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1927, drei Jahre nach Meine Freunde (Bibliothek Suhrkamp 744) und zwei Jahre nach Armand (Bibliothek Suhrkamp 792), erschien Emmanuel Boves Schilderung des Pariser Vorortes Bécon-les-Bruyères – in der Beschreibung und Erfindung sich mischen. Dadurch erreicht Bove nicht nur die Vergegenwärtigung einer Vorstadt von Paris, sondern schafft ein Porträt der Vorstadt schlechthin. Dies gelingt ihm, wie Peter Handke bemerkt, dadurch, daß er den »Duktus der Geschichtsschreibung« nicht auf einen Helden, sondern auf einen Ort anwendet.
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Seitenzahl: 47
Emmanuel Bove, am 20. April 1898 in Paris geboren, starb dort am 13. Juli 1945.
Emmanuel Bove
Bécon-les-Bruyères
Eine Vorstadt
Deutsch von Peter Handke
Suhrkamp Verlag
Titel der Originalausgabe: Bécon-les-Bruyères
Erschienen 1927
Zeichnungen von M. Utrillo
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp, Band 872.
© Flammarion 1984
© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1984
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Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-518-74157-3
www.suhrkamp.de
Für Monsieur Eugène Coulon
I
Die Eisenbahnfahrkarte, mit der man nach Bécon-les-Bruyères kommt, unterscheidet sich nicht von jenen, mit denen man in gleichwelche Stadt fährt. Sie hat das Format, welches ein für alle Male in Frankreich eingeführt worden ist. Die Rückreise ist markiert von dem gleichen roten »R« wie die Fahrkarte nach Marseille. Hinten sind die gleichen Anmerkungen. Man denkt dabei an die Gouverneure, in deren Macht es steht, einem Stück Papier den von ihnen gewünschten Wert zu verleihen, einfach, indem sie da irgendeine Ziffer aufdrucken lassen, und, in der Folge, an die Verwaltungsformalitäten, bei denen es gleichgültig ist, ob man einen Franc oder eine Million erhebt.
Einem Reisenden ohne Fahrkarte händigt der Kontrolleur nur einen großformatigen Schein aus gewöhnlichem Papier aus, den er zuvor bezeichnet hat, mit einer Unterschrift, genauso sinnlos wie es die auf einem Prospekt wäre, welchen man ausgäbe für eine Reise nach Bécon-les-Bruyères.
So wie es in der rue des Bons-Enfants keine »lieben Kinder« mehr gibt, keinen »Flieder« mehr in der Closerie des Lilas, keinen »Kreuzweg« auf der Place du Calvaire, so blüht auch in Bécon-les-Bruyères kein »Heidekraut« mehr. Die noch Lebenden unter den Offiziellen, die im Jahr 1891 den Bahnhof eingeweiht haben, sowie die noch Lebenden unter den ersten Fußballspielern, denen die Hosen bis zu den Knien reichten, entsinnen sich vielleicht gewisser unbebauter Gelände, wo es noch aufwuchs, der paar Fabrikschlote, gleichsam verloren im weiten Raum, und der Holzbaracken, die noch nicht jene Abschrägungen aufwiesen, wie sie dann aufkamen während des Krieges. Kehrten sie heute an diese Orte zurück, so suchten sie wohl vergeblich die Flaggen und die Lampions, oder den Umkleideraum und die Tore ihrer Erinnerungen. Mochten sie damals auch schon erwachsen gewesen sein, so kämen ihnen die Straßen jetzt doch kleiner vor. Bécon-les-Bruyères ist größer geworden, wie ohne sie. Die Stadt, vergleichbar einem Lebhaften, der ruhig geworden ist, wird nicht recht ernstgenommen. Die Zeugen des vergangenen Rumorens stören sie geradezu. So empfängt sie diese kühl, in einem Bahnhof, welcher anderen Bahnhöfen gleicht. Bei Gelegenheit eines Spaziergangs fänden sie dennoch dieses und jenes Heidekraut, inzwischen zu selten, einer ganzen Stadt den Namen zu geben; so wie es der Fliederstrauß einer Ausländerin für eine Closerie wäre. Auf den Feldern, wo es blühte, stehen vier- bis achtstöckige Häuser. Errichtet gleichsam auf Gärten, auf historischen Stätten, auf einem Gelände, welches, würde man die Fundamente aufgraben, Stücke von Münzen, Knochenteile und Statuetten freigäbe, ist auf ihren Fassaden ein Widerschein der Männer, die wiederum andere Männer leiden ließen, und deren Wohlergehen ein Ergebnis der Verleugnung aller Freundschaft ist. Groß ist die Starre dieser Fassaden. Die Bewohner an den Fenstern, der Rauch, der den Schornsteinen entweicht, und die sich bauschenden Vorhänge beleben sie kaum. Mit ihrem Vollgewicht lasten sie auf dem Heidekraut, wie Grabdenkmäler auf dem wehrlosen Fleisch der Toten. Und für den Fall, daß zu Angleichungszwecken eines dieser Gebäude niedergerissen würde und an dessen Stelle neues Heidekraut wüchse, so schiene es einem Fremden, es sei dieses (und nicht jenes, das es nicht mehr gibt), das die Leute von Bécon, in einer Epoche, da die Post und die Briefköpfe noch nicht bestanden, darauf gebracht hat, ihr Dorf mit dem Namen eines Gewächses zu verschönern – und das aus dem einzigen Grund, zu gefallen; denn das andere Bécon in Frankreich ist zu weit entfernt, mit dem Bécon, um das es hier geht, verwechselt zu werden. Es erschiene dem Fremden zudem, das Heidekraut sei hier zu Hause wie der Hopfen im Norden und wie die Olivenbäume an den Küsten des Mittelmeers; es sei die Festigkeit des Bodens, welche zu solcher Namensgebung geführt habe, und nicht, was doch liebenswerter wäre, ein zufälliges Blühen.
***
Bécon-les-Bruyères existiert kaum. Der Bahnhof, der dabei doch diesen frühlingsfrischen Namen trägt, unterrichtet den Reisenden, gleich am Bahnsteig, daß er am Ausgang zur Rechten sich in Richtung Asnières, zur Linken aber Richtung Courbevoie finden wird. Also ist es notwendig, bevor überhaupt von der Stadt geredet wird, gleichsam all das zu rekapitulieren, was zu ihr gehört, so wie man seine Gegenstände erst einmal zusammensammelt, bevor man sie zählt. Die Verflechtung der Vorstadtgemeinden verhindert freilich solche Zwanghaftigkeit. Keine Geländebesonderheit, auch keiner jener Flüsse, welche die Grenzen der einzelnen Departements markieren, trennen sie voneinander. So viele Häuser gibt es, daß man sich in einer Mulde glaubt, während man sich doch auf einem Hügel befindet. Als Grenzen dienen Straßen, die nur gerader und breiter sind als die anderen. Man wechselt von einer Gemeinde in die nächste, ohne es überhaupt zu bemerken. Man ist schon längst in Suresnes, und glaubte, in Bécon, Richtung Courbevoie, zu sein.
Beim Schreiben denke ich unwillkürlich an jenes Dorf, noch phantastischer als Bé