sagte mir, dass das völlig unmöglich war, aber ich musste es einfach versuchen. Mit wild schlagendem Herzen konzentrierte ich mich auf meinen rechten Fuß und versuchte mit den Zehen zu wackeln. Nichts passierte. War doch klar gewesen. Kein Grund enttäuscht zu sein. Trotzdem versetzte es mir einen fiesen Stich, als meine kleine, verrückte Hoffnung erstickt wurde.
Voller bitterer Entschlossenheit drehte ich mich zur Seite und blickte in die undurchdringliche Dunkelheit. Und dabei neigten sich meine Knie wie von selbst mit! Sie hatten sich bewegt! Einfach so! War das Einbildung gewesen?
Vor Aufregung beschleunigte sich mein Atem. Was hatte ich dieses Mal anders gemacht als eben? Ich hatte nicht nachgedacht, sondern es einfach getan! Genau! Also wenn ich… Stützend stemmte ich meinen linken Arm aufs Bett und wollte ganz natürlich meine Beine rausschwingen, eins nach dem anderen, die gleiche Bewegung wie sonst auch, nur dieses Mal ohne Hilfe. Es klappte tatsächlich!
Überwältigt saß ich an der Bettkante und ballte meine Zehen zusammen. Sie gehorchten mir als wäre es das Selbstverständlichste der Welt! Ich spürte den kalten, rauen Boden unter meinen Fußsohlen, ich spürte wie sich die Sehnen in meinem Bein bewegten, wie sie reagierten, auf mich! Unglaublich!
„Ihr habt mich geheilt!“, hauchte ich vollkommen fassungslos. „Was ist denn jetzt mit dir los?! Was machst du da?!“, fragte mich der Fremde halb angespannt, halb genervt, doch gerade war er mir so egal. Gerade war mir sogar egal, dass ich entführt worden war und in einem trübseligen dunklen Raum mit einer bedenklichen Infusion am Arm festgehalten wurde.
Nach all den Jahren konnte ich meine Beine bewegen, einfach so. Ein absolutes Wunder! Nie hätte ich geglaubt, einmal richtig laufen zu können. Jetzt konnte ich es! Mir fehlten die Worte!
Unendlich glücklich drückte ich mich vom Bett ab und stand auf meinen kräftigen Beinen, als hätte ich nie etwas anderes getan. Freudentränen traten mir in die Augen. Das war so unbeschreiblich! Eine völlig andere Welt! Irgendwie schwamm alles in meinem Kopf, aber das hier war so schön!
Begeistert hob ich mein Bein an und machte einen Schritt nach vorne. Na ja, so hatte ich es zumindest vorgehabt. Plötzlich verstärkte sich der Schwindel und es war schlagartig gar nicht mehr schön. Wie ein gefällter Baum kippte ich zur Seite und riss den Infusionsständer klirrend mit mir.
Vor Schmerz schrie ich auf. Meine Schulter! Das Pochen war schrecklich! Es raubte mir den Atem!
„Diego!“, rief Tad geschockt und durch diesen seltsamen Strudel, der in meinem Kopf alle Eindrücke verzerrte, flammte ein kleines Licht auf. Es war hinter mir, ich nahm nur den schwachen Schein wahr und in den Tränen in meinen Augen brach er sich auf faszinierende Art und Weise.
„Diego!“, wiederholte der Typ aufgewühlt diesen Namen und ich hörte wie seine nackten Füße auf den Boden platschten. Das Licht kam näher, es wurde heller. Dann kniete er sich vor mich hin.
Zum ersten Mal konnte ich ihn sehen, streng genommen konnte ich zum ersten Mal überhaupt irgendetwas richtig sehen. Er trug eine schlichte Brille und durch das Licht in seinen Händen warf das Gestell dunkle Schatten über seine Augenbrauen, sodass er ziemlich grummelig aussah. Doch in Wahrheit war sein Gesicht eher besorgt und das obwohl er mich offensichtlich nicht leiden konnte.
Seine dunklen Haare hingen formlos auf seinem Kopf und ließen ihn irgendwie verloren wirken. Oder lag dieser Eindruck an seinen Augen? Durch das bläuliche Licht konnte ich nicht einmal ihre Farbe erkennen, aber etwas lag in ihnen, etwas Vertrautes. Was war es?
„Diego?“, sagte er diesen verfluchten Namen noch einmal, als hätte er einen Sprung in der Platte. Umständlich richtete ich mich auf, damit ich nicht mehr so seltsam vom Boden zu ihm aufsah.
„Was ist das da für ein Licht?“, ignorierte ich einfach seinen Namenshänger und richtete den Blick auf die kugelige Lichtquelle. Sie direkt anzusehen, stach in den Augen und bei jedem Blinzeln sah ich ein flimmerndes, orangenes Abbild in der Dunkelheit.
Dazu hatten wir mal etwas in Bio, von wegen Fotorezeptoren, die zu stark erregt wurden und dann zerfiel da alles und musste sich regenerieren und in der Zeit hatte sich das Bild quasi in seinen Komplementärfarben eingebrannt. Keine Ahnung warum ich da jetzt dran denken musste, Bio war eigentlich nicht mein Fach.
Tja, wen wundert es, wenn man sich das meiste Zeug quasi selbst beibringen muss, während man wie eine Laborratte in irgendeinem Krankenhaus sitzt und von einem Test zum nächsten gekarrt wird. Und dann war ich auch noch ziemlich oft krank. Die Schule sah ich da nicht oft von innen und einen Anschluss zu finden, war so gut wie unmöglich. Sowohl beim Unterrichtsstoff, als auch bei meinen Klassenkameraden.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen, woher ich diesen Ausdruck in seinem Gesicht kannte: Ich selbst hatte ihn schon tausend Male im Spiegel gesehen. Dieses Gefühl von Einsamkeit, von niemandem wirklich verstanden zu werden und doch irgendwie zu versuchen, den Kopf nicht hängen zu lassen.
„Diese Kapsel basiert auf einer fotochemischen Reaktion, die ich von bestimmten Algenarten abgeleitet habe, aber das verstehst du ja sicher nicht, oder?“, und da war wieder diese Verachtung, als wäre ich ihm gegenüber das größte Arschloch überhaupt gewesen. Wie unfair! Ich gab mir Mühe nett zu sein und dann sowas!
„Was hab ich dir denn getan?!“, fragte ich ihn gereizt. „Meinst du das ernst?“, sein bitterer Gesichtsausdruck vertiefte sich noch. Nein, das brachte nichts. So würde ich nicht weiterkommen.
Tief atmete ich durch und schluckte meine Wut runter: „Darf ich es mal halten? Bitte?“ Vielleicht konnte ich damit ja ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Tad zögerte misstrauisch. „Komm schon. Ich will das Ding nur halten“, ich musste mir Mühe geben, den genervten Unterton aus meiner Stimme zu halten.
„Dich hat es doch sonst nie interessiert. Was hast du vor?“, hinterfragte er meine Bitte weiter und tat dabei immer noch so, als würden wir uns kennen. „Ich wollte nur nett sein, aber wenn du nicht willst. Vergiss es einfach“, gab ich es doch auf.
Die Situation war schon mies genug, auch ohne sein verrücktes Schauspiel.
Nachdenklich musterte er mich, fast schon als würde er gleich eine Falle erwarten. Ich stellte ja so eine große Gefahr dar. „Schon krass, dass du dieses Ding gemacht hast, auch wenn ich nichts von fototechnischen Reaktionen verstehe“, kommentierte ich irgendetwas zwischen ehrlich bewundernd und einfach nur angepisst.
