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Lange schon hat Geraldine nach Antworten gesucht. Auf all die Fragen, die sich im Laufe ihrer Arbeit angehäuft haben. Immer in dem Glauben, dass sie ihr Handeln positiv hätten beeinflussen können. Doch jetzt, wo sie Antworten bekommt, stellt sie fest, dass sie sich geirrt hat. Manche Wege sind vorgezeichnet. Und kein Wissen der Welt hätte daran etwas ändern können.
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Seitenzahl: 1122
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
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Kapitel 27
Kapitel 28
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Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Kapitel 113
Kapitel 114
Kapitel 115
Kapitel 116
Kapitel 117
Kapitel 118
Kapitel 119
Kapitel 120
Kapitel 121
Kapitel 122
Kapitel 123
Kapitel 124
Kapitel 125
Kapitel 126
Kapitel 127
Kapitel 128
Kapitel 129
Kapitel 130
Kapitel 131
Kapitel 132
Kapitel 133
Kapitel 134
Kapitel 135
Kapitel 136
Kapitel 137
Kapitel 138
Kapitel 139
Kapitel 140
Kapitel 141
Kapitel 142
Kapitel 143
Kapitel 144
Kapitel 145
Kapitel 146
Kapitel 147
Kapitel 148
Kapitel 149
Kapitel 150
Kapitel 151
Kapitel 152
Kapitel 153
Kapitel 154
Kapitel 155
Kapitel 156
Kapitel 157
Kapitel 158
Kapitel 159
Kapitel 160
Kapitel 161
Kapitel 162
Kapitel 163
Kapitel 164
Kapitel 165
Kapitel 166
Kapitel 167
Kapitel 168
Kapitel 169
Kapitel 170
Kapitel 171
Kapitel 172
Kapitel 173
Kapitel 174
Kapitel 175
Kapitel 176
Kapitel 177
Kapitel 178
Kapitel 179
„Zachäus...“ erklang eine Stimme aus dem Gerät, die so verzerrt war, dass er sie nicht erkennen konnte, „...ich möchte dir etwas vorspielen. Was dir nicht neu sein wird. Denn du warst dabei... viel Spaß.“
Es folgten einige Sekunden Pause, dann vernahm Z eine Stimme, die er nur zu gut kannte:
„Mit dir hatte ich als letztes gerechnet.“
„Darf ich trotzdem reinkommen?“ hörte er daraufhin seine eigene Stimme und in diesem Moment erkannte er bereits, um welche Situation es sich handelte:
„Wenn es unbedingt sein muss.“
„Warum so feindselig?“
„Ist das wirklich eine ernste Frage?“
„Ich müsste eigentlich sauer auf dich sein. Bin ich aber nicht.“
„Du hast auch Grund, glücklich zu sein.“
„Und du nicht?“
„Nicht wirklich.“
„Dein Leben dreht sich doch nicht nur um mich. Will ich zumindest hoffen.“
„Tut es nicht. Aber du warst ein fester Bestandteil. Für lange Zeit.“
„Manche Dinge gehen zu Ende.“
„Nicht, wenn sie nicht müssen.“
„Es musste. Und du weißt auch, warum.“
„War das wirklich so schlimm? So... unverzeihlich?“
„Es war Manipulation.“
„Es war leicht durchschaubar.“
„Was soll das heißen?“
„Dass du mir nicht erzählen kannst, dass du es nie geahnt hättest. So gut bin ich nun auch wieder nicht.“
„Vielleicht doch.“
„Du bist ein sehr ehrenwerter Mann, Z. Und das meine ich ernst, aber nicht positiv. Du gibst sehr viel darauf, was die Leute von dir denken. Auf Dinge wie ‚Ansehen‘ und ‚Wirkung‘. Darauf, ‚das Richtige‘ zu tun. Zu sagen. Zu denken. Aber im Grunde geht es dabei meist um andere. Was sie von dir denken, wenn du dies oder jenes tust oder sagst oder denkst. Oder eben nicht.“
„Worauf willst du hinaus?“
„Ich war dir wichtig, solange du damit angeben konntest, dass ich dich brauche. Ich habe das nicht für mich erhalten. Sondern für dich.“
„Das ist Quatsch. Und das weißt du auch.“
„Tue ich nicht.“
„Du kennst mich. Sehr gut sogar. Ob ich ein ehrenwerter Mensch bin... wohl kaum. Zumindest würde ich mich nicht so nennen. Es ist mir wichtig, was andere denken – das stimmt. Es ist mir wichtig, richtig zu handeln – das stimmt auch. Das ist meine Art. Und andere sind mir wichtig. Aber nicht so, wie du das behauptest. Ich gebe nichts auf Anerkennung oder gar Beifall. Mir ist es wichtig, dass es den anderen gut geht. Es mag sein, dass ich es zwischendrin gesehen habe. Das Gefühl hatte, du übertreibst. Oder es stimmt nicht immer alles. Aber ich habe auch etwas anderes gesehen. Sehe es immer wieder – auch jetzt.“
„Und das wäre?“
„Deinen Schmerz. Du magst die Geschichten erfunden haben. Aber nicht die Gefühle. Deswegen habe ich mitgemacht. Weil ich dachte – hoffte – dass ich wirklich etwas bewirken kann. In dir.“
„Und warum bist du dann gegangen?“
„Wegen deiner Unehrlichkeit. Es hat mich geschockt, zu hören, wie sehr du gelogen hast. Ich brauchte einfach Zeit, um das zu verarbeiten.“
„Das wäre nicht anders gegangen?“
„Es war die ganze Situation. Alles, was sonst noch war zu der Zeit. Ich wollte es klären. Aber ich wusste auch, dass das nicht so einfach gehen würde.“
„Wegen mir.“
„Wegen mir. Ich war wütend. Das musste verrauchen. Jetzt ist es das.“
„Na fein.“
„Findest du nicht gut.“
„Ich werde das Gefühl nicht los, dass deine Entscheidung weder mit mir noch mit dir zu tun hatte.“
„Sondern mit wem?“
„Was denkst du denn? Du hast noch jemanden, für den du da sein musst. Die du nicht traurig machen willst.“
„Ist das falsch?“
„Nein. Aber es ist feige. Trauer gehört dazu. Vor allem in Beziehungen. Wenn du sie ehrlich behandeln willst, lässt du sie an deinen Problemen teilhaben. Anstatt sie alleine zu lösen. Indem du sie nicht löst.“
„Ich habe keinen Vorteil darin gesehen, es aufzubauschen.“
„Und was tust du jetzt?“
„Reden. Mit dir. Ganz gesittet.“
„Und wo führt es hin?“
„Nirgendwo.“
„Nirgendwo?“
„Du hast in einem Recht: Wir hatten beide unsere Funktionen füreinander. Du brauchtest jemanden, der für dich da ist. Und ich brauchte jemanden, für den ich da sein kann. Aber jetzt, wo es raus ist, funktioniert das für mich nicht mehr. Ich kann für dich nicht mehr da sein, wenn ich weiß, dass es keine tieferen Motive dafür gibt.“
„Ist mein Schmerz also geheilt.“
„Das weiß ich nicht. Das, was ich glaubte zu sehen... ich weiß nicht, was es war. Ob es echt war. Erfindung. Einbildung. Aber meine Entscheidung von damals hat auch heute noch Bestand: Ich will da raus. Ich will es abschließen. Für mich. Das Einzige, was ich bereue, ist die Art, wie ich damit umgegangen bin. Deswegen stehe ich hier. Ich will Frieden schließen. Mit dir.“
„Und was ich will, ist unerheblich.“
