gestehen - Aron Olin - E-Book

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Aron Olin

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Beschreibung

Kaum ist der Schicksalsschlag, der die Gruppe um Geraldine so plötzlich und unerwartet ereilt hat, verdaut, wartet schon die nächste Herausforderung: Die Lüge, die all dies ausgelöst hat. Und an der auch ihre Freundschaft zu scheitern droht. Denn das, was bei der Aufarbeitung der Katastrophe zu Tage tritt, rückt nicht nur diese in ein neues Licht, sondern auch einen ihrer Mitstreiter.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

Kapitel 120

Kapitel 121

Kapitel 122

Kapitel 123

Kapitel 124

Kapitel 125

Kapitel 126

Kapitel 127

Kapitel 128

Kapitel 129

Kapitel 130

Kapitel 131

Kapitel 132

Kapitel 133

Kapitel 134

Kapitel 135

Kapitel 136

Kapitel 137

Kapitel 138

Kapitel 139

Kapitel 140

Kapitel 141

Kapitel 142

Kapitel 143

Kapitel 144

Kapitel 145

Kapitel 146

Kapitel 147

Kapitel 148

Kapitel 149

Kapitel 150

Kapitel 151

Kapitel 152

Kapitel 153

Kapitel 154

Kapitel 155

Kapitel 156

Kapitel 157

Kapitel 158

Kapitel 159

Kapitel 160

Kapitel 161

Kapitel 162

Kapitel 163

Kapitel 164

Kapitel 165

Kapitel 166

Kapitel 167

Kapitel 168

Kapitel 169

Kapitel 170

Kapitel 171

Kapitel 172

Kapitel 173

Kapitel 174

Kapitel 175

Kapitel 176

Kapitel 177

Kapitel 178

Kapitel 179

Kapitel 180

Kapitel 181

Kapitel 182

Kapitel 183

Kapitel 184

Kapitel 185

Kapitel 186

Kapitel 187

Kapitel 188

Kapitel 189

Kapitel 190

Kapitel 191

Kapitel 192

Kapitel 193

Kapitel 194

Kapitel 195

Kapitel 196

Kapitel 197

1

Z stand über den beiden Gestalten, die vor ihm auf dem Boden lagen. Die Frau lag regungslos da, der Mann dagegen kroch auf dem Bauch von ihm weg Richtung Tür und flehte dabei unentwegt um Gnade. Z versetzte ihm mit dem Fuß einen Tritt gegen die Schuhsohle:

„Verschwinde lieber, bevor sie aufwacht. Sonst geht es dir schlecht.“

Der Mann drehte sich panisch um: „Was tust du...?“

„Ich? Gar nichts. Aber sie wird sicher die Polizei rufen. Schließlich kennt sie dich nicht, oder?“

„Ja, nein, natürlich...“ Fluchtartig kam der Mann auf die Füße und verließ den Raum. Nur wenige Augenblicke später hörte Z die Wohnungstür zuschlagen. Er kniete sich neben die Frau und fühlte ihren Puls. Er war ruhig und gleichmäßig. Also war sie in Ordnung und nur ohnmächtig. Er konnte sie demnach alleine lassen. Er sah sich noch einmal um, ob er oder der andere Besucher irgendwelche Spuren hinterlassen hatten, die sie misstrauisch machen könnten, doch er fand nichts. Dafür hörte er sie leise stöhnen, was ihm anzeigte, dass sie bald zu sich kommen würde. So schnell und gleichzeitig so leise wie möglich verließ er die Wohnung.

2

Panik. Das war das richtige Wort für das Gefühl, das den Diener erfüllte. Doch er war so sehr davon erfüllt, dass er sich noch nicht einmal Gedanken darüber machen konnte, wie man es nennen mochte. Den Heimweg hatte er in einer Geschwindigkeit zurückgelegt, für die ihm die Polizei den Führerschein wahrscheinlich für den Rest seines Lebens abgenommen hätte und auch die Stufen hinauf zu seiner Wohnung hatte er in Rekordzeit geschafft. Er war noch nie übermäßig sportlich gewesen, aber es gab Momente, da war Schnelligkeit trotzdem kein Problem. In seiner Wohnung angekommen, hatte er sämtliche Schlösser an seiner Eingangstür verriegelt. Und die kleine Kommode davorgeschoben. Es war viele Jahre her, seit er das das letzte Mal getan hatte und es hatte viele Tage gegeben seitdem, an denen er ernsthaft überlegt hatte, die meisten dieser Schlösser zu entfernen, da er sie nicht mehr brauchte. Nun war er froh, das nicht getan zu haben. Denn dann wäre er jetzt ungeschützt. Der fremde Mann wollte ihn holen – dessen war er sich sicher. Der Mann, der vor seinen Augen die Frau umgebracht hatte. Den Meister, der über sie geherrscht hatte. Und: seinen eigenen Meister. Er war der letzte, der noch übrig war. Ohne zu wissen, was genau er tat, lief er zwischen seinen Zimmern hin und her. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Bis auf einen: Sein Meister war tot. Irgendwann konnte er nicht mehr. Das ganze Gerenne war zu viel für seinen Kreislauf. Er wollte sich auf die Couch fallen lassen, verfehlte sie allerdings um einige Zentimeter und landete unsanft auf dem Boden. Der Aufprall tat ihm weh und der Schmerz ließ ihn ein wenig klarer im Kopf werden. Der endlose Kreislauf dieses einen Gedankens wurde unterbrochen und durch einen anderen Gedanken ersetzt: ‚Vielleicht konnte er entkommen – so wie ich.‘ Dass er selbst gar nicht wirklich entkommen, sondern fortgejagt worden war, ging ihm dabei total abhanden. Aber das war auch nicht so wichtig. Das andere war viel wichtiger: Sein Meister war mächtig. Und es stand nicht außer Frage, dass er die Situation erkannt und sich rechtzeitig verabschiedet hatte. Sofort sprang er auf die Füße und sprintete ins Schlafzimmer, wo er den großen Koffer mit seinen Anbetungsutensilien unter dem Bett hervorzog. Schnell war alles aufgebaut und er saß davor: „Meister? Bist du da? Melde dich bei mir. Ich bin es – dein Diener. Meister? Hörst du mich?“ Ungefähr zwei Stunden verbrachte er damit, diese oder ähnliche Sätze zu wiederholen – dabei immer verzweifelnder werdend. Dann gab er es schließlich auf – hauptsächlich, weil er zu müde war, weiterzusprechen. Er kippte einfach zur Seite um und bewegte sich nicht mehr. Nun hatte er Gewissheit: Sein Meister war tot. Und sein Leben hatte jeglichen Sinn verloren. Am liebsten wäre er dort liegengeblieben und an Ort und Stelle gestorben. Doch sein Überlebenswille siegte schließlich über die Leere in seinem Herzen und so kroch er auf sein Bett und schlief dort ein.

3

Sein Meister – der Chef der Dämonen – befand sich derweil in seinem Gebiet. Er hatte sich direkt dorthin begeben, nachdem er seinen Diener verlassen hatte und auch gehört, wie dieser nach ihm gerufen hatte. Doch er konnte sich mit ihm jetzt nicht befassen. Nein, das war falsch: Er konnte sich gar nicht mehr mit ihm befassen. Der Lügner, der mit einem Mal so viel Kraft hatte hervorbringen können, hatte ihn gesehen. Und das machte ihn für jegliche Benutzung unbrauchbar. Also ignorierte er ihn und befasste sich stattdessen mit dem Problem, das auf seiner Prioritätenliste jetzt ganz oben stand – noch vor der Suche nach einem neuen Diener oder einer neuen Dienerin: Dem Lügner. Wie konnte es sein, dass er trotz seines sündhaften Verhaltens solche Macht besaß? Und vor allem: Sie so anwenden und bündeln konnte? Mochte wirklich etwas dran sein an dem, was er selbst seinem Untertanen just in dem Moment erzählt hatte, als der Lügner über sie hereingebrochen war? War Wut wirklich eine Quelle, die die Diener des Feindes anzapfen konnten? Das hatte er bisher nicht für möglich gehalten. Und es nur gesagt, um seinem Untertanen die Überheblichkeit auszutreiben. Aber wenn dem tatsächlich so war, dann war das ein großes Problem. Eines, um das er sich dringend kümmern musste. Ohne einen menschlichen Körper, verstand sich. Und so machte er sich auf den Weg zu Z.

