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Aron Olin

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Beschreibung

Zunehmender Erfolg ist eine gute Sache. Sofern man damit richtig umzugehen weiß. Geraldine und ihre Gruppe haben damit so ihre Probleme. Denn für sie geht mit dem Erfolg auch eine wachsende öffentliche Wahrnehmung einher. Die einen nicht geringen Einfluss auf ihre eigene Wahrnehmung hat.

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„Lotta?“ Z starrte die Frau, die in Türrahmen stand, ungläubig an.

„Ganz recht.“ erwiderte diese brummig.

„Was machst du hier?“

„Ich spreche eine Prophezeiung über euch aus.“

„Du?“ Zs Unterkiefer klappte nach unten, „du bist der Prophet?“

„Die Prophetin.“ verbesserte Lotta genervt, „wir haben Gleichberechtigung.“

„Ich bin sprachlos.“

„Davon merkt man nicht viel.“ schnaubte sie, „wärst du das, dann würdest du nichts sagen.“

„Moment...“ Geraldine hob die Hand, „Entschuldigung, wenn ich kurz einschreite... Ich weiß, dass Propheten oft als Griesgrämer dargestellt werden. Aber muss das wirklich sein? Ist das der Umgang, den wir miteinander pflegen wollen?“

Lotta verzog das Gesicht: „Manchmal muss es sein.“

„Manchmal, vielleicht. Aber du hast deine Drohung doch bereits gesagt.

Oder kommt da noch mehr?“

„Fürs erste nicht.“

„Dann...“ Geraldine lächelte breit in der Hoffnung, Lotta damit anzustecken, „lass uns doch einfach freundlich zueinander sein.“

„Das fände ich auch gut.“ stimmte Annie ihr zu.

Doch Lotta lächelte nicht, sondern seufzte nur tief: „Ich werde mich darauf einlassen. Solange es richtig ist.“

„Mehr erwarte ich nicht.“ entgegnete Geraldine, „Z?“

„Ich... bin mit allem zufrieden.“ antwortete dieser abwesend, „ich verarbeite immer noch, dass da Lotta steht. Flasht euch das nicht? Da steht Lotta.“

Geraldine und Annie sahen sich an – und zuckten dann beide mit den Schultern: „Wir kennen sie halt kaum.“ fasste Geraldine es zusammen, „wir haben sie wie oft gesehen? Drei Mal?“

„Könnte hinkommen.“ nickte Annie.

„Ja, gut, das ist richtig.“ Z atmete tief aus, „für euch ist das nicht so doll, aber... für mich... Lotta... du – hier – in einer Gemeinde. Du – Prophetin. Für Gott.“

Lotta lehnte sich gegen den Türrahmen: „Ich sehe, das erfordert doch ein längeres Gespräch. Wegen mir. Ich ziehe mich zurück. In den Nebenraum, der momentan nicht benutzt wird. Macht ihr hier fertig, wofür ihr gekommen seid. Und dann unterhalten wir uns.“

2

Sie versuchten so gut es ging, den Mitarbeitern weiter zuzuhören, doch sie bekamen nur die Hälfte von dem mit, was diese erzählten und auch das verschwand ganz schnell irgendwo im Hinterkopf. Z war davon am schlimmsten betroffen, aber auch die beiden Frauen ließen sich immer mehr anstecken. Es war einfach zu kurios, dass ausgerechnet eine Person, die sie kannten – wenn auch nur flüchtig – von Gott zur Prophetin ernannt worden war. Von deren Ankunft sogar die Medien berichtet hatten. Und während sie so nachsannen, fiel ihnen natürlich auch ihre letzte Begegnung mit Lotta wieder ein. Eine sehr einprägsame Begegnung, wie sie sich gegenseitig bestätigten, als sie schließlich in den Nebenraum wechselten, wo Lotta im Schneidersitz auf dem Fußboden saß, die Hände erhoben, die Augen geschlossen.

„Da seid ihr.“ sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. Allerdings hielt sie das nur noch wenige Augenblicke durch, denn Z sprang direkt auf sie zu: „Lotta, es tut mir so leid. Das mit Yannik – es war alles meine Schuld. Ich habe versagt und er hat dafür bezahlt und... wie kann ich das wieder gutmachen?“

„Z.“ Sie sah ihn ernst an, „glaubst du, ich könnte das hier tun, wenn ich dir nicht schon längst verziehen hätte? Es tut gut, es aus deinem Munde zu hören. Und ich gebe zu, dass ich auch ein wenig drauf gehofft hatte, dass du es sagen würdest. Aber es ist nicht mehr notwendig. Es ist alles vergeben.“

„Das...“ Z ließ sich neben ihr auf den Boden sinken, „danke.“

Da Lotta darauf nichts erwiderte, setzten sich auch Geraldine und Annie dazu. Erstere probierte es ein weiteres Mal mit lächeln: „Das ist aber eine ganz schöne Kehrtwendung, die du da hingelegt hast.

Wenn ich an das letzte Mal denke, wo wir uns gesehen haben...“

„Ja, das ist es sicherlich.“ stimmte Lotta mit versteinerter Miene zu.

„Was ist passiert?“ bohrte Annie nach.

Lotta winkte ab: „Ich langweile mich jetzt nicht damit, euch meine Lebensgeschichte zu erzählen. Und für euch sollte eigentlich auch anderes wichtiger sein.“

„Für all die anderen magst du nur eine Prophetin sein.“ entgegnete Geraldine, „nur in Anführungsstrichen. Aber für uns bist du die Ex-Freundin eines guten Freundes. Und für Z seines besten Freundes.“

„Witwe, wenn man es genau nimmt.“ korrigierte Lotta, was Annie die Stirn runzeln ließ: „Echt? Sagt man das auch bei Freundschaften? Das wusste ich gar nicht.“

„Nein, sagt man nicht.“ schaltete sich Geraldine ein, „also... zumindest nicht, soweit mir das bekannt wäre. Habe ich aber auch noch nie drüber nachgedacht.“

Annies Falten wurden tiefer: „Willst du damit sagen, ihr...?“

„Wir haben geheiratet, ja.“ nickte Lotta, „kurz vor seinem Tod.“

„Das hat Z uns gar nicht erzählt.“ Annie sah ihn vorwurfsvoll an und er wurde blass.

„Weil er es nicht gewusst hat.“ erklärte Lotta zwar daraufhin, aber Z schüttelte den Kopf und flüsterte: „Doch. Wir haben deine Anzeige in der Zeitung gesehen. Becka und ich.“

„Anzeige?“ wiederholte Geraldine verwirrt.

„Nach Yanniks Tod.“

„Aha. Und du hast es nicht für nötig gehalten...“

Z biss sich auf die Unterlippe: „Wir haben nicht gesprochen, zu der Zeit.“

„Oh. Klar.“ Geraldine verzog das Gesicht, „zu der Zeit.“

„Heißt du denn noch so?“ versuchte Annie, die Situation zu entspannen, „wie er?“

Lotta nickte: „Natürlich. Das ist das Letzte, was mir von ihm geblieben ist.“

„Und die Erinnerungen.“ fügte Geraldine leise hinzu, doch Lotta ging nicht darauf ein. Also versuchte Annie erneut, die Stimmung zu retten:

„War sie schön? Die Hochzeit, meine ich?“

„Klein.“ erwiderte Lotta, „vier Leute. Aber sehr nett. Und die anderen beiden sind inzwischen auch verheiratet.“

„Du meinst eure Trauzeugen.“ Annie schmunzelte – noch mehr, als Lotta dies bestätigte:

„Ja.“

„Spontan?“ fragte Annie weiter, „bei euch, meine ich?“

„Mehr oder weniger.“

Geraldine kicherte: „Ja, das sind die besten Hochzeiten, nicht wahr?“

„Sie sagt das aus Erfahrung.“ setzte Z mit schwachem Lächeln hinzu.

Lotta blieb weiterhin ernst: „Das dachte ich mir.“

„Und ich sage dazu: Ihr seid alle beknackt.“ ließ sich Annie lautstark vernehmen, „eine Hochzeit muss riesig sein. Mit echter Kutsche mit echtem Pferd vorne dran. Und einem weißen Kleid mit so langer Schleppe, dass in der Kirche die gesamte Hochzeitsgesellschaft drüber fällt, wenn sie versuchen, der Braut beim Auszug zu folgen. Und einer Torte, bei der man schon vom anschauen Bauchschmerzen kriegt und beim Essen dann noch viel mehr. Und lauter tatterigen alten Verwandten, die auf der Bühne die Lieder vorsingen, die sie dem Brautpaar als Kinder vorgesungen haben, von denen sie aber den Text nicht mehr richtig können. Und einer peinlichen PowerPoint-Präsentation vom besten Freund des Bräutigams, bei der der Bräutigam auf jedem Bild doof aussieht und der beste Freund immer cool.

Und...“

„Wenn du irgendwann mal heiratest, werden wir dafür sorgen, dass du all das bekommst.“ unterbrach Geraldine sie lachend.