„Was willst du denn?“
„Dass es wird wie zuvor.“
„Wie sollte es das?“
„Besser – ohne Lügen.“
„Es basierte auf einer Lüge. So traurig das klingt – ohne die Lüge ist die Basis weg.“
„Das ist deine Lösung.“
„Das ist sie.“
„Das ist der Abschied.“
„Das ist er. Becka denkt, wir könnten es retten. Witzig, oder? Ausgerechnet sie. Aber ich weiß es besser. Und du auch.“
„Kriege ich denn ein Abschiedsgeschenk?“
„Ein... wegen mir. Was möchtest du denn haben?“
„Äh...“
„Ich meine... ich werde dir keinen Porsche kaufen können. Aber ich habe ein bisschen was zur Seite gelegt und...“
„Zur Seite gelegt? Du?“
„Ich muss auch an die Zukunft denken. Es ist nicht so, als wäre ich vollkommen blind bei allem, was ich tue.“
„Ja, mag sein. Aber ‚zur Seite gelegt‘. Ich dachte, du wärst steinreich.“
„Das... hat sich erledigt. Inzwischen.“
„Aha. Und jetzt wedelst du mit deinem Sparstrumpf.“
„Ich bin nicht blöd. Wie gesagt. Reichtum ist selten ewig. Also muss man vorsorgen für schlechtere Zeiten.“
„Ach wie geil. Was hast du gemacht? Dir ein schwarzes Konto angelegt?“
„Es ist geheim. Nicht illegal.“
„Geheim. Auch vor Becka.“
„Sie... würde das...“
„Und das willst du nun für mich plündern.“
„Die schlechteren Zeiten sind eingetreten. Von daher: Nein – ich werde es nicht für dich plündern. Aber wenn es irgendetwas Schönes gibt – was dich glücklich machen würde – und sich in einem anständigen Rahmen bewegt...“
„Z, Z, Z... du glaubst, Geld macht alles wieder gut. Das macht mich traurig. Ich freue mich für dich, dass du in der Lage bist, deiner neuen Frau mit deiner ebenfalls neuen Oberflächlichkeit etwas Gutes zu tun. Kauft ein Haus, kriegt Kinder. Samstags kannst du das Auto waschen. Vielleicht bringt sie dir ein Bier, wenn du Sportschau guckst...“
„Das ist armselig.“
„Oh ja – und wie.“
„Du hast gefragt. Ich wollte darauf eingehen.“
„Mit Bezahlung.“
„Mit einer Geste.“
„Einer Geste. Gesten kommen von Herzen. Nicht vom Konto.“
„Es war nur ein Gedanke.“
„Dann mach dir mal einen anderen Gedanken.“
„Das ist hoffnungslos.“
Die Aufnahme brach ab und nach einer kurzen Pause war wieder die verzerrte Stimme zu hören:
„Wir wissen beide, was jetzt kommt. Ich stelle dir ein Ultimatum. Ich bin mir sicher, dass du nicht willst, dass deine liebe Frau von dieser Aufnahme erfährt. Stell dir vor, was passieren würde – mit dir – wenn sie ihr in die Hände fällt. Und was würden deine wundervollen Freunde über dich denken? Mit denen du so viele gute Taten vollbringst. Du hast eine Woche, darüber nachzudenken, was es dir wert ist, dass das nicht geschieht. In einer Woche rufe ich dich an. Dann können wir in Ruhe darüber sprechen.“
Es wurde still. Das Tape lief weiter. Bis es zu Ende war und sich von selbst ausschaltete. Denn Z saß nur da und starrte ins Leere.
Er hörte Beckas Stimme erst beim dritten Mal. Wobei ihm natürlich nicht bewusst war, dass es das dritte Mal war. Es riss ihn aus seinen Gedanken und er rief – fast schon reflexartig – zurück: „Komme gleich.“ Dann griff er sich sein Handy vom Nachttisch und wählte aus dem Kopf eine Nummer.
Nach dem zweiten Tuten sprang die Mailbox an. Normalerweise war er kein Freund von Nachrichten. Es reichte ihm, wenn die Leute sahen, dass er angerufen hatte. In diesem Fall jedoch verspürte er den Drang, etwas zu sagen. Und zwar laut und deutlich. Wobei er sich auf deutlich beschränkte, denn laut hätte wahrscheinlich Becka auf den Plan gerufen: „Ich bin‘s. Und ich will eine Erklärung. Sofort. Wie kannst du mir das schicken? Was willst du damit? Und warum hast du das überhaupt? Ruf mich zurück.“ Er legte auf und starrte dann fast eine Minute lang auf das Display – in der stummen Hoffnung, dass er direkt einen Rückruf erhalten würde. Doch dieser kam nicht. Das Display ging aus. Und die Tür auf:
„Z?“
„Hm?“ Er fuhr hoch. Becka stand im Türrahmen:
„Alles klar?“
„Was?“
„Bei dir. Alles klar?“ Sie musterte ihn kritisch und er schüttelte sich schnell und setzte ein – wie er hoffte echt wirkendes – Lächeln auf:
„Becka. Ja. Sorry. Alles klar. Ich komme.“
„Was ist denn los?“ bohrte sie trotzdem nach.
„Ach...“ winkte er ab, „Arbeitskram.“
„Arbeitskram.“
„Du weißt schon... unser Team.“
„Aha.“ Sie nickte, „geklärt?“
„Noch nicht.“ Er tippte auf sein Handy, „Mailbox. Aber ich hoffe mal, das geht schnell.“
Becka deutete hinter sich: „Wir haben Besuch.“
„Was? Oh. Ja. Natürlich. Ich komme.“ Z folge Becka ins Wohnzimmer, wo Yannik auf der Couch saß:
„Da ist er ja. Dachte schon, du versteckst dich vor mir.“
Z kniff die Augen zusammen: „Hätte ich denn Grund dazu?“
„Was ist das denn für eine Frage?“ ereiferte sich Becka und Z ruderte sofort zurück:
„Nichts. Nur so. Bisschen... in Gedanken. Was willst... ich meine: Was können wir für dich tun?“
„Was führt dich hierher? Wollte er eigentlich fragen.“ Becka warf Z einen entnervten Blick zu – der sich auch nicht entspannte, als Yannik zu kichern begann:
„Bestimmt. Könnte ich dir ganz einfach erklären.“ Er zwinkerte Z zu,
„werde ich aber nicht.“
Z atmete tief ein: „Da hätte ich auch im Schlafzimmer bleiben können.“
Becka noch tiefer: „Das geht ja gut los mit euch.“
„Seien wir doch ehrlich.“ Mit einem Mal wurde Z laut, „Yannik gehört zu Lotta. Und Lotta gehört zu Jesus. Dem Jesus. Der da draußen rumläuft und Chaos stiftet. Warum sollte ich mich also freuen, ihn zu sehen? Was weiß denn ich, was er will? Vielleicht spionieren. Oder bekehren. Oder irgendeine Warnung abgeben. Jetzt, wo alle wissen, dass wir wieder im Geschäft sind.“
Yannik wippte bedächtig mit dem Kopf: „Damit hat es zu tun. So viel kann ich dir direkt sagen.“
„Damit? Womit?“
„Mit eurem Geschäft.“
„Dem großen Geschäft?“
„Z – Mann...“ Becka boxte ihm in die Rippen, doch Yannik überging seine Bemerkung sowieso:
„Mit euren Gaben. Damit, dass nun raus ist, dass ihr sie wiederhabt.“
„Das heißt, das sagst du und danach nichts mehr.“ Z blickte ihn herausfordernd an – und Yannik hielt dem Blick stand:
„Ich sage alles. Nur nicht dir alleine. Weil ich schlichtweg zu faul bin, mich zu wiederholen. Ich erzähle es, wenn alle da sind.“
„Wer ist denn alle?“ erkundigte sich Becka.
