Wo die Zeit stillsteht - Wilma Müller - E-Book

Wo die Zeit stillsteht E-Book

Wilma Müller

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Beschreibung

Ein pazifistischer Jaguar-Wandler, ein mächtig wütender, abtrünniger Druide aus einer anderen Zeit und ich als Alpendohlen-Wandler ohne Vogelgestalt. Klingt doch nach einem tollen Team. Tja, eher nicht. Rückblickend hätte ich unseren gewalttätigen Kräftestehler wohl lieber in seinem Zeitverließ versauern lassen sollen, doch er war nun mal der Einzige, der mir helfen konnte, meine Flügel und damit auch meine Freiheit zurückzubekommen. Nur würde unser Plan aufgehen, bevor er in seiner Rachgier ein Untier entfesselte und die ganze Welt zerstörte?

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Wilma Müller, geboren 2003, hat gerade ihr duales Studium im Bereich Physiotherapie begonnen. Mit 13 Jahren fing sie an ihre Ideen zu Papier zu bringen und das Schreiben ist aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken. 2019 wurde ihr erster Fantasy-Roman „Aufgelöst – Hinterm Nebel liegt die Wahrheit veröffentlicht. „Wo die Zeit stillsteht“ ist nun der Auftakt ihrer nächsten Trilogie.

Für alle, die manchmal in der Zeit verloren gehen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: 1597

Kapitel 2: 1597

Kapitel 3: 2022

Kapitel 4: 2022

Kapitel 5: 1989

Kapitel 6: 2022

Kapitel 7: 2022

Kapitel 8: 2022

Kapitel 9: 1601

Kapitel 10: 2022

Kapitel 11: 2022

Kapitel 12: 2022

Kapitel 13: 2022

Kapitel 14: 1603

Kapitel 15: 2022

Kapitel 16: 2022

Kapitel 17: 2022

Kapitel 18: 2022

Kapitel 19: 2022

Kapitel 20: 1603

Kapitel 21: 2022

Kapitel 22: 2022

Kapitel 23: 2022

Kapitel 24: 2022

Kapitel 25: 2022

Kapitel 26: 2022

Kapitel 27: 2022

Kapitel 28: 2022

Kapitel 29: 2022

Kapitel 30: 2022

Kapitel 31: 2022

Kapitel 32: 2022

Kapitel 33: 2022

Kapitel 34: 2022

Kapitel 35: 1874

Kapitel 36: 2022

Kapitel 37: 2022

Kapitel 38: 2022

Kapitel 39: 2022

Kapitel 40: 2022

Kapitel 41: 2020

Kapitel 42: 2020

Kapitel 43: 2020

Kapitel 44: 2020

Kapitel 45: 2020

Epilog

Kapitel 1

1597

Panik lag in der Luft. Ich konnte es in ihren hektischen Bewegungen sehen, hörte es am gehetzten Klang ihrer Stimmen, die der Wind mir zutrug. Blutrot ging die Sonne zwischen den rauen Berghängen unter und untermalte mit ihrem rötlichen Licht dramatisch das bedrohliche Gefühl von Gefahr.

Neugierig legte ich meinen Kopf schief. Was war da wohl los?

Vielleicht hatte eine von ihnen ja wieder einen Felsrutsch vorausgesehen. Oh ja, das wäre schön! Ich erinnerte mich noch gut an den letzten. Einfach klasse. Ein halber Tag Hinflug, Mithilfe bei der Evakuierung, aus sicherer Entfernung beobachten wie die Höhle dann wirklich von einer Steinlawine verschüttet wurde und Hilfe bei der Bergung. Was für ein Spaß! Endlich konnte ich mal meine Flügel ausstrecken und meine Füße vertreten, einfach mal rauskommen.

Schon klar. Es war eine große Tragödie gewesen, ein Menschenleben hatte dran glauben müssen. Heul.

Von jemandem, den sie seit geschlagenen drei Jahren in einem Käfig eingesperrt als Botenvogel hielten, konnten diese arroganten Druiden kein Mitgefühl erwarten. Wie ich ihre „wir sind die von der Magie Auserwählten“-Mentalität hasste! Hexen, alle miteinander, die am besten auf den Scheiterhaufen verbrannt wären.

Außerdem würde jede gutherzige Geste meinerseits nur als besonders erfolgreiche Zähmung angesehen werden. Pah! Sie konnten mich vielleicht einsperren und mich zu Botengängen zwingen, aber zähmen würden sie mich niemals!

Margret kam auf mich zugelaufen. Sie hatte es so eilig, dass sie fast über ihre eigenen Füße stolperte und ihr runzliges Gesicht war vor Anstrengung ganz rot. Ich hatte die Alte noch nie so schnell rennen gesehen. Das musste ja etwas ganz Wichtiges sein.

Atemlos blieb sie vor meinem Käfig stehen. In ihren vom Alter gekrümmten Fingern hielt sie den Schlüssel zu meinem kleinen Gefängnis. Sah ganz so aus, als würde ich wieder für kurze Zeit die Flatter machen können.

Nur der Ausdruck in ihren Augen beunruhigte mich ein kleinwenig. Diese Angst… Das war mehr als nur die Sorge um das Leben anderer. Es war unmittelbare Angst, die reine Angst um das eigene Leben, das eigene Zuhause.

Zog etwa ein heftiger Sturm auf? Aber ich konnte im Flug der freien Vögel keine Auffälligkeiten sehen. Und wenn wir noch so viel Zeit hatten, ergab diese Panik keinen Sinn.

Warum sagte sie es mir nicht endlich?! Ich war es leid zu raten! Und wenn es so dringend war, dass die anderen halb wahnsinnig vor Angst in der Gegend rumliefen, war doch wohl kaum die Zeit für spannungsaufbauende Pausen!

Da ich in meiner Gestalt als Alpendohle schlecht was sagen konnte, schlug ich einfach nur einmal kräftig mit meinen Flügeln. Diese energische Bewegung riss ihren Blick wieder von dem unbestimmten Grauen los und sie sah mich direkt an.

„Hitoshi kommt“, ihre Stimme klang ganz tonlos. Zitternd nahm sie Luft: „Flieg sofort zu den Wächtern. Er will das Untier entfesseln.“

Was?! Hitoshi?! Der Hitoshi?! Und ein Untier?! Wer kam auf die Idee alleine ein Untier zu befreien?! Das war Selbstmord! Und alle anderen in der Nähe würde er gleich mit in den Tod reißen! Und wenn ich eine Botschaft überbringen sollte, wäre ich in der Nähe!

Nein! Kam nicht infrage! Ich war doch nicht lebensmüde!

Mit einer tödlichen Entschlossenheit steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Leise knarzend öffnete sie die Tür des Käfigs und zum aller ersten Mal machte ich keinerlei Anstalten mich von der Stelle zu bewegen. Denn dieses Mal wartete auf mich nicht ein Hauch Freiheit sondern der Tod. Auch wenn manche den Tod als absolute, endgültige Freiheit ansahen, ich wollte in nächster Zeit definitiv noch nicht so weit gehen.

„Überbring die Botschaft!“, befahl mir Margret mit einer Härte, die ihre fast farblosen Augen steinern wirken ließ. Sofort spürte ich dieses verzehrende Brennen in meinen Flügelspitzen und sie bewegten sich gegen meinen Willen. Es tat so weh! Ich konnte nicht dagegen ankämpfen! Meine Gedanken verloren sich in dem flammenden Schmerz.

Scheiße! Einen letzten hasserfüllten Blick warf ich der alten Druidin zu, dann gab ich meinen Widerstand auf und aus den verkrampften, gezwungenen Flügelschlägen wurde ein flinker Start.

Schnell gewann ich an Höhe und profitierte dabei auch von ein paar netten Aufwinden. Den Wind im Gefieder zu spüren war wirklich ein unglaublich schönes Gefühl. Und von der kleinen Machtdemonstration eben spürte ich nur noch ein leichtes Kribbeln. Doch ich wusste, sobald ich vom Weg abwich, würde mich ihr Willen wieder zurückzwingen.

Wie ich sie hasste!

Aber vielleicht könnte ich aus der Situation ja doch meinen Vorteil schöpfen… Sonst war Margret immer sehr penibel, was die Formulierung meiner Aufträge anging. Sie legte insgesamt einen großen Wert auf Gründlichkeit und Ordentlichkeit, allerdings hatte das bei mir auch damit zu tun, dass ich schon einmal ein Hintertürchen in einem Befehl gefunden hatte und damit hatte ich mir dann auch den Käfig eingebrockt. Nicht dass sie mir vorher sonderlich viele Freiheiten gewährt hätten.

Und jetzt war sie durch die angespannte, panische Situation unaufmerksam gewesen. Daran, dass ich die Botschaft sofort überbringen musste, war nichts zu rütteln und ihr Wille würde mir auch nachjagen wie der Teufel der armen Seele. Meine Chance lag in dem, was danach kam. Das hatte sie nicht genau festgelegt.

Ich könnte die Warnung ganz schnell verkünden und dann sofort die Fliege machen. Mit ein bisschen Glück wäre ich längst wieder weg, bevor Hitoshi aufkreuzte und mit noch mehr Glück würde ich dank ihm, nach meinem ausgiebigen, entspannten Rückflug nur noch eine Ruine vorfinden, ohne irgendwen, der mich beherrschen konnte.

Nach so langer Zeit endlich wieder wahre Freiheit…

Dieser Gedanke trieb mich dazu an schneller zu fliegen. Flink schlug ich mit meinen Flügeln und vollführte eine kunstvolle Drehung in der Luft. Wie ein Pfeil jagte ich nach unten, knapp an den mit Flechten bewachsenen Felsen vorbei.