„Vielen Dank, das freut mich. Dann werde ich mal den passenden Mann suchen gehen.“

„Jetzt?“ erkundigte sich Z und Annie wedelte abwehrend mit den Händen:

„Öhm... nein. Wir können gerne von meiner kleinen Abschweifung zurückkehren zur eigentlichen Hauptperson.“

„Das wäre dann wohl ich.“ Lotta seufzte, „toll.“

Annie rollte mit den Augen: „Na hör mal: Dich haben sie letztes Jahr in ganz Deutschland im Gottesdienst angekündigt. Ich will nicht wissen, wie viele 1.000 Leute dafür von Gott ein Bild bekommen mussten. Und das für eine Frau, die mit Vorliebe anderen Leuten Waffen unter die Nase hält. Wenn das keine Geschichte wert ist...“

„Das habe ich nur einmal getan. Jemandem eine Waffe unter die Nase halten. Und ich habe es bitter bereut – wenn man so will.“

Z legte den Kopf schief: „So?“

Lotta schloss die Augen: „Das war der Moment, wo in mir etwas ‚Klick‘ gemacht hat. Wo ich gelernt habe, was es heißt, gnädig zu sein. Gegenüber jemandem, der es – in den eigenen Augen – nicht verdient hat.“

„Das ist doch aber eine gute Erkenntnis.“ überlegte Annie verwundert.

„Das dachte sich Gott wohl auch.“ Lotta lachte humorlos auf, „denn er hat mich darauf angesprochen.“

„Angesprochen. So richtig?“

„Ja. Laut. Zumindest kam es mir so vor.“

Annie machte große Augen: „Und was hat er gesagt?“

„Dass er einen Plan mit mir hat.“ Lotta öffnete die Augen wieder und blickte düster geradeaus, „und dass ich nun dafür bereit bin.“

Auch Geraldine war nach wie vor ein wenig verwirrt: „Das ist doch schön.“

„Schön?“ fuhr Lotta auf, „ich hätte so gerne einfach meine Ruhe.“

„Aber was du tust, ist wichtig.“ ging Geraldine dagegen, „gehe ich zumindest mal von aus.“

Lotta zuckte die Achseln: „Sicher. Für irgendwen. Aber für mich...“

„Was willst du denn?“

„Mich verkriechen. Trauern.“

„Jetzt noch?“ stieß Annie hervor und Geraldine stöhnte auf:

„Annie...“

„Ist doch wahr.“ blieb Annie standhaft, „der Tod gehört zum Leben. Mag ich auch nicht. Ist aber so. Und irgendwann müssen wir drüber wegkommen. Sonst machst du dich depressiv. Für den Rest deines Lebens.“

„Und da habe ich keinen Grund zu.“ schnauzte Lotta verärgert. Was Annie nicht verstand:

„Du wirst Yannik wiedersehen.“

„Nein, das werde ich nicht.“

„Aber du...“ Annie kratzte sich am Kopf, „bist doch...“

„Ich? Ja. Er? Nein.“

„Aber... wir... Christopher...“ Annie blickte sich hilfesuchend zu Geraldine und Z um, doch es war Lotta, die ihr antwortete:

„Er hatte eine Vision. Ich weiß.“

„Was?“ schnappte Z, „woher?“

„Äh... Prophetin?“

„Ja klar, aber...“

„Stopp!“ Geraldine hob beide Hände, „sie weiß, wovon sie redet. Du weißt, wovon du redest. Ich verstehe euch beide nicht. Was für eine Vision?“

„Die Vision, die Christopher wegen Z hatte.“ klärte Annie sie auf, „schon vergessen? Wir hatten alle eine.“

„Nein, nicht vergessen. Aber wieso glaubst du, dass diese Vision etwas mit dem hier zu tun hat?“

„Weil er Yannik gesehen hat.“ erwiderte Annie und konsternierte Geraldine damit noch mehr:

„Wo hast du das denn her? Das hat er nie gesagt.“

„Es stimmt aber, oder?“ Annie sah Lotta an, die nickte:

„Ja. Es stimmt.“

„Gut, wegen mir.“ brummte Geraldine, „aber wie kommst du auf einmal darauf?“

Annie tippte sich an die Stirn: „Ich komme nicht auf einmal darauf. Ich bin schon drauf gekommen, als er sie erzählt hat. Ich meine... wer hätte es sonst gewesen sein sollen? Und ich dachte eigentlich, dass das euch beiden auch so gegangen wäre. Dass ihr das gleiche gedacht habt.“

„Habe ich auch.“ bestätigte Z. Was Geraldine ein weiteres Brummen entlockte:

„Ich nicht.“

„Das habe ich nicht gewusst. Sorry.“ Annie lächelte sie entschuldigend an.

„Na – jetzt weiß ich es immerhin. Und du?“ wandte sich Geraldine an Lotta, „woher weißt du es nun?“

„Ich hatte auch eine Vision.“ antwortete diese, „von Yannik. Die gleiche im Grunde genommen.“

Z schüttelte sich: „Jetzt hast du uns wieder abgehängt.“

„Ach... dann halt von Anfang an: Gott hat zu mir gesprochen. Und ich habe gehört. Weil er der Einzige war, den ich nicht aussperren konnte. Und er hat einen Hang dazu, die richtigen Sachen zu sagen. Nicht das, was man hören will. Aber das, was man hören muss. So sind wir zueinandergekommen. Und ich in die Gemeinde. Sehr befremdlich. Aber man gewöhnt sich daran. Ich habe angefangen, in der Bibel zu lesen und zu beten. Auch für Yannik. Weil ich gehofft habe, dass es etwas nützt. Dass mein Gebet für seine Seele nachträglich einen Einfluss hat. Aber dem ist nicht so. Die Entscheidung muss fallen, bevor das Leben endet. Sonst ist es zu spät. Und die Entscheidung muss jeder selbst treffen. Ich kann Yannik nicht zu Jesus bringen. Das hätte er nur selbst gekonnt. Ich bete weiterhin jeden Tag für seine Seele. Ganz egal, ob es was nützt. Gott ist mir nicht böse deswegen. Er weiß, dass es mir wichtig ist. Dass ich es brauche. Aber er wird die Regeln nicht für mich ändern.“

„Also ist er verloren.“ hauchte Annie schwach.

„Er ist verloren.“ bestätigte Lotta wesentlich fester.

„Weil wir versagt haben.“

„Unter Anderem.“

Geraldine runzelte die Stirn: „Unter anderem?“

„Gott hat auch eigene Wege.“ klärte Lotta sie leicht ungeduldig auf, „für alle, im Grunde, die nicht an ihn glauben. Bevor es mit ihnen zu Ende geht, versucht er noch, sie zu retten. Auch bei Yannik hat er das. Aber Yannik hat sich nicht retten lassen. Er hat abgelehnt. Seine Entscheidung. Konsequent bis zum letzten Atemzug. Und ich werde ihn nicht wiedersehen.“

Annie saß mit offenem Mund da und sagte keinen Ton. Geraldine brachte nur ein „Ich...“ über die Lippen. Z schien etwas sagen zu wollen, doch Lotta fuhr lieber selbst fort:

„Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, mich selbst ins Totenreich schicken zu lassen. Nur, um bei ihm zu sein. Aber Gott hat mir das ausgeredet. Weil wir auch dort nicht zusammen wären. Schließlich gibt es zwei Seiten.“

„Ähm…“ machte Annie laut und vereitelte damit Zs zweiten Versuch, „wovon genau redest du? Den alten Griechen? Römern? Etruskern?“

Geraldine starrte sie an: „Woher kennst du denn die Etrusker?“

„Tue ich nicht. Kenne nur das Wort. Die gabs wirklich. In echt.“

„Ja. Sowohl wirklich als auch in echt. Aber kommen wir zurück zu deiner Frage. Die hätte ich nämlich auch gestellt. Lotta?“

Lotta atmete tief ein: „Ihr seid – so wie gefühlt 99% der Menschheit – geprägt von dem, was die Medien euch liefern. Und die liefern am allerliebsten Schlagworte, die eindeutig identifizierbar sind – auch wenn sie sich mit ein wenig tiefergehender Recherche als inhaltlich falsch erweisen.“

„Das war ein langer Satz. Aber keine Antwort.“ stellte Annie trocken fest.

„Ihr redet von Himmel und Hölle. Gehe ich zumindest von aus. Das sind eure Begrifflichkeiten für die beiden Orte, wo Menschen nach dem Tod hinkommen. Und das ist grundsätzlich nicht schlimm, denn jeder weiß, was ihr damit meint. Wie gesagt: 99%. Trotzdem sind sie falsch. Von Grund auf.

Zunächst mal sind es nicht zwei Orte – es ist nur ein Ort. Dieser Ort heißt Totenreich. Dort gibt es zwei Seiten, die voneinander getrennt sind. Und auf diese beiden Seiten kommen die Menschen. Auf die eine… die einen und auf die andere… die anderen. Ihr wisst, was ich meine. Hieße im konkret vorliegenden Fall: Yannik auf der einen, ich auf der anderen.“

Geraldine und Annie wechselten einen Blick:

„Krass, dass das nie jemand gesagt hat. Uns verbessert, meine ich.“

„Ich weiß nicht… haben wir so oft über die Hölle gesprochen?“

„Naja… nicht, aber…“ „Vielleicht weiß es auch sonst niemand.“

„Christopher? Miguel?“

„Ja… hm…“ Die beiden Frauen verfielen in Schweigen.