„Geraldine, Annie, Katiana, Steve, Johanna, Nils, ihr zwei. Hab ich wen vergessen? Hm...“ Yannik schaute auf seine Finger, „nein. Das sind die, die du zusammenholen kannst. Die anderen werden von sich aus kommen.“
Wieder verengten sich Zs Augen: „Das macht mich jetzt schon misstrauisch, dass du alle diese Namen weißt. Von Leuten, die du nie getroffen hast. Und dass du behauptest, von Leuten zu wissen, was sie tun werden. Du kannst doch nur ein Spitzel sein.“
„Ja – Stasi-Yannik.“ Ein lautes Lachen folgte, „das bin ich. Ich sage dir noch was: Ich kenne einen weiteren Namen. Einen, den nicht mal du kennst.“
„Da gibt es Milliarden auf der Welt.“
„Von jemanden, den du kennst. Nur halt nicht seinen Namen.“
„Ich weiß von allen Leuten, die ich kenne, den Namen.“ Z schnaubte leise,
„das bedeutet ja ‚kennen‘.“
„Alle außer...“ Yannik ließ es in der Luft hängen und Z runzelte die Stirn:
„Außer...? Außer... Außer!“ Zs Gesicht hellte sich wieder auf und Yannik streckte einen Daumen in die Höhe:
„Angekommen.“
Becka sah zwischen ihnen hin und her: „Von wem redet ihr?“
„Sag es ihr.“ forderte Yannik Z auf, der dies gleich zurückgab:
„Nein. Sag du es ihr.“
„Gut. Wir reden von dem Mann, der für Z und die anderen bei Jesus rumhängt und sie hinterher mit Informationen beliefert.“
Z spannte sich innerlich an: „Woher weißt du von ihm?“
„Teil meiner Geschichte.“ erwiderte Yannik, „und nein – ich werde dir seinen Namen nicht verraten. Er will das nicht.“
„Das kann jeder sagen.“
„Ich weiß von ihm. Ist dir das nicht Beweis genug?“
„Dass du glaubwürdig bist?“
Yannik seufzte: „Ich will doch nur alle beisammen haben.“
„Und dann kommen eure Truppen und machen uns alle auf einmal platt.“
„Du bist echt fernsehgeschädigt. Ich habe keine Truppen. Und ich erwähne ihn aus einem ganz bestimmten Grund. Er kann dir nämlich bestätigen, dass ich bei keinem einzigen Treffen von... BlaBla dabei gewesen bin.“
„Jesus.“ zischte Z, „nenn ihn doch so. Du bist schließlich sein Freund.“
„Ich bin nicht sein Freund.“ widersprach Yannik vehement, „für ihn bin ich sehr viel mehr. Und für mich ist er sehr viel weniger. Ich werde seinen Namen nicht aussprechen. Es ist schlimm genug, dass ich ihn damit ansprechen muss.“
„Wenn du meinst.“
„Wichtig ist – ich habe mich da rausgehalten. Und der einzige Grund dafür war, dass ich von Anfang an wusste, dass ich irgendwann hier sitzen und meine Geschichte erzählen würde. Und euch dafür alle hier haben will.
Oder in Christophers Haus – das ist mir egal. Auf jeden Fall musst du die anderen zusammenrufen. Bei mir werden sie genauso misstrauisch sein wie du.“
Z verschränkte die Arme: „Dann überzeug mich.“
„Das versuche ich.“ gab Yannik zurück.
„Mit mehr.“
„Mehr gibt es dann. Jetzt gibt es das: Ich gehöre nicht zu ihm. Zumindest nicht so, wie du das denkst.“
„Das heißt, du bist nicht in seinem Auftrag hier.“
„Ich bin in Absprache mit ihm hier. Aber den wahren Grund dafür kennt er nicht. Ich kann dir den falschen nennen, den er kennt: dass ihr eine Gefahr für ihn darstellt und ich mich bei euch einschleusen will, um euch zu kontrollieren.“
Zs Zeigefinger schnellte nach vorne: „Sag ich doch.“
„Das ist das, was er glaubt.“ formulierte Yannik es nochmals anders, „und es ist sehr wichtig, dass er das glaubt. Sonst kriegen wir alle ein ganz großes Problem.“
Becka legte Z eine Hand auf die Schulter: „Z – ich glaube ihm.“
„Heißt?“ zischte er scharf.
„Nur das. Ich glaube ihm.“
„Okay.“ Z wandte sich wieder Yannik zu, „das bedeutet, du hast eine Stimme für dich und eine Stimme gegen dich. Mit leichter Tendenz zur Neutralität. Aufgrund von Neugierde.“ setzte er noch hinzu, was Yannik einen Punkt zum Einhaken bot:
„Und wo bringt uns das hin?“
„Zur nächsten Frage. Deren Antwort du dir gut überlegen solltest: Warum der Tanz? Warum nicht einfach jetzt mich überzeugen und die anderen später?“
„Weil ich mich nicht gerne wiederhole. Bei einzelnen Sätzen – okay. So wie bei dieser Antwort, die ich vorhin schon gegeben hatte. Aber bei meiner Lebensgeschichte? Was für ein Aufwand. Das muss nicht sein.“
„Gut.“ Z rümpfte die Nase, „diese Antwort ist total nichtssagend, aber zumindest kann ich sie nachvollziehen. Okay. Ich werde die anderen fragen. Und wenn genug Stimmen für dich zusammenkommen...“ Er brach ab – was Yannik veranlasste, sich zu erheben:
„Soll ich warten? Soll ich gehen?“
„Gehen.“ antwortete Z – und erntete sofort Widerspruch:
„Nein, du musst nicht...“
„Becka.“ unterbrach er sie, „ich werde die anderen nicht zwingen, binnen zwei Minuten eine Entscheidung zu treffen.“
„Aber die ganze Chose mit Lotta und so – die war doch nur wegen eurer Heimlichtuerei.“ wandte sie ein – und bekam nun ihrerseits etwas entgegen gesetzt:
„War sie nicht. Sie war auch, weil sie uns dazu geraten hat, uns von Jesus fernzuhalten. Und nun ist sie selbst bei ihm. Und Yannik ist nun mal ihr Mann.“
„Der tot war.“
„Und wieder lebt. Ein weiterer Grund im Übrigen, misstrauisch zu sein.“
„Auch das werde ich euch erklären.“ versprach Yannik.
„Mein Angebot steht.“ Z machte eine eindeutige Geste den Flur entlang,
„du hast ja ein Zuhause. Geh da hin. Lass deine Nummer da. Ich melde mich bei dir.“
Yannik lächelte spöttisch: „So wie bei einer Castingshow.“
„Ich melde mich auf jeden Fall bei dir. Ganz egal, wie es ausgeht.“
„Mehr kann ich wohl nicht verlangen.“
„Das ist mehr als du verlangen konntest.“
Yannik seufzte, nickte und schritt dann Richtung Wohnungstür. Als er gegangen war, sah Becka Z verärgert an:
„Du bist echt... er war mal dein Freund.“
„Betonung auf ‚war‘.“ entgegnete Z, „jetzt ist er... jetzt weiß ich nicht mehr, was er ist.“
„Und du willst es nicht herausfinden. Ihm keine Chance geben, es dir zu erklären.“
„Ich entschiede das nicht alleine.“
Becka nahm seine Hände und blickte ihm tief in die Augen: „Was ist los mit dir?“
„Stress.“ Z wich ihrem Blick aus, „sehr viel auf einmal.“
„Dann sieh zu, dass du ihn klärst.“
„Genau das habe ich vor zu tun.“
Michelle schaltete den Fernseher aus: „Jetzt weiß ich endlich, warum du so bedrückt warst nach deinem Gespräch mit Niklas.“
Christopher biss sich auf die Lippen: „Ich habe mich geschämt.“
„Weil du ihm nicht Freund genug warst, dass er es dir offen sagen konnte?“
„Für ihn. Weil er nach außen hin etwas vorspielt, was er innen drin gar nicht ist.“
Michelle schüttelte konsterniert den Kopf: „Das ist so hohl – hast du im Mittelalter geschlafen?“
„Was soll das denn heißen?“ fuhr Christopher auf.