4

Dieser lag zuhause auf dem Bett und fühlte sich so schlecht wie selten zuvor in seinem Leben. Als er das Haus verlassen hatte, in dem Heikes Freundin wohnte, war noch alles in Ordnung gewesen. Doch schon während der Fahrt hatte er gemerkt, wie ihn nach und nach jegliche Kraft verließ. Und zwar wirklich – nicht nur innerlich. Er hatte das Lenkrad kaum noch drehen können und als vor ihm eine Katze über die Straße gerannt war, hatte er sie beinahe erwischt, weil ihm das Bremspedal unendlich schwer zu treten erschien. Die Treppen zu seiner Wohnungstür waren eine Qual gewesen und den Weg von der Wohnungstür zum Bett hatte er auf allen vieren zurückgelegt. Seitdem lag er hier und im Laufe der Zeit – nachdem die Ereignisse der letzten Stunden langsam verblasst waren, hatte sich ein erschreckender Gedanke seines Geistes bemächtigt: ‚Es geht mit mir zu Ende. Ich habe meine Schuldigkeit getan und jetzt bin ich fertig mit der Welt.‘ Er spürte, wie er mit einem Mal sehr müde wurde und schloss die Augen. ‚Ich werde sie nie wieder öffnen‘ war das letzte, was er dachte.

5

Bis er am nächsten Morgen erwachte und feststellte, dass er durchaus noch am Leben war. Wenn es ihm auch nur unwesentlich besser ging als bei seiner Ankunft. ‚Ist das der Preis, den ich bezahlen muss?‘ fragte er sich. ‚Ist das jetzt jedes Mal so?‘ Er hatte nichts vor – außer einem Treffen mit Becka am Abend. Also blieb er liegen. Entledigte sich zwischendurch nur schnell seiner Klamotten und holte sich eine Flasche Wasser, die er innerhalb der nächsten halben Stunde komplett austrank. Sonst rührte er sich nicht vom Fleck und als sich der Abend näherte, rief er schließlich Becka an und sagte das Treffen ab. Sie fragte noch, ob sie stattdessen zu ihm kommen sollte, doch das lehnte er ab, denn er wollte einfach nur schlafen.

6

Am nächsten Vormittag, als Z mit Erleichterung feststellen durfte, dass es mit ihm langsam wieder bergauf ging, durfte Jasmin ebenfalls mit Erleichterung feststellen, dass mit ihr alles in Ordnung war. Oder zumindest zu sein schien. Nachdem sie zwei Tage zuvor vollkommen verwirrt auf dem Boden ihres Wohnzimmers zu sich gekommen war, hatte sie sich vorsorglich einen Termin bei ihrem Hausarzt geben lassen. Es war das dritte Mal binnen kürzester Zeit, dass sie sich an Teile ihres Tuns nicht mehr erinnern konnte, und das machte ihr Sorgen. Doch die Untersuchungen ergaben alle das gleiche: Sie war kerngesund. „Vielleicht der Stress.“ mutmaßte der Arzt und sie stimmte ihm zu. Die Situation mit Heike war von Anfang an schwer verkraftbar gewesen. Die anstrengende Geburt, der Jasmin – aus Mangel an familiärer Unterstützung – beigewohnt hatte, Heikes anschließendes immer wiederkehrendes Kränkeln und dann schließlich die Eskalation mit ihren Bekannten, die so ein tragisches Ende gefunden hatte. Da war es nicht weiter verwunderlich, dass sich ihr Geist mal eine Auszeit nahm. Der Hausarzt schlug noch vor, auf Nummer sicher zu gehen und einen Spezialisten heranzuziehen, doch das lehnte Jasmin erst einmal ab und versprach, es in Anspruch zu nehmen, sollten sich die Blackouts noch einmal wiederholen. Was nicht der Fall war. Ihr seltsames Erwachen auf dem Fußboden sollte das letzte Mal in ihrem Leben gewesen sein, dass ihr so etwas passierte.

7

Außerhalb dieser kleinen Schar von Eingeweihten, die Zs erstem großen Auftritt in der ihm zugedachten Rolle hatten beiwohnen dürften, wusste man von alledem natürlich noch nichts. So gab es beim ersten Treffen der Gruppe im neuen Jahr vor allem ein Thema: Der Dämon und seine Absichten. Seit ihrem letzten kurzen Gespräch auf Yanniks Beerdigung hatte sich einiges getan – vor allem, was Linda anging:

„Das Jugendamt nimmt seine Aufgabe durchaus ernst.“ begann Christopher, nachdem Geraldine und Annie sich gesetzt hatten, „wir haben eine Menge Papiere unterschreiben müssen in der Zwischenzeit und dass ich einfach Vorschläge mache, wer sie nehmen könnte, kommt zwar gut an und wird auch offen aufgenommen – mit dem Auswahlprozess habe ich allerdings nichts zu tun.“

„Das heißt, dein Einfluss ist zu Ende.“ Geraldine ließ den Kopf hängen.

„Nun... ja. Aber es hat sich da eine Sache ergeben, über die ich mir ehrlich gesagt gar keine Gedanken gemacht hatte – wir alle nicht, wahrscheinlich – die die Lage der Dinge deutlich verändert.“

Annie sah auf: „Nämlich?“

„Das Jugendamt ist auch auf dem Laufenden, was Heikes Situation angeht und da ich nun mal Pfarrer und damit automatisch vertrauenswürdig bin, kriege ich so einiges davon mit.“

„Es geht ihr gut?“ erkundigte sich Geraldine vorsichtig.

„Naja... das eher weniger. Sie kann sich halt nicht erinnern – logischerweise.

Und ist ja sowieso nicht übermäßig bei Kräften. Aber das meine ich nicht. Ich meine das in Bezug auf Linda.“

„Was ist mit Linda?“

Christopher fuhr sich übers Kinn: „Wir waren alle so schockiert von dem, was passiert ist, dass keiner von uns auf die Idee gekommen ist, mal darüber nachzudenken, was jetzt wirklich realistisch passieren wird. Wir haben einfach angenommen, dass Linda neue Eltern braucht. Aber das ist nicht der Fall. Aufgrund von Heikes schwieriger Vorgeschichte – vor allem in den letzten Monaten – werden ihre Anwälte darauf plädieren, dass sie nicht ins Gefängnis kommt, sondern in eine Klinik. Und ganz egal, ob dem stattgegeben wird oder nicht, gehen sie wohl davon aus, dass ihre Strafe sich in Grenzen halten wird. Und dass sie nicht als so gefährlich eingestuft wird, dass sie Linda nicht sehen darf. Das heißt: Heike kriegt Linda durchaus wieder. Irgendwann. Vielleicht in drei oder fünf oder zehn Jahren. Aber sie ist ihre Mutter und das wird ihr kein Gericht dieses Landes absprechen. Es müssen natürlich Gutachten gemacht werden, ob sie fit ist, diese Verantwortung zu übernehmen. Aber wir wissen ja, dass sie das ist. Alles, was passiert ist, war schließlich der Dämon.“

„Der nach wie vor an sie ran kann.“ seufzte Geraldine missmutig.

„Richtig. Aber das kriegen wir mit. Das ist das, worum es mir geht: Linda ist gut und schön und wichtig. Aber wir kennen die Vorgehensweise des Dämons. Er ist auf Vernichtung aus. Alles, was er jetzt getan hat, war zwar ein perfides Spiel, das uns allen sehr viel Leid zugefügt hat, aber letzten Endes ist er damit nicht zufrieden. Er will Heike leiden und sterben sehen.

Und das auch nicht einfach nachts schnell und heimlich in ihrer Zelle, sondern mit möglichst viel Aufsehen. Das ist seine Art und das können wir für unseren Vorteil nutzen.“

Geraldine und Annie sahen sich an: „Wie?“

„Indem wir zusehen, dass wir immer wissen, wie es ihr geht. Indem wir uns bereit machen für den Moment, wo er zuschlägt. Indem wir dann selbst zuschlagen.“

Geraldine schnaubte: „So wie das letzte Mal.“

„Sollen wir es bleiben lassen?“ entgegnete Christopher mit einer gehörigen Portion Schärfe in der Stimme.

„Nein. Natürlich nicht. Der Plan ist nur... sehr wackelig.“

„Ich finde die Überlegung, es sein zu lassen, gar nicht so abwegig.“ mischte sich Annie ein, „wir haben einen der Unseren verloren. Ist das nicht Grund genug, aufzuhören?“

„Hm...“ Christophers Gesicht zeigte, dass er das hatte kommen sehen, „rein menschlich stimme ich dir zu.“

„Aber geistlich wieder nicht.“ Annie legte die Stirn in Falten.

„Sorry – ich habe mich falsch ausgedrückt. Was ich meinte, war: Wenn es nur um uns ginge, dann würde ich dir zustimmen. Aber es geht nicht nur um uns. Es geht um andere. In diesem Fall ganz konkret um Heike und Linda. Sie sind auf unsere Hilfe angewiesen. Und ich für meinen Teil kann sie nicht einfach im Stich lassen.“

„Nein...“ stimmte Geraldine unglücklich zu, „ich auch nicht.“

Annie schien ebenfalls nicht glücklich. Doch sie sagte nichts mehr dazu.

Stattdessen warf sie einen Blick auf den leeren Platz neben Geraldine:

„Im Stich lassen ist ein gutes Stich... äh... wort. Wo ist eigentlich Z? Hat ihr etwas von ihm gehört?“

Geraldine schüttelte den Kopf: „Nein.“

„Ich auch nicht.“ kam es von Christopher, „ich habe nur kurz mit Becka gesprochen. Sie meinte, es ginge ihm nicht gut.“

„Verständlich.“ nickte Annie.