„Und die Vision?“ nutzte Z die Pause, nun doch seine eigene Frage anzubringen.

„Gott hat mir das erzählt. Von Yannik. Da habe ich ihn angeschrien, dass er mir das selbst sagen soll. Also... Yannik. Und das hat er gemacht. Ich habe ihn getroffen. In Frankfurt im Palmengarten. Einer unserer Lieblingsplätze.

Natürlich war ich nicht in echt dort. Ich war die ganze Zeit zuhause.“

„Da hat Christopher ihn auch getroffen.“ unterbrach Z sie aufgeregt, „also...

gesehen. Also...“

„Ich weiß. Ich habe sie beobachtet.“

„Beobachtet?“ stieß Annie erstaunt hervor.

„Faszinierend, nicht wahr?“ Lotta lächelte traurig, „zwei Menschen, eine Vision. Als Christopher weg war, kam Yannik zu mir. Wir haben uns lange unterhalten. Er hat mir gesagt, dass seine Entscheidung falsch war. Und leider unumstößlich gilt. Dass ich diesen Fehler bloß nicht nachmachen soll.“

„Ich verstehe immer noch nicht.“ fiel Geraldine ein, „ich meine... ganz abgesehen davon, dass das klingt, wie die Handlung von einer von Zs Serien... warum das Ganze? Also… dass er ausgerechnet Yannik dafür genommen hat. Ein… Trugbild von ihm, meine ich. In Ermangelung eines besseren Begriffes. Bei dir kann ich das noch halbwegs nachvollziehen. Aber bei Christopher?“

„Ja. Christopher. Eine Vision soll eine Botschaft transportieren. Für ihn war dies: Er sollte Z vergeben. Dem ‚Täter‘. Und wer, wenn nicht das ‚Opfer‘, ist dafür geeignet, diese Botschaft zu überbringen? Genauso bei mir. Ich musste es aus seinem Mund hören. Also habe ich es aus seinem Mund gehört. Das erzielt es eine Wirkung. Und um die geht es.“

Annie zog die Brauen zusammen: „Aber was macht es denn für einen Sinn, dass du erst seine Vision gesehen hast und dann deine eigene?“

„Uff, das… das ist mit Abstand die abwegigste Frage, die jemand zu diesem ganzen Themenkomplex einfallen kann. Aber gut – auf jede Frage gibt es natürlich eine Antwort. Von mir. Also: Ich habe nicht Christophers Vision gesehen. Ich bin zuhause eingeschlafen und im Palmengarten aufgewacht – wenn ihr versteht, was ich meine…“ Die drei nickten und so fuhr sie fort:

„Und da liefen die beiden durch die Gegend. Ich wollte direkt zu ihnen, aber genau in diesem Moment sagte Yannik laut ‚Ich gehe gleich noch Lotta suchen‘. Also bin ich stehengeblieben und habe gewartet. Was sie danach noch beredet haben, habe ich nicht gehört. ‚Beobachtet‘ war anscheinend ein ungeschickter Begriff. Ich habe sie nicht belauscht oder so. Ich habe einfach rumgestanden, bis sie fertig waren. Christopher ist entschwunden und Yannik hat sich zu mir gesellt. Warum das so war? Keine Ahnung.

Vielleicht wollte Gott mir damit noch irgendwas Bestimmtes sagen. Das wäre Pech, denn dann habe ich es bis jetzt nicht verstanden. Meine Interpretation der Dinge ist einfach, dass ich dem keine allzu große Bedeutung beimessen sollte. Vielleicht wollte Gott nur Strom sparen und hat uns daher beide zusammengepackt.“

„Strom sparen.“ wiederholte Z schnaubend, „witzig.“

„Gell?“

„Dürfte ich nochmal einhaken.“ Geraldine stach mit dem Zeigefinger in die Luft, „wie kamst du, Annie, darauf, dass Yannik doch gerettet ist? Und woher wusstest du, Lotta, sofort, dass sie das aus der Vision gezogen hat?“

Lotta kicherte humorlos: „Im Grunde hat deine zweite Frage deine erste beantwortet.“

„Nicht wirklich.“

„Wegen mir. Woher ich es wusste? Geraten. Weil es das Einzige war, was Sinn ergeben hat. Und weil ich eben auch ein bisschen was über Christopher weiß.“

„Und das wäre?“

„Nun…“ Lotta seufzte tief, „Christopher ist ein Mensch, der in sich eine Hoffnung trägt. Dass – entgegen der klaren Aussage der Bibel – Gott gute Taten belohnt. Mit einem Platz an seiner Seite. Unabhängig vom Glauben.

Seine Herangehensweise ist da auch eine andere. Und durchaus verständlich. Denn dass es in der Bibel heißt ‚Man kommt nicht durch gutes Benehmen zu Gott‘, bezieht sich ja in erster Linie auf Menschen, die versuchen, sich so einen Platz im Himmel zu erschleichen. Nach dem Motto:

‚Glauben will ich eigentlich nicht, aber wenn ich immer hübsch brav bin, klappt das schon.‘ Tut es eben nicht. Aber Christopher betrachtet es genau andersrum: Dass jemand einfach so gut ist – ohne jeglichen Gedanken an Gott oder den Himmel dabei. So ein Mensch tut es eben nicht für sich. Oder Gott. Oder den Himmel. Sondern für die anderen Menschen. Und das ist durchaus belohnenswert. Ich kann euch kein Wissen dazu weitergeben, wie Gott das sieht. Dazu habe ich nichts. Aber ich weiß, dass das in Christopher tief verankert ist. Diese Hoffnung. Und so bin ich vorhin einfach davon ausgegangen, dass er sich – nach seiner Vision – dieser Hoffnung hingegeben, und sie zudem an euch weitergereicht hat.“

„Hat er nicht.“ Geraldine schüttelte den Kopf, „im Gegenteil. Er hat klipp und klar gesagt, es wäre nur eine Hoffnung. Aber eigentlich wüsste er es besser.“

„Tja…“ Nun war Annie die, die seufzte, „und ich habe halt gedacht, die Hoffnung stimmt vielleicht. Und von daher…“ „Tja…“ machte Lotta sie unbewusst nach, „da hast du leider falsch gedacht.

Und er richtig. Aber bevor hier etwas Falsches aufkommt: Hoffnung ist eine gute Sache. Nur wird sie manchmal eben enttäuscht. Und bevor ihr jetzt sowas sagt wie: ‚Aber warum war es dann nicht eindeutig in der Vision?‘ – wahrscheinlich findet Gott es gar nicht schlecht, dass Christopher diese Hoffnung hat. Und nicht alle Ungläubigen automatisch als verloren einordnet. Dementsprechend hat er die Vision nicht dafür nutzen wollen, diese Hoffnung zu zerschlagen. Was sicherlich passiert wäre, hätte Yannik es so deutlich formuliert, wie er das bei mir hat. Doch darum ging es ja gar nicht. Wie schon gesagt: Das Ziel war ein anderes. Und so hat Gott beides erreicht: Er hat dafür gesorgt, dass diese – durchaus gute und wichtige – Hoffnung bestehen bleibt, und dass Christopher zurück auf den richtigen Weg kommt. Das ist doch fein. Ein doppelter Gewinn. Und dass Annie dann für sich privat etwas anderes draus dreht… das weiß er natürlich auch.“

„Nur hat er es mir leider nicht gesagt.“ ereiferte sich Annie.

„Doch, hat er. Jetzt gerade. Durch mich.“

„Hm… okay. Sehe ich ein.“

„Und ich bin mir sicher: Hättest du deine Ansichten diesbezüglich irgendwann mal laut mit der Gruppe geteilt, hätten die anderen – mindestens mal Christopher – es dir ebenfalls gesagt.“

„Hm… okay. Nochmal. Sehe ich auch ein.“

Lotta streckte ihr einen Daumen entgegen: „Fein.“

„Ich finde es echt krass, was du an Weisheit gewonnen hast in dieser kurzen Zeit.“ bemerkte Z anerkennend.

Lotta schüttelte den Kopf: „Das kommt nicht von mir. Kaum etwas, was ich hier rede, kommt von mir. Aber gut – das ist mein Job, von daher... Bei mir hat Gott es halt ganz anders gemacht. Um den Bogen dieser Vision mal abzuschließen. Bei mir wusste er, dass ich so weit noch nicht war in meinem Glauben. Und meinem Wissen. Und er wusste, dass ich die Wahrheit brauche. Nackt und roh und brutal. Weil das ja auch das war, worum ich ihn gebeten hatte.“

„Hat es geholfen?“ fragte Annie leise.