Klar rauschte ein Gebirgsbach durch die schmale Schlucht. Ich flog so tief, dass ich seine spritzenden Wassertropfen auf meinen Federn spüren konnte. Es gab nichts Schöneres als fliegen! Jede kleine Veränderung der Luft konnte ich spüren, ich konnte mit ihr spielen.

Frech stieg ich wieder aus der Schlucht auf und ließ mich für einen Augenblick einfach mit ausgestreckten Flügeln durch den Himmel gleiten. Der Wind trug mich. Nichts hielt mich. Ausgelassen veränderte ich ein kleinwenig meine Position und schon drehte ich ab und der Wind fing mich wieder auf. Es war wie ein Spiel und ich war ein Meister.

Ich genoss es, dieses Gefühl der Weite, der Freiheit und für einen winzigen Moment konnte ich wirklich glauben, der Wind würde mich überallhin tragen. Doch ich konnte mir meinen Weg nicht aussuchen und ich durfte auch keine Zeit verschwenden.

Was ich streng genommen auch nicht tat. Nach so schnellen, aktiven Flugmanövern war ein bisschen lockeres Gleiten sehr entspannend und half Kräfte zu tanken für die weitere Strecke. Und es lag noch ein gutes Stück vor mir, ich musste aufpassen, dass ich mich vor Euphorie nicht total verausgabte.

Aber es war einfach so schön, wieder ich selbst sein zu können. Wofür hatte man denn Flügel, wenn man nur in einem Käfig saß? Ich war wild und ich würde immer wild bleiben.

Die Sonne verschwand hinter den gezackten Gipfeln. Pfeilschnell zischte ich senkrecht nach oben und erhaschte noch die letzten Sonnenstrahlen. Und in diesem Augenblick fühlte es sich an, als würde die Sonne nur für mich scheinen.

Wäre ich ein Mensch, hätte ich jetzt überlegen gegrinst, mit meinem Schnabel ging das allerdings weniger. Also machte ich nur ein triumphierendes Manöver und flog immer weiter geradewegs in Richtung Wächter.

Geographisch kannte ich mich besser aus als die meisten. Als Bote war das immerhin eine Grundvoraussetzung. Das komplette erste Jahr meiner Gefangenschaft hatten sie mich gezwungen alles zu lernen. Jeder Höhenzug, jedes Tal, jede Siedlung. Ich hatte alles im Kopf. Ich kannte sogar die Niederlassungen weit in den Ebenen, allerdings hatte bis dorthin noch nie ein Ausflug angestanden.

Auch jetzt noch prüften meine gewissenhaften Kerkermeister in regelmäßigen Abständen meine Kenntnisse. Einmal hatte ich mir einen Spaß erlaubt und hatte bei einer solchen Prüfung gescherzt. Nicht empfehlenswert.

Doch es gab wahrscheinlich niemanden, der sich hier so gut auskannte wie ich. Der Himmel wurde immer dunkler und ich musste mich auf mein Gefühl und meine Erfahrung verlassen. Wenigstens gab es in diesen Höhen keine nächtlichen Jäger.

Das war das Wunderbare daran, an einem so rauen und einsamen Ort zu leben, der Himmel gehörte einem allein.

Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich früher hier gelebt hatte. Eine ganz normale Alpendohle. Vielleicht ein bisschen verwegener und frecher als die meisten, aber immer noch ein Mitglied des Schwarms. Jetzt hatte ich niemanden mehr…

Kalt wehte der Wind und ich lenkte dagegen. Diesen Moment sollte ich genießen und nicht in Selbstmitleid und Trauer versinken. Dafür hatte ich auch noch genug Zeit, wenn sie mich wieder wegsperrten.

Einfach weil ich es konnte, flog ich einen Salto und drehte mich bis die Felsen und der Himmel zu einem verschmolzen. Dieser Moment gehörte mir!

Stundenlang war ich unterwegs. Zwischendurch baute ich immer gemütliche Gleitphasen ein, wenn es die Aufwinde erlaubten, ansonsten flog ich stramm durch, von ein paar kleinen Tricks mal abgesehen, die ich mir einfach nicht verkneifen konnte.

Schließlich erreichte ich den versteckten Standort der Wächter. Sie hatten sich in einer sehr schwer erreichbaren Höhle eingenistet. Man kam eigentlich nur dorthin, wenn man fliegen konnte, verdammt gut klettern oder von ihnen ein Seil heruntergelassen bekam. Zum Glück traf auf mich ersteres zu.

Locker landete ich auf dem unauffälligen Felsvorsprung und nahm meine menschliche Gestalt an. Augenblicklich sprangen zwei Wächter aus ihrem Versteck hervor und das Licht ihrer Öllampen beschien die karge Kulisse. Beide waren mit irgendwelchen Klingen bewaffnet. Keine Ahnung ob die unter Schwerter, Degen, Dolche oder sonst was fielen. Auf jeden Fall wollte ich sie lieber nicht zwischen meinen Rippen haben.

Und genauso wenig wollte ich die Bekanntschaft der Taschenuhren machen, die so trügerisch unschuldig an ihren Gürteln hingen und so heimtückisch werden konnten.

Kapitulierend hob ich meine Hände, sodass sie die Brandmarken auf der Innenseite meiner Handgelenke sehen konnten. Mich hatten Druiden unter Kontrolle. Ich war nur eine friedliche Marionette. Fürs Erste.

„Umdrehen!“, ordnete einer der Wächter barsch an. Etwas trotziger als gesund war, folgte ich seiner Aufforderung. Mir war klar, was sie überprüfen wollten. Es war üblich, dass „gebändigten“ Wandlern die Haare geschoren wurden und die meisten Druiden markierten ihre geknechteten Diener mit Tätowierungen am Hinterkopf. Ich bildete da keine Ausnahme.

Gesehen hatte ich es natürlich noch nie, aber es müsste das Wappen der Seher-Druiden sein: Eine Hand mit einem Auge und ein paar dämlichen Runen.

„In Ordnung“, nickte der andere Wächter ab und ich drehte mich betont herablassend wieder um. „Ich habe eine Warnung für euch“, ich ließ die Worte so klingen, als wäre ich aus bloßer Gefälligkeit hier, obwohl wir alle wussten, dass es nicht so war: „Hitoshi ist auf dem Weg hierher und plant das Untier zu befreien. Ihr könnt euch ja darum kümmern. Auf Wiedersehen.“

Normalerweise bauschte ich die Nachrichten immer so lang auf, wie es nur ging, damit ich meine Zeit in Freiheit strecken konnte. Doch heute hatte ich es eilig. Noch während meiner knappen Verabschiedung wandte ich mich zum Gehen, beziehungsweise Fliegen.

Fest griff eine der Wachen nach meinem Arm. Von seinem Griff würde ich sicher Blutergüsse davontragen. Gewalt war die einzige Sprache, die diese verbissenen Kämpfer beherrschten. Wenn sie die nur nicht gerade an mir auslassen würden.

„Was ist?“, irgendwie schaffte ich es, sämtliche Flüche und Beschimpfungen auszusparen. Ich wollte ja keinem Wutanfall zum Opfer fallen. „Du wirst es unserem Meister erzählen!“, verlangte der Grobian, der sich wie besessen an meinen Arm klammerte.

„Ich muss schnell weiter. Meine Herrin hat auch noch weitere Angriffe von Hitoshi vorhergesagt. Es bleibt keine Zeit mehr. Er wird bald hier sein und dann…“, der andere Kerl ließ mich gar nicht ausreden: „Er wird nicht durch unsere Verteidigung kommen. Niemand sonst muss gewarnt werden.“

Hatten die etwa nicht die gleichen Geschichten gehört wie ich oder waren sie wirklich so unglaublich dumm und großspurig? Ein abtrünniger Druide aus der Ferne, der Kräfte stahl und mindestens vier Stämme vollständig ausgelöscht hatte? Also ich konnte auf eine Begegnung gut verzichten.

Aber diese Idioten würden mich sicher nicht so einfach vom Haken lassen. Besser ich spielte jetzt mit und brachte es so schnell wie möglich hinter mich.

„Worauf wartet ihr noch?! Bringt mich zu eurem Meister!“, fuhr ich sie ungeduldig an. Die ersten Sterne verblassten schon. Ich wollte den Tag lieber fröhlich über sicheren Berghängen verbringen, als in einem Verließ für gefährliche Individuen, deren Zeit gestoppt wurde und einem ebenso gefährlichem Individuum im Anmarsch. Dass die Wächter damit klarkommen würden, wagte ich doch sehr zu bezweifeln.

Einer der tollen Wächter hielt mich fest am Oberarm fest, als könnte ich jeden Moment wegfliegen, was durchaus nicht allzu abwegig war und der andere betätigte irgendeinen getarnten Mechanismus hinter einem Felsen.

Mit einem kratzenden Geräusch öffnete sich eine massive Steintür, die geradewegs in den Berg führte. Schwer mysteriös. Widerwillig ließ ich mich von den beiden Hohlköpfen führen. Direkt hinter dem Eingang hing eine Fackel, die der zweite Wächter aus ihrer eisernen Halterung holte und anzündete. Ansonsten gab es hier keine Lichtquelle.

Scharrend schloss sich der verborgene Eingang wieder. Und schon wieder war ich gefangen. Wenigstens bekam man in diesem Verließ keinen Regen ab, auch wenn die Gefangenen in ihren Uhren sowieso nichts davon mitbekamen.