„Und sonst?“ hakte Geraldine nach.

Christopher zuckte die Achseln: „Sie war sehr kurz angebunden. Kann ich ihr nicht verübeln.“

„Aber er geht nicht mal ans Telefon.“

„Yannik war sein bester Freund. Lassen wir ihm Zeit.“

„Nun gut.“

Die Runde löste sich auf und Geraldine und Annie fuhren nach Hause.

Christopher gesellte sich zu Michelle, die oben in dem Raum, den sie provisorisch als Kinderzimmer eingerichtet hatten, auf dem dicken Teppich lag und versuchte, das Baby zum Schlafen zu bewegen. Sie wirkte müde und abgespannt – was Christopher sehr gut nachvollziehen konnte.

„Chris – du weißt, ich bringe jeden Einsatz, den ich kann. Aber es wird wirklich Zeit, dass die Leute vom Amt sie mitnehmen. Ich kann nicht länger nicht schlafen nachts. Und ich kann auch nicht länger Urlaub nehmen. Nächste Woche muss ich wieder normal...“

„Ich weiß.“ Christopher streichelte ihr über den Kopf, „und ja – sie wird bald abgeholt. Übermorgen wahrscheinlich.“

„Echt? Warum weiß ich das nicht?“

„Weil es noch nicht spruchreif ist. Die Frau vom Amt hat mich vorhin angerufen, bevor die Mädels gekommen sind. Sie hatte wohl ein Gespräch mit Sarah und Sebastian und meinte, das wäre sehr gut gelaufen. Sie will das morgen noch ein wenig vertiefen und dann...“

„Hast du es ihnen schon gesagt?“ Michelle nickte in Richtung Tür, doch Christopher wusste auch so, auf wen sie sich bezog.

„Nein.“ gestand er, „das habe ich nicht über mich gebracht. Die Situation ist verfahren genug. Und sie machen sich eine Menge Sorgen.“

„Aber wenn sie das nächste Mal wiederkommen, ist sie einfach weg.“

„Wenn es wirklich so klappt, werde ich sie anrufen. Dann können sie herkommen. Und Sarah und Sebastian wohnen ja auch in der Nähe. Da können sie sie besuchen. Wir alle können das.“

Michelle sah ihn an: „Du bist müde.“

„Ja, ich bin müde.“ bestätigte er, „aber du bist müder. Geh ins Bett, ich übernehme das hier.“

„Sicher?“

„Ja.“ Christopher lächelte schwach, „ich rede einfach über Luther. Da schläfst du schließlich auch immer ein.“

8

In seinem Wohnzimmer war es kalt. Z war spazieren gewesen und hatte vergessen, die Balkontür zu schließen, die er kurz davor zum Lüften geöffnet hatte. Am liebsten hätte er sich ins Bett unter die Decke verkrochen, doch es war gerade mal 12 Uhr mittags und er hatte in den letzten Tagen viel zu viel Zeit im Bett verbracht. Durchaus zurecht am Anfang, denn es hatte ziemlich lange gedauert, bis ein körperlicher Zustand eingetreten war, den er als einigermaßen normal bezeichnen konnte. Inzwischen jedoch hatte es hauptsächlich mit dem zu tun, was in seinem Kopf vorging. Yannik – ging dort vor. Oder besser gesagt: auf und ab. Yannik, sein bester Freund. Vom Anfang seines Lebens bis zum Ende seines Lebens war er sein bester Freund gewesen. Und an diesem Ende war er schuld. Er brauchte nicht Lotta, um ihm das zu sagen. Weswegen er auch sehr dankbar war, dass sie sich seit der Beerdigung nicht mehr bei ihm gemeldet hatte. Er brauchte auch nicht Becka, um ihm das zu sagen. Weswegen er sehr dankbar war, dass sie bereits nach zwei Tagen so viele Nachrichten auf seine Mailbox gesprochen hatte, dass diese nun voll war und keine weiteren mehr hinzukommen konnten. Er hatte bisher keine einzige davon gehört – ebenso, wie er die gefühlt 200 SMS nicht gelesen hatte, die inzwischen von ihr angekommen waren. Da gab es keine Begrenzung, da konnte sie immer weiter schreiben. Bei ihm zu klingeln hatte sie inzwischen aufgegeben. Dank seiner Nachbarin im ersten Stock, die sich immer über alles beschwerte und höchstwahrscheinlich irgendwann mit der Polizei gedroht hatte. Beckas sicherlich gute Argumente, dass sie sich um ihren Freund sorgte, waren dabei ganz bestimmt komplett untergegangen. Sie hörte einem nicht gerne zu, die Nachbarin. Abgesehen von Becka hatte sich bisher interessanterweise niemand bei ihm gemeldet. Seine Eltern nicht, die anderen aus der Gruppe nicht, keine Freunde, keine Bekannten. Auf den ersten Blick wirkte das traurig, doch im Grunde konnte er grob zwei Gründe für alle Betroffenen festmachen: Sie kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass er seine Ruhe brauchte. Und: Sie kannten ihn nicht gut genug, um überhaupt zu wissen, dass etwas nicht in Ordnung war. Und ihm war das ja auch Recht. Becka war sicherlich die erste, mit der er wenn dann reden wollte. Und da er dazu keinerlei Bedürfnis verspürte...

Trotzdem war es nicht so, als könne er schweigen. Denn Yannik redete mit ihm. In seinem Kopf. Leise und eindringlich. Hielt ihm die Wahrheit vors Gesicht. Die Wahrheit, die er eigentlich den anderen vors Gesicht hätte halten müssen. Vor sehr langer Zeit schon. Und er erzählte ihm, was er mit seinem Leben alles hatte anfangen wollen. Ein Haus, zwei Autos, drei Kinder. Er zeigte ihm Bilder von Lotta im Hochzeitskleid; von seiner fünfköpfigen Familie samt Hund auf dem Rasen vor ihrem Traumhaus; von Orten, an die er hatte reisen wollen. Und die ganze Zeit über redete er. Über das Leben. Über die Liebe. Und Freundschaft und Ehre, Wahrheit und Mut. Und er redete über Gott. Das war am schlimmsten. Denn das war Zs wunder Punkt. Gott. Er, der immer an Gott geglaubt hatte. Er, der immer allen erzählt hatte, wie ernst er all das nahm. Er, der seiner Freundin den Sex absprach. Er, der über Monate hinweg steif und fest behauptet hatte, dass es ihm am Herzen lag, Yannik später im Himmel wiederzusehen. Er hatte ihn in die Hölle geschickt. Und sich selbst unter Umständen gleich mit. Konnte er dafür Buße tun? Wollte er dafür Buße tun? War es nicht sogar gerecht, wenn er genau dort auch landete, wo Yannik nun dank ihm war? Das wiederum waren Fragen, die nicht von Yannik kamen. Sie kamen von ihm selbst. Von Yannik kamen die Antworten: ‚Wenn du so gerne mit mir zusammen sein willst in der Ewigkeit, dann ist das der einzige Weg. Ich rauf oder du runter. Ersteres hast du vermasselt, bleibt also nur Tor zwei.‘ Als es ihm vor ein paar Tagen so extrem schlecht gegangen war, hatte er schon erwartet, dass genau dieser Fall eintreten würde. Jetzt wusste er, dass seine Zeit auf der Erde noch nicht abgelaufen war. Doch wie sollte er diese Zeit hier verbringen mit all diesen Gedanken? Mit dieser Vergangenheit? Bisher war sie im Grunde sogar noch Gegenwart, selbst wenn ein bisschen Zeit ins Land gegangen war. Es würde noch sehr lange dauern, bis es wirklich Vergangenheit war. Doch selbst dann würde es wie ein schwarzer Schatten über ihm hängen. Er hatte sich seinen eigenen Dämon geschaffen. Leblos zwar und nicht in der Lage, ihm etwas anzutun. Aber dafür so fest an ihn gebunden, dass er ihn sein Lebtag nicht mehr loswerden würde. Überall hin würde er ihn begleiten. Er war ein gebrandmarkter Mann. Inzwischen war es kurz vor 13 Uhr und Z hielt die Kälte nicht mehr aus. Es war nicht wärmer geworden, was auch klar war, denn er hatte zwar die Balkontür zugemacht, nicht aber die Heizung an. So kroch er doch zurück ins Bett und schlief nur wenig später ein. Der Traum war wieder anders als die letzten Male und trotzdem wieder gleich. Er sah Yannik, wie er starb. Mehr als ein Dutzend Varianten hatte er in den letzten Tagen und Nächten im Schlaf durchlebt. Jetzt kam eine weitere hinzu:

Yannik saß alleine auf den Stufen vor Heikes Haus und schaute geradeaus. Man hatte den Eindruck, die Sonne würde scheinen, denn auf seinem Gesicht lag ein Licht wie an einem schönen Sommertag. Und auch die Wiese und die Steine vor seinen Füssen waren hell erleuchtet und strahlten im Licht. Doch hinter ihm – um das Haus herum – verfinsterte es sich mehr und mehr. Der Himmel wurde erst blass, dann grau und dann fast schwarz. Das Haus wurde davon eingehüllt. Die hellrote Farbe der Steine schien komplett zu weichen, bis es nur noch ein dunkles Grau war. Hinter den Fensterscheiben verschwand jegliches Licht und sie wurden schwarz und sahen aus wie tot. Doch Yannik bemerkte das alles nicht. Er schaute weiter nach vorne – dorthin, wo es hell war. Ein Gewitter brach los. Kein Regen, nur Donner und Blitze. Über dem Haus bildeten sich dichte, dunkle Wolken, die hässliche Muster in den Himmel zeichneten. Aus ihnen heraus krachte und zuckte es. Und dann kam er: Der Dämon. Nicht aus der Luft, sondern aus dem Haus. Die Haustür flog auf und ein Schatten, der so schwarz war, dass er alles um sich herum zu verschlucken schien, füllte erst den Türrahmen aus und kam dann immer weiter auf Yannik zu. Das war der Moment, in dem er sich umdrehte. Pure Angst bildete sich auf seinem Gesicht und er hob schützend die Hände davor. Doch das nützte nichts. Der Dämon umschlang seinen Hals und hob ihn in die Höhe. Er schleuderte ihn hin und her wie eine Plastiktüte. Immer höher stieg er, bis er am Himmel fast nicht mehr zu sehen war. Und dann ließ er Yannik los. Mit einem gellenden Schrei sauste er nach unten. Der Absturz dauerte nur Sekunden, doch der Aufprall war so hart, dass die Steine unter ihm splitterten und er eine tiefe Delle im Boden hinterließ. Mit dem Aufprall verstummte der Schrei und Yannik bewegte sich nicht mehr. Der Dämon schwebte gemächlich nach unten und umkreiste Yannik einen Moment lang. Wie um zu sehen, ob es wirklich zu Ende war. Dann verschwand er wieder im Haus und die Tür fiel hinter ihm zu. Die Gewitterwolken verzogen sich, der Himmel wurde wieder blau – vor dem Haus wie hinter dem Haus. Vögel begannen zu zwitschern und Insekten zu summen. Die Sonne schien auf die Wiese, auf die Steine und nun auch auf das Haus. Und sie schien auf Yanniks leblosen Körper. Unter ihm lief ein Rinnsal Blut zwischen den Steinen entlang. Es folgte den natürlichen Ritzen, die dazwischen lagen. Und wenn man genau hinsah, bildete es ein Z.

Z erwachte – schweißgebadet, wie jedes Mal. Drei Maschinen Wäsche hatte er gewaschen in den letzten Tagen. Weil es immer nicht nur seine Klamotten erwischte, sondern sein komplettes Bettzeug. Auch jetzt musste er es wieder frisch beziehen. Und sich umziehen. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück, drehte nun doch die Heizung auf und setzte sich auf die Couch. Er hätte sich ärgern können über seine Träume. Und den Stress, den sie mit sich brachten. Doch das tat er nicht. Er hatte sie alle verdient.

9

Ganz so schnell war es beim Jugendamt dann doch nicht gegangen. Schließlich gab es noch Formulare auszufüllen und mit Stempeln zu versehen. Und das dauerte seine Zeit. Wie Michelle eines Abends bissig bemerkte. Am Freitag – Michelles letztem Urlaubstag – trafen sich die Frau vom Amt sowie Sebastian und Sarah bei Christopher, um die ‚Übergabe‘ zu regeln. Ein sehr unpersönliches Wort, wie Michelle fand, doch sie sagte lieber nichts dazu. Sowohl die Polizei als auch das Jugendamt waren bei der Abwicklung dieser Angelegenheit sehr zuvorkommend und unkompliziert gewesen und das wollte sie nicht durch dumme Bemerkungen zunichte machen. Christopher hatte es als Gebetserhörung bezeichnet und sie war gewillt, ihm da Recht zu geben – wenn sie eine Gebetserhörung auch eher in Richtung von ‚Yannik noch am Leben und Heike gesund zuhause‘ betrachtet hätte. Aber auch sie musste einsehen, dass das Gebet ja erst daraus entstanden war, dass eben diese beiden Tatsachen nicht mehr zutrafen, und in dieser Beziehung stimmte es auf jeden Fall. Gott hatte die Familie nicht vollends im Stich gelassen. Auch ebendiese Übergabe verlief schnell und reibungslos. Die notwendigen Unterschriften waren alle geleistet – auch Heike hatte zugestimmt, dass Linda zunächst kurz- und je nach Ausgang ihres Prozesses unter Umständen auch längerfristig bei Sebastian und Sarah untergebracht wurde. Rein rechtlich war das nicht notwendig, denn durch ihre Inhaftierung fiel das Sorgerecht mangels erziehungsberechtigter Verwandter automatisch an das Jugendamt. Doch Christopher hatte es geschafft zu erwirken, dass sie nicht einfach nur informiert wurde, und Sebastian und Sarah hatten mit dem Handy ein kurzes Video aufgenommen, das man Heike in ihrer Zelle vorgespielt hatte. Sie war sehr gerührt gewesen von der Mühe und hatte ausrichten lassen, dass sie ihre Tochter in guten Händen wähnte. Darüber hinaus hatte sie zudem noch eine Überraschung für Sebastian und Sarah parat. Oder besser gesagt: Die Frau vom Amt hatte sie parat, auch wenn sie ursprünglich von Heike gekommen war:

„Wir hatten ja schon über das Finanzielle gesprochen. Die Absicherung, die Sie dem Kind bieten können, liegt über den Vorgaben, da gibt es also kein Problem. Trotzdem wird es Sie sicher freuen zu hören, dass Sie ein wenig Entlastung bekommen werden.“

„Entlastung?“ fragte Sebastian, „von wem?“

„Wie es scheint, kommt Frau Schaller aus einer sehr wohlhabenden Familie. Ich habe die Unterlagen jetzt nicht dabei, daher... Auf jeden Fall hat sie für Linda schon vor ihrer Geburt ein Konto einrichten lassen, auf das jeden Monat eine feste Summe überwiesen wird, die aus einem großen Aktienfonds stammt. Bitte fragen Sie mich da nicht nach Einzelheiten, ich kenne mich mit solchen Sachen rein gar nicht aus. Auf jeden Fall bekommen sie beide Zugriff auf dieses Konto. Natürlich müssen sie über alle Ausgaben genauestens Buch führen und uns einmal im Quartal eine Abrechnung vorlegen.“

„Das sollte das kleinste Problem sein.“ sagte Sebastian erfreut.

„Das denke ich auch. Ansonsten sehen wir uns in vier Wochen zur ersten Evaluierung und dann regelmäßig einmal pro Monat. Wenn sie dazwischen Fragen haben – meine Nummer steht auf der Bescheinigung, ebenso die Öffnungszeiten.“

„Vielen Dank.“ Sarah nahm die Unterlagen entgegen.

„Viel Erfolg.“ Die Frau vom Amt verabschiedete sich.

Michelle stellte mit einem kurzen Seitenblick auf die Uhr fest, dass es 12:04 war. Vier Minuten Überstunden hatte sie also geleistet an diesem Freitag. Wieder so ein bissiger Gedanke. Sie rief sich zur Ordnung. Ämter mochten ihre Nachteile haben, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich darüber aufzuregen. Im Gegenteil: Jetzt war Grund zur Freude. Sie hatten die letzte Hürde genommen, konnten Linda aus den eigenen in wesentlich versiertere Hände abgeben und brauchten sich zudem wohl auch keine Sorgen mehr zu machen, dass Sebastian und Sarah dieses Unterfangen stemmen konnten. Als sie die Beiden angesprochen hatten, ob sie sich – selbst kinderlos und deswegen sehr verzweifelt – auf dieses temporäre Arrangement einlassen würden, hatten sie zunächst begeistert ‚Ja‘ gesagt und es als erstes Übungsfeld für den hoffentlich irgendwann doch noch eintreffenden eigenen Nachwuchs betrachtet. Doch das bedeutete natürlich auch, dass sie ihr Leben entsprechend umstellen mussten, was hieß, dass Sarah, die bisher in einer recht hohen Position in einer Bank gearbeitet hatte, ihren Job von heute auf morgen aufgab. Das schien ihr nicht viel auszumachen – anscheinend war sie dort schon lange nicht mehr glücklich und hatte nur noch keine bessere Alternative gefunden. Trotzdem hatten sie dadurch ein Gehalt weniger und das musste erst einmal verkraftet werden. Jetzt war auch das kein Problem mehr.