„Ich glaube, was Michelle sagen will...“ Valentina legte das Buch wieder beiseite, das sie sich gerade genommen hatte, kam jedoch erstmal nicht weiter:
„…sagt sie gerne selber, vielen Dank.“ zischte Michelle, worauf Valentina entschuldigend die Hände hob:
„Ich wollte doch nur...“
Michelle ignorierte sie: „Du verschließt gerne die Augen vor Dingen, die nicht in deine Begrenzungen passen. Das ist okay – das tun wir alle. Jeder hat seinen Horizont. Dinge, die darüber hinaus gehen, empfinden wir als befremdlich. Aber das heißt nicht, dass sie nicht existieren. Und erst recht nicht, dass sie nicht existieren dürfen. Niklas ist anders – als du. Wir alle sind anders als du. Ich liebe dich. Die anderen Frauen in deinem Umfeld tun das nicht. Sollte ich deswegen hingehen und sie verurteilen? Weil sie in meinen Augen keinen guten Geschmack haben? Nein. Es ist sogar ziemlich gut für mich, dass sie dich nicht lieben. Und für die Männer, die sie lieben, ist es noch viel besser.“
„Das ist doch was ganz anderes.“ begehrte Christopher auf, „du bist eine Frau. Und die anderen Frauen logischerweise auch. Ich bin ein Mann. Und deren Männer...“
„Zugegeben – das, worüber wir hier eigentlich reden, fällt ein wenig mehr aus dem Rahmen. Von einem bestimmten Standpunkt aus. Aber genau da liegt dein Problem: der Standpunkt. Du hast gelernt. Im Leben. Im Studium.
In der Kirche. Du hast gelernt, richtig und falsch einzuordnen. Aber eben nicht, richtig und falsch zu unterscheiden.“
Christopher rümpfe die Nase: „Ich kann nicht mal zwischen diesen beiden Begriffen unterscheiden.“
„Vielleicht kann ich das nicht gut erklären.“ Michelle seufzte entnervt und wieder schaltete sich Valentina ein:
„Darf ich?“
Es war Michelle deutlich anzusehen, dass sie gerne mit ‚Nein‘ geantwortet hätte, doch da sie nichts hatte, was sie stattdessen sagen konnte, zuckte sie nur resigniert mit den Schultern und Valentina setzte an:
„Ich glaube – glaube...“ wiederholte sie betont, „was Michelle damit meint ist, dass es ein Unterschied ist, ob man sich Schubladen anfertigt – basierend auf eigenen Meinungen oder eben auch Meinungen, die man vorgegeben bekommt – und alles, was einem begegnet, in diese Schubladen einsortiert – mehr oder weniger automatisch, ohne groß darüber nachzudenken. Das ist das, was du machst. Du hast ein Raster – gut, schlecht – und nimmst alles, was kommt, und packst es auf eine dieser Seiten. Aber was du tun solltest, ist jede Situation, die sich dir bietet, wie neu zu betrachten. Ohne Raster.
Von null an. Sie komplett zu durchdenken. Alle Vorurteile draußen zu lassen. Nicht aus dem, was du schon kennst, etwas dafür abzuleiten.
Sondern komplett unabhängig deine Entscheidung zu treffen. Wie in diesem Beispiel: Deine kirchliche Erziehung sagt dir, dass es falsch ist, was Niklas tut. Fühlt, sollte ich wohl besser sagen. Und daraus, dass er etwas Falsches macht – tagtäglich – schließt du, dass er seinen Glauben nicht ernst meinen kann. Weil für dich das eine nicht mit dem anderen vereinbar ist.
Und daraus folgt für dich, dass er jedes Mal lügt, wenn er auf der Kanzel steht. Aber das ist dein Fehler – nicht seiner. Er ist nicht du. Er denkt und fühlt nicht wie du. Für ihn kann es ein leichtes sein, das eine und das andere ernsthaft zu meinen und zu tun. Es miteinander zu vereinbaren – ohne, dass ein Widerspruch entsteht.“
„Danke.“ Michelle blickte Valentina halb schockiert, halb erfreut an, „das war... danke.“
Christopher sah das nicht so: „Als Erklärung gut. Theoretisch. Praktisch aber nicht umsetzbar. Weil es so halt nicht geht. Ein Pfarrer, der eine illegitime Affäre hat, sündigt gegen Gott. Damit sind seine Predigten nichtig.“
„Oh, was ich aus dem Satz alles rausziehen könnte...“ fauchte Michelle ärgerlich. Zu ihrer Überraschung nickte Valentina aufmunternd:
„Tu‘s doch.“
Michelle kniff die Augen zusammen: „Du bist irgendwie anders in letzter Zeit.“
„Das passiert den Besten von uns.“ gab Valentina lächelnd zurück. Dann schwieg sie und Michelle wandte sich wieder ihrem Mann zu:
„Wegen mir. Wo fange ich an? Hinten. Sind gute Worte sinnlos, wenn sie von jemandem kommen, der ein sündiges Leben führt? Oder in Situationen ausgesprochen werden, die eigentlich keinen Raum dafür bieten? Ich glaube: nein. Gute Worte sind gute Worte. Und sie sind ja in erster Linie für die Empfänger bestimmt. Gott kann, wenn er das will – und sie ihn lässt – die Nutte am Hauptbahnhof dafür benutzen, dir eine Lebensweisheit mitzugeben, die alles für dich verändert. Wieso sollte er nicht?
Alle Menschen können seine Worte empfangen und weitergeben. Alles, was es dafür braucht, ist Offenheit. Niklas lebt ein Leben wie sonst kaum ein anderer. Er hat eine Perspektive wie kaum ein anderer. Und er hat sich dem Dienst für Gott verschrieben. Glaubst du, Gott nutzt das nicht? Glaubst du, er entzieht ihm seinen Geist deswegen? Das wäre totaler Blödsinn. Gott benutzt ihn wie jeden anderen, der das will. Und er kann vielen Gutes geben – ganz egal, wie es in seinem eigenen Leben aussieht.“ Michelle atmete durch, „weiter: Er hat keine Affäre. Dafür müsste er eine Beziehung haben und dann Sex mit jemand anders. Aber das tut er nicht. Er hat nur eine Beziehung. Und diese Beziehung ist nicht illegitim.“
„Doch, das ist sie.“ widersprach Christopher und Michelle seufzte:
„Ich weiß – Sex außerhalb der Ehe wird in christlichen Kreisen gemeinhin als nicht legitim bezeichnet. Aber der Satz ‚Ein Mann wird seiner Frau anhängen‘ bezieht sich auf die Treue zwischen den beiden und nicht auf irgendwelche Rituale, die...“
„Das ist nicht das, worum es mir geht.“
„Ach? Sonst geht es dir immer darum. Was ich nach wie vor sehr kurios finde, wenn man bedenkt, dass es deine Kirche war, die diese ursprünglich so festen Prinzipien als erste aufgeweicht hat.“
„Sie war nicht die erste. Und du weißt, dass ich damit nie glücklich war.“
entgegnete Christopher, „ich mag für diese Kirche gearbeitet haben. Aber ich habe nicht allen ihren Haltungen zugestimmt.“
„Weiß ich, ja. Ich sag‘s nur. Weil ich dachte, dass du dich damit längst kritisch auseinandergesetzt hättest. Durch deine ehemalige Kirche. Durch dein ehemaliges Team. Du hattest eine Menge Gelegenheiten – Notwendigkeiten sogar – dir dazu Gedanken zu machen. Hast du anscheinend nie. Auch unsere diversen Gespräche auf dem...“ Sie brach ab und hüstelte leise, „ähem... haben nichts genützt. Du hattest davor eine Meinung. Und die behältst du bei, ganz egal, was passiert.“
Er schüttelte den Kopf: „Es heißt nun mal nicht: ‚Ein Mann solle einem anderen Mann anhängen‘.“
„Ich lehne mich weit aus dem Fenster – ich weiß.“ Sie zögerte, „aber bei einer Beziehung kommt es auf die Gefühle zwischen den beiden Beteiligten an. Nicht auf deren Geschlecht. Gott sieht das Herz an. Hat er gesagt. Das ist es, was zählt. Und deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass Niklas mit seiner Beziehung vor Gott nicht weniger wert ist als du und ich. Wenn die beiden wirklich schon so lange zusammen sind, wie du glaubst – anhand deiner Begegnungen mit Simon – dann ist das etwas Ernsthaftes.
