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Alles ist anders. Und doch wieder nicht. Zumindest scheinen für Viele die Zeichen der Zeit keinerlei Bedeutung zu haben. Und die Wahrheit, die durch diese Zeichen verdeutlicht wird, können oder wollen sie nicht sehen. Was für Geraldine und ihre Freunde bedeutet, dass sie ihre Bemühungen deutlich verschärfen müssen.
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Seitenzahl: 1098
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Kapitel 113
Kapitel 114
Kapitel 115
Kapitel 116
Kapitel 117
Kapitel 118
Kapitel 119
Kapitel 120
Kapitel 121
Kapitel 122
Kapitel 123
Kapitel 124
Kapitel 125
Kapitel 126
Kapitel 127
Kapitel 128
Kapitel 129
Kapitel 130
Kapitel 131
Kapitel 132
Kapitel 133
Kapitel 134
Kapitel 135
Kapitel 136
Kapitel 137
Kapitel 138
Kapitel 139
Kapitel 140
Kapitel 141
Kapitel 142
Kapitel 143
Kapitel 144
Kapitel 145
Kapitel 146
Kapitel 147
Kapitel 148
Kapitel 149
Kapitel 150
Kapitel 151
Kapitel 152
Kapitel 153
Kapitel 154
Kapitel 155
Kapitel 156
Kapitel 157
Kapitel 158
Kapitel 159
Kapitel 160
Kapitel 161
Kapitel 162
Kapitel 163
Kapitel 164
Kapitel 165
Kapitel 166
Kapitel 167
Kapitel 168
Kapitel 169
Kapitel 170
Kapitel 171
Kapitel 172
Kapitel 173
Kapitel 174
Kapitel 175
Kapitel 176
Kapitel 177
Kapitel 178
Kapitel 179
Kapitel 180
Kapitel 181
Kapitel 182
Kapitel 183
Kapitel 184
Kapitel 185
Kapitel 186
Kapitel 187
Kapitel 188
Kapitel 189
Kapitel 190
Kapitel 191
Kapitel 192
Kapitel 193
Kapitel 194
Kapitel 195
Kapitel 196
Kapitel 197
Kapitel 198
Kapitel 199
Kapitel 200
Kapitel 201
Kapitel 202
Kapitel 203
Kapitel 204
Kapitel 205
Kapitel 206
Kapitel 207
Kapitel 208
Kapitel 209
Kapitel 210
Kapitel 211
Kapitel 212
Kapitel 213
Kapitel 214
Kapitel 215
Kapitel 216
Kapitel 217
Kapitel 218
Kapitel 219
Kapitel 220
Kapitel 221
Kapitel 222
Kapitel 223
Kapitel 224
Kapitel 225
Kapitel 226
Kapitel 227
Kapitel 228
Kapitel 229
Kapitel 230
Geraldine war verschwunden. Und das Schwert traf nur den Holzpfahl, vor dem sie gestanden hatte.
Annie war verschwunden. Und das Schwert traf nur den Holzpfahl, vor dem sie gestanden hatte.
Z war noch da. Und das Schwert traf zwar ebenfalls den Holzpfahl, vor dem er stand – auf dem Weg dorthin aber auch ihn – mitten durch die Brust. Der Schmerz war unerträglich. Doch er hielt nicht lange an – zumindest für sein Bewusstsein. Denn er wurde ohnmächtig – nach wenigen Sekunden schon. Und der Schrei, den er ausgestoßen hatte, riss jäh ab.
„Isst er neuerdings in der Küche?“ Gerd warf einen Blick in den dunklen Flur.
Diana zuckte die Achseln: „Vielleicht gefällt ihm der Film nicht.“
„Wie könnte? Das ist ein Film für Leute in seinem Alter.“
„Woher willst du das wissen?“
„Ich war auch mal in seinem Alter.“
„Da gab es solche Filme noch nicht.“
Gerd gab ein Brummen von sich: „Geh doch mal nach ihm gucken.“
„Geh du doch.“ gab Diana zurück.
Ein weiteres Brummen – dann: „Nils?“
„Rufen ist nicht gucken.“ belehrte Diana ihn und er brummte zum dritten
Mal:
„Das weiß ich auch. Nils?“
Sie stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite und er stand seufzend auf und ging in die Küche. Von Nils fehlte jede Spur. Irritiert blickte er um sich und trottete dann nacheinander in die beiden anderen Zimmer und ins Bad. Nils war nirgends zu finden.
„Ist er nicht mehr da?“ fragte Diana verwirrt, als er wieder im Wohnzimmer
erschien.
„Scheint so.“
„Aber wo kann er hin sein?“
„Keine... ich...“ Gerd schob die Gardine beiseite und sah aus dem Fenster, „das Auto ist noch da.“
Diana lief es kalt über den Rücken: „Gerd, das...“
„Ganz ruhig.“ Er setzte sich wieder neben sie, „dafür gibt es eine Erklärung.“
„Welche denn?“
„Ich... wir... ich rufe Geraldine an.“ Suchend blickte er sich um.
„Jetzt?“
„Nein. In viereinhalb Minuten.“
„Hör doch mal damit auf.“ fuhr sie ihn an.
„Ich bin nervös. Da kommt das.“
Sein Handy lag auf dem Esstisch. Er griff es sich und wählte Geraldines Nummer. Nach dem fünften Mal klingeln sprang die Mailbox an. Er legte auf.
„Vielleicht schläft sie.“ vermutete Diana.
Er schüttelte den Kopf: „Und wenn – sie hat das Handy neben dem Bett liegen.“
„Warum da denn?“
„Wegen uns.“
„Oh. Ach so.“
„Das besiegelt es.“ Gerd steckte das Handy ein und streckte Diana die Hand entgegen, „wir verschwinden.“
Diese starrte ihn an: „Was?“
„Nils hat unsere Nummern. Wenn er einfach nur um die Ecke ist und uns erreichen will...“
„Probier‘ doch mal sein Handy.“
„Gute Idee.“ Er wählte Nils‘ Nummer und schon im nächsten Moment klingelte es direkt neben ihnen im Sessel.
Diana schrak zusammen: „Er hat es hiergelassen.“
„Das wird immer schlechter.“ stöhnte Gerd auf, „nein. Wir machen das so.
Ich hinterlasse Nils eine Nachricht. Für falls er zurückkommt – dann kann er sie hören. Ich hinterlasse Geraldine eine Nachricht. Für wenn sie aufwacht. Aber Stand jetzt müssen wir davon ausgehen, dass den beiden genau das zugestoßen ist, wovor Geraldine Angst hatte. Und das heißt, dass wir hier nicht sicher sind. Also...“ Er klatschte in die Hände, „pack die Koffer.“
„Pack du deinen Koffer gefälligst selbst.“
„Mein Koffer ist gepackt. Ich nehme immer nur die Sachen heraus, die ich brauche. Und lege die anderen wieder zurück.“
Diana verzog das Gesicht: „Wieder zurück?“
„Nach dem Waschen.“
„Wie vor 30 Jahren...“ Sie seufzte tief – und er ebenfalls – wenn auch aus anderen Gründen:
„Vor 40 auch schon. Bitte, Diana – wirklich.“
„Ja. Ich gehe ja schon.“ Mit starrer Miene kam sie auf die Füße, „was sagst du ihnen?“
„Dass sie uns anrufen sollen. Mehr nicht.“
„Und wo fahren wir hin?“
Gerd zögerte: „Erinnerst du dich an den kleinen Ort, wo wir waren, als... naja als...“
Wider Willen musste Diana lachen: „So wie du stotterst, kannst du nur einen Ort meinen. Wo Geraldine entstanden ist.“
„So kann man es auch nennen.“
„Wie kommst du gerade darauf?“
„Können wir nutzen.“ erklärte er, „wenn wir ihnen sagen wollen, wo wir sind, ohne es zu verraten.“
Sie runzelte die Stirn: „Und du glaubst, dass Geraldine weiß, wo sie gezeugt wurde? Haben wir ihr das jemals erzählt?“
„Sie war doch dabei.“
„Ab einem gewissen Zeitpunkt war sie dabei. Stecknadelkopfgroß. In meiner Gebärmutter.“
„Okay. Das stimmt.“ Gerd schürzte die Lippen, „das hatte ich nicht bedacht.
Denkfehler. Nervös.“
„Ich weiß.“ Diana legte ihm die Hand auf die Schulter, „aber fahren wir da trotzdem erstmal hin. Und dann sehen wir weiter.“
„Meinst du?“
„Deine Begründung mag Käse sein, aber die Idee ist schon gut.“ Sie verschwand und begann, ihren Koffer einzuräumen.