Geraldine und Annie trafen eine halbe Stunde später ein, als die anderen gerade beim Mittagessen waren. Christopher hatte sie extra erst für nach dem offiziellen Teil bestellt, damit es keinen zu großen Menschenauflauf gab. Da sie beide direkt von der Arbeit kamen und daher noch nicht gegessen hatten, nahmen sie die Einladung, sich dazu zu setzen, sehr gerne an. Anschließend verabschiedeten sie sich von der neuen Familie – wenn sie sich auch keine Sorgen zu machen brauchten, dass sie Linda nicht wiedersehen würden. Sebastian und Sarah gehörten zu Christophers Kirche, wohnten nicht weit entfernt und waren für Besuch immer schon sehr zu haben gewesen.

„Trotzdem sollten wir es nicht gleich am Anfang übertreiben und sie erstmal eine Weile in Ruhe lassen.“ bemerkte Michelle, während sie zu viert auf den Stufen vor der Haustür standen und dem wegfahrenden Auto hinterherwinkten.

„Ja, da hast du wohl Recht.“ stimmte Christopher zu, „das wird eine große Umstellung für sie.“

„Ich bin nur froh, dass es geklappt hat.“

„Ja, ich auch.“

„Wollt ihr noch bleiben?“ wandte sich Michelle an die beiden Frauen, „wir haben Kuchen. Und Eis.“

Geraldine und Annie wechselten einen Blick.

„Das ist sehr lieb, aber...“ begann erstere.

„Aber?“ wiederholte Christopher, als sie nicht weitersprach.

„Nun...“ setzte auch Annie an.

„Nun?“ wiederholte Christopher erneut.

Geraldine stupste Annie an: „Sag‘s doch einfach.“

Diese schubste zurück: „Sag du‘s doch.“

„Okay. Dann sag ich‘s: Es gibt nur traurige, ernste Themen für uns zu besprechen. Und wir hatten beide eine anstrengende Woche.“

Christopher legte beiden einen Arm um die Schultern, was Michelle mit einem leichten Brauen zucken zur Kenntnis nahm: „Nun – das mag sein, dass es für uns – als Gruppe – nur diese Themen gibt. Aber wir als Menschen werden sicherlich in der Lage sein, auch ohne all das einen netten Nachmittag zu verbringen, oder?“

„In diesem Fall...“ Geraldine warf Annie einen fragenden Blick zu.

„...Kuchen und Eis.“ ergänzte diese und Christopher führte die beiden lachend nach drinnen.

10

Ein Außenstehender hätte es wahrscheinlich als puren Zufall bezeichnet. Dass sie mit einer Kollegin auf ein Thema zu sprechen gekommen war, zu dem sie vor einiger Zeit einen Artikel in der Tageszeitung gelesen hatte. Dass sie besagte Zeitung im Altpapier noch gefunden hatte. Und dass sie auf der Suche nach dem Artikel aus Versehen bei den Traueranzeigen hängen geblieben war. Becka dagegen betrachtete es als Fügung. Gott und sie mochten momentan nicht gut aufeinander zu sprechen sein. Aber es gab Momente, wo sie sehr deutlich zu spüren glaubte, dass er weiter an und mit ihr arbeitete. Die Anzeige, über die sie stolperte, war relativ klein und ebenso schlicht und enthielt nur einen Namen, der ihr aber natürlich sofort ins Auge sprang – nicht nur, weil er fast die komplette Breite ausfüllte. Noch mehr ins Auge sprang ihr aber der wesentlich kleinere Name darunter. Der der Grund war, weswegen sie es hatte sehen sollen.

Ihr darauffolgendes Telefonat war kurz und traurig, was Becka verständnisvoll hinnahm. Sie selbst hätte in so einer Situation sicherlich genauso reagiert. Doch sie hatte zumindest geschafft, ein paar tröstende Worte loszuwerden – ganz egal, ob diese nun angekommen waren, oder nicht. Und sie hatte die Bestätigung für das bekommen, was sie bereits vermutet hatte. Was der Anstoß dafür war, dass sie endlich den Schritt ging, den sie schon vor Tagen hätte gehen sollen.

11

Die Nachbarin im ersten Stock mochte sauertöpfisch sein – wenn man sie nett fragte, ohne zuvor etwas gemacht zu haben, worüber sie sich ärgerte, war sie durchaus hilfsbereit. Was in diesem Fall hieß, dass sie Becka die Haustür öffnete. Es war ja auch nicht so, dass sie Becka nicht kannte.

Schließlich ging diese seit mehreren Jahren hier ein und aus. Sie reagierte lediglich unwirsch auf Dinge, die ihr nicht passten und Becka ausdauerndes Geklingel hatte da dazugehört. Diesmal allerdings klingelte Becka gar nicht erst, sondern sprach die Frau gleich an, die – wie eigentlich immer – auf ihrem Kissen auf der Fensterbank lehnte und nach draußen schaute. Sie brauchte gar nicht weit auszuholen, da war die Frau schon verschwunden und kurz darauf hörte sie den Summer. Während sie die Stufen emporkletterte, fragte sich Becka insgeheim, warum sie auf diese Methode nicht schon viel früher gekommen war. Die Antwort allerdings lag auf der Hand: Sie hatte keinen besonderen Grund gehabt, herzukommen. Außer, dass sie wissen wollte, was mit Z vor sich ging. Für sie war das natürlich ein besonderer Grund. Für ihn allerdings nicht. So gut kannte sie ihn inzwischen, dass sie wusste, dass er auf ein einfaches ‚Wie geht es dir?‘ nichts gab – vor allem dann nicht, wenn es ihm wirklich schlecht ging. Dann verzog er sich gerne und es bedurfte schon sehr guter Argumente, um entweder ihn hervorzulocken oder sich selbst Zugang zu verschaffen.

Genau das hatte sie nun. Und so klingelte sie auch bei ihm an der Wohnungstür nur einmal und schob dann den Umschlag, den sie mitgebracht hatte, unter der Tür durch. Es dauerte ein paar Minuten, dann hörte sie von drinnen Zs Stimme:

„Was ist das?“

„Mach es auf und schau es dir an.“ antwortete sie.

Eine weitere Minute lang geschah gar nichts, dann hörte sie, wie der Schlüssel gedreht wurde und die Wohnungstür ging auf. Z starrte sie an, sagte nichts und bewegte sich auch nicht. Er schaute nur. Und sie schaute zurück und stellte dabei fest, dass er sehr mitgenommen aussah. Sie nutzte allerdings auch seine Haltung, um sich an ihm vorbei in die Wohnung zu zwängen und dabei die Tür hinter sich zu schließen. Mechanisch drehte sich Z hinter ihr her, so dass er sie weiter anstarren konnte. Dann – nach einer gefühlten Ewigkeit – öffnete er den Mund:

„Ist das wahr?“

Becka nickte: „Ich habe nachgefragt.“

„Es ist nicht einfach nur eine Hommage? Oder eine Geste?“

„Nein.“

„Sie haben... geheiratet?“

„Ja.“

„Wann?“

„Vor ein paar Wochen.“

Bisher hatten Zs Fragen tonlos geklungen. Jetzt jedoch trat eine Spur von Anklage in seine Stimme:

„Und du wusstest es?“

„Nein.“ Becka schüttelte den Kopf und deutete auf den Zeitungsausschnitt in seiner Hand, „dadurch weiß ich es.“

Z wedelte damit: „Aber diese Anzeige ist vom Tag nach der Beerdigung.“

„Ich habe sie heute erst gesehen.“

Z ließ den Ausschnitt sinken und er segelte aus seiner Hand auf den Boden:

„Warum hat er es uns nicht gesagt?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hast du nicht gefragt?“

„Ich konnte nicht viel fragen.“

„Becka...“ begann er, doch Becka unterbrach ihn verzweifelt:

„Z. Geh nicht weg.“

Diese Aufforderung irritiert ihn. Schließlich hatte er sich keinen Millimeter bewegt: „Was?“

„Du bist weg. Weit weg. Reicht es nicht, dass Yannik für immer fort ist?

Musst du hinterher?“

Z sackte in sich zusammen: „Vielleicht muss ich das.“

Becka wurde bleich: „Sag sowas nicht.“

„Warum nicht?“

„Ich will es nicht.“

„Dass ich sowas sage?“

„Und dass du gehst.“

„Aber... Yannik...“

„Das war nicht deine Schuld.“ Sie griff nach seinen Händen, doch er zog sich vor ihr zurück:

„Natürlich war es meine Schuld.“

„Z...“ Sie seufzte tief. Und entschied dann, dass es Zeit war, ihren flehenden Zustand aufzugeben. So kam sie Z nicht bei. Da halfen nur harte Fakten –

in einem ebenso harten Ton: „Du hast gelogen. Ja. Das war Sch... rott. Aber du hast ihn nicht umgebracht.“

„Meine Lüge hat ihn umgebracht.“

„Ein Dämon hat ihn umgebracht.“

„Ich war nicht da.“

Ein Geistesblitz durchzuckte Becka. Das war er – ihr Ansatzpunkt: „Und wessen Schuld war das?“

„Bitte?“ Z blinzelte verständnislos.