„Ich bin hier, oder nicht?“

„Aber nicht wirklich glücklich.“

„Wie gesagt.“ seufzte Lotta, „Gott hat mir diese Aufgabe gegeben. Die anstrengend ist und unschön. Ich weiß jetzt, wie sich die Propheten im Alten Testament gefühlt haben. Mich hat noch niemand in eine Zisterne geworfen. Aber rausgeworfen hat man mich des Öfteren schon.“

„Wir werfen dich nicht raus.“ versicherte Geraldine, „im Gegenteil: Wir hören dir aufmerksam zu.“

Lotta blinzelte verdutzt: „Wobei?“

„Dem, was du uns zu sagen hast.“

„Das habe ich doch schon gesagt.“

Geraldine kratzte sich am Kopf: „Das war ein Satz.“

„Drei Sätze.“ widersprach Lotta.

„Gut, wegen mir drei. Aber das kann es doch nicht gewesen sein. Was bedeutet das?“

„Willst du mir echt sagen, du hast mich nicht verstanden?“ Lotta schien fast ein wenig beleidigt. Doch Geraldine sah keinen Sinn darin, unehrlich zu sein:

„Inhaltlich schon. Aber da muss es doch mehr Informationen geben.“

Lotta verzog das Gesicht: „Ich glaube, dir ist noch nicht ganz klar, was Prophetie bedeutet. Es ist keine Voraussage der Zukunft im Sinne von:

Wenn dieses passiert und du dann jenes tust, dann wird welches passieren.

Das gibt es auch. Das ist eine Weissagung. Aber das mache ich nicht. Ich schreibe niemandem etwas vor. Ich liefere Denkanstöße. Und das in guter Tradition. Denkt an Josef in Ägypten.“

„Mit der Frau, die ihn ausgezogen hat?“

Geraldine prustete los: „Annie. Du wieder. Wir hätten nicht übers Heiraten reden sollen.“

„Stimmt doch aber.“ verteidigte sich Annie motzig.

„Schon. Aber doch nicht in diesem Zusammenhang. Sie meint die fetten und die mageren Kühe.“

„Ach so. Also sieben Mal du und sieben Mal ich.“ Annie tippte Geraldine auf die Brust, die allerdings nur schmunzelte:

„Ich könnte dich jetzt fragen, welche davon ich sein soll. Aber ich lasse es, denn sonst muss ich dich wahrscheinlich schlagen.“

„Ich würde sagen, beide Möglichkeiten sind nicht gut.“ kicherte Z, „aber da Annie die jeweils andere ist, beleidigt sie sich damit genauso wie dich.“

„Dann kann ich also gehen.“ ließ sich Lotta vernehmen und sofort wedelten die drei Freunde allesamt wild mit den Händen durcheinander:

„Halt, nein, warte.“ fasste Geraldine diese Geste in Worte, „wir sollen selbst nachdenken, das haben wir verstanden. Aber dann erklärst du es uns doch, oder?“

Lotta schüttelte den Kopf: „Nein. Wie sollte ich das? Ich weiß es doch gar nicht.“

„Ähm... was?“ Geraldine starrte sie entgeistert an.

„Irgendwie glauben immer alle, dass Gott mir ganz viel aufschreibt und dann hinterher einen Teil davon fett markiert und sagt ‚Das ist das, was du sagen sollst‘. Aber so ist es nicht. Ich sage alles, was er mir sagt. Wort für Wort. Ich habe nur das. Sonst nichts.“

„Dann war der Josef mit seiner Ägyp... ich meine, aus Ägypten, aber kein gutes Beispiel.“ entgegnete Annie beungeistert, „der hats nämlich erklärt.“

„Gut. Ja. Das mag durchaus... so spontan... ein wenig...“ Lotta brach ab. Was nicht schlimm war. Denn Geraldine war durchaus gewillt, selbst wieder zu Wort zu kommen:

„Und woher sollen wir dann wissen, was die Herausforderung ist?“

„Das werdet ihr erkennen.“

„Und ob wir sie bestanden haben?“

„Das werdet ihr merken. Hinterher.“

„Wenn es zu spät ist.“ schnaubte Annie los.

Lotta schüttelte betrübt den Kopf: „Das ist doch keine Falle, Leute. Das dient dazu, dass ihr die Augen aufmacht. Euer Leben ist voller Herausforderungen. Manche davon groß, manche klein. Aber im Grunde solltet ihr sie alle gleich wichtig nehmen. Und immer versuchen, das Richtige zu tun.“

„Jetzt sagst du ja doch mehr.“ lächelte Z. Aber Lotta war einfach nicht fröhlich zu kriegen:

„Das war aus meinem eigenen Verstand. Ich erkläre euch etwas, was eigentlich keiner Erklärung bedarf.“

Geraldine zuckte mit den Schultern: „Wenn du das so siehst.“

„Seid einfach wachsam. Verliert die Dinge nicht aus den Augen. Trefft keine vorschnellen Entscheidungen. Kurzum: verhaltet euch intelligent. Dann kann gar nichts schiefgehen.“

„Und wenn sie vorbei ist, kommst du nochmal.“ Annie bemühte sich, es nicht wie eine Frage klingen zu lassen und zu ihrer Erleichterung nickte Lotta, wenn auch zurückhaltend:

„Das ist schon vorgekommen. Dass ich es Leuten mitgeteilt habe. Aber versprechen kann ich es nicht. Das ist auch eine der nervigen Sachen bei diesem Job. Ich kriege selbst keinerlei Informationen im Voraus. Ich kriege einen Ort, eine Zeit und einen Spruch. Und das meistens nur mit ein bis zwei Tagen Vorlauf. Das wars.“

Z legte die Stirn in Falten: „Und wie machst du das arbeitstechnisch?“

„Meine Gemeinde unterstützt mich.“

„Guter Trend.“ Wieder versuchte er es mit einem Lächeln.

Wieder hatte er kein Glück: „Einzige Möglichkeit.“

„Kommst du denn zumindest mit nach Frankfurt? Becka würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.“

„Du kannst ihr Grüße ausrichten. Und Frankfurt ist ja auch groß genug, dass eine gewisse Chance besteht, dass ich dort mal hingeschickt werde.

Dann werde ich euch Bescheid geben. Für ein privates Treffen. Ohne Fragen.“ Der Tonfall, in dem sie das sagte, ließ keine Diskussion dazu zu, daher nickte Z nur und erwiderte knapp:

„Natürlich.“

„Wo wohnst du denn?“ bohrte Annie nach.

„Bei meiner Mutter.“

„Echt?“ Z blinzelte überrascht, „ich dachte, ihr versteht euch nicht.“

„Wir hatten keinen Kontakt – das ist ein Unterschied. Und es hat sich halt ein bisschen was verändert in meinem Leben.“ brummte Lotta zurück, „ich habe keinen Mann mehr, der mich ernährt und auch keinen Job mehr, der mich ernährt. Unterstützung ist gut, aber Essen kaufen ist erstmal wichtiger als Miete zahlen. Und dafür geht das meiste drauf, was ich bekomme. Also blieb mir nichts anderes übrig, als über meinen Schatten zu springen und Hilfe dort zu suchen, wo ich sie ohne großes Gefrage bekomme. Und ohne eine Standpauke, dass ich es zu nichts gebracht habe. Und ich hasse sie ja auch nicht. Meine Mutter nicht, meinen Vater nicht. Das tun sie nur untereinander.“

„Und warum sie und nicht er?“

Lotta runzelte die Stirn: „Die Einblicke in mein Privatleben enden an dieser Stelle. Sagen wir einfach, sie braucht mich mehr. Ich sehe ihn ab und zu. Das muss dir genügen.“

„Ich wollte nicht neugierig sein.“ wehrte Z ab, „nur sichergehen, dass es dir gutgeht.“

Lottas lautes Schnauben war ihm Antwort genug, daher ließ er das Thema fallen – nur, damit Annie es direkt wieder aufnahm:

„Und wie kommen sie damit klar, dass das du hier machst? Sie wissen das doch, oder?“

„Ja, beide. Und: Sehr gut.“

„Ernsthaft?“ wunderte sich Z.