„Was machen wir mit Nils‘ Sachen?“ rief sie nach einigen Minuten.
Gerd schrak auf – vollkommen in Gedanken versunken: „Hierlassen, denke ich. Wenn er zurückkommt, wird er sie brauchen.“
„Ist gut.“
Knappe zehn Minuten später warf Gerd den Schlüssel zu der Ferienwohnung in den Briefkasten. Dann stiegen sie ins Auto und fuhren davon.
Die Dienerin stand in der Küche und wusch ab, als der Mann hereinkam.
„Was machst du hier oben?“ schnauzte sie ihn an.
„Dich runterholen.“ erwiderte er –sichtlich verstört.
„Warum?“
„Weil...“ Er drehte sich um und sie hatte keine Wahl als ihm zu folgen. Auf dem Weg griff sie in eine Schublade im Flur, holte eine Maske heraus und setzte sie sich auf.
Er hielt inne: „Was willst du damit?“
„Ihr wisst, wer ich bin. Sie müssen das nicht unbedingt wissen.“
Der Mann sagte nichts dazu, sondern stieg die Kellertreppe hinab. Sie setzte ihm hinterher, betrat den Raum und schüttelte verwundet den Kopf:
„Nanu? Waren da nicht mal drei von denen? Wo sind die anderen zwei?“
„Sie sind nicht die Einzigen, die nicht mehr da sind.“
„Bitte?“
Der Mann deutete auf seine beiden Mithelfer, die etwas orientierungslos in der Ecke standen.
„Sind sie...“ Die Dienerin legte den Kopf schief, „leer?“
„So kann man das nennen, ja.“
Sie baute sich vor ihnen auf und rief: „Wo sind eure Meister?“
„Du brauchst weder zu schreien noch langsam zu reden.“ gab andere Mann genervt zurück, „wir sind bei vollem Bewusstsein.“
„Aber ihr habt keine Ahnung.“
„Nein. Sie sind fort. Und haben uns keinerlei Instruktionen hinterlassen.“
„Sind sie zusammen weg?“ Die Frau blickte um sich, „ich meine... könnten
Dämonen Menschen quasi... mitnehmen?“ Sie sah die Dienerin an – und diese wiederum den Mann neben sich. Der allerdings mit den Schultern zuckte:
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Also nein.“ folgerte sie, „denn du solltest alles wissen. Oder nicht?“
„Schon.“
„Das ist bemerkenswert.“ Die Dienerin schnalzte mit der Zunge. Dann wandte sie sich Z zu: „Was ist mit ihm?“
Der Mann neben ihr kicherte: „Seine Schmerzgrenze ist so niedrig wie ich es selten erlebt habe. Ein Stoß und weg.“
„So sind sie, die Gläubigen. Machst du weiter?“
„Natürlich. Ich würde nur gerne vorher wissen, was hier passiert ist.“
„Geh doch nachfragen.“
Der Mann schüttelte vehement den Kopf: „Lieber nicht. Wenn ich berichte, dass die beiden fehlen...“
„Welche beiden?“
„Beide beiden, im Grunde. Keine gute Idee. Wenn Luzifer schlechte Laune kriegt, bin ich das Opfer.“
Die Dienerin zog die Brauen hoch: „Hat er dafür nicht genug echte Opfer?“
„Ich will das Risiko nicht eingehen.“ beharrte der Mann und sie seufzte:
„Dann werden wir es höchstwahrscheinlich auch nicht herausfinden.“
„War auch nur reine Neugier. Nun gut. Dann wecke ich ihn mal. Damit es weitergehen kann.“ Er trat auf Z zu und wollte diesen schütteln, aber die Dienerin hielt ihn auf:
„Was ist mit denen?“
„Wir hören euch immer noch.“ zischte der andere Mann.
„Dann halt: Was ist mit euch?“
„Sag du es uns.“ forderte die Frau, „wir sind Befehlsempfänger.“
„Ja – das seid ihr wohl.“ Die Dienerin überlegte kurz, „dann hier ein Befehl: Geht nach Hause. Wenn wir euch nochmal brauchen, melden wir uns.“
„Sehr wohl.“
Die beiden verließen den Raum – kurz darauf hörte die Dienerin die Haustür ins Schloss fallen. Sie kratzte sich am Kopf:
„Hat die gerade ‚Sehr wohl‘ gesagt?“
„Mag sein.“ Der Mann winkte abwesend ab, „stör mich nicht weiter.“
„So ein Ton? In meinem Haus?“
„Ich habe keine gute Laune.“
Sie lachte auf: „Sie wird besser werden. Mit ihm.“
„Hoffen wir es.“
Der Mann gab Z eine Ohrfeige und die Dienerin nahm das als Zeichen, dass sie zu ihrem Abwasch zurückkehren konnte. Das war auch gut so, denn sie war müde und die Mädchen meistens früh wach. Was jetzt, wo sie oben schliefen, bedeutete, dass sie auch wach werden würde. Sie schloss die Tür hinter sich und kehrte in die Küche zurück.
Als Christopher erwachte, war die andere Betthälfte neben ihm leer. Doch das war nicht ungewöhnlich. Michelle ging öfter mal morgens spazieren. So stand er ganz normal auf, zog sich an und bereitete das Frühstück vor. Dann wartete er. Und schaute immer wieder auf die Uhr. Denn die Zeit, um die sie normalerweise spätestens zurückkam, war längst überschritten. Also beschloss er, sie suchen zu gehen. Er klapperte alle Wege ab, die er kannte, aber sie war nirgends zu finden. Anschließend schaute er im Haus nach, ob sie in der Zwischenzeit angekommen war. Doch das war sie nicht. Und ihr Handy lag auf dem Küchentisch – so wie immer. Langsam begann er, sich Sorgen zu machen. Durchs Fenster konnte er auf der Straße die Frau sehen, die gegenüber wohnte, und so rannte er nach draußen und versuchte, mit dem Bisschen spanisch, das er konnte, nach Michelle zu fragen. Sie verstand ihn nicht und so rannte er schließlich wieder nach drinnen, holte aus seinem Portemonnaie ein Bild von ihr und zeigte es der Frau. Jetzt begriff sie, aber ihr Kopfschütteln sagte ihm eindeutig, dass sie sie nicht gesehen hatte. Er dankte ihr und blickte sich um. Es war ein schöner Tag und so waren inzwischen noch mehr Leute auf der Straße unterwegs. Er fragte jeden einzelnen von ihnen. Doch niemand hatte Michelle gesehen. Panik stieg in ihm auf. Er eilte ins Haus und rief bei der Polizei an. Aber als sich jemand meldete, wurde er sich bewusst, dass er sich gar nicht verständlich machen konnte. Also legte er wieder auf und rief stattdessen bei Rebecca an. Ein Kollege von ihr nahm ab und informierte ihn, dass sie bisher noch nicht zum Dienst erschienen war. Er bat um einen Rückruf und hinterließ Name und Nummer. Dann ließ er sich auf die Couch fallen und schloss die Augen. In ihm drehte sich alles. Wo war sie? War ihr etwas zugestoßen? Irgendwann klopfte es und als er öffnete, stand die Frau von gegenüber davor. Sie redete wild auf ihn ein, womit er nichts anfangen konnte. Doch sie zeigte dabei immer wieder auf den Fernseher und so nickte er schließlich und schaltete diesen ein. Die Bilder, die er sah, wirkten auch ohne, dass er das Gesagte verstand. Und trotzdem ergaben sie keinen Sinn. Er dankte der Frau, schloss die Tür, schaltete den Fernseher wieder aus und sank zurück auf die Couch. Wieder begannen seine Gedanken zu kreisen. Jedoch in eine ganz andere Richtung. Die Frage, die er sich stellte, lautete nicht mehr: ‚Warum war Michelle weg?‘ Sie lautete: ‚Warum war er noch da?‘