„Es war meine Idee, in den Stadtpark zu gehen.“ erklärte Becka ruhig, „wären wir nicht gegangen, hättest du den Anruf bekommen. Dann wärst du hingefahren.“

Z wurde steif wie ein Brett: „Becka...“

„Z.“ nutzte Becka seine plötzliche Klarheit weiter aus, „du gibst dir die Schuld. Ich mir auch. Jeder für seinen Teil. Frag Geraldine, frag die anderen.

Sie geben sich alle die Schuld.“

„Hast du mit ihnen gesprochen?“

„Das muss ich gar nicht. Ich weiß es einfach. Schau dir an, wie viele Leute Yannik allein in den letzten paar Monaten um sich hatte, die ihm hätten helfen können. Wir alle, deine Eltern – so viele Christen. Wir haben es alle nicht geschafft, wir haben alle versagt. Also sind wir alle Schuld. Jeder für seinen Teil. Aber wir sind Menschen. Und Menschen sind fehlbar. Es gibt nur einen, der – angeblich – unfehlbar ist. Und das ist der, auf den sich all dieser Glaube gründet.“

Zs Miene verdüsterte sich: „Du gibst Gott die Schuld?“

„Er ist der Einzige, der es wirklich hätte verhindern können. Hat er nicht.

Also...“

„Gott hat uns den freien Willen gegeben.“ versuchte Z abzuwiegeln, doch so einfach ließ Becka das nicht zu:

„Das hat nichts mit freiem Willen zu tun, sondern mit dem Schutz, den er uns zugesichert hat.“

Z seufzte.

„Siehst du nicht so.“ stellte sie trocken fest. Und bekam eine überraschende Antwort:

„Doch, irgendwie schon. Aber ich fühle mich nicht gut dabei.“

„Damit kann ich leben.“

Z seufzte erneut. Und sank nach hinten gegen die Wohnungstür: „Lass uns von was anderem reden.“

„Sehr gerne. Bin ich dabei. Dort.“ Sie griff nach seiner Hand und da er diesmal keinen Widerstand leistete, zog sie ihn hinter sich her ins Wohnzimmer, wo sie ihn sanft auf die Couch drückte und sich dann daneben setzte. Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte Z traurig:

„Mir fällt nichts ein.“

„Mir schon.“ antwortete Becka, die die ganze Zeit schon nach dem richtigen Einstieg gesucht hatte.

„Nämlich?“

„Du.“

„Das ist ein Thema?“ fragte Z halb verwundert halb verschreckt.

„Seit wie vielen Tagen steckst du hier drin, ohne dich zu rühren? Oder mit jemandem zu reden?“

„Es musste sein.“

„Nein.“ widersprach Becka, „musste es nicht.“

„Becka...“

Sie rückte ein wenig näher an ihn heran: „Z. Ich weiß, was du hier gemacht hast. Das Ergebnis hast du mir gerade präsentiert. In ein paar kurzen und sehr aussagekräftigen Sätzen.“

„Dann weißt du, warum es notwendig war.“

„Nein. Ich weiß, warum es falsch war. Was hat es dir gebracht? Du bist mit Schuldgefühlen hier rein und jetzt kommst du mit Schuldgefühlen wieder raus. Ich weiß, dass du immer sagst, du musst verarbeiten, wenn du dich zurückziehst. Aber du hast nichts verarbeitet. Du bist immer noch genau da, wo du vorher auch warst. Nein, das stimmt nicht: Es ist wesentlich schlimmer geworden. Weil du die Zeit dafür genutzt hast, dir die kruden Gedanken, die du am Anfang hattest, als Tatsachen einzureden. Du hat dich runtergezogen. Sonst nichts. Und das soll ich gut finden?“

„Na, ganz so ist es nicht.“ begehrte Z auf, wenn auch nur halbherzig.

„Nein?“

„Nein. Ich meine...“ er brach ab. Und sie sah sich bestätigt:

„Siehst du. Bei genauerem Hinschauen siehst du es auch.“

„Was hätte ich denn tun sollen?“

„Wir anderen leiden auch. Und Schmerz lässt sich zusammen wesentlich besser verkraften.“

„Aber sie geben mir alle die Schuld.“ jammerte Z.

Becka sah ihn streng an: „Unsinn. Warum sollten sie das denn tun?“

„Weil es stimmt.“

„Aber sie wissen doch bisher noch nicht einmal, dass du derjenige mit der Gabe bist.“

„Ja, eben drum.“ Z schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel, „wenn ich ihnen das sage... dann bricht es über mir zusammen.“

„Das sind alles gute Menschen.“ sagte Becka so ruhig wie möglich, „warum sollte das passieren? Es wird sie schockieren – sicherlich. Aber sie werden es verstehen. Wenn du es ihnen erklärst. Und niemand wird dir die Schuld geben.“

„Ich...“

„Weißt du... das ist genau das, was du jetzt tun musst. Ich meine... nicht gleich, sofort, jetzt. Aber bei der nächsten Gelegenheit. Zu ihnen hingehen und endlich die Wahrheit sagen. Das ist sowieso überfällig. Und jetzt ist der beste Zeitpunkt. Du kannst dich erklären, du kannst dich entschuldigen –

sofern das notwendig sein sollte – und du kannst ihnen den Weg in die Zukunft zeigen.“

Z sah Becka fragend an: „Den Weg in die Zukunft?“

„Sie glauben, dass mit Yannik auch seine Gabe gestorben ist. Dem ist nicht so. Das müssen sie wissen.“

„Ich weiß nicht.“

„Treffen sie sich noch regelmäßig?“

„Auch das weiß ich nicht.“

Becka langte auf den Tisch hinter ihr, auf dem Zs Handy lag und hielt es ihm hin: „Dann finde ich es heraus. Und beim nächsten Mal gehen wir da hin.“

„Becka...“

„Z. So und nicht anders.“

12

Da sie einen so entspannten Freitagnachmittag verbracht hatten, waren Christopher, Geraldine und Annie darin übereingekommen, sich am Sonntag nochmals zu treffen, um die traurigen, ernsten Themen anzugehen, vor denen sie sich die ganze Zeit über gedrückt hatten. Große Begeisterung verspürten sie diesbezüglich nicht, doch es musste sein. Das merkte man auch daran, dass es gerade mal einer vollkommen unschuldigen Frage bedurfte, um sie direkt dorthin zu bringen:

„Wie war euer Gottesdienst?“ war Christopher derjenige, der die Frage stellte.

Annies Antwort war knapp: „Schön.“

Geraldines nur wenig ausführlicher: „Ja, bei mir auch. Und bei dir?“

„Auch gut.“ nickte Christopher, wollte danach weiter ausholen, kam aber nicht mehr dazu, weil Geraldine praktisch im selben Moment schon die Kurve nahm:

„Hast du Linda gesehen?“

„Ja, habe ich.“ bestätigte er.

„Ich mache mir Sorgen um sie.“

Er wusste genau, wohin das führen würde und versuchte noch, es auszubremsen: „Ach... die beiden werden das schon...“

Doch damit hatte er keine Chance: „Das meine ich nicht.“ fuhr Geraldine hektisch auf und Christopher sah keine andere Möglichkeit mehr als einzusteigen:

„Du meinst den Dämon.“

„Ja. Das, worüber wir bei der Beerdigung gesprochen haben… mir ist da ein weiterer Gedanke gekommen: Er mag keinen direkten Zugriff auf sie haben.

Aber er muss keinen Menschen einnehmen, um sie beobachten zu können.“

„Das ist richtig. Aber ohne einen Menschen hat er keinen direkten Einfluss.“

Geraldine runzelte die Stirn: „Das wäre mir neu.“

„Ja... mir irgendwie auch...“ schloss sich Annie an.

Christopher legte den Kopf schief: „Ich glaube, ihr versteht mich falsch.“

„Nein, wenn dann drückst du dich falsch aus.“ Geraldine war bereits ziemlich geladen und Christopher beschloss, darüber hinwegzusehen und sachlich zu bleiben:

„Na, wegen mir. Dann drücke ich mich jetzt richtig aus: Wenn Linda einem Menschen ausgesetzt wäre, der von einem Dämonen besessen ist, dann würde der Dämon diesen Menschen dazu bringen, Linda so zu behandeln, dass sie schneller angreifbar wird. Er könnte für gewalttätiges Verhalten sorgen, für Vernachlässigung, und so weiter. So würde Linda irgendwann anfangen, auf dieses negative Verhalten zu reagieren – und das geschieht in den meisten Fällen auch negativ. Und dann könnte er an sie ran. Bleibt er aber ein... Geist... und beobachtet sie nur, kann er diesen Einfluss nicht ausüben. Wenn die Menschen, die sie betreuen, sich gut ihr gegenüber verhalten, wird auch sie sich – aller Wahrscheinlichkeit nach – gut verhalten. Und er kann nicht an sie ran.“

„Aber Kinder verhalten sich nicht gut. Ab einem gewissen Alter zumindest.“ wandte Geraldine ein.