„Sie glauben kein Wort von dem, was ich erzähle.“ Lotta biss sich auf die Lippen, „aber sie sehen darin eine Art diakonischen Dienst. Leuten mit weisen Worten auf den richtigen Weg helfen. Das ist für sie, wie wenn ich bei den anonymen Alkoholikern arbeiten würde. Und witzigerweise sehen sie es wirklich beide so. Hat schon etwas Besonderes für mich, aus ihrer beider Münder die gleiche Meinung zu hören. Nur, dass sie das natürlich nicht voneinander wissen. Sonst würden sie sie am Ende einfach nur deswegen ändern. Und das brächte mir nichts.“

„Das heißt...“ Geraldine zögerte, „du versuchst nicht, es ihnen verständlich zu machen? Den Inhalt deiner Arbeit, meine ich.“

„Nein.“

„Weil...?“

„Ich eines sehr deutlich von Gott gezeigt bekommen habe: Nicht jeder Mensch kann jeden Menschen bekehren. Wir haben zu viel Vergangenheit, zu viel... Ballast. Wir sind einander nicht wertfrei gegenüber. Also beschwöre ich mit keinem von ihnen eine Krise herauf, die dafür sorgt, dass ich den guten Draht, den ich menschlich wieder zu ihnen habe, erneut verliere und bete dafür, dass sie auf anderem Wege zu Gott finden.“

Geraldine nickte: „Das klingt vernünftig.“

„Und Yanniks Eltern?“ bohrte nun auch Z wieder weiter, „hast du mit denen noch Kontakt?“

Lotta schüttelte den Kopf: „Hatte ich nie wirklich. Yannik war nie gut im Kontakt halten. Und seine unmöglichen Arbeitszeiten – unsere, sollte ich eher sagen – haben da ihr Übriges getan. Er hat seine Eltern geliebt – und sie ihn natürlich auch. Aber eher so aus der Ferne unregelmäßig per Telefon. Ich habe sie nur ein paarmal getroffen im Laufe unserer Beziehung. Ganz am Anfang natürlich, zum gegenseitig bekanntmachen. Und nach der Hochzeit, zum bekanntgeben und feiern. Ich mag sie und hatte durchaus auch den Eindruck, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte… beruht. Aber als Basis für ein Miteinander ohne ihn war es nicht genug. Mit seinen Schwestern hatte ich vor diesem Job sporadisch Kontakt. Mit ihnen haben wir uns auch öfter mal getroffen. Aber als sie dann mitgekriegt haben, dass ich ganz offiziell für den… den halt arbeite, der – ihrer Meinung nach – für Yanniks Tod verantwortlich war…“

„Äh?“ machte Geraldine, „wo nehmen sie das denn her?“

„Nun – es sind natürlich Fragen aufgekommen im Nachgang. Um den Prozess rum, vor allem. Von der armen Frau, die ihn… nicht wirklich umgebracht hat. Ich kannte ja die ganze Geschichte. Und war zu dem Zeitpunkt noch nicht so nah an Gott, dass ich einen Grund gesehen habe, damit hinter dem Berg zu halten.“

„Du hast ihnen die Wahrheit gesagt?“ Z starrte sie entsetzt an.

„Natürlich nicht. Das hätten sie nie geglaubt. Genauso wenig, wie ich es damals geglaubt habe. Also… den Dämonen-Part. Aber ich habe ihnen erzählt, dass du ihn in deinen Kirchenkram mit reingezogen hast und dass diese Frau da irgendwie auch dazugehörte. Das hat gereicht. Sie konnten mit Gott schon vorher nichts anfangen – das hatten sie mit Yannik und auch mit mir gemein. Und ab dem Zeitpunkt nochmal eine große Portion weniger. Und als ich dann ankam mit dieser… Aufgabe – da fanden sie es angebracht, sich von mir loszusagen. Ich hätte sie gerne erreicht – innerlich.

Mit meiner neuen Botschaft. Aber… nicht jeder ist richtig, sie jedem zu erzählen. Wie ihr ja auch wisst.

Annie seufzte leise: „Alles ziemlich traurig, oder?“

„Tja… so ist das, wenn jemand stirbt, der einem nahesteht.“

„Das ist wahr. Aber nicht nur das. Auch, dass… Yannik und seine Eltern…“ Ihre Augen wurden groß, „Zs Vater hat es erwähnt. Bei der Beerdigung.

‚Die Umstände‘ nannte er es. Ich dachte, es wäre etwas vorgefallen. Aber… er meinte euch. Eure Hochzeit. Deshalb hat er auch abgebrochen, als er merkte, wir wissen es nicht.“

Lotta sagte nichts dazu. Geraldine schon:

„Da magst du Recht haben. Nützt uns jetzt aber auch nichts mehr.“

„Nein, das… tut es nicht.“ Annie seufzte – und wandte sich wieder Lotta zu, „es tut mir einfach leid, dass ihr euch nicht nahestandet. Das… es ist einfach… tragisch.“

„Kinder und Eltern sind immer so eine Sache.“ sinnierte Lotta, „alle Eltern versuchen, ihr Bestes zu geben. Aber sie stützen sich dabei auf das Wissen ihrer eigenen Generation. Und ihre Kinder sind nun mal eine neue Generation. Ach... ich bin keine Familientherapeutin. Ich verstehe ja noch nicht mal das, was ich von Gott gesagt kriege.“

„Wäre aber besser, oder?“ Geraldine kratzte sich am Kinn.

„Ich meine damit, dass ich in vielen Fällen nicht weiß, was das, was ich den Leuten sage, wirklich zu bedeuten hat. Für sie. Und da ich meistens gehe, bevor sich etwas einstellt, erfahre ich es auch nie.“

„Das ist schade.“

„Ja.“ Lotta blickte einen Moment nachdenklich in die Ferne. Und war dann mit einem Mal wieder so schroff wie am Anfang: „aber ‚gehen‘ ist ein gutes Stichwort. Ich verabschiede mich jetzt.“

Z sah verdutzt auf die Uhr über der Tür: „Es ist doch noch gar nicht so spät.“

„Nicht ins Bett. In die Bahn.“

„Bahn?“ wiederholte Geraldine verständnislos.

„Das ist das Ding, mit dem ich von Ort zu Ort fahre.“ erklärte Lotta schnippisch, „früher war zugegebenermaßen der Wanderstock voll angesagt. Aber auch Gott geht mit der Zeit.“

„Warum hast du kein Auto – wollte Geraldine damit sagen… fragen.“ erklärte Annie bestimmt, worauf diese mit den Augen rollte:

„Nein, das…“ Doch Lotta überhörte sie: „Ich hatte es doch schon gesagt, oder? Ich habe nicht viel. Ich werde unterstützt. Von meiner Mutter, und einer – einer – Gemeinde. Davon kann ich bezahlen, was ich bezahlen können muss. Aber ich kann mir nichts… leisten.“

„Aber warum nur eine Gemeinde? Kriegst du denn nichts von denen, wo du prophetier… prophezeist?“

„So wie ihr, meinst du?“ Lottas Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Wovon sich Annie jedoch nicht beirren ließ:

„Ja, genau.“

„Nein. Bekomme ich nicht. Propheten hatten immer schon den unschönen Auftrag, in erster Linie unschöne Dinge zu verkünden. Dafür zahlt keiner was.“

„Keiner? Nie?“

„Ein netter Mann aus meiner Gemeinde, der unsere Familie schon kennt seit bevor ich geboren wurde, hat mir aus reiner Freude darüber, dass ich jetzt einen Dienst für Gott mache, eine Dauerkarte vom VfB geschenkt.“

Z zog die Brauen hoch: „Ernsthaft?“

„Ja. Toll, gell?“

„Eigentlich… schon. Für dich zumindest.“

„Ja…“ Lotta seufze, „das dachte er sich sicherlich auch. Weswegen ich mich natürlich auch überschwänglichst und mit dem breitestmöglichen Lächeln bedankt habe.“

„Aber wo ist denn das Problem?“ hakte Z nach.

„Dass ich sie nicht benutzen kann. Weil ich zu 99% dann, wenn die Spiele stattfinden im Zug sitze zu einer Gemeinde oder von einer Gemeinde.“

„Okay… das ist doof.“

„Wer oder was ist VfB?“ mischte sich Geraldine ein.

„Stuttgart.“ klärte Z sie auf, „Fußball.“

„Oh.“ machte Geraldine „Ah.“ machte Annie, „da klingelt was.“

„Hm?“ Z runzelte die Stirn, „wo?“

Auch Geraldine blickte verwirrt drein, „ich hör nichts. Hast du dein Handy auf lautlos?“

„Geh doch dran.“

„Nicht mein Handy.“ entgegnete Annie leicht genervt, „in meinem Kopf.“

Geraldine und Z brachen gleichzeitig in Gelächter aus:

„In deinem Kopf?“

„Jetzt mache ich mir Sorgen um dich.“

„Du meinst, mehr als bisher schon immer?“

„Auch wieder wahr.“

„Haha.“ brummte Annie und wandte sich dann an Lotta, die mit kritischem Blick dastand und immer wieder überdeutlich auf ihre Uhr blickte, „du bist der Fußballfan – die Fußballfanin – wegen der Yannik früher die Spiele geschaut hat.“

Lottas Blick wandelte sich in Erstaunen: „Das weißt du?“

„Das weißt du noch?“ kam es von Z.

Annie zuckte die Achseln: „Ja.“ Dann lächelte sie: „Ein weiteres Rätsel gelöst.“

„Super. Fein. Klasse. Toll.“ Lottas ursprünglicher Ausdruck kehrte zurück,

„und jetzt muss ich wirklich…“

„Was ich ja eigentlich sagen wollte – vorhin…“ fiel Geraldine ihr mit einem Seitenblick auf Annie ins Wort: „wo fährst du hin?“

Lotta warf einen weiteren Blick auf ihre Uhr: „Nach Bremen. Zum Glück nicht so weit. Aber ich bin gleich morgen früh im Einsatz. Daher war es praktischer, das Hotel dort zu buchen.“

„Du bleibst nicht für die Veranstaltung?“ Annie zog enttäuscht die Unterlippe herunter.