Ein glühender Algenball war schon etwas Besonderes. Und auf die Idee zu kommen, so etwas zu erschaffen, war noch viel besonderer. Er war etwas Besonderes. Irgendwie hatte ich so das Gefühl, dass ihm das noch niemand gesagt hatte.
Trotzdem war das kein Grund sich so blöd zu verhalten!
„Aber sei vorsichtig“, erlaubte er mir plötzlich doch, seinen Leuchtball zu nehmen. Zögerlich streckte er ihn mir entgegen und als ich danach griff, streiften sich unsere Finger. Ich spürte die flüchtige Berührung warm und kribbelnd, doch das war nicht, was ich sah. Die Größe, die dunklen Tätowierungen, das war nicht meine Hand! Diese Hand fing an zu zittern. Aber sie war kein Teil von mir! Meine Brust fühlte sich eng an. Mein ganzer Körper zog sich zusammen. Und dann sah ich es.
Vor Schock fiel mir die Leuchtkugel aus der Hand. Das war nicht mein Oberkörper! Fassungslos fuhr ich mit meiner Hand über die flache Brust und ich spürte die ganzen Muskeln, die sich unter meiner viel zu schnellen Atmung hoben und senkten. Wie war das möglich?!
„Was ist denn jetzt schon wieder los? Weißt du wie lange ich dafür gebraucht habe?!“, sauer hob Tad sein Algenlicht wieder auf. Bei dem Aufprall war ein wenig von der glühenden Flüssigkeit ausgelaufen und bildete jetzt eine surreal strahlende blaue Pfütze auf dem Boden.
„Ist hier ein Spiegel?“, die Stimme gehorchte mir kaum noch, sie klang so heiser und zerbrechlich. „Was?“, verständnislos starrte er mich an. „Ich brauche einen Spiegel!“, schrie ich und die Verzweiflung ließ die Worte ganz schrill klingen. „In Ordnung“, überfordert von meinem plötzlichen Anfall stand er auf und hielt mir sogar eine helfende Hand hin.
Zittrig griff ich sie und ließ mich von ihm stützen. Zu gehen war immer noch ein seltsames Gefühl, irgendwie fremd und… nicht für mich bestimmt.
Zielsicher führte mich Tad durch den Raum bis zu einer Wand, an der ein Waschbecken hing und darüber ein Spiegel. Zuerst hatte es mir eine Gänsehaut verpasst, in der Dunkelheit die schemenhaft gespiegelten Bewegungen von uns zu sehen. Obwohl ich es besser wusste, hatte es etwas Geisterhaftes an sich. Doch dann kamen wir näher und das Bild wurde klarer.
Entsetzt schlug ich die Hände vor den Mund und die ruckartige Bewegung sorgte für einen miesen Schmerz in meiner Schulter. Der Spiegel zeigte mir genau das, was ich insgeheim schon befürchtet hatte, aber es traf mich trotzdem völlig unvorbereitet.
Von mir war nichts mehr übrig. Ich starrte in das Gesicht eines Latinos, groß, durchtrainiert, wenn man sich meinen entgeisterten Gesichtsausdruck wegdachte, hatte er durchaus einen gewissen, rauen Charme. Aber er war nicht ich. Das sollte nicht so ein! Das durfte nicht so sein!
Zitternd hob ich meine Hand und winkte. Natürlich tat es mir der Fremde im Spiegel gleich. Wieso? Mein Kopf kam nicht über diese Frage hinaus. Völlig gelähmt stand ich einfach nur da und ich fühlte mich so unerreichbar, als wäre ich meilenweit weg, in einem anderen Leben… in meinem Leben.
Bitter traten mir Tränen in die Augen und verschleierten meine Sicht, doch das änderte nichts. Dieses grauenvolle Bild hatte sich längst in mein Gedächtnis gebrannt. Eine einsame Träne verfing sich in meinen Wimpern und tropfte auf meine Wange. Nur dass es weder meine Wimpern, noch meine Wange war. Jeder Atemzug fühlte sich unrechtmäßig an.
Und auf einmal glühte ein weiterer giftiger Gedanke in der Dunkelheit meines Verstandes auf: Wessen Leben hatte ich genommen?
„Diego?“, Tads sanfte, beunruhigte Stimme riss mich aus diesem überwältigenden Meer der Verzweiflung und Hilflosigkeit. Warm hatte er seine Hand von meinem Rücken auf meine Schulter gelegt.
Mit einem Schluchzen drehte ich mich zu ihm um und schlang meine Arme ganz fest um ihn, was meine Schulter wieder so fies pulsieren ließ. Für diesen Moment war es unwichtig, dass ich ihn nicht kannte oder dass er dachte, ich wäre dieser Körper, ich brauchte einfach eine Umarmung und hätte wahrscheinlich jeden gedrückt.
Hemmungslos liefen meine Tränen über das Gesicht und tropften auf Tads graues T-Shirt. Mir war das alles zuviel! Ich wollte meinen Körper zurückhaben! Ich wollte wieder langweilig und unauffällig und alleine sein! Ich wollte nach Hause!
„Ist ja gut“, unbeholfen tätschelte mir Tad den Rücken. „Nein, nichts ist gut“, schniefte ich und mein Körper zitterte weiter unter der nicht enden wollenden Flut aus salzigen Tränen. Dieser Fremde in dessen Körper ich war… schon allein daran zu denken, war so unendlich falsch! Alles hier war falsch!
„Was ist denn?“, fragte er einfühlsam und strich mir weiter mit der Hand über den Rücken. Sein Körper war nicht so kräftig und muskulös wie dieser, aber warm und seine Umarmung hatte etwas Tröstliches, auch wenn Trost nichts an diesem Wahnsinn ändern konnte.
Lange Zeit sagte ich nichts und ließ mich einfach nur von ihm halten. Verloren schloss ich meine Augen und atmete abgehackt ein. Er roch schwach nach Fisch und Pfefferminz, keine umwerfende Geruchsmischung, aber besser als diese drückende Luft hier, die nach nichts wirklich roch und nur dieses vage, schwere Gefühl von Metall und Krankheit hinterließ.
Beständig spürte ich seine Atmung an meiner Brust und langsam beruhigte ich mich tatsächlich wieder. Schließlich öffnete ich meinen bebenden Mund und krächzte mit heiserer Stimme: „Ich bin nicht Diego.“
„Das sind nur die Schmerzmittel. Und vielleicht noch ein bisschen was von deiner Gehirnerschütterung. Du wirst sehen, morgen ist alles wieder klarer und dann…“, redete er gut auf mich ein und dass er mir nicht glaubte, löste eine unerwartete Wut in mir aus. Ruckartig machte ich einen Schritt von ihm weg und wiederholte mit einem Gesichtsausdruck, der entschlossen aussehen sollte, aber wahrscheinlich eher verheult war: „Ich bin nicht Diego!“
Natürlich überzeugte ihn das immer noch nicht und bevor er wieder versuchen konnte mich zu besänftigen, redete ich aufgebracht weiter: „Du musst mir glauben! Ich bin Elvira! Aber ich mag den Spitznamen Elli mehr, weil der nicht ganz so altbacken klingt. Ich habe braune Haare, die sich einfach nicht entscheiden können, ob sie gelockt sind oder glatt! Meine Augen sind grün-braun und mir hat im Kindergarten mal einer gesagt, meine Augen würden aussehen wie sein Aquarium, wenn es einen Monat lang nicht sauber gemacht wurde! Ich habe Pickel statt Sommersprossen! Mein Lieblingsessen ist Kartoffelgratin, weil mein Vater das immer kocht, wenn ich aus dem Krankenhaus zurückkomme! Ich habe eine Katze, sie heißt Grimm und wegen einem Herzfehler sind ihre Pfoten und ihre Nase immer kalt! Sie legt sich oft auf meinen Schoß und ihr Fell ist ganz flauschig und wenn sie mich ansieht, weiß ich, sie versteht mich!“
Am Ende konnte ich kaum noch sprechen, weil die Tränen mit aller Gewalt zurückkamen und meine Kehle zuschnürten. All diese albernen, alltäglichen Erinnerungen taten so weh, weil ich nicht wusste, wie ich dorthin zurückkommen konnte, ob ich überhaupt zurückkommen konnte…
„Wenn du wirklich nicht Diego bist, beweis es“, verlangte Tad und ich konnte den Unterton in seiner Stimme nicht einordnen. Dachte er, das alles wäre nur Show und er wollte sich nur nicht blamieren oder zweifelte er, ob ich nicht doch die Wahrheit sagte?