Gott ist dagegen, dass einfach alle rumvögeln, wie es ihnen Spaß macht. Das tun die beiden ganz sicher genauso wenig wie wir beide. Und sieh die andere Seite: Was würde Niklas machen, wenn er sich an die Regeln halten würde? Sich umpolen lassen. Irgendwie. Sich möglichst eine Frau suchen, damit es niemandem auffällt und er es ‚richtig‘ machen kann. Würde er diese Frau lieben? Vielleicht. Aber eher unwahrscheinlich. Sie wäre sein Alibi, nicht seine Leidenschaft. Er würde ihr nie das geben, was er geben sollte – und wahrscheinlich auch wollte. Und sie würde nie bekommen, was sie braucht. Und auf der anderen Seite ist da der Mensch, den er liebt. Der traurig zurückbleiben würde. Liebe, die hält, ist so selten. Gerade weil wir heute so alt werden und daher – im schlimmsten Fall – 60, 70 Jahren zusammenbleiben, wenn wir es wirklich durchziehen. Und die Männer nicht mehr Monate damit verbringen, das Vieh durch die Gegend zu treiben, sondern jeden Abend heimkommen. Die Bibel ist unsere Grundlage – das sehe ich auch so. Aber du kannst nicht an manchen Punkten die gesellschaftliche Entwicklung einbeziehen und für gut befinden – Frauen sind heute gebildeter, also dürfen sie predigen – und an anderen Stellen darauf pochen, dass es bleiben muss wie früher.“
„Aber wo ist da die Grenze?“
„Bei richtig oder falsch. Gut oder schlecht. Da hast du deine Schubladen zurück. Alles, was wir tun, kann bewertet werden. Ist das, was Niklas tut, verwerflich? Vielleicht. Je nach Standpunkt. Ist es böse? Beim besten Willen nicht. Schadet es jemandem? Auch das nicht. Macht es jemanden glücklich?
Oh ja – zwei sogar.“
„Aber wenn da eine Frau ist, die ihn gerne hätte und...“
„Das ist doch jetzt vollkommen unnötig.“ würgte Michelle Christopher unsanft ab und er verschränkte die Arme vor der Brust:
„Ich sehe es halt nicht so.“
„Das musst du auch nicht.“ erklärte sie, „das hier ist weder ein Überredungs- noch ein Überzeugungsgespräch. Ich will nicht, dass du deine Meinung änderst. Ich will, dass du deinen Horizont erweiterst. Dass du akzeptierst, dass es andere Meinungen gibt. Dazu musst du sie nicht übernehmen. Sie können nebeneinander stehenbleiben. Ich habe mich mal mit Becka unterhalten – ganz lang her – als sie dabei war, eine Gemeinde zu suchen. Sie hat mir so einiges erzählt von unterschiedlichen Auffassungen und Interpretationen. Und es gibt Gemeinden – auch in Frankfurt und Umgebung – die das so ähnlich sehen wie ich. Die sagen: Bei uns zählt der Mensch. Nicht seine sexuelle Ausrichtung. Bei uns zählt sein Verhalten gegenüber anderen Menschen. Und nicht, mit wem er was tut.“
„Ich weiß.“ Christopher ließ den Kopf hängen, „gerade in meiner Kirche gehen so einige inzwischen in diese Richtung. Aber... das ist halt nochmal eine Stufe drauf auf das, was ich dort schon vorher so schwer akzeptieren konnte. So... so verfallen alle Werte, die wir haben.“
„Wenn ein Mensch einen anderen Menschen liebt, verfallen keine Werte.“
„Wenn wir jeden jeden lieben lassen...“
Wieder unterbrach sie ihn: „Wir lassen nicht jeden jeden lieben. Wir halten keine römischen Gruppensexorgien ab. Wir überlassen es einfach jedem, sich zu entscheiden, wen er lieben möchte. Eine Person eine andere Person.
Ich predige dir keine Bigamie, keine freie Liebe, keine 60er-Jahre-Kommunen und auch keinen Harem – was im Übrigen das ist, was es im Alten Testament gab – nur so am Rande. Ich predige dir im Grunde das Bravste, was es gibt: zwei Menschen – vereint. Wie Susi und Strolch.“
„Die keine Menschen waren.“ brummte Christopher und Michelle warf die Hände in die Luft:
„Du kannst gar nicht anders, als mir zu widersprechen.“
„Ich fühle mich extrem unwohl damit.“
„Und das ist dein gutes Recht. Das ich dir nicht absprechen werde. Die Frage ist nur: Wie fühlt sich Niklas damit? Gerade jetzt. In dieser Zeit. Du bist sein Freund. Sein bester – so hieß es mal. Was sollte dir da wichtiger sein? Wie du dich fühlst oder wie er sich fühlt?“
„Ich kann nicht einfach zu ihm gehen und sagen, dass ich das toll finde.“
„Nein.“ stimmte sie zu, „aber du kannst zu ihm gehen und sagen, dass du zu ihm stehst – ganz egal.“
Er verzog das Gesicht: „So tun, als würde mir das nichts ausmachen?“
„Ihm sagen, dass es dir etwas ausmacht. Und dann danach sagen, dass es keinen Unterschied macht. Freundschaft ist Freundschaft. Sollte es zumindest sein. Hätte er eine Frau und eine Affäre, würdest du ihm auch helfen. Nur, um mal dein Beispiel von vorhin...“
„Ja.“ ging er dazwischen, „ich verstehe, was du meinst. Das ist schwer. Und es hieße...“
„Ich weiß, was es heißt.“ erwiderte sie, „und ich weiß, dass Valentina mir gleich wieder mit mehreren viel besseren Argumenten in den Rücken fallen wird. Aber ich sage, was ich denke: Du musst zu ihm gehen. Nicht nur in Gedanken. In echt.“ Sie blickte vorsichtig in Valentinas Richtung: „Sauer?“
„Schon.“ nickte diese, „aber eher darüber, dass du einfach Unterstellungen machst. Woher willst du wissen, was ich dazu denke?“
„Das hast du oft genug gesagt.“
„Gut – das gebe ich zu. In der Vergangenheit habe ich des Öfteren gegen solche Pläne argumentiert. Aber in diesem Fall werde ich das nicht tun.“ Sie wandte sich Christopher zu, „er braucht dich. Also geh zu ihm.“
Michelle kratzte sich am Kopf: „Sicher, dass du zugehört hast?“
„Michelle...“ Valentina lächelte gütig, „ich nehme dir das nicht übel. Ich hatte sehr viel Mist in mir und du musstest ihn mit ertragen. Aber irgendwann ist das überwunden.“
„Deine Meinung war auch vorher selten anders.“ stellte Michelle trocken fest.