Schmerz. Einfach nur Schmerz. Z war nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Alles tat ihm weh – selbst Stellen, an denen gar nichts war. Von denen es aber zugegebenermaßen inzwischen nur noch sehr wenige gab. Der Dämon verstand sein Handwerk. Vereinte mehrere 1.000 Jahre an Foltermethoden in seinem Repertoire. Er hatte keinen einzigen Fingernagel mehr und sein einziger Trost war, dass sie alle erst nachwachsen mussten, bevor der Dämon sie ihm erneut ziehen konnte. Für seine Fußnägel galt das gleiche – für seine Zähne zum Glück noch nicht. Von seinem Mund hatte der Dämon den Mann bisher die Finger lassen lassen – weitestgehend. „Schließlich ist das das Einzige, was du noch brauchst.“ zischte er immer mal wieder hämisch, bevor er ihm stattdessen die Nase oder die Augen einschlug. Z sah nicht mehr gut. Und hörte nicht mehr gut. Alles war geschwollen. Und er hatte so ein Gefühl, dass es den einen oder anderen Teil an seinem Körper gab, der nie wieder heilen würde. Beim kleinen Finger an der linken Hand wusste er das sicher. Denn der war nicht mehr da. Das waren von allen Schmerzen die schlimmsten gewesen. Und die darauffolgende Zeit der Bewusstlosigkeit die längste. Weshalb der Dämon danach auch von der Entfernung weiterer Finger abgesehen hatte. Er sah sich unter Zeitdruck und konnte daher keine längeren Pausen gebrauchen. Wie lange sich Z schon hier befand, vermochte er nicht zu sagen. Wahrscheinlich erst ein paar Tage, doch es kam ihm vor wie viele Jahre. Die Frage, wo die anderen beiden waren, wischte manchmal verschwommen durch sein Bewusstsein. Und ganz selten kam sogar eine Art Antwort darauf. Entkommen waren sie nicht – so viel war sicher. Denn dann hätten sie ihn längst befreit. Am wahrscheinlichsten war, dass die Dämonen sich entschieden hatten, sie für die Folter zu trennen. Aus taktischen Gründen. Also würde es unter Umständen an ihm sein, sie zu finden und zu befreien. Wenn er selbst irgendwann freikam. Auch das war ein Gedanke, der ab und zu in ihm auftauchte. Flucht. Doch dazu brauchte er Kraft. Um den Dämon loszuwerden. Und die Fesseln zu lösen. Und selbst wenn der Dämon weg war, blieb immer noch der Mann, der ihn beherbergte. Der nicht viel besser zu sein schien als der Dämon selbst. Und den er nicht so einfach mit ein paar Gedanken oder Worten davonschicken konnte. Was im Grunde hieß, dass er keine Chance hatte. Er kam nicht frei und nicht weg. Und seine Gedanken waren so auf die Schmerzen fixiert, dass er nicht mal das kürzeste Gebet zustande brachte. „Hilfe!“ schrie er in regelmäßigen Abständen. Aber bisher hatte sich noch keine eingestellt. Ab und zu verschwand der Mann. Wahrscheinlich, um zu essen oder ein wenig zu schlafen. Schließlich war er nur ein Mensch und der Dämon konnte ihn nicht über seine natürlichen Grenzen hinaus belasten. Doch diese Zeiten waren immer nur so kurz, dass Z gerade ein bisschen Energie tanken konnte, um den nächsten Ausbruch zu überstehen. Er spürte seine Hoffnung mehr und mehr schwinden. Und schließlich – verschwand sie ganz.
Was zur Folge hatte, dass ein neuer Gedanke in seinem Kopf auf und ab zu tanzen begann – und das sogar sehr laut und deutlich: ‚Sag es. Und du bist erlöst.‘ Mit etwas mehr Klarheit hätte er dem eine ganze Menge Argumente entgegensetzen können, doch in seinem Zustand war sämtliche Klarheit verschwunden und so fing er irgendwann – als er gerade wieder mehrere scharfe Messer in den Oberschenkeln stecken hatte – an, unverständlich vor sich hin zu brabbeln. „Was?“ fragte der Dämon scharf und kam näher, um in besser verstehen zu können. Aber Zs Gehirn war nicht mehr in der Lage, den erwarteten Satz richtig wiederzugeben und so kam er anders heraus als gewollt:
„Du bist erlöst.“
Das versetzte den Dämon in Raserei: „Du glaubst wohl, du könntest mit mir spielen, hm? Noch nicht genug Schmerzen für dich, hm? Schaust immer noch von oben auf mich herab, hm? Na warte. Dir werde ich es zeigen. Bisher habe ich deine Rückseite in Ruhe gelassen. Weil du so hübsch angebunden bist. Aber ich denke, es wird Zeit, dass ich mich mit deinem Rückenmark beschäftige. Ganz in Ruhe.“
Er griff zu einem Messer und schnitt die Fesseln durch, die Z hielten. Z fiel nach vorne und der Mann fing ihn auf. Und mit einem Mal war Zs Kopf klar. Er legte seine Arme um den Mann und drehte sich einmal im Kreis. Der Mann schlug mit voller Wucht mit dem Kopf gegen den Pfahl. Und kippte dann bewusstlos zur Seite. Z kippte mit ihm. Denn seine Beine trugen ihn nicht. Beim Aufprall wurden ihm die Messer noch tiefer in die Oberschenkel gedrückt. Er schrie auf und rollte sich zur Seite. Der Mann neben ihm regte sich wieder. Doch es war der Dämon, der sprach:
„Das war eine ganz schlechte Idee. Dafür wirst du...“
Weiter kam er nicht, denn mit letzter Kraft legte Z dem Mann die Hand auf die Brust und krächzte so laut er konnte:
„Raus!“
Der Mann stieß einen Laut aus, den Z von einem Menschen noch nie gehört hatte. Dann lag er still und als Z zu ihm hinüberblickte, war der Schatten verschwunden.
Er wurde bewusstlos – direkt im Anschluss – und konnte von Glück sagen, dass seine eigene Ohnmacht kürzer anhielt als die des Mannes neben ihm. Der, wie er feststellte, als er ihn untersuchte, eine hässliche Wunde am Kopf hatte, aber immer noch atmete. Z versuchte, sich aufzurappeln, doch es gelang ihm nicht. Dann wurde er sich der Messer gewahr und unter Aufbringung von mehr Kraft als er sich zugetraut hätte, zog er eines nach dem anderen heraus. Der Schmerz ließ ihn fast wieder das Bewusstsein verlieren, aber eben nur fast – denn inzwischen schrie es in ihm, dass das seine Chance war, zu entkommen. Unter Umständen seine einzige. Langsam und mit zusammengebissenen Zähnen kroch er zur Tür – benötigte fünf Versuche, um an die Klinke zu kommen und sie aufzustoßen. Dann schleppte er sich Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Was leider eine Menge Krach machte. Nicht so viel Krach, wie er von oben hören konnte – es waren ganz offensichtlich wirklich mehrere Kinder im Haus – aber dennoch genug, um Aufmerksamkeit zu erregen. So erschien plötzlich eine Gestalt am oberen Ende der Treppe. Eine Frau. Die eine Maske trug. Er streckte ihr eine verkrampfte Hand entgegen:
„Hilfe...“
„Von mir nicht, mein Guter.“ kam eine dumpfe Stimme zurück, „das wäre ja kontraproduktiv. Ich helfe dir höchstens zurück in deine Zelle.“
„Bitte...“
„Ja, wenn du ‚Bitte‘ sagst... na dann auf.“ Sie kam zu ihm herunter und half ihm hoch. Doch anstatt ihn die Treppe hochzuzerren, zerrte sie ihn sie wieder runter.
„Nein...“ Z versuchte, sich zu wehren, aber sie war stärker als er:
„Oh doch. Zumindest fürs erste. Schauen wir mal, was... uih. Ist er tot?“
Sie ließ ihn achtlos auf den Boden fallen – wohl in dem Glauben, dass er ihr nicht schnell genug entwischen konnte. Womit sie leider richtig lag. Sie kniete sich neben den Mann und prüfte seinen Puls:
„Lebt noch. Aber... der Dämon?“
Sie blickte Z an und anscheinend reichte sein Gesichtsausdruck, um ihr die Wahrheit zu verraten:
„Du schaffst es auch immer wieder. Wobei er ja eigentlich wiederkommen… egal. Dann nehme ich mal an, den brauchen wir nicht mehr.“ Sie griff zu einem der Messer, die auf dem Boden lagen, und rammte es dem Mann in die Brust. Er zuckte kurz. Dann lag er still. Z stöhnte laut auf. Und die Maske wandte sich ihm zu:
„Gefällt dir nicht? Kann ich verstehen. Musste aber sein. Und ist im Grunde deine Schuld. Seine Kopfwunde wäre nicht von alleine geheilt. Und einen Krankenwagen kann ich schlecht rufen, wie du dir sicher denken kannst.
Jetzt leidet er nicht mehr. Das heißt... wie man‘s nimmt. Aber egal. Nun zu dir. Ich nehme mal an, dass du mir nicht sagen kannst, was ich mit dir machen soll?“
„Frei...“ keuchte Z und bekam ein Lachen zurück:
„Ja – das wäre was.“
„Wer... bist...?“
„Das ist eine dumme Frage, meinst du nicht? Was glaubst du, warum ich diese Maske trage? Da sage ich dir noch nicht meinen Namen. Tz-tz-tz. Jetzt bleib schön hier. Ich gehe mal fragen, wie es weitergeht.“
Die Tür schloss sich hinter ihr und vollkommen entkräftet sackte Z in sich zusammen. Er merkte, wie der Raum um ihn herum verschwamm. Aber diesmal wurde er nicht bewusstlos. Diesmal schlief er ein.