„Wie?“, wollte ich von ihm wissen, fest entschlossen, ihn zu überzeugen. Grob wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, doch es war immer noch alles feucht und meine Augen waren sicher aufgequollen. Wer würde sich selbst so demütigen, nur um jemand anderen reinzulegen? Allein wenn man logisch dachte, konnte das doch schon kein Scherz sein!
Kurz überlegte Tad und schlug dann etwas ratlos vor: „Hast du irgendwelche Talente, die du zeigen könntest? Sachen die Diego nicht kann?“ Der war gut! Woher sollte ich denn wissen, was Diego konnte und was nicht?! Und was hatte ich überhaupt wirklich für Talente?
Eine Weile standen wir uns nur gegenüber und ich war mir bewusst, dass jede Sekunde, die ich zögerte, Tad darin bestärkte, dass Diegos Humor einfach nur hinüber war.
„Kann Diego zeichnen?“, wollte ich schließlich vorsichtig wissen. Das war das einzige, wirkliche Talent, das ich hatte, wenn dieser Diego eine Art Picasso war, hatte ich keine Chance Tad zu beweisen, dass ich nicht er war, abgesehen davon, dass sich meine Bilder natürlich nicht mit einem Picasso vergleichen ließen.
„Nein, er war eher der Sportliche“, man konnte es Tad ansehen, wie merkwürdig er es fand, über jemanden in der dritten Person zu sprechen, der direkt vor ihm stand, zumindest auf den ersten Blick.
„Hast du einen Stift und Papier?“, fragte ich mit neuer Hoffnung. „Ja, ja“, bestätigte er mit einem leicht nachdenklichen Nicken: „Aber geht das mit deiner Schulter?“ „Ich bin Linkshändlerin“, klärte ich ihn auf und winkte wie zum Beweis mit meiner Hand, was bestimmt total affig aussah. „Ach so…“, meinte er nur und es war klar, dass ihm gar nichts klar war. Da wären wir schon zu zweit.
Gemeinsam gingen wir wieder zurück und setzten uns auf ein trostloses Bett mit grauer Bettwäsche und Metallgestänge. Hier war ziemlich viel grau oder lag das nur an dem blauen Licht? Schweigend reichte mir Tad einen karierten Block und einen angekauten Bleistift. Ich knabberte auch oft an meinen Stiften.
„Danke“, sagte ich und auf meinen Lippen lag sogar ein kleines, ehrliches Lächeln. Voll in meinem Element schlug ich die Seite, die mit komplizierten chemischen Formeln und verwirrenden mathematischen Gleichungen vollgekrakelt war, um und setzte mich gleich ans Werk. Ich rief mir jedes Detail meines Gesichts vor Auge, dachte an all die Fotos auf meinem Handy und die skeptischen Blicke in den Spiegel.
Was würde ich jetzt dafür geben, um in den Spiegel zu sehen und mich selbst zu erblicken!
Strich um Strich entstand mein Gesicht und damit es nicht so leblos aussah, gab ich mir ein kleines Lächeln, das irgendwie traurig wirkte. Während ich malte, versank ich vollkommen in meiner Welt und ich vergaß fast, dass die Hand, die den Stift führte, nicht wirklich mir gehörte. Zu zeichnen war einfach so natürlich und absolut selbstverständlich für mich. Die Kunst war ein Teil von mir und scheinbar konnte nicht einmal ein Körpertausch mir das wegnehmen.
Zufrieden legte ich den Stift weg und betrachtete mein Selbstporträt. Nicht gerade das Beste, das ich zustande gebracht hatte, aber dafür, dass es so schnell und spontan gewesen war, allemal eine Leistung. Außerdem war es eine schöne Erinnerung. Mehr war mir ja auch nicht geblieben…
„Glaubst du mir jetzt?“, wandte ich mich mit fordernd hochgezogenen Augenbrauen an Tad. Völlig baff starrte er immer noch meine Zeichnung an. Ob er wohl die ganze Zeit so auf mein Werk geglotzt hatte? So großes Interesse hatte noch niemand an meiner Kunst gezeigt… Allerdings hatte es auch noch nie davon abgehangen, ob die Grenzen der Logik überschritten wurden, denn diese Situation war vieles, aber logisch auf keinen Fall.
„Denkst du Diego ist jetzt in meinem Körper? Ist das vielleicht so ein verdrehter Tausch, bei dem man irgend so eine Lektion lernen muss? Oder hat das womöglich etwas mit Seelenverwandtschaft zu tun? Oder Wiedergeburt? Ähnlich wie bei einer Katze, die haben ja auch sieben Leben!“, sprudelten die Theorien nur so aus mir raus.
„Seelenverwandtschaft und Wiedergeburten gibt es nicht, das ist schon allein logisch unmöglich. Außerdem ist eine ausgerenkte Schulter nicht tödlich“, nachdenklich schüttelte er den Kopf: „Der Tausch von zwei Körpern ist auch nicht möglich. Außer…“ Auf einmal hellte sich sein Gesicht auf und man konnte ihm geradezu ansehen, wie sich in seinem Kopf alle Puzzleteile zusammensetzten.
„Außer was?“, drängte ich ihn dazu, seinen Geistesblitz mit mir zu teilen.
„Die anderen haben nicht genau erzählt, was draußen passiert ist. Ich dachte du… er… na du weißt schon, wäre einfach nur bei irgendeiner albernen Mutprobe oder so gestürzt. Aber vielleicht waren auch Quallen da! Ein Quallenkuss! Aber umgekehrt! Von sowas habe ich noch nie gehört! Diese Reaktion ist einmalig! Vielleicht eine Wechselwirkung mit dem Fluoreszenz-Gen! Wir müssen das untersuchen! Das könnte der Durchbruch sein!“, Tad war total überwältigt und voll in seinem Gebiet, nur war ich leider meilenweit davon entfernt, etwas davon zu verstehen.
Quallen? Küsse? Flur-Essenz-Gen? Häh?!
Ernst legte ich ihm die Hand auf den Arm und holte ihn aus seinem Erkenntnis-Gedankenstrudel zurück: „Tad, wovon redest du?“ „Ich glaube du hattest einen Quallenkuss, also du als du. Und dann hatte Diego jetzt auch einen, aber dabei wurdest du zufällig auf ihn übertragen. Und weil das menschliche Gehirn nicht genug Kapazitäten hat, hast du ihn quasi überspeichert“, versuchte er es mir immer noch so aufgedreht zu erklären, aber das machte es nicht besser.