Valentina zuckte die Achseln: „Auch ich verändere mich.“
„Ja. Scheint so. Kommt nur ein wenig überraschend.“
„Manchmal ist das so. Soll ich dich noch mehr überraschen?“
„Gerne. Oder...“ Michele überlegte kurz – dann nickte sie, „ja – mach mal.“
„Dann zunächst einmal für dich, Michelle, ein ausführlicherer und für dich, Bruderherz, ein eindringlicherer Beweis, dass ich wirklich zugehört habe:
Als Nicht-Christ hat man die Möglichkeit, bei der Betrachtung dieses Themas all diese geistlich-moralischen Aspekte außen vor zu lassen und es wirklich komplett auf den Menschen zu beschränken. Was dabei herauskommt, ist folgendes: Diese Welt wird regiert von schlechten Werten.
Von Habsucht. Und Hass. Von Eifersucht. Und Missgunst. Der Suche nach dem eigenen Vorteil – ohne Rücksicht auf, oder teilweise sogar gerade durch den Nachteil für andere. Solange ich glücklich bin, dürfen alle anderen ruhig traurig sein. Interesse an ihnen? Null. Das ist es, was wir tagtäglich sehen, wenn wir in den Fernseher oder einfach aus dem Fenster schauen. Und... Jesus? Hat daran nicht das Geringste geändert. Der, der hier rumläuft, meine ich. Er preist sich an als Retter der Menschheit. Aber die Punkte, an denen er sie zu retten versucht, mögen zwar aus biblischer Sicht legitim sein – aus menschlicher Sicht sind sie vollkommen unwichtig. Die Lebensqualität auf diesem Planeten wird durch die Maßnahmen, die er bisher ergriffen hat, nicht einen einzigen Prozentpunkt nach oben gehen.
Weil kein Drogen- und kein Waffenhändler durch Vorgaben bei der Gestaltung seiner sexuellen Beziehungen an seiner ‚Arbeit‘ gehindert wird.
Und kein militärischer Befehlsempfänger auf russischer oder amerikanischer Seite seinen Finger deswegen vom Abschussknopf nehmen wird. Jesus taugt nichts. Für gar niemanden. Und das heißt, dass wir genau da sind, wo wir vorher auch waren: Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Und das wiederum heißt, dass diese ganze Debatte um die göttliche Rechtmäßigkeit des Tuns und Lassens mancher ‚andersartiger‘ Personen vollkommen müßig, ja sogar kontraproduktiv ist. Denn was bewirkt sie? Mehr Angst – von Menschen vor anderen Menschen. Mehr Verurteilung – von Menschen durch andere Menschen. Und, dass wir komplett den Blick für das Wesentliche verlieren. Ihr habt jetzt wasweissichwieviele Minuten hitzig darüber diskutiert, ob Niklas nach den Geboten des Mose richtig handelt oder nicht – wie man sie interpretieren muss oder darf – alles das. Aber der eigentlich wichtige Aspekt ist nur ganz kurz am Rande aufgetreten: Er ist ein Mensch – du bist ein Mensch. Er ist dein Freund – du bist sein Freund. Sehr lange schon. Ich kenne dich dein... nein: mein ganzes Leben lang und ich wüsste nicht, dass du jemals jemanden hattest, mit dem du so intensiv befreundet warst. Michelle mal ausgeklammert. Ihr seid durch dick und dünn gegangen. Und habt dabei so einige Meinungsverschiedenheiten überwunden. Und auch so manche Katastrophe. Erinnerst du dich an deine Zeit im Gefängnis? Ich rolle das nicht wieder aus. Aber wer war da für dich da? Niklas. Warum? Weil er dein Freund ist. Was war seine Priorität? Oder besser gesagt: wer? Hat er sich dabei irgendwelche Gedanken um dein oder sein Image gemacht? Das Image der Kirche? Was die Leute in der Kirche – oder auf der Straße – denken könnten, wenn sie zwischen ihm und dir eine Verbindung sehen?
War er der Meinung, sich distanzieren zu müssen, damit dein ‚schlechtes Verhalten‘ nicht auf ihn abfärbt oder zurückfällt? Nun – sind alles rhetorische Fragen, falls du da unsicher bist. Er war da. Bei dir. Im Gefängnis. Nicht mit Anschuldigungen. Nicht mit Belehrungen. Nicht mit ‚Du bist auf dem falschen Weg und ich bringe dich zurück‘ und dem erhobenen Zeigefinger dazu. Sondern mit Liebe. Und Hilfsbereitschaft. Und – an allererster Stelle: Mit der Frage ‚Was brauchst du?‘ Nicht: ‚Was denke ich, was du brauchst?‘ Er hat sich komplett aus der Gleichung genommen.
Und sich 100%ig an dich gegeben. Für dich. Zu dir. Ach... deutsche Grammatik. Wer die sich ausgedacht hat... Aber der Punkt sollte klar sein, oder? Jetzt ist die Situation umgekehrt: Er ist im Gefängnis. Und du bist hier draußen. Und im Gegensatz zu dir, der du damals nur vor dich hin geschmollt und jeden abgewiesen hast – was ihn im Übrigen nicht davon abgehalten hat, es trotzdem zu probieren – hat er dich sogar um Hilfe gebeten. Verwehrst du sie ihm? Wirklich? Als Freund? Als Mensch? Als... irgendwo tief innen drin doch noch Christ? Und selbst wenn das nicht – reichen die anderen beiden nicht aus? Okay...“ Sie stieß die Luft aus, „das war jetzt sehr überschwänglich und sehr ausführlich. Sorry dafür. Könnt ihr noch?“
„So mehr oder weniger.“ murmelte Michelle vollkommen überfordert während Christopher seine Schwester nur mit offenem Mund anstarrte.
Was diese ebenfalls als Zustimmung nahm und weitermachte:
„Gut. Dann komme ich mal zu etwas ganz anderem: mir. Ich bin froh, dass ihr hier bei mir wart. Ohne euch hätte ich das nicht so gut geschafft. Aber ihr seid aus zwei Gründen hier: Erstens wegen mir. Und zweitens, weil ihr euch verstecken wollt. Vor eurem eigenen Leben. Und jetzt sind wir an einem Punkt, wo uns das alle hemmt. Ich muss mein Leben auf Vordermann bringen. Und dabei steht ihr mir leider ein bisschen im Weg – so hart das klingt. Einfach, weil ich nicht in die Puschen komme, wenn ich mit euch einen auf gemütlich machen kann. Ich muss raus in die Kälte und mich stellen. Allein. Und ihr müsst das Gleiche tun. Euch stellen. Eurer Verantwortung. Ihr habt eine Menge zurückgelassen und auch wenn alle anderen ohne euch irgendwie klargekommen sind, sind eure Plätze nach wie vor leer. Und es ist in dieser schlimmen Zeit wichtiger denn je, dass ihr sie füllt. Also geht. Nicht nur Christopher, sondern ihr beide. Und nicht nur für einen Besuch, sondern für immer. Euer Platz ist in Frankfurt. Euer Haus, eure Freunde, euer Team. Ich habe mich da immer rausgehalten, aber ich habe durchaus mitbekommen, dass dieser Priestertyp, der da letztens eingesetzt und ganz schnell wieder abgesetzt wurde, der gleiche ist, der bei deinem Prozess ausgesagt hat. Wenn er der geistliche Kompass deiner ehemaligen Gruppe war... gute Nacht. Sie brauchen dich – nicht irgendeinen Hansel.“
Christophers Mund stand nach wie vor offen. Michelle drückte ihm mit dem Daumen gegen den Kiefer und schloss ihn. Dann sah sie Valentina durchdringend an: „Ich erkenne dich kaum wieder.“
Sie bekam nur ein Lächeln zurück und jetzt erwachte auch Christopher wieder zum Leben:
„Ist es dein neuer Job? Seitdem du den hast, habe ich den Eindruck...“
„Die Leute dort tun mir gut.“ bestätigte Valentina, „und ich ihnen auch. Das ist es eigentlich. Ich merke, dass ich anderen guttun kann. Das ist schön.