„Ja, schon. Aber du musst ja auch die Entwicklung mit einbeziehen.“

Die beiden Frauen sahen sich an: „Hä?“

„Überleg mal... selbst Paulus hat das schon gewusst: ‚Als ich ein Kind war, dachte ich wie ein Kind und handelte wie ein Kind.‘ Kinder lügen – ja. Aber nicht aus den niederen Motiven heraus, die wir Erwachsenen an den Tag legen. Manchmal haben sie Angst vor Strafe. Oder einen anderen Grund.

Aber meistens liegt es einfach daran, dass sie den Unterschied zwischen Wahr und Unwahr noch nicht erkennen, dass die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit in ihrem Kopf verwischt sind. Sie tun es nicht absichtlich, nicht berechnend, sie merken es oft noch nicht einmal...“

Im Flur klingelte das Telefon, doch Michelle nahm das Gespräch entgegen und so fuhr Christopher fort:

„...und das trifft auf viele Dinge zu. Kinder tun sehr viele Sachen einfach aus Instinkt. Ohne Überlegungen zu Vernunft oder Konsequenzen. Also kann man sie ihnen nicht anrechnen. Wir tun das nicht – wenn ein Kind etwas klaut, kommt es nicht ins Gefängnis. Es muss lernen, dass das nicht richtig war, aber nicht in dem Ausmaß wie bei einem Erwachsenen. Und Gott tut das eben auch nicht. Er sieht solch kindliches Verhalten nicht als Sünde. Und damit ruft es auch keine Wunden hervor, die so tief sind, dass sich etwas Böses dort festsetzen kann. Langfristig, vor allem.“

„Das ist jetzt aber nur eine Theorie, oder?“ Geraldine sah ihn skeptisch an.

„Das mit dem Dämon, ja. Der Rest nicht.“

„Du weißt, dass Gott so denkt?“ hakte Annie erstaunt nach, „steht das irgendwo?“

„Nicht direkt.“ gab Christopher zu, „aber das ist ja nicht nur mein Gedanke.

Das ist…“ Er brach ab, als Geraldine sich erhob:

„Sorry, ich muss mal wohin. Merk dir, was du sagen wolltest.“

„Kriege ich hin.“

Sie verschwand und Annie und Christopher verbrachten die nächsten Minuten damit, schweigend durch die Gegend zu schauen. Als Geraldine zurückkam, sprang Annie auf:

„Ich bin dran.“

„Okay…“ Geraldine nahm wieder Platz und das Schweigen setzte sich fort.

Dann war auch Annie wieder da und die beiden sahen Christopher erwartungsvoll an.

„Wartet ihr, dass ich auch gehe, oder soll ich weitermachen?“ fragte er lächelnd.

„Letzteres.“ gab Annie zurück.“

„Okay. Wo waren wir? Gott und Kinder. Richtig. Wie schon gesagt: Das kommt nicht von mir. Das ist die Ansicht aller Kirchen. Zumindest aller, die ich kenne. Selbst bei den Katholiken gehen Kinder erst ab einem bestimmten Alter zur Beichte und niemand käme auf die Idee, einen Grundschüler dazu zu bringen, seine Sünden zu bekennen, wenn er irgendeine Krankheit hat.“

„Okay.“ Geraldine stieß laut hörbar den Atem aus, „ich nehme es mal so.

Beruhigt zumindest ein bisschen.“

Christopher lächelte: „Das wiederum beruhigt mich.“

Doch Geraldine war noch längst nicht fertig: „Womit wir beim nächsten wären, was mich beunruhigt: Heike.“

„Der Prozess.“ vermutete Christopher, doch Geraldine schüttelte den Kopf:

„Weniger der Prozess. Mehr der...“

„…Dämon.“ seufzte Christopher.

Auch Annie seufzte: „Wir werden ihn nicht los.“

„Ja. Genau.“ Geraldine nickte vehement, „wir werden ihn nicht los. Genau das ist ja das Problem.“

„Nein, das ist kein Problem mehr.“ sagte eine wohlbekannte Stimme von der Wohnzimmertür her und sie schraken alle auf.

„Z.“ Annie war die erste, die sich wieder gefasst hatte, „wo kommst du denn her?“

„Von draußen.“

„Und was machst du hier?“ schaltete sich Geraldine ein.

„Darf ich nicht hier sein?“ fragte er zurück.

„Doch, schon. Wir dachten nur...

„...dass du noch Zeit brauchst.“ vollendete Christopher an Geraldines statt.

„Daher haben wir uns auch nicht gemeldet.“ ergänzte Annie.

„Das war sehr nett von euch. Aber jetzt ist diese Zeit vorbei. Jetzt bin ich wieder da.“

„Und zwar aus einem ganz bestimmten Grund.“ ließ sich Becka vernehmen, die bisher – von den anderen unbemerkt – hinter ihm gestanden hatte und nun neben ihn trat.

Christopher zog die Brauen hoch: „So?“

Z kniff die Lippen zusammen und suchte sich dann einen Platz auf der Couch. Becka blieb stehen und sah ihn streng an.

„Also...“ begann er schließlich, „meine Bemerkung beim Reinkommen mag etwas reißerisch geklungen haben. Aber sie war ernst gemeint. Der Dämon macht uns keine Probleme mehr. Er ist weg. Ich habe ihn beseitigt.“

Das rief genau die Reaktion hervor, die er erwartet hatte:

„Du...“

„Was?“

„Du hast...?“

Geraldine war die erste, die wieder in ganzen Sätzen sprechen konnte:

„Hast du Yanniks Gabe geerbt?“

„Wow, wie hast du das gemacht?“ kam es von Annie.

Die beiden sahen erstaunt und fasziniert zwischen sich und Z hin und her, dem das ganze ziemlich peinlich zu sein schien. Was sie wiederum gar nicht nachvollziehen konnten.

„Ist das nicht gut?“ erkundigte sich Annie vorsichtig, „das ist doch gut.“

„Das ist phantastisch.“ stimmte Geraldine zu, „dann kannst du jetzt seinen Job machen.“

Annie beugte sich vor: „Sag schon, was hast du gemacht?“

„Wie hast du es gemacht?“ schloss sich Geraldine an, „war es Absicht?“

„Hat er es dir gezeigt?“

Christopher dagegen musterte Z mit dem Blick von jemand, der gerade 1.000 kleine Puzzleteile zu einem großen Bild zusammengesetzt hat.

„Nein.“ sagte er schließlich laut in den Ansturm der Frauen hinein, „Yannik hatte nie eine Gabe. Du hast die Gabe. Du hattest sie von Anfang an, nicht wahr?“

Z blickte zu Boden. Dann nickte er. Mit einem Mal war es totenstill im Wohnzimmer.

13

Die Stille hielt eine ganze Weile. Geraldine und Annie wechselten unbehagliche Blicke. Keiner wusste, was er sagen sollte. Becka brach das Schweigen schließlich:

„Wenn keiner mehr was zu sagen hat, können wir ja wieder gehen.“

„Becka...“ Z sah sie an und schüttelte unmerklich den Kopf.

„Z. Wir haben unseren Teil erledigt.“

Auch Christopher sah Becka nun an: „Du hast es gewusst? Die ganze Zeit?“

„Gewusst? Nein. Ich hatte es mir zusammengereimt. Aus den paar wenigen Fakten, die ich zur Verfügung hatte. Aber sicher wissen tue ich es erst seit ein paar Wochen. Und auch nicht von ihm, sondern von Yanniks Freundin.

Du müsstest sie noch...“

Ja, ich kann mich erinnern.“ Christopher nickte langsam, „und warum hast du nichts gesagt?“

Becka lachte auf: „Ist das meine Verantwortung? Seid ihr nicht alle erwachsen?“

„Was bitteschön soll das denn heißen?“ fuhr Geraldine dazwischen.

„Dass ihr es auch von alleine hättet merken können.“ keifte Becka zurück, „mit ein bisschen lesen und rechnen.“

„Du bist wahnsinnig witzig.“ ließ sich Annie frostig vernehmen, „das ist doch totaler Quatsch, was du da redest.“

Doch ausgerechnet Christopher widersprach ihr: „Oder auch nicht. Erkläre dich. Bitte.“ fügte er hastig hinzu, als Beckas Augen sich verengten. Was dazu führte, dass sie die bissige Bemerkung, die ihr schon auf der Zunge gelegen hatte, herunterschluckte und seiner Aufforderung nachkam:

„Gerade du als Pfarrer solltest das eigentlich…“ konnte sie sich einen spitzen Einstieg trotzdem nicht verkneifen, „du bist doch Experte in der Bibel. Und selbst, wenn du nicht alles auswendig weißt, so weißt du doch zumindest, wo du nachschauen musst. Oder wenigstens, dass du nachschauen musst.“

Christopher sah sie nur fragend an, daher fuhr sie fort:

„Die Gaben. Ist euch nicht klar, was in der Bibel dazu steht? Dass nur Leute sie bekommen, die auch an Gott glauben. Und Yannik… nun… eindeutig, oder?“

Christopher seufzte tief: „Ja… das… es… es war mir immer ein Rätsel.“

„Ein Rätsel, warum er eine Gabe hatte? Nun… immerhin hast du darüber nachgedacht. Ein Punkt für dich. Aber bist du nie auf die Idee gekommen, dass des Rätsels Lösung sein könnte, dass er eben gerade keine Gabe hat?