Was er da laberte, ergab überhaupt keinen Sinn! Mehr noch, es klang wie das Geschwafel eines Verrückten! Oh mein Gott!
„Tad? Die Infusion, dieser Raum… Sind wir in einem Krankenhaus? Kann es sein… dass sie sich hier um… unseren geistigen Zustand kümmern?“, erkundigte ich mich so einfühlsam wie möglich, ob wir in der Klapse waren. Die Frage war nur, ob ich von ihm wirklich eine verlässliche Antwort erwarten konnte.
Welcher Verrückte gestand sich seinen Wahnsinn schon ein? Hatte ich damit nicht sogar schon das Kriterium erfüllt, um nicht verrückt zu sein, indem ich eben das in Erwägung zog? Ich fühlte mich gar nicht verrückt! Meine Gedanken waren ganz klar! Allerdings dachte ich, ich wäre ein behindertes Mädchen und dieser Körper zeichnete eindeutig eine andere Realität.
Vielleicht war mein bisheriges Leben ja ein Trugbild gewesen, in das ich mich geflüchtet hatte! Nur warum hatte ich mir dann nicht ein paar Freunde ausgedacht oder wenigstens funktionierende Beine?
Bevor ich meinen eigenen potenziellen Wahnsinn weiter analysieren konnte, ergriff mein Mitstreiter wieder das Wort und zwar ziemlich baff: „Du denkst ich bin verrückt?!“ „So hätte ich das jetzt nicht ausgedrückt. Und es ist ja auch nicht so schlimm. Ich finde dich trotzdem sehr nett und sich sowas auszudenken, ist echt intelligent. Ich wäre nie auf sowas gekommen. Aber Erkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung!“, versuchte ich es positiv zu sehen, nicht nur für Tad, auch für mich. So eine Erkenntnis war schon hart.
„Elvira - Elli. Ich bin nicht verrückt“, bestritt er sanft aber echt überzeugt: „Und ich glaube, du bist es auch nicht. Du bist ein Wunder. Aber ich kann verstehen, dass dich das alles verwirrt.“ Ich sollte ein Wunder sein? In meinem ganzen Leben war ich nichts anderes gewesen als verkorkst, im besten Fall noch wunderlich.
Vollkommen ernsthaft schaute er mich an und seine Wimpern waren wirklich perfekt. Warum hatten Typen eigentlich immer so hübsche Wimpern, ohne sich irgendwie darum zu kümmern und bei Mädchen, die sich so viel Mühe gaben, standen sie ab wie Kraut und Rüben? Unfair!
„Was weißt du über Quallen?“, fragte mich Tad immer noch mit diesem verständnisvollen aber sachlichen Blick. Wollte er jetzt mein Allgemeinwissen testen? Wir waren doch nicht in der Schule!
Doch obwohl ich beim besten Willen nicht verstand, worauf er hinaus wollte, konnte ich sehen, dass es ihm wichtig war und ich nahm mir ein Herz: „Quallen haben Tentakel, die können auch giftig sein. Sie leben im Meer und können sich selbst bewegen, aber ich glaube, sie benutzen auch viel so Meeresströmungen. Und…“ „Nein“, unterbrach er mich ruhig: „Ich meine Geisterquallen.“
„Geisterquallen?“, wiederholte ich skeptisch: „Noch nie davon gehört.“ Und da wären wir wieder beim Thema Wahnsinn.
Tief holte Tad Luft und fing an, mir seine Welt zu schildern: „Die Geisterquallen wurden noch vor dem großen Krieg erfunden. Wie genau das möglich war, kann niemand mehr sagen, die Aufzeichnungen wurden vernichtet. Aber es ist klar, wofür sie entwickelt wurden: Unsterblichkeit. Forscher haben lange versucht den menschlichen Körper zu verbessern und ein höheres Alter zu ermöglichen, doch es gibt Grenzen. Jedoch nicht für unseren Verstand. Die Geisterquallen sollten als Speicher dienen. In ihnen sollten die Gehirnfunktionen und damit quasi das gesamte Wesen eines Menschen so lange erhalten bleiben, bis es der Forschung irgendwann auch möglich war, die menschlichen Körper unbeschränkt haltbar zu machen. Sie wurden als die Erfindung des Jahrtausends gefeiert, das Tor zur Ewigkeit. Doch sie gerieten außer Kontrolle und fingen an, wahllos Menschen den Gehirnspeicher zu entziehen. Wir nennen so etwas einen Quallenkuss. Danach bleiben nur sehr wenige Gehirnfunktionen erhalten. Mit Hilfe können solche Menschen zwar überleben, aber… sie sind nicht mehr wirklich da. An den Quallen konnten bisher keine Forschungen durchgeführt werden, aber wir gehen davon aus, dass die entzogenen Gehirnfunktionen immer noch in den Quallen gespeichert sind. Genau das könnte bei dir passiert sein. Du könntest noch vor dem großen Krieg in einer Qualle gespeichert und jetzt auf Diego übertragen worden sein.“
Einen Moment dachte ich einfach nur darüber nach. Erfindung, die nach hinten losging. Krieg… So unwahrscheinlich war das gar nicht, die Geschichte hatte da ja einige Beispiele zu bieten.
Aber wenn das alles wirklich stimmte… Der Gedanke trieb mir wieder Tränen in die Augen. Warum musste ich so eine verdammte Heulsuse sein?! „Was ist los?“, fürsorglich legte mir Tad die Hand auf den Arm. Von der Euphorie meines Wunder-Quallenkusses war nichts mehr zu sehen. Er schien sich wirklich Sorgen um mich zu machen, nicht als Problem, das man lösen musste, wie es die Forscher und Ärzte so oft taten, sondern als Mensch.
Krampfhaft schluckte ich, doch meine Stimme zitterte trotzdem: „Wenn ich wirklich so lange eine Qualle war… Heißt das… Heißt das… ich bin… tot?“ Es laut auszusprechen war wie eine grauenvolle Bestätigung. Dadurch wurde es so schrecklich real und ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
„Schhh. Es ist alles in Ordnung“, tröstend legte Tad seinen Arm um mich und zog mich sanft zu sich. Schluchzend vergrub ich mein Gesicht an seiner etwas knochigen Schulter. Wenn es noch eine leise Hoffnung gäbe, hätte er es gesagt, diese Umarmung war mein bitteres Todesurteil.
Na ja, streng genommen war ich ja schon längst gestorben und ich hatte es nicht einmal gemerkt! Und jetzt lebte ich als Parasit im Körper eines anderen!
„Elli“, sagte Tad ganz sanft: „Du bist mehr als nur dein Körper. Du bist nicht tot. Das hier ist deine zweite Chance.“ „Aber meine Familie“, krächzte ich und mein Körper verkrampfte sich bei all den erstickenden Tränen.
Ich würde sie nie wieder sehen! Ich konnte mich von ihnen ja nicht einmal verabschieden! Mein Zuhause! Grimm! Alles war weg! Jeder und alles was ich gekannt hatte, einfach weg… Und ich war hier…
„Ich sollte nicht hier sein“, brachte ich irgendwie hervor. „Nein! Elli! Hör mir zu“, erwiderte Tad entschlossen und hielt mich dabei immer noch so tröstend in den Armen: „Du bist eine neue Hoffnung. Noch nie haben die Quallen jemanden freigegeben. Aber wenn es bei dir ging, geht es auch bei anderen! Das ist ein gewaltiger Durchbruch! Wir müssen Tests machen und alles ge…“ „Nein“, unterbrach ich ihn rau mitten im Satz und rückte ein Stück von ihm ab.