Und ich denke, dass ihr das auch tun solltet. Geht guttun.“
„Dann...“ Christopher tippte sich ans Kinn, „angenommen, wir tun das...
wie stellt ihr beide euch das konkret mit Niklas vor? Er sitzt im Gefängnis wegen seiner Homosexualität. Als Pfarrer. Das Gesetz mag neu sein und unter widrigen Umständen entstanden, aber die Leute ziehen es durch.“
Michelle runzelte die Stirn: „‚Widrige Umstände‘ ist ein netter Ausdruck für einen Lügner und Betrüger.“
„Das ist nicht mein Punkt. Es geht nicht um ihn. Er wird kaum jeden einzelnen ‚Straftäter‘ im Blick haben. Es geht um die Menschen. Die machen, was er sagt.“
Die beiden Frauen wechselten einen verständnislosen Blick: „Wo ist dein Problem?“
„In dem Moment, wo ich mich auf seine Seite stelle, wähle ich.“ versuchte Christopher es anders, „eine Seite eben. Aber ist das gut? Vor allem – diese Seite zu wählen? So offen? Gerade, wenn ich zusätzlich darüber nachdenken soll, mich wieder mit... den anderen einzulassen?“
Valentina wippte mit dem Kopf: „Du gibst ein Statement ab – natürlich.
Aber der Witz ist, dass deine kritische Haltung dir da sogar förderlich sein kann. Sag einfach die Wahrheit: ‚Ich als ehemaliger Pfarrer und gläubiger Mensch verurteile sein Verhalten zutiefst. Aber als sein bester Freund vergebe ich ihm und stehe zu ihm. Weil das das ist, was Freunde tun.‘ Das wird Eindruck schinden. Mindestens mal so viel, dass sich keiner traut, etwas dagegen zu sagen. Vielleicht setzt es sogar ein Zeichen in Richtung Toleranz. Und selbst wenn du danach alle gegen dich hast – du wirst die Leute für dich haben, die du für dich brauchst. Verärger‘ doch diesen Jesus.
Na und? Glaubst du, er erlässt ein Gesetz, dass es allen Leuten verbietet, ihre homosexuellen Freunde weiterhin zu mögen?“
„Nein, wohl nicht.“
„Aber das ist nicht deine einzige Sorge.“ vermutete Michelle nach einem langen Blick in seine Augen. Langsam nickte er:
„Wir haben uns im Streit getrennt. Die anderen und ich. Das war alles nicht gut.“
„Es war eine schlimme Situation.“ stimmte seine Schwester ihm zu, „aber schau dir an, was sie seitdem durchgemacht haben.“
„Weißt du das so genau?“
„Ich weiß, was wir im Fernsehen gesehen haben. Das war schlimm.“
„Qualitativ.“ schnaubte Michelle – und ein schwaches Lächeln huschte über Valentinas Gesicht:
„Wie auch immer. Sie sind Menschen. Sie kennen die Schattenseiten des Lebens genauso wie du.“
„Sie haben angerufen und ich habe nicht mit ihnen gesprochen.“
Christopher klang nun ziemlich bedrückt – Michelle dagegen ziemlich hart:
„Ich habe ihnen geschrieben und sie haben nicht geantwortet.“
„Was ist das?“ fuhr Valentina dazwischen, „ein Wettbewerb?“
Michelle hob abwehrend die Hände: „Ich sage nur: Es sind auf beiden Seiten Fehler gemacht worden. Entweder akzeptieren sie das – dann ist alles gut.
Oder sie tun es nicht – dann steht es sowieso außer Frage, dass du wieder mit ihnen zusammenarbeitest.“
„Ich muss mir das überlegen.“ Christopher wollte sich erheben, doch Valentina hielt ihn zurück:
„Das ‚Wie‘. Aber nicht das ‚Ob‘.“
„Hm?“
„Überleg dir, wie du die Sachen angehst.“ führte sie aus, „dass du sie angehst – da lasse ich nicht mehr mit mir reden.“
Er klappte erneut den Mund auf: „...mit dir...“
„Du hast dich doch nicht komplett verändert.“ Michelle kicherte – erfreut und erleichtert, „wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, ist es immer noch sinnlos, dagegen anzugehen.“
„Mag sein.“ überlegte Valentina, „aber dieses Mal ist das in meinem Kopf das Richtige. Da solltest du gar nicht gegen angehen.“
Michelle warf ihrem Mann einen bedeutungsvollen Blick zu: „Da hat sie ausnahmsweise mal recht.“
„Ich bin also überstimmt.“ schnaufte dieser. Und Michelle drückte ihm einen Kuss auf die Wange:
„Jetzt weißt du, wie ich mich die ganze Zeit gefühlt habe.“
Z schaute ungeduldig auf sein Handy. Aber nicht, weil er darauf wartete, dass die anderen sich endlich einloggten. Sondern weil er auf den Anruf wartete. Der hoffentlich all das aufklären würde, was er bisher nicht einmal einordnen konnte. Doch der Anruf kam einfach nicht. Die anderen dagegen schon. Und sahen ihn erwartungsvoll an:
„Z?“
Mit einem Ruck wandte er sich ihnen zu: „Ich habe etwas, wozu ihr euch äußern müsst.“
„Scheint dich ziemlich mitzunehmen.“ erwiderte Geraldine und er zuckte zusammen:
„Hm?“
„Du siehst...“ Sie zögerte, „gehetzt aus.“
„Ich...“ Er ebenfalls, „erwarte einen Anruf. Nichts Wichtiges.“
„Wenn du meinst.“
„Erzähl.“ forderte Annie und er legte die Stirn in Falten:
„Ich sagte doch, es ist nichts...“
„Das, was wir hören sollen.“
„Ach so. Ja.“ Z fasste das Gespräch mit Yannik zusammen und startete dann in die Diskussion. Doch schon nach wenigen Minuten klingelte wirklich sein Handy. Schuldbewusst wedelte er damit: „Das... müsste ich...“
„Wir haben es verstanden.“ gab Geraldine zurück, „mach du das da. Wir besprechen uns.“
Dankbar verzog sich in den Flur. Im Schlafzimmer hörte er Becka – dort konnte er also nicht hin. So entschied er sich für das Bad, schloss sich ein und nahm dann ab: „Na endlich.“
„Sorry.“ erklang eine Frauenstimme am anderen Ende, „ich war im Fitness-Studio. Und wollte mich dort eigentlich mit einer Freundin treffen. Ist nicht gekommen. Habe ziemlich lange gewartet.“
„Jajaja, das ist schade. Aber zur Sache.“ Zs Ungeduld war nicht zu überhören – worauf sie ihn auch sofort ansprach:
„Was ist denn los, Z?“
„Das fragst du?“ zischte er leise, „was los ist?“
„Ja. Deine Nachricht war schon so kryptisch.“
„Kryp...“ Er ballte die freie Hand zur Faust und schloss die Augen – schaffte es so, nicht laut loszuschreien, sondern mit gedämpfter Stimme zu sagen:
„Du weißt genau, wovon ich rede.“
„Keinen blassen Schimmer.“ entgegnete sie.
„Willst du jetzt echt Spielchen mit mir spielen?“
„Atme mal bitte tief durch.“ Sie tat selbiges ebenfalls, „und dann hör genau hin, was ich sage: Ich spiele keine Spiele. Ich weiß nicht, wovon du redest.