Und wachte – seinem Gefühl nach – direkt wieder auf. Denn die Frau war wieder da. Mit jeder Menge Mullbinden und Pflastern, mit denen sie – nicht übermäßig sorgfältig und rein gar nicht vorsichtig – seine diversen offenen Wunden versorgte. Antworten schien sie bisher keine bekommen zu haben, denn auf Zs fragenden Blick hin, erklärte sie lediglich ihr Tun:
„Ich will nicht, dass du hier alles vollblutest. Nicht noch mehr zumindest, als du schon hast. Ein paar Flecken können gut zur Abschreckung dienen.
Aber man muss es ja nicht übertreiben, nicht wahr?“
Ansonsten schwieg sie. Und direkt, nachdem sie den von seinem Peiniger notdürftig angelegten Verband an seiner linken Hand gewechselt hatte, verschwand sie wieder. Was Z jedoch sehr recht kam. Denn seine Sehnsucht nach Schlaf war dank der paar Minuten, die er bereits bekommen hatte, nur noch größer geworden. Und so blieb er einfach liegen, wie er war, und schloss die Augen.
Es dauerte gefühlt mehrere Tage, bis die Frau mit der Maske zurückkam.
Tage, in denen die Leiche des Mannes anfing zu stinken und Z die wilde Idee durch den Kopf ging, dass er nach all den Qualen letzten Endes durch giftige Gase sterben würde. Dann ging die Tür wieder auf und die Frau stand vor ihm. Und drückte sich mit angeekeltem Ausdruck zwei Finger auf die Nase:
„Puh. Was für eine Luft. Der Kerl muss weg. Ganz schnell. Ich lasse die Tür ein wenig auf – zum durchlüften. Und du machst keinen Quatsch. Sonst binde ich dich wieder an. Verstanden?“
Z nickte schwach. Die Frau packte den Mann an den Füssen und zog ihn aus dem Raum. Aber nicht die Treppe hoch, sondern in einen anderen Kellerraum, den sie anschließend verschloss.
„So. Den Rest mache ich später. Muss ich wieder was anzünden für. Aber gut – passiert.“ Sie stellte sich in die Mitte des Raumes und schnüffelte, „schon besser. Und bestimmt nicht mehr gefährlich. Ich habe noch keine Antwort wegen dir. Also bleibst du noch. Und damit du mir nicht vom Fleisch fällst...“
Sie griff nach einem Tablett, das auf der Kellertreppe stand. Bis zu diesem Moment war es Z gar nicht aufgefallen. Brot lag darauf. Daneben stand ein Becher mit Wasser. „Nicht zu schnell – das ist erfahrungsgemäß nicht gut, wenn man lange verzichten musste. Nur so als Tipp. Bis bald.“
Die Tür fiel wieder zu. Und entgegen ihrem Vorschlag schlang Z Brot und Wasser nur so herunter.
Wieder hatte er das Gefühl, dass Tage vergangen waren, bis die Tür erneut aufging:
„So. Endlich. Klarheit. Also... herzlichen Glückwunsch. Du bist frei. Hätte ich auch nicht mit gerechnet, aber... da deine beiden Kumpaninnen unwiederbringlich verschwunden sind, hat sich der Oberboss entschieden, seinen Frust an jemand anders auszulassen, als an euch. Wie ich höre, haben sich eure Peiniger dafür freiwillig gemeldet. Gut – er hat sie freiwillig gemeldet. Tja – das ist Schicksal, hm? Egal. Muss uns nicht beeinflussen. Für uns geht das Leben weiter. Ich habe endlich mein Haus wieder zurück – nur um die blöde Leiche muss ich mich noch... – und du... mach, was du willst. Wo du willst. Wie du willst. Und mach dich vor allem auf was gefasst. Es hat sich da draußen einiges verändert, in der Zeit, die du hier unten warst.“
Z blickte sie fragend an.
„Oh nein.“ kicherte sie, „das verrate ich dir nicht. Das musst du selbst erleben. So wie wir anderen alle auch. Ich finde es besser. Bin gespannt, was du dazu sagst. Wenn ich es zugegebenermaßen auch nie erfahren werde. Naja – bevor ich ins Schwätzen komme... da ist noch eine Sache. Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das heißt... vorstellen ist nicht ganz richtig.
Schließlich kennst sie bereits. Wenn du dich erinnerst. Mal sehen, ob sie sich an dich erinnern. Mädels? Kommt ihr mal runter?“
Z konnte Schritte auf der Treppe hören. Dann traten drei junge Mädchen in den Raum. Die allesamt gleich aussahen. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken herunter. Er klappte den Mund auf, doch es kam nichts heraus. Die Frau mit der Maske deutete auf ihn:
„Das ist euer Onkel Z. Erinnert ihr euch an ihn?“
Zwei der Mädchen nickten, eins schüttelte den Kopf.
„Na, dann können deine Schwestern dich ja gleich aufklären... Lara.“ Sie hatte nach der Hand des Mädchens gegriffen und als Z ihr mit den Augen folgte, konnte er darauf ein großes schwarzes ‚L‘ erkennen. Sein Blick wanderte zu den anderen beiden Mädchen. Auch sie hatten Buchstaben auf der Hand. Ein ‚K‘ und ein ‚M‘. Der kalte Schauer auf seinem Rücken verstärkte sich.
„Z war eine Zeitlang zu Besuch.“ fuhr die Frau unbeirrt fort, „aber jetzt verlässt er uns wieder. Also könnt ihr ihm ‚Hallo‘ und ‚Tschüss‘ gleichzeitig sagen.“
„Hallo und Tschüss.“ sagten die Mädchen im Chor und Z stiegen Tränen in die Augen. Die Frau dagegen gab ein Glucksen von sich:
„Na, dann wieder ab nach oben mit euch. Und nicht zu doll toben – der Papa schläft.“
Die Mädchen verschwanden und Z fand endlich seine Sprache wieder – wenn auch nur leise:
„Sie leben?“
„Wie du siehst.“
„Wie?“
Die Frau zuckte mit den Schultern: „Ich habe sie gerettet. Vor dem sicheren Tod. Gut... diesen Tod habe ich selbst ausgelöst. Aber sonst hätte ich sie ja nicht bekommen.“
„Bekommen?“
„Ach Z... wenn du wüsstest, wie sehr ich mir gewünscht habe, selbst Kinder zu bekommen. Aber es ging nie. Erst durfte ich nicht, dann hat es nicht geklappt. Also habe ich mich nach anderen Möglichkeiten umgesehen. Aber Adoption ist so kompliziert. Und dann kam Becka. Euer Kind war so süß.
Und hätte es so gut bei mir gehabt. Aber sie musste es ja umbringen. Naja – jetzt habe ich Ersatz. Dreifach.“
Z merkte, dass er Mühe hatte, das alles zu verdauen. Also ließ er es bleiben und klammerte sich an das, was ihm wichtig erschien:
„Sie wohnen hier? In diesem Zimmer?“
„Eine Vorsichtsmaßnahme.“ erwiderte die Frau, „die Nachbarn, weißt du...
Aber inzwischen dürfte das kein Problem mehr sein. So viele Kinder wie da jetzt ohne Eltern rumlaufen... na – das wirst du alles noch sehen.“
„Sie... sie sind... komisch.“
„Naja – ich bin nicht ihre Mutter, nicht wahr? Sie müssen sich gewöhnen. Und das geht am schnellsten, wenn man ein wenig nachhilft. Medikamente sind da immer gut. Die entspannen. Den Körper. Und den Geist. Und dann hatte ich ja gerade ein paar Freunde zu Besuch. Die, die jetzt... na, du weißt schon: deinen Platz eingenommen haben. Sie haben sie mal... besucht.“
Schlagartig sickerte die Bemerkung des einen Dämons wieder in Zs Gedächtnis: „Du hast sie besitzen lassen.“
„Nur, damit sie mal sehen, was passieren kann, wenn sie nicht brav sind.
Ich denke, sie haben ihre Lektion gelernt. Also brauche ich das nicht zu wiederholen.“
Z kniff die Augen zusammen, um die Tränen zu unterdrücken, die sich nach draußen drängen wollten: „Ihre Hände...“
„Ja... du...“ Die Frau winkte ab, „wie dein Bruder und seine Frau das gemacht haben... mit dem Auseinanderhalten... krass. Eine echte Leistung.