Überrumpelt sah er mich an. Schniefend zog ich die Nase hoch und hefteten den Blick in die Dunkelheit. Diegos Stimme klang immer noch ziemlich kläglich, als ich sie für eine Erklärung gebrauchte: „Weißt du, ich konnte nicht gehen, ich war gelähmt und keiner wusste genau warum. Also haben sie Test gemacht, immer und immer wieder. Ich weiß, dass meine Eltern nur das Beste für mich wollten, aber das war es nicht. Ständig hatte ich Untersuchungen und Therapien und… ich hab mich kaputt gefühlt, wie etwas, das in Ordnung gebracht werden muss… Das kann ich nicht noch einmal durchmachen! Sinnlose Forschung für nichts und wieder nichts! Wie eine Ratte im Hamsterrad! Du hast gesagt, das hier wäre meine zweite Chance… Ich will kein Wissenschaftsprojekt sein. Ich will leben.“
Auch wenn ich Angst davor hatte, was ich sehen könnte, zwang ich meinen Blick zurück und schaute ihm ganz tief in die Augen. So offen hatte ich noch nie mit jemandem geredet…
Nachdenklich schwieg er. Dabei wirkte er kein bisschen wütend oder verurteilend oder mitleidig, einfach nur nachdenklich. Was ging gerade in seinem Kopf vor?
Unruhig griff ich nach meinen Haaren, um eine Strähne nervös um meine Finger zu zwirbeln, wie ich es so oft tat, doch da war nichts. In seinem Körper zu sein, fühlte sich immer noch so falsch und fremd an, auch wenn er so natürlich meine Bewegungen umsetzte.
„Du willst dich also als Diego ausgeben“, fasste Tad schließlich zusammen. Langsam nickte ich. Das klang irgendwie verboten und feige. Schuldbewusst senkte ich meinen Blick auf diese Hände, die nicht wirklich mir waren.
Ich hätte damals zu all den Forschungen nein sagen sollen, ich hätte mein Leben leben sollen. Doch jetzt war diese Entscheidung egoistisch und kalt. Wenn ich wirklich dafür sorgen konnte, dass auch andere Menschen zurückkamen und nicht länger in diesen dubiosen Quallen gefangen waren, war es dann nicht meine Pflicht es zu tun? Mein Leben und meine Wünsche waren so klein und unwichtig im Vergleich dazu.
Aber wenn ich nur daran dachte, wieder all das durchzumachen… Alles in mir wehrte sich dagegen. Jahrelang hatte ich mich da durchgekämpft, doch irgendwann ging es einfach nicht mehr. Und gerade… Eben hatte ich erfahren, dass mein Körper tot war, genau wie alle die ich liebte, dass ich in irgendeiner verrückten Zukunft mit blutrünstigen Gedankenquallen lebte und dass ich im Körper eines Jungen steckte. Und dann sollte ich auch noch das bisschen, was von meinem Leben übrig geblieben war, quasi aufgeben.
In meinem Inneren brodelte eine toxische Mischung an Gefühlen, die mich regelrecht zerfraß und ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte! Mein Verstand war beim ersten Punkt noch nicht einmal richtig mitgekommen und hatte viel zu viel zu verarbeiten und wenn ich auf mein Herz hörte, fühlte sich jede Entscheidung gleich falsch an! Selbst zu atmen fühlte sich irgendwie falsch an!
Bei meinem kochenden Gefühlscocktail trat eindeutig wieder Verzweiflung in den Vordergrund. Ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals so abgrundtief schlecht gefühlt zu haben.
Gefasst fing Tad wieder an zu sprechen und die überlegte Ruhe in seiner Stimme ließ auch das Chaos in meinem Inneren wenigstens ein kleines bisschen abflauen: „Du hast viel durchgemacht und ich will dich zu nichts drängen, aber was hältst du davon, wenn ich die Tests mache? Diego ist sowieso wegen seiner speziellen Genmutation hier und ständig wird irgendwas getestet. Ein paar Untersuchungen würden nicht auffallen. Aber du würdest nicht rund um die Uhr unter Beobachtung stehen. Du könntest immer noch leben, auch wenn diese Anlage vielleicht nicht der schönste Ort dafür ist. Ich würde dir auch helfen, mehr wie Diego zu wirken. Das könnte unser kleines Geheimnis sein.“
Überrascht schaute ich ihn an. Er kannte mich erst ein paar Minuten und war schon bereit für mich alle hier anzulügen. Mir fehlten die Worte!
„Ich weiß, ich bin nicht gerade ein Spitzenforscher, dem man sich gerne anvertraut, aber…“, deutete er mein Schweigen völlig falsch. Dieser minderwertige Ausdruck in seinen Augen…
Entscheiden fiel ich ihm ins Wort: „Nein! Nein! Nein! Daran liegt es nicht! Ich hab nur gezögert, weil ich von deinem Vorschlag so überwältigt war! Das ist der Hammer!“
Unsicher blinzelte er, als wäre er sich nicht sicher, ob das wirklich mein Ernst war. Kurz drückte ich ihn fest an mich, mal wieder unter stechendem Protest meiner Schulter und als ich ihn danach direkt ansah, fügte ich immer noch total dankbar hinzu: „Ich bin so unglaublich froh, dass du mir hilfst. Alleine könnte ich das nie schaffen!“
„Meinst du das echt so?“, ein Hauch Verletzlichkeit lag in seinem Blick. Wer hatte ihm nur den Glauben genommen, etwas richtig machen zu können? Dem würde ich gerne mit meinem neuen muskelbepackten Körper ordentlich die Fresse polieren!
„Tad. Wenn ich schon ein Junge in einer Science-Fiction-Welt sein muss, dann will ich dich an meiner Seite haben. Glaub mir, ich hatte schon mit sehr vielen Ärzten und Wissenschaftlern und so Heinis zu tun und du bist eine echte Verbesserung. Wenn ich durch diesen Wahnsinn muss, dann mit dir“, stellte ich voller Überzeugung klar und in mein Gesicht hatte sich wie von selbst ein warmes Lächeln geschlichen.
Ich konnte sehen, dass ihn meine Worte wirklich berührt hatten und das war ein schönes Gefühl.
„Also haben wir einen Deal? Du hilfst mir bei der Quallenforschung, ich helfe dir beim Leben“, ganz offiziell hielt er mir seine Hand hin. „Hast du mir nicht zugehört? Natürlich haben wir diesen Deal!“, und mit diesen Worten schlug ich ein.
„Als erstes will ich mehr über diesen Ort erfahren. Und über die Zeit. Wie ist es so? Gibt es Raumschiffe und Teleportation und Kolonien auf dem Mars? Sind wir vielleicht sogar auf einem anderen Planeten?“, so ein bisschen aufregend war das ja schon und wenn ich mein Gehirn mit genug Information vollstopfte, dachte ich vielleicht nicht so viel an die ziemlich gravierende Schattenseite, die das alles hier hatte.