Bei mir sah das anders aus. Erst wenn im Winter Erfrierungsgefahr bestand, brachten diese verfluchten Druiden meinen Käfig nach drinnen. Sie behandelten mich zwar, als wäre ich nichts wert, aber einen neuen Boten wollten sie sich trotzdem nicht suchen müssen. Wer waren hier die Monster?

Ein paar Jahre eingesperrt in diesen schicken Taschenuhren würden ihnen sicher gut tun. Nur schade, dass nur Druiden Zeitbanne verhängen konnten. Ansonsten hätte ich mir längst eins dieser ratternden, tickenden Schätzchen gekrallt und den Spieß umgedreht.

Die Vorstellung gefiel mir. Mehr als ein verlockender Tagtraum würde es jedoch nicht werden. Was wiederum meine Stimmung ziemlich verdrossen werden ließ. Es war immer wieder scheiße, sich bewusst zu sein, wie machtlos man war.

In verbissenes Schweigen gehüllt marschierten wir durch einen ziemlich beengten Gang, der eindeutig von Menschen angelegt worden war. Die grobgehauenen Felswände warfen dunkle Schatten. Auf Schönheit oder Stil hatten es die Erbauer offensichtlich nicht angelegt. Worte wie verwahrlost oder abweisend passten eher. Allerdings waren Gefängnisse ja auch nicht unbedingt Orte, an denen man Eleganz und Behaglichkeit erwartete.

Es war kühl und die Luft roch alt. Meine Brust schnürte sich zu. Umgeben von massivem Gestein, fernab des Himmels fühlte ich mich einfach nicht wohl. Diese gewaltigen Massen, die mich umschlossen wie in einer harten, sadistischen Umarmung. Da war mir ja selbst mein Käfig lieber! Hier schien alles darauf aus zu sein, mich zu zerdrücken! Und die Wände kamen näher!

„Ganz ruhig bleiben! Die Wände kommen nicht näher!“, ermahnte ich mich stumm selbst. Angespannt schluckte ich und atmete einmal tief ein und aus. Es war nur ein Berg. Ich kannte die Berge. Ich war doch mein Leben lang hier gewesen! Berge waren nicht sadistisch, sie wollten niemanden zerdrücken. Alles war gut. Eine kurze Visite bei ihrem Meister und ich war in Nullkommanichts wieder draußen. Alles war gut.

Immer tiefer gingen wir in den Berg, es kam mir vor wie eine erdrückende Ewigkeit, doch in Wahrheit war es sicher nur halb so lang. Schließlich gelangten wir an eine sogar ziemlich große Felshöhle. Und ich konnte wenigstens ein kleinwenig aufatmen.

Wie die spitzen Zähne einer Bestie ragten Tropfsteine von der Decke und dem Boden. Als Übergang war eine Hängebrücke bis zur gegenüberliegenden Felswand gespannt, wo wieder ein dunkles Loch klaffte. Nicht noch so ein enger Tunnel! Da hatte man gar keine Luft zu atmen!

Nur mit Mühe konnte ich mir ein Stöhnen verkneifen. Das war alles so unnötig! Die Botschaft das Hitoshi unterwegs war, war alles andere als kompliziert! Selbst diese beiden Trottel sollten sich das doch merken können! Und ich könnte frei durch den Himmel fliegen und mir würde alle Zeit der Welt gehören! Aber nein!

Wankend brachten wir die Hängebrücke hinter uns und tauchten wieder in den einengenden Tunnel ein. Wie weit wollten die denn noch gehen?!

Aha. Nicht weit nach der geräumigen Tropfsteinhöhle teilte sich der Tunnel auf. Wir nahmen den linken Weg. „Was liegt rechts?“, erkundigte ich mich und meine Stimme klang seltsam dumpf in diesem Loch. „Die Schlafquartiere“, informierte mich der Wächter, der mich abschleppte, steif.

Es wunderte mich, dass sie überhaupt auf meine Frage reagiert hatten. Immerhin war es nicht notwendig, mich als Botin über den Aufbau dieses geheimen Gefängnisses in Kenntnis zu setzen. Eigentlich war es ja sogar der Sinn von geheimen Gefängnissen, dass so viel wie möglich geheim blieb.

Sie waren offensichtlich keine großen Leuchten. Aber das war eigentlich schon von dem Moment an klar gewesen, als beide ihre Posten verlassen hatten, um mich zu ihrem Anführer zu begleiten, obwohl bald ein sehr gefährlicher Druide auf der Matte stehen würde und ein unbewachter Eingang war da mehr als leichtsinnig.

Solange ich rechtzeitig wieder weg war, sollte es mir egal sein.

Warte! War da ein Leuchten im Tunnel? Tatsächlich! Nachdem der Tunnel eine ganze Weile recht steil angestiegen war, kamen auf einmal Stufen und an den Wänden waren Säulen aus dem Stein geschlagen. Jetzt legten sie also doch Wert auf Ästhetik. Dämlich.

Die Treppe beschrieb eine kleine Kurve und endete bei einem kunstvollen Torbogen an dessen Spitze eine funktionierende Uhr eingearbeitet war. Wie symbolisch. Dahinter erwartete uns dann das Paradies für jeden Uhrmacher. An den feingeschliffenen Wänden hingen ziemlich protzige Goldketten, an denen alle möglichen Taschenuhren angebracht waren.

Ich fragte mich, was all die „Bedrohungen“, die dort gefangen waren, verbrochen hatten, um hier zu landen. Waren sie wirklich wie Hitoshi wahnsinnige Massenmörder gewesen, so machthungrig, dass sie damit die ganze Welt in den Abgrund reißen könnten oder hatten sie sich einfach nur den Druiden widersetzt und friedlich ihr Leben führen wollen?

Es wäre schön jetzt die Fähigkeit meiner Sklaventreiber zu haben, all die Geschichten sehen zu können. Auch an meinen endlos langen Tagen in Gefangenschaft wäre das wirklich nett. Geistig könnte ich überall hinfliegen, in jede Zeit, an jeden Ort. Ich könnte meine Zeit mit einem Sinn füllen.

Sie hatten diese Gabe und sie hatten Freiheit. Und ich? Was hatte ich?

Kapitel 2

1597

„Wen bringt ihr zu mir?“, donnerte eine männliche Stimme durch den Gefängnisraum. Erst jetzt wandte ich meinen Blick von den unzähligen Uhren ab und widmete mich dem eigentlich deutlich Auffälligeren.

Im Zentrum des Kerkerraums befand sich ein übertrieben prunkvolles Podest inklusive Thron. Dort saß ein Mann, bei dem ich mir nur sehr schwer einen abfälligen Gesichtsausdruck verkneifen konnte.

Er trug Armbänder aus schwarzem Leder, die mit goldenen Stacheln besetzt waren, passend dazu an jedem Finger mindestens einen goldenen Ring, seine Ohren wurden von den vergoldeten Zähnen irgendwelcher erlegter Tiere geziert, davon fanden sich auch einige in seinen kunstvoll geflochtenen Haaren und seinem Bart. Auch seine Hose, die Stiefel und der Gürtel mit dem etwas überdimensionalen Schwert waren eine Mischung aus Kämpferausrüstung und glänzender Selbstverherrlichung. Auf ein Oberteil hatte er einfach ganz verzichtet, dafür konnte man seine maßlosen Tätowierungen betrachten. Und mitten auf seiner breiten Brust ruhte das gefangene Untier.

Er musste absolut wahnsinnig sein, das einfach wie ein modisches Kettchen zu tragen! Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gesehen!

An sich war die modifizierte Taschenuhr nicht allzu besonders. Sie war schon von hoher Qualität, vergoldet, wenn nicht sogar Massivgold, mit einer kleinen Blatt-Ranken-Verzierung am Rand. Damit man auch die volle Pracht sehen konnte, war auf eine Klappe verzichtet worden.

Außerdem müsste das Teil meine Handfläche (ohne Finger) locker ausfüllen, war also ziemlich groß im Vergleich zu den meisten anderen Uhren hier. Auf dem dunklen Ziffernblatt prangten die römischen Zahlen, ganz stilvoll. Doch es gab keine Zeiger. Stattdessen starrte ein gelbes, raubtierhaftes Auge aus der Uhr.

Ruhelos zuckte sein durchdringender Blick hin und her. Konnte das Untier etwa alles sehen, während es in der Zeit gefangen war?! Eine unheimliche Vorstellung.

Diese Kreaturen waren absolut tödlich. Was, wenn es sich mein Gesicht merkte und mich später jagte, wenn es unglücklicherweise freikam? Nicht gut.

Aber vielleicht sah es ja auch überhaupt nichts. Trotzdem fühlte ich mich beobachtet und gebrandmarkt. Na ja, das zweite hatten die Seher-Druiden ja eigentlich schon übernommen. Und das brachte mich zu meiner Verpflichtung zurück.

Mit aller Ergebenheit, die ich mir irgendwie abringen konnte, neigte ich meinen Kopf. „Ich bin eine Botin der Seher-Druiden. Sie hatten die Vision, dass Hitoshi bald kommt und das Untier befreien will. Ich sollte euch warnen“, brachte ich es schnell hinter mich.

Dröhnend lachte ihr Meister auf, der scheinbar über genauso wenig Verstand verfügte wie die einfachen Wachen. „Er soll ruhig kommen!“, verkündete der Oberidiot großspurig. Wenn er sich unbedingt mit Hitoshi anlegen wollte, von mir aus, aber dann wollte ich nicht mehr dabei sein.

Knapp verbeugte ich mich wieder: „Nun, da ihr die Botschaft kennt, ist es Zeit für mich zurückzukehren. Es war mir eine Ehre.“

„Warum denn so eilig?“, donnerte die Stimme des Anführers durch das schmucke Gefängnis und eine der Wachen hielt mich am Arm fest.