Ich brauchte da eine Stütze.“
„Gemalt?“
„Tätowiert. Bringt ja nichts, wenn es beim Händewaschen immer weggeht.
Außerdem garantiere ich dir, dass sie mir dann ständig Streiche spielen würden. Die Medikamente enthemmen ja auch. Das... ach, was rede ich? Los, hoch mit dir. Ich dachte, es wäre nett, wenn du sie nochmal triffst. Das erleichtert dir vielleicht ein wenig deine armselige Existenz. Aber jetzt muss ich mich um den Haushalt kümmern. Also bitte – raus mit dir.“ Sie versetzte Z einen Tritt und dieser kam auf die Füße:
„Nimm die Maske ab.“
„Bitte?“
„Nimm die Maske ab.“ wiederholte er und machte einen Schritt auf sie zu.
Woraufhin sie drei Schritte von ihm weg machte:
„Ach, Z. Was für ein Quatsch. Wir kennen uns. Also nehme ich sie garantiert nicht ab.“
„Kennen...?“
„Witzig übrigens: Ich nehme ja mal an, dass nicht nur deine beiden Mädels unter den Verkleidungen gesteckt haben, oder? Du auch.“
Z blinzelte verwirrt: „Warum?“
„Weil ich mir das von euch abgeschaut habe. Gut – ihr seid nicht die ersten, die auf so eine Idee gekommen sind, aber... so im wahren Leben macht das ja selten einer. Außer bei Partys. Vielen Dank auf jeden Fall dafür.
Erleichtert mir meine Arbeit ungemein.“
„Du...“
Sie hob die Hand: „Was auch immer du sagen willst – spar es dir. Es ist bestimmt nicht nett. Los jetzt.“
Sie schnippte mit dem Finger und Z schleppte sich aus dem Raum. Im Flur blieb er stehen. Schnupperte. Und blickte sich dabei um. An der Wand hing ein großes Bild. ‚Für Tante Clara‘ stand darauf.
„Niedlich, gell?“ vernahm er ihre Stimme hinter sich, „haben sie ganz am Anfang gemalt. Inzwischen sagen sie ‚Mama‘ zu mir. Da geht’s lang.“
Sie drehte Z in Richtung Treppe und schob ihn dann vorwärts. Kurz, bevor er sie erreicht hatte, spürte er einen stechenden Schmerz im Nacken.
„Sorry, aber...“ Sie hüstelte künstlich, „ich will ja nicht, dass du hierher zurückkommst. Ich verspreche dir, dass ich dich wo abliefere, wo man dich in Ruhe lässt, bis du aufwachst.“
Z saß wirklich ganz alleine da, als er aufwachte. In einer Seitenstraße der Zeil. Neben ihm stand ein Pappbecher, der zur Hälfte gefüllt war. Mit Geldmünzen. Anscheinend hielt man ihn für einen Obdachlosen – was er den Leuten auch nicht verübeln konnte, so wie er wahrscheinlich aussah. Schwerfällig kam er auf die Beine und schaute sich um, in welche Richtung es nach Hause ging. Dann schlurfte er los. Auf dem Weg klopfte er seine Taschen ab. Sein Haustürschlüssel war noch da. Sein Handy auch. Sein Portemonnaie ebenfalls. Seine Kidnapper hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu durchsuchen. Schließlich waren sie davon ausgegangen, dass er durch ihre Hand sterben würde. Zuhause angekommen, ließ er sich erst einmal Badewasser einlaufen. Brauchte fast 20 Minuten, um sich auszuziehen und die Verbände abzuwickeln, die teilweise an den Krusten festgeklebt waren. Zumindest schaffte er es, keine der Wunden wieder aufzureißen. Und überlegte noch kurz, ob das Wasser dafür nicht eventuell doch sorgen würde. Er entschied, dass ihm das erstmal egal war. Damit konnte er sich hinterher beschäftigen. Was er letztlich gar nicht musste. Denn schon der erste Schritt in das gerade mal lauwarme Wasser tat dermaßen weh, dass er es wieder ablaufen ließ. Stattdessen legte er sich aufs Bett – nackt. Und dankte Gott dafür, dass er den Dämon hatte besiegen können, bevor sein Rücken drangekommen war. So konnte er zumindest ohne Schmerzen liegen. Irgendwann schlief er ein. Und als er wieder aufwachte, fühlte er sich schon ein wenig besser. Zumindest innerlich. Er stand auf und suchte nach seinem Handy, nahm es mit und legte sich wieder hin. Zuerst wählte er Geraldines Nummer, dann Annies. Keine von beiden meldete sich. Er überlegte, ob er es noch bei Christopher probieren sollte, aber dann fiel ihm ein, was die maskierte Frau gesagt hatte: ‚Draußen ist alles anders.‘ Auf dem Weg nach Hause war ihm nichts aufgefallen, allerdings hatte er auch kaum auf das geachtet, was außerhalb des Radius seines nächsten Schrittes passiert war. Also ging er ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an. Wenn es etwas gab, würde er es dort am ehesten erfahren. Doch das Programm schien ganz normal. So wandte er sich dem Computer zu. Im Internet wurde er schließlich fündig – und blass. Sein Magen drehte sich um. Und alle Stellen, die einigermaßen besser geworden waren, fingen direkt wieder an zu schmerzen.
‚Zahl der Verschwundenen schon bei über 1 Milliarde. War das die Entrückung?‘
lautete die oberste Überschrift auf der Nachrichtenseite, die er aufrief. Er klickte den Artikel an und begann zu lesen:
‚Wie die Bundesregierung heute mitteilte, beschränkt sich das Phänomen der verschwundenen Menschen nicht nur – wie zunächst vermutet – auf Europa und den nordamerikanischen Kontinent. Weltweit beläuft sich die Zahl der Vermissten inzwischen auf mehr als 1 Milliarde. Zudem häufen sich die Aussagen von Augenzeugen, die Personen direkt vor ihnen Augen verschwinden sahen. Aus vielen Großstädten wird von Unfällen berichtet, die sich durch plötzlich verschwundene Auto-, Bus- oder Zugfahrer ereigneten. Hierzulande ist die Situation aber ‚im Großen und Ganzen unter Kontrolle‘, wie ein Sprecher der Regierung betonte. Die Liste der Verschwundenen wird stündlich aktualisiert und kann auf der Homepage des Innenministeriums eingesehen werden. Sollte ihnen jemand auffallen, der dort fälschlicherweise eingetragen wurde, bittet die Polizei um einen Hinweis.
Auch wenn es bisher keine konkreten Beweise dafür gibt, hat sich der Vorsteher der Katholischen Kirche, Miguel Ortiguez, dahingehend geäußert, dass es sich bei dem Phänomen höchstwahrscheinlich um die in der Bibel angekündigte ‚Entrückung‘ handelt, bei der Gott alle seine Gläubigen von der Erde entfernt. Laut Ortiguez stellt das den Beginn der sogenannten ‚Trübsalszeit‘ dar, die sieben Jahre andauern soll und während der alle Ungläubigen diversen Plagen ausgesetzt werden, bevor Jesus schließlich wiederkommt. Er führte weiter aus, dass es sich dabei um den echten Jesus handeln wird. Nicht den, der sich einige Zeit lang dafür ausgegeben hat. Auf die Frage, warum er – Ortiguez – noch da sei, wenn doch alle Gläubigen entrückt wurden, antwortete er: „Gott weiß, dass die Menschen zu ihren Anführern aufschauen in Zeiten wie diesen. Wenn die Kirche so jemanden jetzt nicht mehr hat, kann sie nichts mehr ausrichten.“
Unbestätigten Berichten zufolge soll Ortiguez das einzige christliche Oberhaupt sein, das sich noch auf der Erde befindet. Aus Italien wird berichtet, der Vatikan würde quasi ‚leer stehen‘. Auch in anderen europäischen Ländern scheinen die geistlichen Führer von dem Phänomen betroffen zu sein. Ob dies auch für die Anführer anderer Religionen gilt, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bestätigt werden.‘
Z starrte den Bildschirm an – lange nachdem er mit Lesen fertig geworden war. Sein Hirn raste. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Der erste, er ihm schließlich halbwegs vernünftig erschien, war: ‚Warum schreiben die das erst jetzt? Das ist doch... Tage her.‘ Doch ein Blick auf das Datum des Berichtes beantwortete diese Frage direkt: Er war zwei Tage nach ihrer Entführung geschrieben worden. Und ein weiterer Blick auf das Datum des Laptops zeigte ihm zudem an, dass er über eine Woche gefangen gewesen war. Aber irgendwie war das alles nur am Rande wichtig. Viel wichtiger war, was es für ihn bedeutete. Und an genau diesem Punkt kam sein Hirn jetzt an. Und ein riesiger Knoten löste sich: Die Entrückung war geschehen. Und er war noch hier. Als Einziger. Geraldine war weg. Annie war weg. Und er konnte mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass Christopher und Steve und Katiana und alle anderen auch nicht mehr da waren. Weitere Anrufe konnte er sich also sparen. Die Frage war nur: Warum? Warum war er noch da? Er glaubte doch an Gott. Oder hatte er etwas falsch gemacht? Oder vielleicht Gott? Nein – der Gott, an den er glaubte, machte keine Fehler. Blieb also nur er. Konnte das wirklich sein? Konnte Gott wirklich so grausam sein, dass er Geraldine und Annie – genau in dem Moment, als die Folterungen begonnen hatten – zu sich geholt und ihn zurückgelassen hatte? Wegen irgendeiner Bagatelle, derer er sich nicht einmal bewusst war? Z schrie wütend auf und hätte am liebsten den Laptop gegen die Wand geworfen. Doch im letzten Moment besann er sich eines Besseren. Er musste zuerst nachschauen, ob er noch Geld auf dem Konto hatte, bevor er seine Einrichtung zu zerstören begann. Allein die Tatsache, dass ihm solch ein sinnloser Gedanke jetzt als erstes kam, brachte ihn zum Lachen. Das Lachen wurde immer hysterischer und ging schließlich in lautes Schluchzen über. Er war nicht dabei. Er war verloren. Für immer. Und ewig. Alles war umsonst gewesen. Sein ganzes Leben endete im Nichts. Er stolperte zurück ins Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Auf den Bauch, was brachial wehtat. Aber die Schmerzen waren ihm egal. Jetzt war ihm alles egal.