„Das ist eure Veranstaltung.“ entgegnete Lotta, „nicht meine.“

„Aber es würde die Leute bestimmt total freuen, wenn du da wärst.“

„Aber ich hätte ihnen nichts zu sagen. Ich habe von Gott nichts für sie bekommen. Nur für euch. Und das würde niemandem etwas bringen.“

„Vielleicht kommt das noch.“ überlegte Z, doch Lotta winkte ab:

„Gott mag mich rumscheuchen. Aber er tut es nicht planlos. Hätte er etwas für die Leute, die morgen hierherkommen, dann hätte er meinen anderen Einsatz so geplant, dass ich nicht sinnlos zwischen hier und dort hin und her fahre.“

„Das klingt logisch.“

„Aber deine reine Anwesenheit...“ setzte Annie nochmals an – und wurde ebenfalls weg gewunken:

„...ist für niemandem von Vorteil. Es ist schön, dass ihr das als so besonders seht. Aber es ist wie bei euch: Es geht nicht um mich als Person. Es geht um das, was ich tue. Auch ihr werdet morgen feststellen, dass die Leute nicht gekommen sind, weil ihr so toll ausseht. Sie sind wegen dem hier, was ihr könnt. Ihr heilt. Das ist hier morgen euer Dienst. Tut das. Mein Dienst ist woanders. Ich gehe dorthin, wo Gott mich hinschickt. Weil wichtig ist, was ich in seinem Namen sage. Oder was ich nicht sage.“

Geraldine rümpfte die Nase: „Das war eine Aussage, die den alten Propheten wirklich gerecht wird.“

„Tradition.“ Lotta zuckte die Achseln.

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Lotta...“ Annie sprang auf, als diese sich erhob und drückte sie – auch gegen ihren Willen, „pass auf dich auf.“

„Ihr auf euch auch.“ Lotta ließ es geschehen, trat aber anschließend sofort einige Schritte von ihnen weg, um weitere Umarmungen zu vermeiden,

„und grüß Becka wirklich.“

„Das werde ich tun.“ versicherte Z, „keine Angst.“

„Gut. Dann... erfülle ich nun eine weitere Tradition.“

Annie legte den Kopf schief: „Die da wäre?“

„Ein Prophet geht nicht, ohne das letzte Wort zu haben.“ Lotta machte eine kurze Pause, „auch dieses ist für euch. Zum Nachdenken: ‚Nur durch die Wahrheit werdet ihr wirklich frei‘.“

„Das ist aber nicht neu.“ stellte Geraldine fest.

Annie kicherte: „Und das letzte Wort hast du damit auch nicht.“

„Das letzte Wort von tieferer Bedeutung.“ verbesserte sich Lotta.

„Okay – das mag durchaus sein.“

Lotta lächelte. Doch es war ein trauriges Lächeln. Dann drehte sie sich um und verließ eiligen Schrittes den Raum.

Annie gab ihr noch einige Augenblicke, um sich zu entfernen. Dann sah sie Z an: „War sie schon immer so... betrübt?“

„Nein.“ antwortete dieser, „eigentlich gar nicht. Sie hatte immer einen Hang zum Negativen. Aber nicht so.“

„Yannik?“

„Wahrscheinlich.

„Und sie scheint ziemlich unzufrieden zu sein, dass sie jetzt für Gott ‚arbeiten muss‘.“ setzte Geraldine hinzu.

„Ach...“ Z atmete tief aus, „weiß ich auch nicht. Vielleicht ist das ihre Art, es zu verarbeiten. Ich meine... das ist viel in so kurzer Zeit. Sie war so überzeugte Heidin. Und jetzt glaubt sie nicht nur an Gott, sie spricht sogar für ihn. Ich schätze mal, tief innen drin grämt sie das. Dass er sie... nun... besiegt hat.“

„Hm.“ Annie legte die Hände in den Nacken, „dann wünschen wir ihr mal, dass sich das gibt.“

„Sie kriegt Unterstützung von einer Gemeinde.“ erinnerte Geraldine sie, „das wird ja hoffentlich nicht nur finanzielle Unterstützung sein.“

„Auch wahr.“

„Sollen wir trotzdem für sie beten?“ schlug Z vor.

Geraldine nickte: „Können wir gerne tun.“

„Komisch, oder?“ Annie musste grinsen, „in der Bibel war es immer andersrum. Der Prophet hat für alle anderen gebetet.“

„Oh.“ Z, der bereits die Augen geschlossen hatte, öffnete sie wieder, „ich bin mir sicher, dass sie auch für uns betet. Aber wir können es ihr ja ein wenig leichter machen, als es ihre Vorbilder von damals hatten. Da hat sie bestimmt nichts dagegen.“

3

Am nächsten Morgen mussten sie früh raus. Was Annie beim Frühstück gleich bemängelte:

„Also... wenn man schon eine Veranstaltung für uns macht – dann sollte man sich auch nach unseren Zeiten richten.“

„Aber zuhause stehst du doch auch nicht später auf.“ wandte Geraldine amüsiert ein.

„Ich muss aber nicht gleich was machen. Ich kann erst ein wenig... rumdödeln.“

„Rumdödeln.“ Z kicherte, „das ist ein schönes Wort. Das können wir das nächste Mal ja vorher sagen: Frau Schneider braucht noch Rumdödelzeit.

Daher bitte später beginnen.“

„Du bist so witzig.“ maulte Annie ihn an.

„Und du hast eine wundervolle Frisur.“ gab er schlagfertig zurück. Und sofort griff sich Annie mit beiden Händen an den Kopf:

„Frisur? Was? Was ist mit... Geraldine – wie... meine Frisur?“

Geraldine versuchte, nicht laut loszulachen: „Es ist alles in Ordnung, Annie.“

„Aber Z hat gesagt...“

„Z wollte dich auf den Arm nehmen.“

„Na danke auch.“ maulte sie ihn erneut an. Doch Z ließ sich den Spaß nicht verderben:

„Du bist jetzt wach. Ziel erreicht.“

„Du bist gleich ohnmächtig. Das ist auch ein Ziel.“

„Na, da ist aber wirklich jemand grummelig.“ schmunzelte er.

„Habe ich auch allen Grund zu.“

Geraldine runzelte die Stirn. „Weil?“

„Ich die halbe Nacht wachgelegen und auf Visionen gewartet habe.“ erwiderte Annie verärgert.

„Ist nicht dein Ernst.“ entfuhr es Geraldine.

Und auch Z zeigte sich erstaunt: „Warst du nicht diejenige, die gesagt hat, sie werden während der Veranstaltung kommen?“

Annie schnitt eine Grimasse: „Ich wollte auf Nummer sicher gehen.“

„Die halbe Nacht.“

„Ich war dann so aufgekratzt. Da konnte ich nicht mehr schlafen.“

„Annie, Annie...“ Geraldine tätschelte ihr sanft den Arm, „das üben wir aber nochmal.“

„Üben? Nein. Das nächste Mal lasse ich es einfach.“

„Oder so.“

Als sie vom Frühstück aufstanden, wartete in der Halle bereits einer der Mitarbeiter auf sie:

„Keine Hektik. Ich bin ein wenig früh. Kommt einfach runter, wenn ihr soweit seid, dann können wir los.“

„Das also ist ‚keine Hektik‘.“ bemerkte Z genervt, als sich die Aufzugtür hinter ihnen schloss.

„Er meint es nur gut.“ versuchte Geraldine, ihn zu beschwichtigen – hatte damit aber keinen Erfolg:

„Das tun sie alle.“

„Was meinst du damit?“ fragte Annie verwundert, während sich auf Geraldines Gesicht ein Ausdruck bildete, der genau das Gegenteil ausdrückte:

„Ich glaube, wir werden jetzt endlich erfahren, worüber er sich gestern so aufgeregt hat.“

Z seufzte: „Kennt ihr dieses alte Kirchenlied?“

„Dieses alte Kirchenlied?“ wiederholte Annie konsterniert, „da gibt es gefühlt 10.000.“

„Ich hätte es auch noch präzisiert, wenn du... egal. Es gibt ein Lied, da heißt es ‚Gut gedacht und schlecht gemacht‘. Ich weiß gar nicht mehr, worauf genau sich das innerhalb des Liedes bezieht. Aber es ist für mich als Jugendlicher immer so eine Art Leitspruch gewesen, wenn ich mir die Gemeinde angeschaut habe.“

„Das klingt aber ziemlich negativ.“ überlegte Geraldine.

„Naja – Teenager halt.“ wehrte Z ab, „aber es ist schon was dran. Es gibt so viele Leute, die einen Dienst tun, nicht weil sie ihn können oder mögen, sondern weil sie denken, an Gott zu glauben, hat etwas mit leiden zu tun.

Und der Dienst, den sie am wenigsten können und mögen wäre daher ideal für sie. Weil er gleichzeitig Prüfung und Strafe ist.“

Annie kratzte sich am Kopf: „Christen können komisch sein.“

„Nun – ich denke mal, durch die vielen Jahrhunderte ist das Wort, auf das wir uns stützen – die Bibel...“

„Das war uns durchaus klar.“

„Natürlich. ...ist es so sehr verdreht und verfälscht worden – teilweise absichtlich, teilweise unabsichtlich – dass jede Menge falscher Ansichten da draußen rumgeistern. Und wenn sie sich erstmal etabliert haben, ist es wahnsinnig schwer, sie wieder auszutreiben. Zumindest der Masse.“

Geraldine sah ihn fragend an: „Der Masse?“

Sie hatten ihre Zimmer erreicht, daher hob Z einen Finger: „Merk dir deine Frage. Bis gleich.“

Zehn Minuten später trafen sie sich an gleicher Stelle wieder und traten den Rückweg an. Geraldine wiederholte ihre Frage: „Der Masse?“

Z brauchte einen Moment, bis auch er angekommen war: „Hätte ich mir meinen Teil doch bloß auch ge... Gemeinde – oder Kirche – ist ja ein Verein.