Ein kleines, liebes Lächeln lag auf seinem Gesicht und ich würde fast sagen, er war amüsiert. Mit seiner ruhigen Stimme fing er an zu erzählen: „Erst einmal muss ich dich enttäuschen. Es gibt keine Raumschiffe, keine Teleportation und nicht einmal eine Landung auf dem Mars. Das hier ist immer noch ganz normal die Erde. Allerdings hat der große Krieg viel verändert. Viel wurde unwiderruflich zerstört und der Wiederaufbau dauerte sehr lange. Über diese Zeit gibt es bei heute keine verlässlichen Quellen. Zumindest wissen wir, dass die geopolitischen Konflikte wegen der Verdunstung der Meere dafür…“
„Die Meere sind verdunstet?!“, unterbrach ich ihn ungläubig. Die Erde war doch immer der blaue Planet gewesen mit mehr Wasser als Landmasse! Wie konnte das verdunsten?! „Ja, aber das Wasser ist nicht wirklich weg. Es hat quasi eine neue Schicht in unserer Atmosphäre gebildet. Eine Zeitlang gab es eine üble Wasserknappheit, doch mittlerweile haben wir Apparate zur Kondensation und es ist kein Problem mehr an das Wasser ranzukommen. Dafür gibt es hier unten allerdings keine wirkliche Sonne mehr. Ihre Strahlen dringen kaum durch die gewaltige Masse Wasserdampf. Am Himmel gibt es verschiedene chemische Reaktionen, die zu einem Leuchten führen, lange nicht so hell wie die Sonne. Ansonsten wird das meiste Licht künstlich von uns erzeugt. Wir imitieren damit den Tagesrhythmus von hell-dunkel, für die biologische Uhr und natürlich die Landwirtschaft“, klärte Tad mich locker auf.
Eine Welt ohne Sonne, dieses Leben wurde ja immer reizvoller.
„Und dieser Ort? Du hast gesagt hier wäre ein Labor. Was genau forscht ihr hier? Genmutationen?“, versuchte ich so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Von Genmutationen hatte er doch etwas erwähnt, oder?
„Nicht direkt. Wir sind Teil der EQTF“, fing er begeistert an und ich verstand nur Bahnhof. Écouter? War das nicht französisch für zuhören? Und was hatte dieses F verloren? Das ergab doch keinen Sinn!
„Das ist die Abkürzung für Einrichtungen für quallentechnische Forschung. Weil die Meere verdunstet sind, ist auch ein großer Lebensraum nicht mehr existent, der natürliche Lebensraum der Quallen. Hier haben wir einige Exemplare. Wir hoffen dadurch vielleicht Rückschlüsse auf ihre gefährlichen Verwandte ziehen zu können. Meine Eltern sind hier als Forscher“, bei dem letzten Satz trübte sich der Glanz in seinen Augen.
Seine Eltern waren wohl ein heikles Thema für ihn. Lieber schnell das Gespräch in eine andere Richtung lenken: „Sind hier nur Forscher? Oder gibt es vielleicht noch mehr in unserem Alter?“
„Die meisten sind schon Forscher. Aber wir haben noch Haushälter, die hier quasi alles am Laufen halten und ein kleines Ärzteteam, das allerdings auch viel in der Forschung mit involviert ist. Alles in allem sind wir nicht besonders viele. Und etwa in unserem Alter sind wir zu sechst: Da gibt es Nola und ihren kleinen Bruder Ric, ihre Mutter ist Handwerkerin und kümmert sich um die Anlagen und ihr Vater Koch. Nola kann auch gut kochen, Ric ist eher zurückgezogen und nutzt jede Gelegenheit um Videospiele zu spielen. Dich lädt er dabei auch manchmal ein. Nur als Vorwarnung. Oh! Und vor Merle sollte ich dich wahrscheinlich auch warnen. Sie ist deine Freundin, also Diegos Freundin, zumindest meistens und ihre Eltern sind beide Ärzte. Außerdem gibt es noch Tim. Sein Vater ist auch Forscher. Seine Mutter ist tot. Allerdings gibt es Gerüchte, dass sie nur einen Quallenkuss hatte und somit rein faktisch noch am Leben ist, aber für seinen Vater ist das wie tot. Sprich ihn besser nicht darauf an. Er ist meistens sehr reizbar“, lieferte Tad mir eine ziemlich detaillierte Zusammenfassung der Leute, mit denen ich es hier zu tun bekommen würde, nur sah er dabei immer noch ziemlich gezwungen aus und das tat mir leid.
Eigentlich musste ich ja immer noch mehr über diese Personen erfahren, wenn sie nicht sofort Verdacht schöpfen sollten, aber das konnte noch ein bisschen warten. „Zwei wichtige Fragen: Was ist außerhalb des Labors? Und was esst ihr hier so?“, führte ich mein Verhör langsam richtig wissbegierig fort.
Besonders meine zweite Frage hatte gesessen. Schon lockerte sich sein Gesichtsausdruck wieder auf.
Bereitwillig antwortete er mir: „Zuerst das wichtigere: Unser Essensplan ist eigentlich noch echt gut, wenn man ihn mit dem in den Städten vergleicht. Alle 30 Tage bekommen wir eine Lieferung mit Lebensmitteln. Mehl, Öl, Fleisch, Käse, alles was irgendwie aufwändiger in der Herstellung ist. Allerdings bauen wir hier unser eigenes Obst und Gemüse an. Wenn sich der Erntezeitplan unerwartet verschiebt, kann es auch mal Algen und Ergänzungsprodukte geben. Das sind dann Vitamine, Mineral-Verbindungen und solche Sachen. Doch das kommt nur sehr selten vor. Meistens haben wir schon frisches Essen, nur halt saisonweise immer recht eintönig. Aber ich kann mich eigentlich nicht beschweren. Wie gesagt, in den Städten sieht es viel schlimmer aus. Und damit wären wir bei deiner zweiten Frage: Unser Labor liegt etwas abseits. Unsere Forschung ist sehr wichtig und viele Städte haben mit einer hohen Kriminalität zu kämpfen. So ist es sicherer. Außerdem hat sich das Leben größtenteils unter die Erde verlagert, wo man vor den Quallen sicher ist. Überirdisch sieht man die alten Gebäude zerfallen. Da haben wir es hier deutlich schöner. Wenn wir entlassen werden, zeige ich es dir mal: Weit und breit Felsen, Berge und Sand. Mit ein bisschen Glück kann man sogar Fossilien finden. Genau hier war mal ein Ozean.“
Das war sehr viel auf einmal. Zerfallene Städte, Menschen, die wie Maulwürfe in der Erde lebten, ein Labor im ausgetrockneten Meer… Diese Welt wurde nur immer verrückter.
Und ich musste mehr wissen!
„Das ist die Krankenstation, oder?“, machte ich an einer ganz anderen Stelle weiter. „Ja. Hier ist meistens nicht viel los“, mit diesen Worten ließ er seinen Blick durch das unheimliche Halbdunkel schweifen. „Ich bin hier wegen der Schulter“, kombinierte ich ja mal wahnsinnig intelligent: „Aber warum bist du hier?“
Demonstrativ hob er seine linke Hand hoch, die in einen Verband eingewickelt war: „Ich hab mich bei einem Versuch ein bisschen verätzt. Damit hätte ich natürlich auch normal in meinem Zimmer schlafen können, aber ich mag die Ruhe hier.“
„Ich bin wirklich froh, dass du dich verätzt hast“, drückte ich mich einfach fabelhaft aus. Verwirrt sah er mich an. „Ansonsten wäre ich hier ganz alleine gewesen, hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt und wäre entweder das nächste medizinische Wunder geworden oder in die nächste Irrenanstalt gekommen. So oder so kein echtes Leben. Also hast du quasi mein Leben gerettet“, erklärte ich schnell meinen blöden Kommentar und lächelte dabei irgendwie überdreht.