Selbst die Motivation, nach seinen Nichten zu suchen, wenn es ihm wieder besser ging – die ihn ab dem Moment seines Erwachens auf der Straße bei Kräften gehalten hatte – verschwand in den nächsten Tagen. Er hatte keine Hoffnung mehr. Worauf auch? Sie waren genauso verloren wie er. Also konnte er sich die Mühe sparen. Das Leben um ihn herum schien ironischerweise normal weiterzulaufen. Natürlich kannte jeder jemanden, der verschwunden war, und wenn er sich zum Einkaufen quälte oder in den Park, um ein wenig frische Luft zu schnappen, konnte er immer wieder Gespräche belauschen, die sich um dieses Thema drehten. Die Erklärung, dass es sich um die Entrückung gehandelt hatte, war anscheinend allgemein akzeptiert. Zu seiner großen Überraschung schien das aber niemanden großartig zu stören. Das verstand er zunächst nicht, mit der Zeit wurde es ihm allerdings klar: Dies hier waren die Leute, die vorher nicht an Gott geglaubt hatten. Die Entrückung mochte ein Zeichen dafür sein, dass Gott doch existierte. Aber für sie bedeutete das nichts. Zumindest nicht, wenn es darum ging, ihr Leben zu ändern. Sie schienen sich damit abzufinden, dass Gott ‚die Seinen‘ zu sich geholt hatte und leiteten daraus keinerlei Konsequenz für sich selbst ab. Was sicherlich auch daran lag, dass außer den paar Statements, die Miguel in den Medien verbreitet hatte, kaum Informationen veröffentlicht worden waren, was genau laut Bibel jetzt bevorstand. Die allgemeine Meinung ging auf jeden Fall stark in die Richtung, dass gar nichts mehr passieren würde. Dass die Entrückung einfach dazu dagewesen war, die ‚Spreu‘ vom ‚Weizen‘ zu trennen; dass sie als Zurückgebliebene nun aber nichts mehr zu befürchten hatten außer eben, dass man sie ‚Spreu‘ nannte. „Eigentlich geht es uns doch besser, jetzt wo die alle weg sind,“ fasste es ein alter Mann zusammen, der vor ihm an der Kasse wartete, „die wollten uns immer Vorschriften machen. Jetzt haben wir Ruhe davon.“ Z hätte widersprechen können. Doch er war zu sehr in seiner eigenen Mutlosigkeit gefangen. Ihm ging es da im Grunde wie den meisten anderen: Er betrachtete die Chance als vertan und rechnete sich keine weitere mehr aus. Mit dem Unterschied, dass er sehr wohl wusste, was noch kam. Und daher noch weniger Hoffnung hatte. Er wusste natürlich auch – tief innen drin – dass sein Ansatz der Chancenlosigkeit nicht stimmte. Doch das kam nicht durch. Dafür war sein Selbstmitleid zu einnehmend.
Die Treuen saßen in ihrem Gruppenraum und starrten ins Leere.
„Jetzt haben wir zu lange gewartet.“
„Konnte doch keiner ahnen, dass sowas passiert.“
„Und dass wir so lange brauchen würden, um die Verantwortlichen zu identifizieren.“
„Hätten wir besser vor Ort gemacht.“
„Es war ein Risiko, das wir ausschließen wollten. Hinfahren, gefangen nehmen. Das war der Plan.“
„Und unsere Ideen waren so gut. Die für nach dem gefangen nehmen. Ich hätte das echt gerne gemacht.“
„Nicht nur du.“
„Wir können die Welt trotzdem erzittern lassen.“
„Was bringt das jetzt noch?“
„Genau. Einfach mit irgendwem? Keine Genugtuung.“
„Ich hoffe, ihnen geht es schlecht da, wo sie jetzt sind.“
„Was machen wir dann jetzt?“
„Was bleibt uns denn? Unsere Pläne sind alle dahin.“
„Ja. Hat keinen Zweck mehr. Trennen wir uns.“
„Muss wohl so sein.“
Mit der Zeit verheilten seine Wunden – zumindest die körperlichen. Seine Finger- und Fußnägel wuchsen nach, die Stich- und Schürfwunden schlossen sich und selbst über die offene Stelle, wo früher sein kleiner Finger gewesen war, legte sich narbiges Hautgewebe. Es kam der Tag, an dem er keine Verbände mehr brauchte und wirklich wieder in die Badewanne steigen konnte. Der Tag, an dem er vom Aufwachen am Morgen bis zum Einschlafen am Abend nicht einen Moment lang Schmerzen verspürte. Der Tag, an dem auch er den Eindruck hatte, dass das Leben wieder normal war. Seine inneren Schmerzen jedoch blieben. Denn im Gegensatz zu so ziemlich allen anderen um ihn herum hatte er nicht einfach nur ein paar Freunde verloren. Er hatte alle seine Freunde verloren.
Irgendwann begann er, nach Gleichgesinnten Ausschau zu halten. Nicht im Sinne von: Leute, die hofften, durch Aufarbeitung ihrer Sünden doch noch in den Himmel zu gelangen. Sondern im Sinne von: Leute, die davon ausgegangen waren, bei der Entrückung dabei zu sein, und nun mit der Enttäuschung leben mussten, falsch gelegen zu haben. Davon gab es mehr, als er gedacht hatte. Und zu seiner Überraschung hatten sie sich bereits organisiert. Nur über das Internet zwar, denn sie waren in ganz Deutschland verteilt – und hielten auch Kontakt zu ähnlichen Gruppierungen in anderen Ländern – aber das war besser als nichts. Dreimal in der Woche verbrachte Z so den Abend in einem Chatroom, wo sie sich darüber austauschten, wie es ihnen ging und wie sie das Leben nun betrachteten. Vereinzelt gab es natürlich solche, die dazu aufriefen, sich aufzuraffen. Und die Chance zu nutzen, die sich ihnen jetzt bot. Doch an Z prallte das ab. So wie an vielen anderen auch.