Oder wie ein Verein. Gleichgesinnte treffen sich. Viele.“

„Nicht immer viele.“

„Gut. Schon. Aber keiner macht Kirche zu zweit. Und selbst deine Wohnzimmergemeinde...“

„He.“ fuhr Geraldine auf.

„Nicht abwertend gemeint.“ beruhigte Z sie, „aber warum sind sie eine Wohnzimmergemeinde? Weil sie den Weg ihrer ursprünglichen Gemeinde nicht gut fanden und daher ihr eigenes Ding aufgezogen haben. Das ist es doch. Im Fußballverein sind die, die Fußball mögen. Im Tischtennisverein die, die Volleyball mögen...“

„Hä?“ unterbrach Annie sofort.

„Kleiner Scherz am Rande.“

„Aha.“

Sie hatten den Aufzug erreicht und Z drückte auf den Knopf. „Mit Gemeinde ist es genauso.“ machte er danach weiter, „jeder geht dahin, wo es ihn am meisten anspricht. So hast du überall Gleichgesinnte. Gleicher Glaube – sowieso – aber auch gleiche Ansichten und gleiche Einstellungen.

Und wenn du dann eben einen Haufen Leute hast, die alle glauben, Christsein wäre nicht das gelebte Ebenbild von Jesus, sondern von Stephanus...“

„Wer ist das?“ wollte Annie wissen.

„Einer von Paulus Kumpels. Den haben sie gesteinigt.“

„Oh.“

„Er ist der erste, den wir im Christentum als Märtyrer bezeichnen.“ klärte Z sie auf, „ist auch okay, waren andere Zeiten. Aber mal ehrlich: Das muss heute nicht mehr sein. Erst recht nicht in einem Land, in dem das Christentum die Hauptreligion ist. Wir dürfen uns freuen, dazuzugehören. Und wir dürfen uns auch so benehmen. Wir müssen nicht versuchen, Jesu leiden am Kreuz jeden Tag neu zu durchleben. Wir dürfen seine Auferstehung jeden Tag leben. Aufstehen, aus dem Fenster schauen und durchatmen. Uns freuen an dem, was wir sehen.“

Geraldine wiegte den Kopf hin und her: „Das brannte dir auf der Seele, oder?“

„Hm... nicht akut.“ Die Aufzugtür öffnete sich und Z machte eine einladende Geste, „nach euch. Ich habe einfach noch nie mit jemandem darüber reden können. Weil ich immer dachte, ich habe da ganz böse Gedanken. Und das sollte man ja nicht.“

„Aber wie kommst du dann durch den da unten darauf?“ hakte Annie nach.

„Übereifrigkeit.“ antwortete Z, ohne zu zögern, „das dachte ich gestern Abend schon. Sie sind so bemüht. Aber nicht, weil ihnen das Spaß macht, sondern seil sie denken, Gott will, dass sie schuften bis zum Umfallen. Will er nicht. Er will nicht, dass Leute, die nicht backen können, einen Kuchen nach dem anderen für die Gemeinde herstellen und sich dabei die ganze Zeit unwohl fühlen, und am Ende isst keiner den Kuchen, weil er nicht schmeckt.“

Annie sah Geraldine an – und deutete dabei auf Z: „Ich finde – so im Vergleich bin ich eigentlich ziemlich gut drauf.“

„Ich bin nicht schlecht drauf.“ verteidigte sich dieser, „ich wünschte einfach, die Leute, die uns hier eingeladen haben, wären dabei, weil sie wollen und nicht, weil sie glauben zu müssen.“

„Vielleicht ergibt sich ja eine Möglichkeit, das anzusprechen.“ überlegte Geraldine und Z nickte wenig überzeugt:

„Ja, vielleicht.“

„Was piepst da eigentlich die ganze Zeit?“ wechselte Annie abrupt das Thema.

„Äh...“ Geraldine sah sich um, „der Aufzug.“

„Warum?“

Z fuhr sich übers Kinn: „Vielleicht will er wo hinfahren.“

„Und warum macht er das dann nicht?“ Annie tat es ihm gleich.

Geraldine dagegen klopfte Z auf die Schulter: „Weil du in der Lichtschranke stehst.“

„Oh. Dann...“

„...sollten wir vielleicht erst einsteigen.“ Die beiden Frauen drängelten sich hinter ihm her, „schließlich wollen wir auch wo hinfahren.“

„Jetzt, wo du es sagst...“ Z tippte sich an die Stirn. Und dann auf den Knopf zum Erdgeschoss.

Der Mitarbeiter wirkte nun doch reichlich ungeduldig, als sie unten ankamen. Sie hatten wesentlich länger gebraucht als er das erwartet hatte und hinkten daher dem Zeitplan hinterher, den er auf einem Zettel mit sich herumtrug. Annie ließ ihn sich auf dem Weg nach hinten reichen und stelle erstaunt fest, dass er ihr überhaupt nichts sagte.

„Da ist Lotta dran schuld.“ murmelte sie leise, damit der Mitarbeiter es nicht hörte, „ich war so von ihr abgelenkt... ich habe nichts hiervon mitgekriegt.“

Sie raschelte leise mit dem Zettel und Geraldine nahm ihn ihr ab und überflog ihn ebenfalls.

„Ich auch nicht.“ gestand Z im selben Moment, „ich weiß nicht, wie der Ablauf ist, ich weiß nicht, wer predigt.“

„Steht alles hier.“ erklärte Geraldine und reichte den Zettel weiter.

„Dann werde ich es mal eingehend studieren.“ Z vertiefte sich ins Lesen und Annie rieb sich nachdenklich die Nase:

„Der Name des Predigers kommt mir irgendwie bekannt vor.“

„Das habe ich auch gerade gedacht.“ nickte Geraldine, „naja... schauen wir mal.“

4

Diese Frage klärte sich, sobald sie das Gebäude betraten. Denn der Prediger erwartete sie bereits.

„Ihr mögt es mir nicht glauben – aber es ist schön, euch wiederzusehen.“ begrüßte er sie fröhlich und bei Annie begann es zu dämmern:

„Moment. Sie sind doch...“

„Patrick Langer.“ nahm er ihr den Namen ab, als er merkte, dass sie zögerte.

„Ja. Das steht hier.“ Annie deutete auf das Plakat an der Wand, „aber Namen sind Rall und Schauch.“

Geraldine blickte sie verwundert an: „Annie?“

„Nicht unsere Namen. Unsere Namen... hab ich vergessen.“

„Annie?“

Annie fuhr den Zeigefinger aus: „Sie sind der mit dem Geld.“

„Geld?“ Geraldine blinzelte kurz – dann war auch sie angekommen: „Ja...

Geld. Klar. Sie dürfen wieder predigen?“

„Das war nicht nett.“ bemerkte Z laut.

„Entschuldigung. Ich meinte ja nur... sie werden wieder eingeladen? Gut – das klingt auch nicht besser. Ich...“ Geraldine biss sich auf die Lippen und gab Patrick Langer so Gelegenheit, selbst etwas zu sagen:

„Schon in Ordnung. Fehler haben Konsequenzen. Das weiß ich. Und ich nehme es euch nicht übel, dass ihr irritiert seid. Wobei es mich irritiert, dass ihr so überrascht seid. Ihr wusstet doch, dass ich komme.“

„Ja...“ Annie wand sich ein wenig, „...nein.“ entschied sie sich für die Wahrheit.

„Ehrlich gesagt...“ wollte Geraldine ihr zur Hilfe kommen, wusste dann aber nicht weiter – sodass Z ihren Anfang aufnahm:

„Ehrlich gesagt hatten wir gestern Abend hier einen Überraschungsbesuch der Gewinnerin von Deutschland sucht den Superpropheten.“

„Äh... Z?“ Geraldine runzelte die Stirn.

„Er ist ein bisschen geladen deswegen.“ erklärte Annie entschuldigend, „und wegen anderer Sachen.“

Patrick Langer lächelte: „Sie kann einem zusetzen, nicht wahr?“

„Sie kennen sie?“ fragte Geraldine verblüfft.

„Also erstmal: Ihr dürft gerne Patrick sagen.“

„Danke. Geraldine.“

„Annie.“

„Z.“

„Sehr schön.“ Das Lächeln blieb, „und ja: Ich kenne sie. Womit ich auch gleich deine andere Frage beantworten kann: Ich habe bisher keine Veranstaltungen mehr gemacht. In meiner Gemeinde predige ich ab und zu.

Das sind die Leute, die mir am nächsten stehen. Die einzigen, die auch die wahren Hintergründe kennen. Ich wollte das nicht so propagieren.“

„Das kann ich verstehen.“ nickte Z.