Ich bemühte mich um ein möglichst freundliches Gesicht, als ich mich zu ihm umdrehte: „Mir wurde aufgetragen, so schnell wie möglich wieder zurückzukehren.“ Eine glatte Lüge. Und weil ich nicht sicher sein konnte, dass diese arroganten Kerkermeister die Autorität eines anderen Ordens genug schätzten, setzte ich noch einen obendrauf: „Unsere Sicherheitsvorkehrungen sind leider nicht so ausgeprägt wie eure. Wir müssen uns noch vorbereiten.“ Es war eine echte Herausforderung, das nicht ironisch klingen zu lassen.

Wie ich dieses anbiedernde Verhalten hasste! Konnten sie mich nicht einfach gehen lassen?!

„Du bist keine Schönheit“, stellte der gestörte Anführer fest und erhob sich. Ja, mir war bewusst, dass ich mit meiner spitzen, fast schon schnabelähnlichen Nase und dieser Glatze, die meinen Kopf wie eine Rübe aussehen ließ, nicht unbedingt als hübsch galt. Und warum war das jetzt relevant? Ich ahnte nichts Gutes.

„Aber du siehst aus, als wüsstet du, wie man kämpft“, bedrohlich kam der Typ näher. Echt jetzt?! Dieser Verein war exklusiv für Männer, anheuern wollte er mich sicher nicht als Wache und sein Gesichtsausdruck legte seine Absichten auch schon völlig offen dar. Wahrscheinlich hätte er sich auf alles gestürzt, was Brüste hatte.

Nur dumm für ihn, dass er recht hatte. Ich wusste wie man kämpft. Und ich würde mich nicht auf diese Weise benutzen lassen, schlimm genug, dass ich für diesen Haufen Schwarzseher als Botenvogel arbeiten musste!

Entschlossen riss ich mich von der Wache los und verwandelte mich in einem fließenden Übergang in eine Alpendohle. Flink war ich außer Reichweite. „Du kommst hier nicht raus!“, lachte dieses Hohlhirn von Anführer.

Hoffentlich zerstörte Hitoshi diesen Laden wirklich, damit ich nie wieder irgendwelche Nachrichten überbringen musste. Die hatten sie doch nicht mehr alle! Und denen wurden alle eingedämmten Bedrohungen anvertraut. Sehr beruhigend.

Auch wenn ich noch nicht genau wusste, wie ich den Eingang wieder öffnen sollte, machte ich mich auf den Weg dorthin. Es war ein so viel schöneres Gefühl durch diese Gänge zu fliegen. Sie kamen mir gleich viel größer vor. Hinter mir hörte ich die Wachen poltern. Ach herrje.

Eigentlich sollte ich jetzt wahrscheinlich schnurstracks davon zischen, eine zielstrebige Flucht, doch ich konnte einfach nicht wiederstehen eine Art Schraube um die Hängebrücke in dieser Tropfsteinhöhle zu drehen.

Und dann hörte ich es. Na ja, es war ja auch kaum zu überhören. Ein lautes Krachen hallte durch den Berg. Das klang nicht so gut. Wenn mich meine Ohren nicht ganz täuschten, kam es vom Ausgang. Weiter in die Richtung zu fliegen, war vielleicht nicht die klügste Idee.

Kurzerhand flatterte ich hoch zu den Stalaktiten und suchte mir nahe der Felswand eine gute Stelle, wo ich mich bequem festhalten konnte.

Von hier aus hatte ich einen ausgezeichneten Überblick und war gleichzeitig recht gut versteckt. Mein schwarzes Gefieder war zwar farblich nicht ganz optimal bei diesem gelblichen, hellen Gestein, aber es würde wahrscheinlich sowieso niemand nach oben sehen. Und in diesem Wirrwarr aus Tropfstein-Zacken könnte sogar ein Pfau locker übersehen werden.

Ein greller Lichtblitz kam aus dem größeren Gang gefolgt von eindeutigen Kampfgeräuschen, die durch die Felswände allerdings seltsam verzerrt wurden. Welche Fähigkeiten hatte Hitoshi eigentlich alles gestohlen?

Ich wusste nur von diesem einen Formwandler-Clan, der dafür bekannt gewesen war, seine Mitglieder zu Assassinen und Spionen auszubilden. Auf den hatten die Seher-Druiden immer ein besonderes Auge gehalten. Sie hatten Angst gehabt von dort hätte ein Verrat drohen können. Diese Gefahr bestand ja jetzt nicht mehr.

Allerdings sagte es schon viel über Hitoshis Fähigkeiten aus, dass er sie erledigen konnte. Immerhin waren das erfahrene Killer gewesen, keine Drogen nehmenden Informationsjunkies. Die Seher-Druiden wären wirklich leichte Beute.

Im Laufschritt kamen die beiden Wachen vorbei, die mich so warmherzig empfangen hatten. Genau wie erwartet, verschwendeten sie nicht den kleinsten Blick nach oben. Und wieder wäre ihre Dummheit bewiesen.

Ui. Nur wenige Sekunden später kamen die beiden wieder unter großem Geschrei angeflogen. Einer von ihnen hatte das Pech an der Hängebrücke vorbei nach unten zu segeln und dort ein durchdringendes Verhältnis mit den Stalakmiten einzugehen. Autsch, das sah schmerzhaft aus.

Nummer zwei rollte ausführlich über den Boden und stoppte kurz vor der Kante. Leicht wankend kam er wieder auf die Beine. Ja, mir wäre nach diesem Kunststück auch schwindelig.

Ganz heldenhaft zückte er seine Klinge und hackte die Seile der Hängebrücke ab. Oh wie dramatisch! Der hirnlose Wächter opferte sich selbst, um dem Bösen den Weg abzuschneiden.

„Es ist aus! Du kannst nicht gewinnen!“, brüllte der Wächter in den Tunnel und nahm zusätzlich seine Taschenuhr zur Hand. Da war ich ja mal gespannt. Ich hatte noch nie eine Bannung gesehen. Und heute würde es wohl auch nicht dazu kommen.

Kämpferisch schrie der Idiot auf und wurde von einem kräftigen Luftstoß zu seinem Kumpel in die Tropfsteinspitzen befördert. Dummheit vom Feinsten. Hitoshi hatte sie doch eben schon auf diese Weise aus dem Gang gefegt!

Und die zerschlagene Brücke würde auch nichts ändern. Unser lieber Killer konnte sich einfach von seinem Wind tragen lassen. Also ehrlich. Wie konnte es sein, dass dieser Laden nicht schon längst ausgeraubt worden war?!

„Du hast recht, es ist aus“, kam eine raubtierhafte Stimme aus dem Schatten des Tunnels. Das war also Hitoshi… Überlegen trat er in meinen Sichtbereich. Unheimlich drang das Licht, der wie durch ein Wunder noch funktionstüchtigen Öllampen, aus dem Abgrund zu ihm nach oben. Sehr düster und stimmungsvoll.

Oh! Ähm… Alles klar. Der große und gefürchtete Hitoshi war etwas klein geraten, es war gut möglich, dass sogar ich größer war als er. Trotzdem hatte er irgendwie etwas Einschüchterndes an sich. Vielleicht war es diese entschlossene, autoritäre Körperhaltung oder der harte, unbarmherzige Ausdruck auf seinem Gesicht. Vielleicht war es auch einfach die Gewissheit, dass er die Typen eben spielend getötet hatte und noch weit mehr und weit mächtigere Druiden auf dem Konto hatte.

Dennoch war ich ein kleinwenig enttäuscht. Ich hatte schon mit so einem muskulösen Berg von Mann wie diesem Vollidioten mit dem Untier gerechnet, nicht so ein kleines, sehniges Kerlchen mit tödlichem Selbstbewusstsein.

Na ja. War ja auch egal. Gleich würde er schön sein Ding machen und seine diabolischen Pläne umsetzen und ich würde mir irgendein nettes Plätzchen suchen. Wie lange würde ich meine Rückkehr wohl verzögern können? Wäre vielleicht sogar ein Jahr drin? Nur was, wenn sie irgendein Ritual durchzogen, um mich gewaltsam zurück zu zwingen? Darauf hatte ich so gar keinen Bock…

Worauf wartete der Massenmörder denn noch?! Betete der etwa oder so einen Kack? Ich wollte mich endlich verziehen! Der Weg vor ihm war doch frei! Zieh es einfach durch, du Waschlappen!

Plötzlich erwischte mich ein heftiger Luftzug und wirbelte mich unaufhaltsam aus meinem Versteck. Nein, nein, nein, nein, NEIN! Scheißeeee! Fest schloss sich Hitoshis Faust um mich. Mit großen Augen starrte ich ihn einfach nur an und mein kleines Herz raste.

Wie hatte das passieren können?! Er hatte nicht einmal in meine Richtung gesehen! Aber die wichtigere Frage war wohl, wie ich meinen Hals wieder aus der Schlinge ziehen konnte.

„Na mein kleines Vögelchen. Erzähl mir eine kleine Geschichte“, forderte er mich auf und strich mit seinem Daumen fast schon sanft über meine gefiederte Kehle. Allerdings zweifelte ich keinen Herzschlag daran, dass er mir jeden Moment den Hals umdrehen könnte.

Nur wie sollte ich ihm eine Geschichte erzählen? Jetzt meine menschliche Form anzunehmen, war riskant. Jeder andere hätte mich nicht mehr festhalten können und es wäre der erste Schritt für eine spontane Flucht gewesen. Nur war ich mir bei ihm nicht sicher, welche Fähigkeiten er hatte und wenn dazu übermenschliche Stärke zählte, würde das ungesund für mich enden. Na ja und reden ging als Alpendohle schlecht.