Sondern sein bester Freund – der, der wie wild und sein ganzes Leben schon glaubt?“

„Nun… nein. Das muss ich mir wohl ankreiden. Der Gedanke ist mir nicht gekommen. Wobei ich allerdings zu meiner Verteidigung sagen muss, dass ich davon ausgegangen bin, dass wir alle ehrlich zueinander sind.“

Z schluckte laut hörbar, doch Becka ließ sich davon nicht beirren:

„Tja, damit…“

„Du hast das Rätsel gelöst.“ unterbrach Geraldine sie sofort wieder,

„herzlichen Glückwunsch. Hast nachgelesen und dann…“

„…eins und eins zusammengezählt. Aus dem Text und aus ihrem Verhalten.“

„Super. Klasse. Zwei Punkte für dich. Gegen Christopher hast du damit gewonnen. Und was hat es gebracht? Außer dir jetzt eine gewisse Genugtuung? Nichts. Hättest du uns diese Information dagegen mal vor einigen Monaten…“ „Ich wiederhole mich nur ungern.“ würgte Becka sie ab, „aber wenn es sein muss, tue ich das natürlich: Es war nicht meine Verantwortung. Ich habe Z

einen eindeutigen Hinweis darauf gegeben. Gut: Ganz so eindeutig war er anscheinend nicht, aber das ist auch irrelevant. Schließlich wusste er es die ganze Zeit. Und hätte es euch die ganze Zeit sagen können. Hat er nicht.

Hätte er auch nicht, wenn ich ihn getreten hätte. Denn ich bin mir sicher, Yannik hat ihn getreten. Und Lotta eventuell. Und trotz…“ Sie brach ab, als sie Zs vehementes Kopfschütteln bemerkte.

„Lotta hat nicht.“ verbalisierte er dieses. Sie winkte allerdings nur ab:

„Dann halt nur Yannik. Fakt ist: Keiner hätte ihn zwingen können. Es war seine Entscheidung. Und ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er sie nicht aus Böswilligkeit so getroffen hat.“

Geraldine lief rot an: „Was willst du damit sagen? Dass es unsere Schuld ist?“

„Er hat euch nicht vertraut. Das will ich damit sagen.“

„Weil wir so böse und schlecht sind.“

„Ich weiß nicht, weil. Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Aber es wird einen Grund geben. Annie könnte ihn uns vielleicht sagen.“

„Was?“ Annie zuckte zusammen, „ich?“

„Du hast deine Gabe am Anfang auch verheimlicht. Bist sogar ausgestiegen und…“ „Das weißt du?“

„Ja. Z erzählt mir nicht alles, aber manches.“

„Anscheinend immer die Sachen, die mit anderen Leuten zu tun haben.“

schnaubte Geraldine.

„Ich hatte Angst.“ flüsterte Annie, „nicht vor den Leuten. Sondern vor der Gabe.“

Becka zog die Brauen hoch: „Und eventuell, vielleicht, unter Umständen ging ihm das genauso.“

„Kann er eigentlich auch für sich selbst sprechen?“ Geraldine blickte Z

herausfordernd an, doch bevor er etwas erwidern konnte, ging Christopher dazwischen:

„Ich weiß nicht, ob uns dieses aufeinander rum gehacke wirklich weiter…“ „Yannik ist tot.“ wurde er von Annie unterbrochen.

„Und Z war nicht da.“ ergänzte Geraldine wütend, was Z aufspringen ließ:

„Moment – wie hätten wir denn ahnen sollen, dass so etwas passieren würde? Und außerdem: Das letzte Mal, als einer von uns gesagt hat, er kann nicht, wurde die ganze Aktion abgeblasen. Ich bin nicht absichtlich nicht gekommen, ich war nicht zuhause. Und wenn ihr es ohne mich macht...“

„Aber genau da ist der Haken.“ entgegnete Christopher leise, „Yannik war wichtig. Daher konnten wir ohne ihn nicht. Du warst nicht wichtig, also ging das. Nur dass genau das eben nicht stimmt.“

Z sah wieder zu Boden. Becka dagegen stemmte die Hände in die Hüften:

„Was seid ihr eigentlich für Leute? Ihr schimpft euch Christen. Nun zeigt das auch mal.“

Geraldine atmete tief durch und schaffte es so, wesentlich ruhiger zu klingen: „Becka, das ist nicht fair. Du wusstest Bescheid und hattest dementsprechend eine Menge Zeit, das alles zu verarbeiten. Wir haben es eben gerade um die Ohren gehauen bekommen.“

„Dass Z eine Gabe hat, ja. Aber das ändert doch nichts.“

„Es ändert alles. Genau aus dem Grund, den Christopher gerade genannt hat: Wir haben die Leute eingesetzt, von denen wir dachten, dass sie Gaben haben. Und das hat nicht gestimmt. Sprich: Hätten wir gewusst, dass Z

derjenige mit der Gabe ist, wären wir ohne ihn niemals zu Heike gegangen.

Und dann wäre Yannik noch am Leben.“

„Jasmin und Heike allerdings nicht mehr.“ setzte Becka entgegen und erntete dafür von allen Seiten konsternierte Blicke:

„Was?“

„Der Dämon hat doch gesagt, dass er sie beide umbringt, wenn ihr nicht mitspielt.“

Geraldine schüttelte den Kopf: „Wir wissen, dass Dämonen Menschen nicht einfach umbringen können. Er hat gedroht, ja. Aber das war eine langfristige Drohung. Bei der ich es einfach gut fand, so schnell wie möglich zu reagieren. Um kein Risiko einzugehen. Hätte ich da gewusst, was ich jetzt weiß, hätte ich es anders gemacht. Mit einem gewissen Risiko, klar.

Aber weder Heike noch sonst irgendjemand wäre auf die Schnelle ernsthaft zu Schaden gekommen.“

„Und was hättest du gemacht?“ fragte überraschenderweise Annie das, was Becka auf der Zunge lag.

Geraldine überlegte einen Moment: „Ihm klargemacht, dass wir nicht zu kämpfen bereit sind und zu einem anderen Zeitpunkt wiederkommen.“

Becka schnaubte: „Du glaubst, der Dämon hätte sich darauf eingelassen?

Ich glaube, da traust du ihm zu viel Gutes zu.“

„Das war jetzt improvisiert...“ maulte Geraldine, doch keiner hörte sie, da Christopher im selben Moment ansetzte:

„Und ich sehe da einen sehr interessanten Fehler in diesem Gebilde.“

„Ja, ich ebenfalls.“ stimmte Annie zu.

„Nämlich?“ Christopher blickte sie fragend an, doch Annie deutete ihm, anzufangen:

„Du zuerst.“

„Okay. Dämonen erkennen Menschen mit Gaben. Ganz egal, was Z und Yannik uns erzählt haben – er dürfte die Wahrheit von Anfang an gewusst haben.“

„Ich erteile dem Lügner eine Lektion.“ murmelte Annie.

Christopher zuckte verstört mit den Händen: „Bitte was?“

Sie sah auf: „Das hat der Dämon gesagt. Wir dachten, er meint Yannik.

Aber...“

Auf Geraldines Gesicht erschien ein Ausdruck schlagartiger Erkenntnis:

„...er meinte...“

„...mich.“ Z schlug die Hände vors Gesicht, „also bin ich wirklich schuld.“

„Blödsinn! Das ist...“ begann Becka, doch Christopher nahm ihr sofort den Wind aus den Segeln:

„Becka, lass gut sein. Annie – was wolltest du sagen?“

„Warum soll ich es gut sein lassen?“ wehrte sich Becka.

„Weil wir über Schuld nicht mehr diskutieren müssen.“ erklärte Christopher bestimmt.

„Finde ich schon.“ widersprach Becka.

„Ich im Übrigen auch.“ fiel Geraldine ein.

„Ach Mensch...“ Christopher schlug mit der Faust auf die Sessellehne, „Annie!“ „Soll ich wirklich?“ fragte diese vorsichtig, „passt das jetzt?“

„Bitte.“

„Okay. Wir haben gerade festgestellt, dass wir nicht zu Heike gegangen wären, wenn wir die Wahrheit gewusst hätten. Aber da war ja diese andere Situation, die Christopher… oder Z angesprochen hat. Wo wir nicht gegangen sind, weil Yannik nicht konnte. Das stimmt ja dann auch nicht.

Wir hätten gehen können – weil Z ja dabei war.“

Christopher kratzte sich am Kinn: „Du meinst, der Mann hätte nicht randaliert?“

„Das wollt ihr ihm auch in die Schuhe schieben?“ fauchte Becka so laut, dass alle zusammenschraken.