„Es tut mir gut – nicht mehr ganz vorne zu stehen. Aber es war irgendwie immer am Horizont, dass sowas wieder kommen würde. In kleinerem Rahmen. Ich bin öfters mal angefragt worden und habe immer abgesagt.

Weil ich mich nie bereit gefühlt habe. Ich hatte immer Angst, dass wieder etwas passiert. Und dann kam sie. Meinte, ich würde eine Anfrage bekommen. Die auf den ersten Blick nicht anders ist als alle anderen. Und die auch sehr spontan sein würde. Weil ich nur die dritte Wahl sei.“

Annie kniff die Augen zusammen: „Dritte Wahl?“

„Sie wollten erst eure Leute.“

„Unsere?“

„Christopher. Und Miguel.“ überlegte Z und Geraldine nickte:

„Ja. Wahrscheinlich.“

„Auf jeden Fall sagte sie mir, ich solle zusagen.“ fuhr Patrick fort.

„Hat sie dir auch gesagt, dass wir hier sein würden?“ erkundigte sich Geraldine vorsichtig und das Lächeln kehrte zurück – wenn auch eher ironisch:

„Nein. Das hat sie unterschlagen.“

„So sind sie, die Propheten...“ kicherte Annie.

Z rollte mit den Augen: „Weil du auch so viele kennst.“

„Wenn man mal davon ausgeht, dass ein Prophet immer direkt von Gott eingesetzt wird und er uns das auch ankündigt, dann kenne ich momentan alle, die es gibt.“

„Gut – das mag sein.“

„Wie sieht es denn eigentlich mit deinen ganzen Kinderheimen aus?“ nahm Geraldine das Gespräch wieder auf.

„Die laufen ganz normal weiter.“ antwortete Patrick, „die Stiftung hat jetzt einen anderen Namen. Aber das ist nur eine Imagegeschichte. Ich stand als Mensch dafür und da mein Name nicht mehr so gerne gehört ist, haben wir ihn geändert.“

„Aber du fühlst dich jetzt bereit hierfür.“ Z sah ihn durchdringend an.

Patrick wiegte mit dem Kopf: „Ich denke, dass es Gottes Führung ist, dass wir hier zusammen sind. Ohne die Prophetin hätte ich nie und nimmer zugesagt. Aber jetzt... jetzt werde ich das nutzen. Indem ich auch hier die Wahrheit erzähle. Die Leute kommen hier her, in der Hoffnung, geholfen zu bekommen. Ich kann davon aus eigener Erfahrung berichten.“

Annie bliess die Backen auf: „Das ist mutig.“

„Es ist das Einzige, was Sinn macht. Und ich bin schon sehr gespannt. Denn ich habe keine Ahnung, wie ich die restliche Zeit füllen soll.“

„Restliche Zeit?“

„Ich habe drei Einheiten über den Tag. Und nichts dafür vorbereitet.“

Patrick seufzte leise.

Z legte die Stirn in Falten: „Okay...“

„Schon alles verlernt?“ schmunzelte Annie.

Patrick schüttelte den Kopf: „Wenn ich sage, die Anfrage kam spontan, dann meine ich: vorgestern.“

„Oh.“ machte Annie – und dann wesentlich lauter: „Was?“

„Miguel ist kurzfristig abgesprungen.“ erinnerte Geraldine sie, „und wir haben ein bisschen Zeit verplempert, ihnen das mitzuteilen.“

„Das ist wahr. Und ich überlege gerade: Lo... die Prophetin hat ihnen ja gesagt, dass wir kommen würden. Vielleicht hat sie ihnen auch gesagt, dass sie dich einladen sollen.“

„Das hat sie.“ bestätigte Patrick, „sie waren davon wohl erst nicht so angetan. Aber sie haben diskutiert und obwohl sie hier auch nicht wissen, was mir passiert ist, sind sie zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich passend ist. Einfach weil das für viele eine Angst ist: ‚Wenn ich berührt werde, was passiert dann hinterher?‘“

Annie kratzte sich am Kopf: „Das verstehe ich nicht.“

„Überleg mal: Ich war besessen. Schlecht. Aber reich. Gut. So rein menschlich betrachtet. Das mag es ja öfter geben – Leute, die wissen, dass sie sich ihren Reichtum auf unehrliche Art erarbeitet haben. Und dann kommen die hierher und denken ‚Wenn ich jetzt geheilt werde, dann muss ich das aufgeben. Dann bin ich wieder arm und mein Leben sehr viel schlechter. Trotz Gott.‘“

„Das ist ein sehr interessanter Gedanke.“ gestand Geraldine nachdenklich.

„Und ein sehr anstrengender.“ setzte Z hinzu.

Patrick nickte stumm – was Annie als mehr als nur eine Bestätigung deutete:

„Du hattest damit zu kämpfen?“

„Ich war froh, frei zu sein. Aber all das aufgeben zu müssen, sich stellen zu müssen... Der Gesichtsverlust, der finanzielle und materielle Verlust – alles nicht sonderlich wichtig aber auch nicht sonderlich toll. Und es gab viele Momente, da habe ich mich sehr schlecht damit gefühlt.“

Annie schenkte ihm ein Strahlen: „Ich glaube, du wirst keine Probleme haben, die Zeit zu füllen. Und die Leute anzusprechen.“

„Danke.“ gab er zurück.

„Und für den Notfall...“

„Ja?“

Z legte Patrick den Arm um die Schulter und führte ihn ein Stück weg.

Annie sah Geraldine an: „Sag bloß, der fängt jetzt mit dem Kuchenbackthema an.“

„Wahrscheinlich.“ Geraldine fuhr sich durch die Haare, „aber wenn du die ganzen Emotionen weglässt, hat er durchaus Recht damit. Denk mal an die Leute, die früher in Frankfurt in den Bahnstationen gestanden haben. Die...“

„Tun sie immer noch.“ warf Annie ein.

„...sehen nicht so aus, als wollten sie das. Sondern, als müssten sie das. Im Grunde nicht anders als die Zeugen Jehovas. Immer Druck dahinter. Nur dass bei denen halt wirklich Druck ist. Und ‚wir‘ machen ihn uns selbst.

Wenn die Leute schnallen würden, dass Gott diesen Druck weder will noch braucht – das könnte schon helfen.“

Annie sah zu den beiden Männern hinüber: „Solange er sich da nicht reinsteigert.“

Geraldine schüttelte den Kopf: „Er mag eine Weile draußen gewesen sein.

Aber er ist ein Profi.“

„Ich meinte Z.“

„Ach so.“

5

Man hatte ihnen einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem sie sich vorbereiten konnten und das taten sie auch ausgiebig. Denn selbst wenn sie ihrer Sache sicher waren, machte es sie schon ein wenig nervös, vor so vielen Leuten zu stehen. Und es waren wirklich viele. Als sie schließlich ein paar Minuten vor dem offiziellen Beginn den Saal betraten, war dieser bis auf den letzten Platz gefüllt und einige Leute mussten sogar stehen. Für sie waren ganz vorne Plätze reserviert, doch sie entschieden sich, erst einmal im hinteren Bereich stehen zu bleiben, da sie nicht gleich die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten. Der Einstieg gehörte Zach und sie wollten ihm nicht die Show stehlen. Allerdings dauerte es eine Weile, bis Zach beginnen konnte, denn der Mitarbeiter, der die Begrüßung machte, leitete zwar mit den Worten „Nur rasch ein paar kurze Ansagen.“ ein, führte dann jedoch jeden einzelnen Punkt so ausführlich aus, dass er fast 20 Minuten brauchte, bis er fertig war. Und dabei brachte er noch nicht einmal alles unter, sondern ging einfach, nachdem ihm die restliche Mitarbeiterriege aus der ersten Reihe diverse überdeutliche Zeichen gegeben hatte.

Dann konnte Zach loslegen und dabei beweisen, dass zumindest er ein Profi war. Denn ihn brachte weder die Verspätung aus der Ruhe noch die damit einhergehende Kürzung seines Sets. Und trotzdem war er anders als beim letzten Mal, dass die drei Freunde ihn gesehen hatten. Er produzierte sich nicht mehr in erster Linie selbst, sondern bewies ein Gespür für die Stimmung im Saal. Was seine Band zwar das ein ums andere Mal irritierte, als er plötzlich Wechsel vollzog, die so nicht abgesprochen waren, dem Publikum aber die Möglichkeit bot, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Gott. Er sparte sich auch längere Geschichten zwischen den Songs – mit einer einzigen Ausnahme:

„Ich habe heute etwas dabei. Etwas ganz Besonderes. Zumindest für mich. Diesen Klavierhocker. Holz. Höhenverstellbar. Und das einzige wirklich klassische, was wir auf dieser Bühne vorweisen können. Trotzdem – eigentlich ein ganz gewöhnlicher Hocker. Doch er hat eine Geschichte. Sie beginnt damit, dass ich ihn mir von meinem Taschengeld gekauft habe. Doch das ist nicht der entscheidende Teil. Das ist das Ende: mein Bruder