Schlagartig fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! So hatte er mich auch gefunden! Er musste irgendwelchen Druiden die Fähigkeit mit Tieren zu sprechen gestohlen haben! Ich hatte einfach zu laut gedacht! Typisch mein Glück!

Ähm ja… Eine Geschichte… Das war ja sehr präzise ausgedrückt. Was genau wollte er jetzt von mir?! „Schhhh“, säuselte er alles andere als beruhigend: „Du musst doch keine Angst haben, kleines Vögelchen. Erzähl mir, wer dich geschickt hat.“ Endlich mal eine genaue Aufforderung.

„Geschickt? Mich hat niemand geschickt! Wer sollte mich geschickt haben?“, ich versuchte diese nicht ganz ehrlichen Gedanken so aufgescheucht wie möglich klingen zu lassen. „Du bist ein Wandler“, stellte er kalt fest.

Wenn ich das jetzt bestätigte, würde ich ziemlich sicher nach einer unangenehmen Befragung tot bei den beiden Idioten landen. Wenn ich mich für eine gewöhnliche Alpendohle ausgab, hätte ich vielleicht noch eine Chance. Vielleicht hatte er ja ein Herz für Tiere.

„Nein!“, beteuerte ich mit einer Panik, die sogar zum Teil aufrichtig war: „Meine Mutter ist ein Wandler! Nicht ich! Sie hat mir hiervon erzählt! Ich war neugierig! Ich hätte nicht herfliegen sollen! Es tut mir leid! Bitte AHHHHH!“

Heiser schrie ich auf. Er hatte mir den linken Flügel gebrochen! Scheiße tat das weh!

Mitleidslos schaute er auf mich herab: „Lüg mich bitte nicht an.“ „Na gut. Ich bin ein Wandler! Zufrieden!?“, fuhr ich ihn in Gedanken an. „Und wer hat dich geschickt?“, seine Finger fuhren über meinen zweiten Flügel. Eine unmissverständliche Drohung.

„Eine Gruppe Seher-Druiden. Sie haben vorhergesehen, dass du hier rein stürmen würdest, um das Untier zu befreien. Dann haben sie mich gezwungen die Schwachköpfe hier drinnen zu warnen. Sie waren allerdings so überzeugt von ihrer Macht, dass sie es nicht für nötig hielten, Vorbereitungen zu treffen. Sie sind erbärmlich“, entschied ich mich jetzt doch für Kooperation: „Wir stehen auf der gleichen Seite. Ich hasse diese Druiden. Sie haben mich in Ketten gelegt. Ich könnte dir helfen.“

„Wie willst du mir denn helfen?“, wollte er skeptisch von mir wissen und wie er die Worte betonte, wurde deutlich, dass ich wertlos und schwach war und er der unbesiegbare Eroberer. Mir war klar, dass ich sterben würde, sobald ich keinen Nutzen mehr für ihn hatte.

Etwas Besseres fiel mir gerade nicht ein. Also improvisierte ich anbiedernd weiter: „Für meine Botenflüge musste ich die Standorte von sämtlichen Druiden-Zusammenschlüssen in einem beachtlichen Radius lernen, selbst die eigentlich verborgenen. Ich könnte sie dir alle zeigen. Angefangen mit meinen persönlichen Kerkermeistern. Ihre Fähigkeit wäre für dich doch nützlich. Der Blick in die Ferne, egal ob Zeit oder Raum. Damit könntest du allen einen Schritt voraus sein. Außerdem würdest du verhindern, dass sie die anderen vor deinem Kommen warnen. Die Welt würde dir auf dem Silbertablett serviert werden.“

Ich fand ja, dass das sehr plausibel klang. Er wirkte jedoch noch nicht so ganz überzeugt: „Es wird ihnen nichts bringen, gewarnt zu sein. Ich werde ihnen alles nehmen und niemand kann mich aufhalten.“ Litten eigentlich alle Männer an dieser unglaublichen Selbstüberschätzung? Tut mir leid, die schillernde Blase würde ich jetzt platzen lassen.

„Du hast dich schon zu einer ernstzunehmenden Gefahr hochgearbeitet. Aber wenn du ein Untier entfesselst, werden sich schlagartig alle Druiden auf einmal angegriffen fühlen, sie werden sich vereinen und gemeinsam haben sie es doch schon einmal geschafft dein tolles Untier zu bannen. Du kannst nicht einfach losziehen und eine Schneise der Zerstörung schlagen, du musst klüger sein, so wie bis jetzt“, ich versuchte ihm das so wenig herablassend wie möglich klarzumachen und mit dem letzten Satz streichelte ich dann ja auch noch schön sein Ego.

„Du willst wirklich leben“, stellte er fest und legte seinen Kopf dabei leicht schief. Nein, ich verfolge suizidale Absichten und feilsche deswegen die ganze Zeit. Na was glaubst du denn?!

„Ich denke ich werde dich noch ein Weilchen behalten“, verkündete Hitoshi sein Urteil. Ob er meinen etwas scharfzüngigen Gedanken mitgehört hatte? Bestimmt nicht. Welcher eiskalte Killer wurde schon gerne beleidigt?

Geschickt schlang er einen dünnen Lederriemen um eins meiner Beine und knotet mich dann an seinem Gürtel fest. Achtlos ließ er mich los und instinktiv wollte ich sofort mit meinen Flügeln schlagen, doch das ging dank seiner liebevollen Behandlung jetzt nicht mehr.

Heiß jagte der Schmerz durch meinen Körper und ich konnte nichts anderes machen als kopfüber an seinem Gürtel zu baumeln. Echt mies gelaufen. Wenigstens war ich noch am Leben.

Wie ich es vorhergesagt hatte, benutzte er seine nervige Wind-Fähigkeit, um locker den Abgrund zu überwinden. Überwinden mit Wind, hahaha. Das Blut schoss mir in den Kopf! Gar nicht angenehm!

Aber ich befürchtete, wenn ich jetzt rummeckerte, dass es meinem Kopf nicht gut ging, würde ich ihn im nächsten Moment verlieren.

Schnellen Schrittes marschierte Hitoshi durch den Gang. Und ich wurde fies hin und her geschaukelt.

Diese verbissene Zielstrebigkeit passte nicht so ganz zu dem Gespräch zu dem er sich gerade eben mit mir herabgelassen hatte. Mich einfach umzubringen, hätte den Zeitverlust bei seiner Mission deutlich reduziert. Na ja, vielleicht hatte er hinter seiner ganzen rohen Gewalt ja wirklich ein wenig Verstand und sich gedacht, ein versteckter Beobachter könnte noch von Nutzen sein. Wer weiß.

Abrupt blieb er stehen, was ebenfalls für Geschaukel sorgte. Mir war so schlecht! Und mein Schädel drückte und dröhnte! Ich konnte kaum noch denken!

„Rechts oder links?“, verlangte er ruppig von mir zu wissen. „Was?“, keine Ahnung ob dieser Gedanke überhaupt deutlich genug war, um ihn zu hören. Ich fragte mich, wie ich es geschafft hatte, eben noch über seine Beweggründe zu sinnieren.

„Welcher Weg?!“, fuhr er mich mit mühsam gesenkter Stimme an. Er war also klug genug, sich nicht durch Geschrei anzukündigen. Nur war das wohl ein bisschen überflüssig, wenn man das Krachen bedachte, mit dem er sich Zutritt verschafft hatte.

„Könntest du mich bitte hochheben? Ich kann kaum denken“, bat ich ihn und versuchte mit meinen Beinen an seinem Gürtel Halt zu finden, um mich selbst hochzuziehen, ohne Erfolg. Und mit dem Schnabel das Band zu greifen, klappte auch nicht gut.

„Antworte!“, beharrte er herzlos. Na gut! Ähm… „Links“, gab ich ihm mit immer noch schwirrendem Schädel Auskunft. Und natürlich bekam ich dafür nicht einmal ein Danke. Als würde sich je ein Druide bei mir bedanken. Im Grunde war er wie alle anderen auch. Er hielt sich für etwas Besseres. Zum Kotzen.

Schweigend lief Hitoshi los und für mich ging diese ätzende Schaukelpartie in die zweite Runde. Einfach nur so rumzuhängen war allerdings auch nicht viel besser. Irgendwie musste ich mich hieraus befreien. Nur hatte ich da das gleiche Problem wie eben mit der Faust. Leder war robust, es könnte mich unschön verletzen, wenn ich die Gestalt wechselte.

Aufknoten… Ich war leider kein Entfesslungskünstler und kopfüber durchgeschüttelt als Alpendohle schon dreimal nicht. Aber weil ich nicht noch länger untätig abhängen wollte und darauf warten, dass mich diese Position ausknockte, entschied ich mich es einfach zu versuchen.

Angestrengt scharrte ich mit meinen Krallen über den Knoten und pickte mit meinem Schnabel daran herum. Oh! Da hatte ich tatsächlich etwas gelockert! Ha Ha!

Schon hatte Hitoshi den Raum erreicht, in dem all die Uhren wie Trophäen aufbewahrt wurden. Der widerwärtige Anführer saß immer noch auf seinem Thrönchen und tat so, als könnte ihn nichts auf der Welt aus der Ruhe bringen.

„Du bist also dieser Hitoshi?“, desinteressiert und herablassend blickte er auf meinen neuen Geiselnehmer: „Ich hätte mit jemand Eindrucksvollerem gerechnet.“ Ohne auch nur mit dem Finger zu zucken, erzeugte der berechnende Eindringling einen kleinen Sturm, der die Ketten und Uhren an den Wänden stimmungsvoll klirren ließ.