Heute testete ich mich echt eine Runde querbeet durch das Spektrum menschlicher Gefühle. Anstrengend. Und Tad spielte weiter so geduldig meinen Seelenklempner.
Unnachgiebig füllte eine Frage meinen Kopf aus, die zwar nichts mit dieser neuen Welt zu tun hatte, über die ich noch so viel lernen musste, jedoch so dominant war, dass ich sie einfach stellen musste: „Warum hilfst du mir eigentlich?“
Tad hatte nichts davon. Er könnte meinen Zustand auch mit den anderen teilen und dann gemeinsam mit ihnen mich und mein Leben auseinander nehmen. Der einzige logische Grund auf eigene Faust zu forschen wäre der, den Erfolg für sich alleine beanspruchen zu können, doch irgendwie passte das nicht zu ihm.
„Ich weiß, dass die Forschung schnell den Menschen vergisst“, starr richtete er seinen Blick ins Nirgendwo: „Du sollst nicht für potenzielles Wissen vergessen werden.“ Und obwohl er es nicht direkt sagte, war eins bei seinen Worten absolut klar: Er war für die Forschung vergessen worden.
Waren es seine Eltern gewesen? Vor meinen inneren Augen sah ich den kleinen Tad, wie er um die Aufmerksamkeit seiner Eltern kämpfte, doch für Studien und Versuchsreihen stehen gelassen wurde. Seine Gefühle waren wahrscheinlich egal gewesen. Das würde auch erklären, warum er nicht gerne von den Leuten hier redete. Aber ich würde nicht fragen, ob meine Vermutung stimmte, ich wollte ihn mit dieser Nachbohrerei nicht verletzen, denn er war schon oft genug verletzt worden, das stand ihm bitter ins Gesicht geschrieben.
„Danke“, sagte ich ehrlich und drückte ihn an mich, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Dabei war es eigentlich komisch, so vertraut mit ihm umzugehen. Wir kannten uns kaum. Aber obwohl ich jetzt wusste, dass eine völlig durchgedrehte Welt außerhalb dieses bedrückenden Raumes lag, fühlte es sich so an, als wären wir die einzigen Menschen und er würde ja auch der einzige Mensch sein, der wirklich wusste, wer ich war.
Nachdenklich lehnte ich mich an ihn und atmete tief seinen Geruch ein. Fisch und Pfefferminz. Ich hätte echt nicht gedacht, dass ich diese schreckliche Kombi einmal so schön finden würde…
„Du riechst gut“, sprach ich diesen nicht ganz zurechnungsfähigen Gedanken aus Versehen laut aus. Na ja, es war eher ein Murmeln gewesen, jedoch leider immer noch deutlich genug, dass er es verstanden hatte. „Was?“, man hörte das Stirnrunzeln förmlich in seiner Stimme.
„Ähm. Also hier ist alles leer und abweisend. Und du riechst nach etwas. Und ähm das macht es irgendwie lebendiger und öh ich bin froh nicht allein zu sein“, versuchte ich noch irgendetwas zu retten und rückte peinlich berührt von ihm weg.
Ich wusste gar nicht so recht, wo ich hinsehen sollte und meine Wangen röteten sich beschämt. Nein, das war eine ziemliche Untertreibung, ich lief roter an als ein Stoppschild, aber vielleicht sah man das bei den speziellen Lichtverhältnissen und meiner neuen, braunen Haut nicht so krass.
Für einen Moment schwieg er und ich hatte das Gefühl sämtliches Blut meines Körpers würde sich in meinem Kopf sammeln. Diesen Augenblick der Stille hielt ich einfach nicht aus. Irgendetwas musste ich sagen, doch mir wollte zum Verrecken nichts Intelligentes einfallen, also wurde es: „Ich finde, jemand sollte jetzt echt etwas sagen, aber mir fällt nichts ein, und dir?“
Mit dieser Frage hatte er wohl nicht gerechnet. Überrumpelt wanderten seine Augenbrauen nach oben, aber sowas einfach so in die Stille zu plappern, war ja auch etwas seltsam. Kurz räusperte Tad sich und schnitt dann von sich aus ein Thema an, das er offensichtlich lieber ignoriert hätte: „Ich sollte dir wohl ein bisschen was von Diego erzählen.“
Stumm nickte ich nur. „Er ist jetzt etwa zwei Jahre lang bei uns. Er kam allein, ohne Familie. Er… Eigentlich weiß ich nicht so viel über ihn“, brach Tad mittendrin ab. Das würde ja lustig werden, sich mit so wenigen Informationen für Diego auszugeben. Echt spitze.
„Ich lehne mich mal ganz weit auf dem Fenster und vermute, dass er viel Sport treibt, sehr selbstüberzeugt ist und gerne ein bisschen Show macht“, schloss ich aus den paar Wissensbrocken, die ich hatte. „Genau“, bestätigte Tad nickend: „Woher weißt du das?“
„Große Fluktuation bei meinen Zimmergenossen und behandelndem Personal, da lernt man irgendwann Menschen einzuschätzen“, meinte ich mit einem lockeren Schulterzucken. War ja jetzt nichts Besonderes. Und meine Feststellung war definitiv nicht Sherlock Holmes reif. Das war alles ja sehr offensichtlich.
Eigentlich voll fies, wenn ich mir überlegte, dass ich wegen seiner Waghalsigkeit und wahrscheinlich auch Angeberei jetzt die Schmerzen seiner ausgerenkten Schulter hatte! Na ja, um fair zu sein, hatte ich ja auch seine Muskeln bekommen, für die er sicher lange hart trainiert hatte… Und ohne seine dumme Aktion wäre ich jetzt gar nicht erst hier.
Diese Situation war so schräg, das konnte man alles nicht gegeneinander aufwiegen.
„Kannst du dich noch an deinen Quallenkuss erinnern?“, wollte er vorsichtig und ziemlich aus dem nichts von mir wissen. „Quallenkuss klingt voll wie der Kuss der Dementoren. Danach ist man auch hinüber“, warf ich nicht ganz angebracht ein. Verwirrt blickte mich Tad an.
„Natürlich. Ultimative Forschung für die Rettung der Menschheit, klar habt ihr da keine Zeit für Harry Potter“, brabbelte ich irgendwie nervös vor mich hin. Dabei wusste ich nicht einmal wirklich warum! Wenn ich so weiter machte, konnte ich bald eine Doktorarbeit über die Stadien der Peinlichkeit schreiben! Oh man!
Einfühlsam legte Tad mir die Hand auf die Schulter (selbstverständlich die linke, die rechte wäre ja auch eher sadistisch als einfühlsam gewesen) und redete mit ganz weicher Stimme: „Wenn du noch nicht darüber reden willst, ist das vollkommen in Ordnung. Wir haben Zeit, wir können das ganz in Ruhe angehen.“
„Nein, ich…“, setzte ich an, doch ich wusste gar nicht, was ich sagen könnte. Zum ersten Mal dachte ich gezielt an das, was unmittelbar vor meinem Aufwachen passiert war, doch während meine anderen Erinnerungen noch so klar waren, als hätte ich sie gestern erst erlebt, war es hier so, als lägen sie eine Ewigkeit zurück.
Ich konnte spüren, dass da tief unten etwas war oder lag das nur an meiner Überzeugung, dass da etwas sein musste? Was war da gewesen?