Was weder Z noch die anderen Mitglieder dieser Gruppe wussten, war dass jemand sehr prominentes auch zu ihnen gehörte. Zumindest, was ihre Denkweise anging. Dabei hätte es ihnen durchaus klar sein können, denn es war eigentlich offensichtlich: Miguel. Der vollkommen zurecht gleich im ersten Interview nach der Entrückung bezüglich seiner eigenen Person ausgefragt worden war und sich daraufhin schnell eine gut klingende Lüge ausgedacht hatte. Insgeheim aber sah er das natürlich komplett anders. Im Grunde so wie Z – nur wesentlich anklagender. Er hatte sich über Jahrzehnte hinweg für nichts anderes eingesetzt als Gott und schien trotzdem nicht würdig zu sein. Während andere Menschen, die in ihrem Leben vielleicht zweimal gebetet hatten, nun im Himmel weilten und auf ihn herabblickten. Und ihn dabei wahrscheinlich verspotteten. Nach außen hin behielt er seine Haltung natürlich bei. Schließlich wollte er die Machtposition, die er nun innehatte und die sich durch die Entrückung nochmals gefestigt hatte, nicht verlieren. Denn entgegen Zs Annahme gab es eine ganze Menge von Menschen, die gerade jetzt anfingen, nach Gott zu fragen. Für die die Entrückung wirklich der Startschuss dafür gewesen war, sich neu mit dem Sinn des Lebens zu befassen. Z hatte lediglich keinen von ihnen laut darüber reden hören. Diese Menschen brauchen solche, die sie anleiteten und da logischerweise so gut wie kein Geistlicher mehr auf der Erde weilte, fiel Miguel ein Großteil dieser Anleitung zu. Was für die Leute schlecht war. Denn still für sich hatte dieser eine Entscheidung getroffen, die weit über das hinausging, was Z oder seine Gleichgesinnten dachten: Er versank nicht in Hoffnungslosigkeit oder Passivität. Er stellte sich aktiv gegen Gott. Mit einem Gott, der ihn verschmähte, wollte er nichts mehr zu tun haben. Schon in den Jahren zuvor hatte Gott ihm bei seiner Arbeit so viele Steine in den Weg gelegt. Hatte ihn für seine vielen guten Taten nie belohnt und für die paar wenigen schlechten gnadenlos bestraft. Das sollte er büßen. Und Miguels Weg, das umzusetzen war, dass er die, die mit Fragen zu ihm kamen, mit falschen Antworten wieder wegschickte. In denen er unter anderem auch die Lehre verbreitete, dass durch die Aufteilung bei der Entrückung die Seiten für immer gewählt waren. Jetzt noch zum Glauben zu kommen, brachte nichts. Gott nahm niemanden mehr an. Das machte viele Menschen traurig – und Miguel im Gegenzug glücklich. Er würde Gott zeigen, was er davon hatte, ihn hier zurückzulassen. Bitter bereuen würde er das.
Seine Assistentin – Clara – machte sich keine solche Gedanken. Sie hatte die Seite, zu der sie gehören wollte, schon vor langer Zeit gewählt. Und war dementsprechend seit der Entrückung sehr glücklich, denn all die Menschen, die ihr so lange auf die Nerven gegangen waren mit ihren Regeln und Vorschriften, waren nun weg. Was für sie bedeutete, dass sie nach Herzenslust tun und lassen konnte, was sie wollte. Auch, wenn es um ihre etwas ausgefalleneren Hobbies ging.
Denen sie leider nicht so oft frönen konnte, wie sie das gerne getan hätte, denn Miguel überhäufte sie geradezu mit Arbeit. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, über kurz oder lang alleiniger Anführer des Landes zu werden und ihre Einwände, dass das Land so etwas erst vor kurzer Zeit schon einmal mitgemacht hatte und sicherlich nicht auf eine Wiederholung erpicht war, ließen ihn kalt. Weil er einen anderen Ansatz hatte, wie er behauptete. Er wollte die Leute nicht unterdrücken. Sie nicht dazu bringen, dass sie machten, was er sagte. Er wollte mit ihnen eigentlich gar nichts zu tun haben. Er wollte nur eines: Den christlichen Glauben ausrotten. Sein – ihr sehr wohl bekannter – falscher Umgang mit denen, die bei ihm geistlichen Rat suchten, schien ihm auf Dauer nicht zu reichen. Stattdessen war er von der Idee besessen, sich eines Tages auf den Rathausplatz stellen und Gott für irrelevant erklären zu können. Mit der Erwartung, dass alle Menschen – zumindest in Deutschland – ihm darin folgten. Das fand Clara ein klein bisschen übertreiben, sagte aber nichts dazu. Schließlich musste sie an ihre eigene Position denken. Sie begann allerdings vorsichtshalber, sich einige Freunde in der Regierung zu suchen – nur für den Fall, dass Miguel irgendwann verschwand. Denn dann wollte sie nicht mit verschwinden müssen.
Es gab aber auch solche, die sich eigentlich zu den Auserwählten gezählt hätten und sich durch die Tatsache, dass das nicht stimmte, nicht entmutigen oder erzürnen ließen. Die wirklich nach Ursachen forschten, beteten, die Bibel lasen, und hofften, so dahinterzukommen, welchen Fehler sie gemacht hatten und wie sie ihn wieder gutmachen konnten. Ihre Anzahl war sehr gering. Und zudem waren sie nicht organisiert, nicht mal im Internet. Da sie alle davon ausgingen, dass es jemanden wie sie nicht noch einmal gab. Zu dieser Gruppe gehörte Christopher. Er war wenige Tage nach Michelles Verschwinden nach Deutschland zurückgekehrt und hatte sich in einer Sprache, die er verstand, Bestätigung für die Bilder geholt, die er bereits in Spanien gesehen hatte. Seitdem beschäftigte er sich eingehend mit der Frage nach dem ‚Warum‘. Eine Antwort hatte er darauf bisher nicht gefunden, doch er hatte etwas, was vielen anderen in der gleichen Situation abging: Frieden. Er wusste, dass er die Antwort finden würde. Und sei es am letzten Tag vor Jesu Wiederkunft. An die er nach wie vor glaubte. Allerdings machte auch ihm die Tatsache zu schaffen, dass keiner seiner früheren Freunde mehr da war. Gleich als erstes hatte er bei Niklas geklingelt und von den Nachbarn erfahren, dass sowohl dieser als auch Simon zu den Verschwundenen gehörten. „Und das so kurz vor ihrer Hochzeit.“ hatte die Nachbarin mit deutlicher Enttäuschung in der Stimme hinzugefügt. Auf dem Nachhauseweg hatte er sich dabei ertappt, dass er sich darüber wunderte. Und irgendwie auch ein wenig ärgerte. Doch er hatte sich zur Ordnung gerufen. Es war nicht richtig, Menschen miteinander zu vergleichen. In seinem Leben gab es etwas, was ihn zurückgehalten hatte. Niklas und Simon dagegen waren von ihrer sexuellen Ausrichtung nicht zurückgehalten worden. Das war etwas, worüber er sich freuen sollte. Was ihm schwerfiel, aber nicht seinen Eifer unterband, sein eigenes Problem aufzuspüren. Und alleine zu sein brachte dabei ja auch den Vorteil mit sich, dass man nicht abgelenkt war. So verbrachte er die Zeit damit, die Bibel so eingehend zu durchforschen wie seit seinem Studium nicht mehr. Weiter brachte ihn das nicht. Und trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf.
Es gab nur wenige Sachen, bei denen sich alle Mitglieder der malaysischen Regierung einig waren. Eine davon war Singapur. Der Stadtstaat, der am unteren Ende ihres Landes lag. Und ihm in so ziemlich allen Belangen überlegen war. Eine Oase des Reichtums in einer Wüste der Armut. Und für die Politiker Malaysias daher ein Stein des Anstoßes. Gegen den sie etwas zu unternehmen gedachten. Lange schon war diese Idee in den Köpfen herumgespukt und dass bisher niemand konkrete Schritte unternommen hatte, lag ausschließlich daran, dass Singapur gute Kontakte zu den Großmächten pflegte. Aber diese gab es inzwischen nicht mehr. Zumindest nicht in einer Form, dass man sie noch als Großmächte bezeichnen konnte. Was die Chance mit sich brachte, den Traum endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Zumal die Umsetzung denkbar einfach war. Denn es gab eine Sache, bei der das große Land der kleinen Stadt gegenüber einen gewaltigen Vorsprung hatte: Der Umfang der Armee. Die mit ein bisschen Glück einfach nur ihre Stärke präsentieren musste, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Die Sitzung, in der das beschlossen wurde, war dementsprechend recht kurz und alle Anwesenden gingen mit einem sehr guten Gefühl nach Hause. Das sie gleich am nächsten Tag bestätigt sahen, denn es kam genauso, wie sie sich das erhofft hatten: Die malaysischen Soldaten zogen einen Gürtel rund um den Stadtstaat und der Oberbefehlshaber ließ über das singapurische Fernsehen mitteilen, dass man die Stadt angreifen würde, wenn sie sich nicht fügte. Sie fügte sich. Binnen weniger Stunden lag der malaysischen Regierung die Kapitulation der singapurischen vor. Die Armee zog wieder ab – und die Regierung in Singapur aus. Aus dem Stadtstaat wurde eine normale Stadt. Die ihren Namen behielt – aber einen Zusatz bekam. Damit auch jeder wusste, wer sie nun regierte: MalaysischSingapur.