Ich an seiner Stelle hätte diesen angeberischen Muskelprotz mit meinem kräftigsten Wind umgeweht und kurzen Prozess gemacht, doch scheinbar musste Hitoshi hieraus eine Show machen. Also bitte! Männer!

„War das schon alles?“, lachte der protzige Wächter des Untiers auf. Hitoshi schwieg immer noch. Wahrscheinlich wollte er damit den eisernen, gefährlichen Krieger mimen und weil er ja so gefährlich war, schritt er ganz ohne Waffen auf sein Opfer zu.

Betont mächtig richtete sich der Kerkermeister auf und zog seine mördergroße Klinge. Keine Ahnung wie er mit dem Teil präzise zuschlagen wollte.

Wie wild zerrte ich weiter an der Schlinge um mein Bein. Ich wollte nicht aus Versehen von dem überdimensionalen Schwert zersäbelt werden oder sonst einen unnötigen Tod erleiden. Dieser Botengang war wirklich das allerletzte!

Für einen Moment standen sich der muskelbepackte Koloss und der sehnige Massenmörder gegenüber. Zwar war meine Perspektive auf diese Szene etwas gewöhnungsbedürftig, doch selbst von hier aus konnte ich erkennen, dass Hitoshi locker zwei Köpfe kleiner war, als sein Gegner.

Bestimmt unterschätzte der Schwertkämpfer den kleinen Druiden und bestimmt würde ihn dieser Fehler noch teuer zu stehen kommen. Mit einem kämpferischen Aufschrei holte der Muskelprotz mit seinem Schwert aus und Hitoshi entging der Attacke spielend.

Wieder wurde ich durchgerüttelt und der gelockerte Knoten zog sich erneut etwas fester. Verdammt! Der nächste wütende Schlag, das nächste flinke Ausweichmanöver. Hitoshi spielte mit seinem Opfer. Und ich baumelte zwischen den Fronten. Scheiße!

Schlagartig löste sich das Lederband und ich landete unsanft auf dem Boden. Ein hohes Kreischen kam aus meiner Kehle. Mein gebrochener Flügel tat so scheiße weh! Oh Gott! Fast wäre dieser tätowierte Berserker auf mich drauf getrampelt! Das wäre ja noch ein mieseres Ende gewesen, als einfach von Hitoshi umgebracht zu werden!

Schnell tippelte ich außer Reichweite und ich hasste ihn dafür, dass er mir das Fliegen genommen hatte. Ich wäre längst auf und davon gewesen. So musste ich mich in der hintersten Ecke verkriechen. In meiner menschlichen Form könnte ich einen Fluchtversuch starten, aber dann war ich auch auffälliger.

Ach ja und dann war da noch dieser blöde Abgrund mit den Tropfsteinen, der dank Hitoshi doch ein übles Hindernis für mich darstellte. Verstecken schien mir die beste Möglichkeit. Und ich konnte die Kämpfenden beobachten. Vielleicht konnte ich dabei ja eine Schwachstelle finden… Jap, ich war sowas von erledigt.

Aufmerksam studierte ich die Kampfstile der beiden so unterschiedlichen Männer. Der Wächter-Boss verließ sich ausschließlich auf seine Kraft. Sein Kampfstil war ein brutales Hacken.

Auch wenn ich mich damit nicht so besonders auskannte, würde ich seine Technik als sehr stumpfsinnig bezeichnen. Allerdings erfüllte sie in der praktischen Anwendung sicher meistens ihren Zweck. Man musste nur einen Schlag abbekommen und es hieß auf ins Jenseits.

Doch Hitoshi ließ sich nicht treffen. Seine Bewegungen hatten etwas Tänzelndes und Geschmeidiges an sich. Er ging komplett in die Defensive.

Warum? Hatte er nicht langsam genug gespielt? Wie lange wollte er die vernichtende Niederlage noch hinauszögern? Am Ende vergeigte er es noch.

Was eigentlich für mich gar nicht mal schlecht wäre. Bei diesen hirnlosen Kämpfern auf Frauenentzug sah meine Zukunft zwar auch nicht optimal aus, aber wenigstens könnte ich eine Zukunft haben. Mal abwarten.

Hmm… Nachdenklich legte ich den Kopf schief. Es sah so aus, als versuchte Hitoshi seinem Gegner näher zu kommen, was mit dem Schwert natürlich so eine Sache war. Aber warum das ganze Spiel?

Eine kleine Lücke in den säbelnden Angriffen. Sofort schnellte Hitoshis Hand hervor und griff nach der besonderen Taschenuhr.

Das war ja nicht besonders überraschend, immerhin war dieses Teil der Grund für seinen Besuch. Allerdings könnte er es sich deutlich leichter machen, wenn er den jetzigen Besitzer einfach umbrachte und sie von seinem toten Hals zog. Das hier war so unnötig!

Oh! Die Reflexe des Schwertheinis waren besser als gedacht. Bevor Hitoshis Finger die Kette erreichen konnten, ließ der Wächter sein Schwert in seine Richtung sausen. Blitzschnell reagierte der Fähigkeiten-Dieb und brachte sich mit einem gezielten Luftstoß wieder außer Reichweite.

Von dem Wind hätte sein Gegner eigentlich taumeln müssen oder wenigstens seine bedenklichen Haare hätten verweht werden müssen… schlagartig ging mir ein Licht auf. Deswegen machte er das ganze Theater! Durch das Untier in der Taschenuhr war der Kerl Magie-immun! Tja, ohne seine gestohlenen Kräfte war der tödliche, abtrünnige Druide wohl nur noch abtrünnig.

Er hätte sich wohl lieber absichern sollen und selbst ein paar Waffen mitbringen oder sich auf dem Weg von den Wachen welche schnappen sollen. Jetzt war es zu spät. Dumm gelaufen.

Plötzlich machte Hitoshi eine wirbelnde Drehung und bevor der Muskelprotz darauf reagieren konnte, hatte er schon einen fiesen Schlag verpasst bekommen und der kleine Killer hatte ihm die Kette über den Hals gezogen. Krasses Manöver. Sehr flink. Sehr präzise. Beeindruckend.

Und das wusste er auch. Triumphierend und selbstzufrieden wurde er für einen Moment nachlässig und schon hatte er den kräftigen Ellenbogen seines Gegners in den Rippen. Es knackste nicht so schön und Hitoshi ließ die wertvolle Uhr fallen. Schwungvoll schlitterte sie über den Boden und blieb nur eine Flügellänge von mir entfernt liegen.

Wie gebannt starrte ich das goldene Gefängnis an. Ich müsste mich nur danach ausstrecken… Aber was dann? Selbst wenn ich gegen seine magischen Tricks immun war, würde mich Hitoshi kinderleicht besiegen und dann wäre er richtig angepisst und das würde mir sicher nicht gut bekommen.

Ehe ich wirklich darüber nachgedacht hatte, war ich nach vorne gehopst und hatte mir die Kette geschnappt.

Auf einmal konnte ich es hören, das Untier. Es war in meinem Kopf! Panisch wollte ich die Kette wieder wegwerfen, doch dann merkte ich, dass es genauso viel Angst hatte wie ich.

Ich konnte seine Einsamkeit spüren und seine Verzweiflung. Gefangen, gezwungen zu tun, was andere wollten, machtlos. Da war keine Wut, nur der Wunsch frei zu sein. Es war kein Monster. Es war wie ich.

Am Rande bekam ich mit, wie der Wächter des Untiers zu Boden ging. Langsam blickte ich auf. Nein, das wahre Monster stand vor mir. Und wir beide wollten ihm nicht dienen.

Kapitel 3

2022

Anjas Hände umschlossen die warme Kaffeetasse, ein schön gemütlicher Start in den Tag. Melodisch tickte die Küchenuhr. Zufrieden schaute sie dabei zu, wie sich die Zahnräder in dem skelettierten Ziffernblatt harmonisch drehten.

Skelettiertes Ziffernblatt. Man was hatte ich für seltsame Begriffe gelernt, seit ich Anjas Sicht der Dinge kannte. Na ja, das war jetzt vielleicht etwas dubios ausgedrückt, auf den Punkt gebracht: Ich spionierte sie aus, mittlerweile seit fast einem Jahr, immer wenn es sich ergab.

Warum? Ganz einfach: Sie hatte meine zweite Erscheinung. Ich war kein echter Wandler mehr. Nur noch ein nicht alternder, sehr angepisster und fest entschlossener Mensch. Wie ich das Fliegen vermisste! Den Wind in meinen Federn. Die Freiheit. Einfach das Gefühl, dass alles so war, wie es sein sollte. Ich war eine Alpendohle.

Sie hatte mir einen Teil von mir genommen und ich würde ihn mir wieder holen! Was es auch kostete…

Nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, machte sich Anja auf den Weg zur Arbeit, beziehungsweise ging sie von ihrer Dachgeschosswohnung runter, an der Wohnung ihrer Eltern im ersten Stock vorbei, bis zum Uhrmachergeschäft im Erdgeschoss. Eine immense Strecke.

Konstantin war schon da. Der Trottel hatte außer diesem Job echt kein Leben. Sein Herz war sicher eine tickende Uhr, eine dieser albernen, rustikalen Kuckucksuhren, die einen mit ihren Rufen in den Wahnsinn treiben können. Ein nerviger Uhrenfreak.