Konzentriert tauchte ich in das Meer meiner Erinnerungen und umso weiter ich kam, desto dunkler und ungreifbarer wurde es. Vage konnte ich mich daran erinnern, dass ich krank wurde. Husten, Schweratmigkeit. Meine Kehle schnürte sich zusammen, als wollte sie diese Erinnerung nachspielen. Aber danach verschwamm alles.
Wie hatte mein Gehirn in dieser Qualle landen können? Und wie hatte ich nichts von ihrer Existenz wissen können? Ich hätte es doch mitbekommen, wenn die Erfindung des Jahrtausends gefeiert worden wäre!
Ein schrecklicher Gedanke nahm inmitten dieser trüben Fragen Gestalt an: Was, wenn ich ganze Jahre meines Lebens vergessen hatte und es so grauenerregend gewesen war, dass mein Verstand versuchte mich durch Amnesie selbst zu schützen?
„Ich weiß nicht genau, was passiert ist“, gestand ich mit tonloser Stimme. „Das ist nicht schlimm“, versicherte er mir sofort und rieb tröstend meine Schulter: „Dein Verstand war gerade über Jahrzehnte in einer Qualle und jetzt in einem fremden Körper. Da ist es doch nur logisch, dass du dich erst einmal an alles gewöhnen musst. Das kommt sicher mit der Zeit. Das war jetzt viel auf einmal. Es ist alles in Ordnung und du musst dir keine Sorgen machen. Es muss sich nicht alles sofort klären. Wir machen das schön Schritt für Schritt, einer nach dem anderen. Dafür, dass du noch nicht mal einen Tag hier bist, schlägst du dich schon wirklich gut.“ Tad redete mit solcher Selbstverständlichkeit, als hätte er endlos Erfahrung mit Fällen wie mir, nur dass ich genau wusste, dass es keine Fälle wie mich gab und alle seine lieben Worte im Grunde nur bloße Spekulation waren. Er wusste nicht mehr als ich und so wie ich das sah, sollte ich mir schon Sorgen machen als Teenagerin mit Gedächtnislücken im Körper eines machomäßigen Typen. Nicht zu vergessen die beachtliche Zeitspanne, die ich einfach übersprungen hatte.
Immer wenn ich über diese irre Konstellation nachdachte, war ich mir nicht sicher, ob ich lachen oder weinen sollte. Es wirkte halt wie ein richtig fieser Scherz auf meine Kosten. Aber Tads Gegenwart half mir die Nerven zu behalten. Trotz all dem, was ja auch für ihn eine echte Nummer war, war er so wunderbar gefasst und an seiner unerschütterlichen Ruhe konnte ich mich festhalten.
Seufzend atmete ich aus. „Du hast recht, das war viel auf einmal. Ich glaube, ich will mich eine Weile einfach hinlegen und… einfach hinlegen“, meinte ich ziemlich fertig. Meine Strategie mich mit Wissen abzulenken hatte meinen Kopf ordentlich zum Rumoren gebracht und ich wusste immer noch nicht so recht, wo ich da anfangen sollte.
„Natürlich“, verständnisvoll stand er auf und bot mir seine Hand an: „Ich kann dich gerne wieder stützen. Das erste Mal zu gehen und dann gleich mit Schmerzmitteln intus ist schon eine Herausforderung.“
„Ähm…“, unsicher sah ich zu meinem Bett rüber, nicht weil ich Angst vor der Gehstrecke hatte, na ja, das auch ein bisschen, aber der Hauptgrund war, dass ich da alleine sein würde, zwar nicht viel alleine, aber ein wenig und ein wenig war immer noch zu viel.
„Du musst…“, setzte Tad beruhigend an, doch ich unterbrach ihn mit einem Lächeln, bei dem ich mich ziemlich dumm fühlte: „Können wir die Betten zusammenschieben?“
„Ähm, natürlich“, willigte er mal wieder von meinen seltsamen Stimmungsschwankungen überrumpelt ein.
Immerhin war diese Idee besser als mein erster dummer Gedanke mit ihm in einem Bett schlafen zu wollen. Das wäre wirklich zu weit gegangen.
Etwas schwerfällig standen wir auf und rückten sein Bett an meins. Dabei gab es wirklich schrecklich kreischende Geräusche von sich. Haarsträubend.
Am Ende hatten wir quasi ein Doppelbett. Immer noch komisch, aber irgendwie brauchte ich das gerade. Verlegen und doch seltsam wohlig kuschelte ich mich in meine Decke ein. Nicht so gut wie zu Hause, trotzdem… ganz in Ordnung.
„Also. Gute Nacht“, meinte Tad und es war nicht schwer zu erkennen, dass er sich nicht sicher war, was er von dieser Sache halten sollte. Er griff nach der Leuchtkugel auf dem Nachttisch, wahrscheinlich, um sie irgendwie zu löschen. „Kannst du das Licht bitte anlassen?“, bat ich ihn und klang dabei ganz schön kläglich. „Natürlich“, beugte er sich wieder so unglaublich rücksichtsvoll meinen Wünschen und lehnte sich zurück.
„Gute Nacht“, wünschte ich ihm noch und schloss erschöpft die Augen.
Lange lag ich einfach nur da und ließ mir alles durch den Kopf gehen. Neben mir wurde Tads Atmung ganz gleichmäßig und einmal grummelte er etwas Unverständliches vor sich hin.
Ich beneidete ihn dafür, dass er so schnell einschlafen konnte. Schon früher, als ich noch ich gewesen war, hatte es immer eine Weile gedauert, bis der Schlaf endlich gekommen war und jetzt war mein Inneres so aufgewühlt, dass ich wahrscheinlich gar nicht einschlafen würde.
Mit einem kleinen Seufzen öffnete ich meine Augen wieder und starrte an die Decke, die von Tads blauem Algenlicht nur schemenhaft angeleuchtet wurde. Es fühlte sich seltsam an hier zu sein, gerade kam es mir vor wie ein Traum und es war eine schöne Vorstellung einfach wieder aufwachen zu können, auch wenn ich ganz genau wusste, dass das nicht ging.
Die Panik und die Aufregung und all diese verwirrenden Gefühle waren weg, einfach verblasst. Jetzt war da nur noch so eine Leere, eine ruhige, betäubte Leere. Eigentlich ganz angenehm nach diesem anstrengenden Durcheinander.
Trotzdem war immer noch nicht an Schlaf zu denken. Aber ich konnte hier auch nicht die ganze Zeit nur rumliegen und auf den erlösenden Tagesanbruch warten, dann würde ich ganz sicher noch wahnsinnig werden.
Vorsichtig stützte ich mich auf meinen gesunden Arm auf. Keine Ahnung wonach ich eigentlich Ausschau hielt. Doch als ich es dann sah, wusste ich es: Der Notizblock lag auf Tads Nachttisch und rief förmlich nach mir. Malen hatte mich schon immer entspannt und nach allem was heute Nacht los gewesen war, hatte ich Entspannung wirklich dringend nötig.
Nur wie sollte ich an meine Beruhigungstherapie kommen ohne Tad zu wecken?
Vielleicht kam ich dran, wenn ich mich über ihn lehnte… Aber mit meiner empfindlichen Schulter würde das echt schwer werden und irgendwie wäre es auch verdammt schräg, wenn ich ihm so nahe kam, während er schlief. Das fühlte sich an, als würde ich seine Privatsphäre verletzen.