Dämonen zu foltern war immer eine unbefriedigende Angelegenheit. Ihre Schmerzgrenze lag hoch und es gab auch kaum etwas, was man mit ihnen tun konnte. Doch in der jetzigen Situation war es einfach notwendig. Die beiden Frauen waren ihm für immer abhandengekommen. Und selbst wenn für den Mann noch Hoffnung bestand, musste er bei ihm wohl bis zum bitteren Ende warten. Das zwar abzusehen war – aber trotzdem immer noch zu weit entfernt. Da war es vollkommen unabdingbar, dass er seine Untergebenen für ihren Misserfolg bestrafte. Bevor er sie wieder hinter das Tor schickte. Neben ihm stand ein Abgesandter des Konsortiums, das einige seiner Dämonen – warum auch immer – auf der Erde gebildet hatten. Er hatte sich dazu bisher jegliche Frage oder Anmerkung gespart. Solange sie sich anständig benahmen, war ihm das egal, auch wenn er es seltsam fand. Und genau darum ging es – ihr Benehmen. In der aktuellen Situation:
„So viele weg. Sollten wir da nicht zusehen, dass wir gegen die Übrigen einen Großangriff starten?“
„Das war auch mein erster Gedanke.“ erwiderte Luzifer, „bevor ich wirklich mit nachdenken begonnen habe.“
„Und was denkst du jetzt?“
„Dass wir das nicht tun werden.“
Der Dämon zögerte: „Erklärst du das?“
„Sind wir schon soweit, dass ich mich erklären muss?“ zischte Luzifer scharf.
„Nein...“ wehrte der Dämon hastig ab, „ich brauche das natürlich nicht, aber... du weißt ja, wie es ist, wenn ich zu den anderen zurückgehe. Ich bin technisch gesehen nicht ihr Chef und kann ihnen nichts befehlen.“
Luzifer ließ von den drei Dämonen ab: „Reicht es nicht aus, dass du sagen kannst, ich hätte es befohlen?“
„Ich will nur auf Nummer sicher gehen.“ nuschelte der Dämon unglücklich.
„So sei es. Gib ihnen die folgende Erklärung: Ich habe eine Abmachung getroffen mit einem auf der Erde, der Einfluss nehmen kann.“
„Einem...“ Der Dämon stockte, „…Menschen?“
„So ist es. Das widerstrebt mir, glaub mir. Und glaub mir weiter, dass er das, was ich ihm versprochen habe, niemals bekommen wird. Aber das weiß er nicht. Und da er naiv ist und vor lauter Gier nach dem, was sich ihm auf Erden bietet, zudem blind, wird er es auch nicht erkennen.“
„Und was tut er? Und was tun wir?“
Luzifer knurrte verärgert: „Es wäre so viel einfacher, wenn du nicht dazwischenreden würdest.“
„Natü...“ Der Dämon verstummte.
„Gut. Sehr gut. Lernfähig. Immer noch. So ist es brav.“ Luzifer wandte sich wieder den drei Dämonen zu, „die meisten Menschen mit Gaben sind nun weg. Was auf den ersten Blick wie eine gute Gelegenheit aussieht, sich dort breitzumachen. In ihnen. Aber du musst bedenken: Den Zeitpunkt des Moments, der gerade stattgefunden hat, kannte nur der arme, alte Vater. Einer seiner liebsten Tricks: keine Zeitangaben. Leider – für ihn – hat er sich an diesen Trick nur bei dieser einen Sache gehalten. Ab jetzt liegt der Zeitplan offen vor uns: sieben Jahre. Dann geht es weiter. Das ist der Moment, auf den wir uns konzentrieren müssen. Denn wie du weißt, steht uns ein Kampf bevor. Viel weiter in der Zukunft. Und je grösser unsere Armee, desto schneller haben wir ihn besiegt. Ich hasse es, wenn es lange dauert. Also sorgen wir für eine große Armee. Und wie machen wir das? Mit roher Gewalt? Nein. Mit Taktik. Wir machen nichts. Rein gar nichts. Jetzt zumindest. Denn die Menschen, die da oben noch herumlaufen, haben niemanden, der ihnen etwas von Gott erzählen könnte. Sie wurden nicht mit abgeholt. Und die einen wissen nicht, warum, und die anderen wollen es nicht wissen. Und keiner, der diesmal nicht mit dabei war, wird beim nächsten Mal mit dabei sein. Außer, er ändert sich. Doch für Veränderung braucht es einen Anlass. Wie zum Beispiel, dass jemand predigt, man solle es tun. Das tut aber niemand. Denn sie sind alle fort, die das könnten. Ein anderer Anlass wäre, dass man selbst oder andere merken oder den Eindruck haben, dass mit einem etwas nicht stimmt. Zum Beispiel, wenn man Gesellschaft von einem Dämon hat. Verstehst du? Wenn wir jetzt etwas tun, geben wir ihnen Anlass. Sich doch noch zu bemühen. Und darüber hinaus geben wir auch den strahlend weißen Helden von ganz oben Anlass, einzugreifen. Denn selbst wenn sie behaupten, sie würden sich nicht einmischen – sie tun es doch. Wenn wir aber stillhalten, glaubt man dort, es gäbe keinen Grund, sich zu bemühen. Weil die Menschen es schon von alleine schaffen. Und die wiederum denken, dass alles in Ordnung ist. Und dementsprechend so bleiben kann. Schließlich glaubt von ihnen niemand an die sieben Jahre. Wenn sie davon überhaupt wissen. Wir wiegen sie also in Sicherheit. Und sorgen so dafür, dass sie genauso weiterleben, wie sie es jetzt schon tun: sündig und offen. Für uns. Und dann – kurz bevor die sieben Jahre um sind – schlagen wir zu. Wenn sich keiner mehr dagegen wehren kann. Dann haben wir sie alle gewonnen. Meinst du, das reicht an Erklärung?“
„Ich hoffe.“ antwortete der Dämon – und korrigierte sich sofort: „Ich denke.
Ja – das reicht. Bin ich mir sicher. Nur eine einzige Frage noch.“
„Wie hätte es anders sein sollen?“ seufzte Luzifer genervt.
„Werden sie für uns kämpfen, auch wenn sie gar nicht auf unserer Seite stehen?“
„Wie oft habe ich euch eigentlich gesagt, ihr sollt die Schrift studieren?“
fauchte Luzifer ihn an, „es ist zwecklos. Aber gut – so kurz vor dem Ende...
was soll man da erwarten? Sie haben keine Wahl. Es gibt nur die beiden Seiten. Und sie kämpfen da, wo sie sich befinden. Ohne Mitspracherecht.“
„Aber...“
„Aber sie sind nicht auf unserer Seite. Schon verstanden. Ich führe es nochmal aus. Nur für dich. Niemand muss bewusst auf unsere Seite.
Niemand muss hingehen und mich anbeten. Er muss einfach nur nicht auf die andere Seite. Denn ihn... muss man anbeten. Das ist ja der Unterschied.
Er verlangt, dass man ihn anbetet. Ich tue das nicht. Ich nehme alle, die er nicht will. Und er will keinen, der ihn nicht anbetet. Wir müssen also jetzt genauso wenig die Menschen auf unsere Seite ziehen, wie wir das in der Vergangenheit mussten. Was dir eigentlich hätte auffallen können – wenn du irgendwann auch mal mit nachdenken angefangen hättest. Alles, was wir tun müssen, ist dafür zu sorgen, dass sie nicht zu glauben beginnen.
Dann ist alles für uns sicher. Und dafür – wie gesagt – habe ich gesorgt. Dort oben ist noch ein einziger Mensch, der ihnen überhaupt etwas zu all diesen Dingen erzählen kann. Und der wird ihnen erzählen, was für uns gut ist.
Und was ihnen auch viel besser gefällt. Denn der Witz ist ja: glauben ist anstrengend. Die Menschen aber strengen sich nicht gerne an. Und wenn ihnen jetzt jemand sagt, dass sie das auch nicht müssen... dann werden sie es auch nicht tun. Und wir haben gewonnen. Zufrieden?“
Der Dämon nickte eifrig: „Ich werde damit zurückgehen. Und bin fest davon überzeugt, dass keine Fragen offenbleiben werden.“
„Eine schon.“ überlegte Luzifer, „weil sie sich keiner zu fragen trauen wird: ‚Was passiert mit denen, die sich nicht dran halten?‘ Gib ihnen die Antwort trotzdem. Beschreib ihnen, was du hier siehst. Was ich hier tue.“
„Es wird sich dir keiner widersetzen.“ hauchte der Dämon und eilte davon.
„Das hoffe ich.“ murmelte Luzifer vor sich hin, „für euch.“