„Guten Morgen!“, begrüßte er sie wie immer. Langweiliger könnte ihr Alltag kaum sein. Der ganze Vormittag war nichts als eine Aneinanderreihung von Langweiligkeiten. Uhren Reparaturen, ein paar Kunden, die fasziniert durch den Laden schlenderten, meistens ohne etwas zu kaufen, ein Auftrag für eine ganz spezielle, individuell gefertigte Uhr als Geburtstagsgeschenk. Konstantin, der zur jeder verdammten Uhr eine Geschichte erzählen musste. Oh, der Uhrmacher war im 18. Jahrhundert in Deutschland tätig, dieses klobige Ding kam aus Italien, das sieht man da und da und hier und dort und kannst du nicht einfach die Klappe halten? Wen interessiert’s?!

„Thea!“, Leo rüttelte mich an der Schulter. „Was ist denn?“, fragte ich ohne die Verbindung zu unterbrechen. Anjas Leben war zwar zum Gähnen, aber als Uhrmacher waren sie und ihr noch langweiligerer Partner sehr gefragt und jeder Zeit könnte dort eine stehengebliebene Uhr auftauchen, mit überraschendem Inhalt. Besonders heute…

„Ich hab Essen“, informierte mich Leo hartnäckig. „Später“, lehnte ich eisern ab. Ganze 19 Jahre hatte ich hierauf gewartet. Meine Heilung war in greifbarer Nähe. Jetzt durfte ich keine Fehler machen, ich durfte mir keinen Moment der Unaufmerksamkeit erlauben.

„Du bist schon die ganze Nacht in ihrer Perspektive gewesen und hast ihre Träume überprüft“, merkte Leo fürsorglich an. „Und du hättest Matthias im Auge behalten sollen“, entgegnete ich angespannt. Dafür, dass Jaguare eigentlich Einzelgänger waren, konnte Leo ganz schön bemutternd werden. Na ja, er war als große, gefährliche Raubkatze Vegetarier geworden, da konnte man eigentlich nicht mit dem typischen Verhalten rechnen. Ein vegetarischer Jaguar und eine Alpendohle ohne Vogelgestalt, was waren wir doch für ein Team.

„Die Uhr liegt noch in seinem Zimmer, bis er aus der Schule zurück ist, wird da gar nichts passieren“, erklärte er mir beruhigend: „Du solltest etwas essen und eine Pause machen. Wenn er wirklich auftaucht, solltest du nicht übermüdet und hungrig sein.“

„Manchmal schwänzt er die letzten Stunden oder sie fallen regulär aus, dann kommt er früher“, merkte ich ein wenig verbissen an, auch wenn ich durchaus wusste, dass Leo recht hatte. Aber ich konnte mich jetzt nicht einfach ausruhen! Es war zu wichtig!

„Thea, entspann dich“, warm spürte ich seine Hand wieder auf meiner Schulter: „Während du isst, passe ich auf und ich sage dir Bescheid, wenn etwas passieren sollte. Du vertraust mir doch, oder?“ Jetzt musste er auch noch diese Karte ausspielen! Mit einem genervten Schnauben zog ich die unförmige Maske aus (ein rituelles, handgearbeitetes Exemplar aus Afrika, keine der medizinischen Masken, die seit dieser dummen Pandemie überall rumflogen) und legte damit auch Anjas Sichtweise ab.

Blinzelnd sah ich zu Leo auf. Nett lächelte er mich an. Er sah wirklich mehr aus wie ein Schmusekätzchen als eine tödliche Raubkatze. Etwas flache Nase, helle, grüne Augen, Sommersprossen, goldbraune Haare, gebräunter Teint und sehr athletischer Körper. Früher, mit seinem stechenden, wachsamen Blick und diesem eisigen, harten Ausdruck im Gesicht, konnte er einem schon Angst einjagen. Jetzt war er der liebe Typ von nebenan, von dem sämtliche Kassiererinnen im Supermarkt schwärmten.

In seiner Hand hielt er eine Packung Studentenfutter und einen gekauften Fertigsalat. „Hättest du nicht etwas Besseres mitbringen können, wenn ich dafür schon meine Observation unterbrechen muss?“, ein kleines bisschen mürrisch nahm ich mein Mittagessen entgegen. Dieser schicksalhafte Tag verlangte nach mehr als fadem Salat und ein paar Nüssen mit getrockneten Rosinen!

„Ich dachte du magst Studentenfutter“, bei diesen Worten setzte er seinen besten Hundeblick auf. „Das musst du gar nicht erst versuchen! Du kriegst mir das nicht als geniales Festmahl verkauft! Und jetzt verzieh dich auf irgendeinen Baum!“, übellaunig riss ich die Packung auf und knackte die erste Haselnuss.

„Ich weiß, du bist momentan nur so mies drauf, weil dir das alles nahe geht. Wenn das alles vorbei ist, können wir nochmal neu anfangen“, verständnisvoll legte er mir kurz wieder die Hand auf die Schulter und verzog sich dann auch wirklich.

Knarzend schloss er die Tür der alten Scheune hinter sich und ich versuchte noch auf seine Schritte zu hören, aber er war schon immer so gut wie lautlos gewesen. Da merkte man doch noch die Raubkatze in ihm. Wir konnten das Tier in uns wirklich nicht verleugnen.

Ruhelos stand ich auf und fing an zwischen dem ganzen Gerümpel, das hier stand, auf und ab zu tigern. So gerne wäre ich jetzt aufgeflogen, ich wäre durch diese kleine Lücke direkt unterm Dach gezischt und der Himmel hätte mir gehört. Von den Passanten hätte ich mir ein bisschen was stibitzt, Essen, wertlose Souvenirs, vielleicht auch einen kleinen Beitrag zu unserer Miete. Als Vogel war alles so leicht und wer würde schon eine diebische Alpendohle vor Gericht verklagen? Ich vermisste diese Zeiten…

Stattdessen hockte ich hier in dieser stark vernachlässigten Scheune, keinen Katzensprung vom Laden dieser ignoranten Druidin entfernt und knusperte Studentenfutter, das mir Leo von seinem Job mitgebracht hatte.

Ich hatte nie ein Mensch sein wollen! Ich hatte nie wie einer leben wollen! Ich wollte fliegen! Ich wollte meinen Schwarm haben! Ich wollte frei sein!

Beinahe hätte ich wütend mein Essen durch die halbe Scheune gepfeffert, doch ich konnte mich beherrschen. Nicht mehr lange. Bald würde alles wieder in Ordnung sein.

Es musste einfach so kommen. Länger würde ich das nicht aushalten.

Wenn sich Matthias an die normalen Schulzeiten hielt, würde es noch etwa eine Stunde dauern. 60 Minuten. 3600 Sekunden. Eine Ewigkeit. Wie hatte ich es nur geschafft, die letzten Jahre zu überstehen?!

Und dann noch die bohrende Frage, ob alles wirklich so leicht werden würde, wie in der Theorie. Wohl kaum. Was wir planten, war äußerst riskant, man könnte es eigentlich schon wahnsinnig nennen. Ja, es war Wahnsinn. Aber es war die einzige Möglichkeit und ich war verzweifelt genug, sie zu ergreifen.

Seit Jahrhunderten stand Kräftestehlen unter Todesstrafe oder zumindest der ewigen Verbannung in ein nettes, tickendes Gefängnis, was im Endeffekt so ziemlich auf das gleiche rauskam. Der Rat der Druiden verstand wirklich keinen Spaß.

Noch ein Grund warum unser Vorhaben mehr als nur leichtsinnig war. Wir setzten sehr viel aufs Spiel, eigentlich alles. Unser Plan war mies und die Folgen, die er nach sich ziehen konnte, waren regelrecht katastrophal. Das wusste ich. Jetzt war die letzte Chance, es abzubrechen. Leo müsste nur die unscheinbare Taschenuhr zurückholen, die ich Matthias gestern auf einer Party untergejubelt hatte. Niemand würde gefährdet werden, Leo würde verständnisvoll und unterstützend weiter an meiner Seite bleiben und ich könnte meinen Frieden mit dem Menschsein machen. Es war egoistisch weiter daran festzuhalten.

Alles in mir war bis zum Zerreißen angespannt. Ich kannte die Gefahr, ich kannte die Gründe es nicht zu tun, aber ich konnte nicht aufhören. Ich brauchte mich selbst wieder! Diese Chance war alles, woran ich mich seit Jahren klammerte. Ich musste es einfach tun.

Nur noch eine Stunde. Ruhig bleiben. Durchhalten. Gleich würde der entscheidende Moment kommen. Angespannt warf ich mir eine Handvoll Nüsse in den Mund, obwohl ich überhaupt keinen Hunger hatte.

Warum konnte es nicht einfach schon vorbei sein?! Dieses Warten brachte mich noch um! Man sollte meinen, ich hätte es nach über vierhundert Jahren mal gelernt, aber das würde ich wohl nie.

Ziemlich brutal spießte ich mit der Holzgabel die Salatblätter auf. Mittlerweile war mir vor Aufregung schon regelrecht schlecht. Es war so verdammt bedeutend.

Endlich war ich mit dem Mittagessen fertig. Sofort setzte ich mir wieder die Maske auf und sah die Welt aus Anjas Augen. Scheinbar hatte ich wirklich nichts verpasst. Gerade untersuchte sie das Innenleben einer Uhr. Diese penible Fingerspitzenarbeit wäre echt nichts für mich.

So ging das noch ein Weilchen weiter. Winzige Zahnrädchen, klitzekleine Werkzeuge, eine nervige, tickende Miniaturwelt. Und natürlich auch Konstantin, der voll in seinem Element war und wenn ich ihn schon nur aus dem Augenwinkel sah, mit seinem grässlichen Strick-Pullunder, den er zu jeder Jahreszeit tragen musste, kriegte ich fast die Krise. Wenigstens hatte ich jetzt das Gefühl etwas zu tun. Auch wenn die Zeit mit diesen schnarchigen Beobachtungen nicht wirklich schneller verging.

Und dann betrat er den Laden. Matthias. Er erinnerte mich jedes Mal wieder an einen streunenden Hund. Die eingefallenen Schultern, der ausdruckslose Blick und der schlurfende Gang. Dazu noch diese schlabbrigen Klamotten, die er entweder nie wusch oder in zigfacher Ausführung hatte. Irgendwie vermittelte es einfach einen ungepflegten Eindruck.

Auf das freudige: „Hallo Matthias!“, seiner fast zehn Jahre älteren Schwester reagierte er nur mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken. Konstantin warf Anja einen vielsagenden Blick zu, den man so gerne aufsetzte, wenn das schwarze Schaf der Familie involviert war. Diese stumme Mischung aus Mitleid und Missbilligung war viel besser als seine unangenehmen Gesprächsversuche, die er vor einigen Wochen endlich eingestellt hatte.

Leo stieß einen lauten Pfiff aus, damit wollte er mir wohl sagen, was ich gerade mehr oder weniger mit eigenen Augen gesehen hatte. Kurz stieß ich als Bestätigung einen zirpenden Laut aus, ähnlich dem Ruf, den ich früher als Alpendohle so selbstverständlich genutzt hatte. Jetzt war er nicht mehr als eine billige Imitation.

Doch das würde sich bald ändern.

Das Telefon vom Uhrenladen klingelte. „Guten Tag, Horologium-Uhrmacherwerkstatt. Wie kann ich Ihnen helfen?“, meldete sich Anja freundlich am Telefon. „Hallo“, schnurrte eine vertraute und wirklich lächerlich verstellte Stimme: „Thomas Scheibler hat mir einen Ihrer Mitarbeiter wärmstens empfohlen. Er soll wahre Wunder bei seiner Standuhr bewirkt haben. Ein gewisser… Konrad?“

„Meinen Sie vielleicht Konstatin?“, schlug Anja vor und bei der Erwähnung seines Namens wurde der Uhrenfreak hellhörig, allerdings auch nur, weil er gerade keine Uhr zum Schrauben oder Klugscheißen vor sich hatte. „Genau“, bestätigte Leo mit dieser absolut schrägen Katzenstimme: „Könnte er heute vielleicht noch bei mir vorbeifahren und sich meine Standuhr ansehen? Ich kann sie nicht mehr aufziehen. Sie ist schon aus den frühen 50ern und ein wichtiges Erbstück für mich.“

Mein Partner musste wirklich noch an seiner Stimmimitation arbeiten! Das klang wirklich haarsträubend!

„Warten Sie bitte kurz, ich werde Sie ihm geben“, damit wandte sich Anja an ihren Langweiler-Kollegen: „Hier ist ein Kunde, der Probleme mit seiner Standuhr hat, ein Erbstück aus den frühen 50ern.“

Sofort leuchteten seine Augen auf. Offensichtlich hatten wir richtig damit gelegen, dass man ihn mit Uhren ködern konnte. Es war besser, wenn er bei dem ganzen Zauberzeug aus dem Weg war, das würde alles nur verkomplizieren und es war so schon wirklich kompliziert genug.

Nach einem kurzen Gespräch, in welchem Leo ihm eine schön weit entfernte Adresse nannte, verzog sich dieser Heini endlich und die Bühne war frei für unseren spektakulär waghalsigen Plan und das keinen Moment zu früh. Kaum dass Mister Nervensäge aus dem Spiel war, kam Matthias die Treppe von der Wohnung runter. In seiner Hand hielt er die Taschenuhr. Das lief ja wie ein perfekt geöltes Uhrwerk.

„Hey, ein Kumpel hat mir die Uhr gegeben. Kannst du sie dir mal angucken?“, irgendwie schaffte es Matthias zugleich auffordernd und desinteressiert zu sein, als er seiner Schwester den Arm mit der Taschenuhr entgegen streckte. Ich war also ein Kumpel, alles klar und das war auch eher ein verkaufen als geben gewesen. Allerdings machte es schon Sinn, dass er die Tatsachen ein wenig verdrehte.

Anja durchschaute ihn trotzdem. Nach einem kleinen skeptischen Blick auf die Uhr, wollte sie forschend von ihm wissen: „Wo hast du die wirklich her? Hast du sie etwa gestohlen?“ „Nein! Komm runter!“, angepisst verdrehte Matthias die Augen. Seine nervige Spießerschwester. Armer, armer Junkie.

„Wo warst du gestern Abend?“, bohrte sie weiter nach. Wenn man sie so traf, mit ihrem freundlichen Gesicht und der lockeren, bodenständigen Art, glaubte man echt nicht, dass sie so hartnäckig sein konnte.

„Vergiss es einfach!“, mit diesen Worten versuchte mein Trojanisches Pferd sich die Uhr wieder zurückzuholen, doch Anja hielt sie zum Glück außer Reichweite. Theoretisch würde zwar der Kleine auch für unseren Plan reichen, aber dass er die Uhr später noch eines Blickes würdigte, war eher unwahrscheinlich. Also war es wichtig, dass sie bei Anja blieb.

„Was soll das?!“, beschwerte sich Matthias gereizt. „Du wolltest doch, dass ich mir die Uhr ansehe“, erwiderte sie unbeeindruckt. Kurz starrte er sie sehr böse an und verzog sich dann, während er etwas völlig Unverständliches murmelte, das bestimmt nicht sehr schmeichelhaft war.

Schweigend schaute sie ihrem Bruder nach und ich konnte mir den gequälten Ausdruck auf ihrem Gesicht bildlich vorstellen. Ich hatte sie schon mehr als einmal jammern gehört, dass sie ihrem Bruder doch helfen wollte, aber nicht wusste wie und wie schrecklich das doch alles war. So tragisch. Schnief.

Die Seher-Druiden und ihre Vorliebe für Drogen. Daran würde sich wohl nie etwas ändern.

Mit einer Art resigniertem Schnauben ließ Anja sich auf ihren Stuhl plumpsen. Für einen elendig langen Moment starrte sie auf eine moderne Uhr mit raugeschliffenen Metallelementen, die die Zeit in New York anzeigte. Gleich daneben gab es noch Moskau, Tokyo und Sydney. Jede hatte Anja aus ihrer Sicht im Stil der Städte angefertigt. Darüber konnte ich nur die Augen verdrehen.

Wahrscheinlich betrachtete sie auch nicht wirklich ihre Uhr, sondern wünschte sich einfach nur rosarotes Familienglück, statt einem verkorksten, kleinen Bruder, bei dem scheinbar nichts mehr half. Aufhören mit Tagträumen! Die Realität wartete!

Dann endlich wandte sie sich der Taschenuhr zu. Zuerst drehte die Fachkundige sie in ihrer Hand, strich über die Verzierungen und nahm sogar das Vergrößerungsglas zur Hand, um die Details zu begutachten.

Vor Anspannung stand ich ganz still. Jede Sekunde könnte es so weit sein.

Tu es!

Mit einem unschuldigen Klacken drückte sie den Knopf am Rand und der feingearbeitete Deckel sprang auf. Ja! Plötzlich war der ganze Raum erfüllt von einem hallenden Ticken, wie aus einer anderen Welt, das all die anderen Uhren im Raum übertönte. Es wurde immer schneller und die Zeiger der silbrigen Uhr drehten sich im selben rasanten Tempo. Schlagartig blieben sie wieder stehen und das Ticken verstummte. Und da war er.

Dunkle Haare, dunkle Augen, durchtrainiert, Klamotten aus dem völlig falschen Jahrhundert und mit einem Gesichtsausdruck zwischen Wut und Orientierungslosigkeit. Allerdings würde ich jede Wette eingehen, dass am Ende die Wut überwiegen würde.

Willkommen im 21. Jahrhundert, Hitoshi.

Bevor es zu dem wahrscheinlich recht mörderischen Wutanfall kommen konnte, sprang Leo in seiner eindrucksvollen Jaguarform in den Laden. Zu gerne hätte ich jetzt Anjas Gesicht gesehen. Erst tauchte ein grimmiger Asiat aus dem Nichts auf und dann gesellte sich noch eine Raubkatze zu ihm, wenn das mal nicht die Grenzen ihres kleinen Verstandes sprengte. Oh, das war doch nicht möglich. Habe ich den Verstand verloren? Was passiert hier? Drama Baby, Drama.

Ich hatte mir im Vorhinein ihre Reaktionen überlegt. Möglichkeit A: Nervtötende Hysterie, die im verzweifelten Werfen von Dingen und anderen lästigen Verteidigungsversuchen endete. Möglichkeit B: Das gleiche ätzende Gekreische, das jedoch einen ebenso dämlichen Fluchtversuch mit sich führte. Möglichkeit C: Die komplette Palette des Schocks mit Sprachlosigkeit und Erstarrung. Oder Möglichkeit D: Das Verhalten einer wahren Lady: Theatralische Ohnmacht.

Es war schön, dass sie sich für Möglichkeit C entschieden hatte. So gab es keinen unnötigen Aufruhr und ich konnte gleichzeitig bequem alles weiter beobachten. Allerdings gab es nicht viel zu beobachten.

Eindringlich starrte Leo Hitoshi an und ich konnte nur vermuten, welche Unterhaltung sie im Stummen führten. In der Vergangenheit hatte ich ja schon eine Kostprobe von seiner Fähigkeit mit Tieren zu kommunizieren bekommen und die machten wir uns jetzt zunutze. Es war besser, wenn mein Partner ihm unser Angebot vertraulich unterbreitete.

Anja würde schon früh genug eingeweiht werden.