Ich habe dir nichts geschickt. Ich weiß nicht, worum es dir geht. Absolut.
Gar. Nicht.“
Z schwieg. Ließ es sacken. Und stellte fest, dass er ihr glaubte. Sagte dann aber trotzdem: „Das ist dein Ernst.“
„Das ist mein Ernst.“ bestätigte sie.
„Du weißt also nichts von einer Aufnahme von mir. Und dir. Bei dir.
Zuhause. Bei der es um Geld ging. Mein Geld. Sagt dir nichts.“
„Das...“ Mit einem Mal zitterte ihre Stimme ganz leicht – und Z sprang direkt darauf an:
„Sagt dir doch was.“
Das Zittern wurde stärker: „Das...“
„Du brauchst nicht zu stottern. Rück einfach damit raus. Wir klären das – hier und jetzt.“
„Warum flüsterst du eigentlich?“
Es war offensichtlich, dass sie nur versuchte, Zeit zu gewinnen. Worauf Z keine Lust hatte:
„Damit Becka nicht mitkriegt, was du hier veranstaltest.“
„Ich veranstalte gar nichts.“ beharrte sie.
„Du hast doch gerade zugegeben, dass...“
„... ich weiß, dass diese Aufnahme existiert, ja. Mehr nicht. Weil mehr gibt es nicht. Von meiner Seite zumindest.“
Z lachte sarkastisch auf: „Das willst du mir erzählen.“
Ein tiefer Seufzer drang an sein Ohr: „Z, ich denke, es ist besser, wenn wir das Auge in Auge besprechen.“
„Warum?“
„Weil das nicht gerade ein rühmliches Kapitel für mich ist. Bei dem ich davon ausgegangen war, es abgeschlossen zu haben, bevor es etwas anrichten konnte. Das will ich nicht übers Telefon erörtern.“
„Gut.“ Er sprang auf, „dann komme ich vorbei.“
„Jetzt?“ entfuhr es ihr panisch – auch ohne, dass sie seine Bewegung gesehen hatte.
„Wann denn sonst?“
„Gib mir Zeit, okay?“
„Damit du dir Lügen ausdenken kannst?“
„Damit ich mich darauf vorbereiten kann, die Wahrheit zu sagen.“
„Wahrheit.“ brummte Z, „alle wollen sie die Wahrheit sagen. Aber alle irgendwann später.“
„Was?“
„Vergiss es.“
„Morgen.“ Sie stockte, „okay?“
„Morgen.“ wiederholte Z düster, „bin ich da. Und wehe, du bist nicht da.“
„Ich werde da sein. Das versichere ich dir.“
Z legte auf und kehrte ins Wohnzimmer zurück – atmete allerdings erst ein paarmal ganz tief durch, bevor er sich wieder an den Computer setzte. Um dann festzustellen, dass er sich das hätte sparen können, denn Geraldines Begrüßung lautete:
„Scheint nicht viel geholfen zu haben, der Anruf.“
„Ach... ja...“ Er bemühte sich um einen gleichgültigen Tonfall,
„Familienkram.“
„Schade.“
„Passiert. Was habt ihr ausgemacht?“
Einen Moment herrschte Stille und Z fürchtete schon, dass die anderen noch nicht bereit waren, seinem abrupten Themenwechsel zu folgen. Dann aber gab ihm Annie wirklich eine Antwort:
„Erstmal, dass wir uns ab jetzt wieder richtig treffen. Denn der Computer war ja der Mission Impossible Modus. Den brauchen wir nicht mehr. Dann:
Wir wollen hören, was er zu sagen hat.“
Z rümpfte die Nase: „Nun gut.“
„Du nicht.“ folgerte Geraldine.
Er nickte: „Ich traue ihm nicht.“
„Das tut keiner von uns. Aber wir denken, dass es unklug ist, Unbekannte in der Gleichung zu haben. Ganz egal, ob wir ihm glauben, was er sagt – wir wissen dann wenigstens, was es ist.“
„Einverstanden. Ich rufe ihn an. Wann?“
„Morgen.“
„Morgen...“ setzte Z an und Geraldine wurde sofort wieder misstrauisch:
„...passt nicht.“
Was genau das war, was er hatte sagen wollen. Um sich keine Blöße zu geben, schwenkte er um: „...Nachmittag.“ und schaffte es so, weiteren Fragen zu entgehen. Stattdessen setzte Annie ein breites Grinsen auf:
„Klar. Ausschlafen sollte schon drin sein.“
Yannik stand an dem schmalen Fenster und sah den Regentropfen zu, die direkt davor auf den Boden tropften. „Morgen ist es soweit.“ sagte er.
„Ich weiß.“ Lotta, die hinter ihm stand, nickte ernst.
„Morgen wird sich alles verändern.“ setzte er hinzu – und wieder nickte sie:
„Ich weiß.“
Er drehte sich zu ihr um: „Aber bist du auch bereit dafür?“
„Ich habe genommen, was ich kriegen konnte.“ erwiderte sie, „das war vielleicht nicht so viel, wie ich mir erhofft hatte. Aber wie kann ich das negativ sehen, wenn kaum ein anderer Mensch jemals überhaupt so eine Chance hatte?“
„Das ist ein sehr schöner Ansatz.“ Er lächelte sanft – und sie zurück:
„Auch ich kann das. Manchmal.“
„Ich hoffe, du erhältst ihn dir.“
Sie schüttelte den Kopf: „Ich fürchte nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil ich zu den wenigen gehöre, die sich auf den Himmel nicht freuen.“
„Wie kann man das?“ fragte er erstaunt.
„Ich weiß nicht, wie es dort ist.“ gab sie zurück, „aber ich weiß, wer dort sein wird. Und wer nicht.“
Yannik blickte zu Boden: „Jeder trifft seine Entscheidung. Für sich selbst.“
„Sie mag nur für einen selbst gelten. Aber sie hat Einfluss auf andere.“
„Ich habe dir gesagt, dass es keine Verhandlungen geben wird.“
„Das will ich auch gar nicht tun.“ versicherte Lotta, „aber ich will, dass du es ehrlich weißt. Und mitnimmst.“
„Ich muss es nicht mitnehmen. Es kommt auch so dort an, wo es hinsoll.“
Sie strich ihm über die Wange: „So wie du.“
„So wie ich.“ bestätigte er leise.
„Warum hast du mich eigentlich nie nach ihnen gefragt?“
Dieser plötzliche Themenwechsel verwirrte ihn: „Wem jetzt?“
„Laura und Samira.“
„Wie kommst du auf einmal auf sie?“
„Sie sind schon die ganze Zeit da.“ Lotta tippte sich an die Schläfe, „in meinen Gedanken. Aber ich habe gewartet. Dass du sie ansprichst. Jetzt ist die letzte Möglichkeit gekommen. Und ich habe den Eindruck, dass du sie verstreichen hättest lassen.“
Er nickte: „Da hast du Recht.“
„Du willst sie nicht sehen.“ folgerte sie.
„Ich kann sie nicht mehr sehen.“ stellte er das richtig.
„Ist dein Auftrag so wichtig?“
„Das ist nicht der Grund.“
Lotta seufzte: „Was ist es dann?“
„Das wirst du erfahren.“ wich er ihr aus, „irgendwann. Nur so viel: Du hast sie erreicht. Auch wenn es gedauert hat. Jetzt sollten wir schlafen.“
„Brauchst du den Schlaf?“
„Nein.“
„Ich auch nicht.“
„Doch.“
„Ich kann morgen schlafen.“ erklärte sie, „den ganzen Tag. Denn morgen sind alle meine Aufgaben vorbei.“
Yannik griff nach ihren Händen: „Es werden weitere kommen.“
„Vielleicht. Aber erstmal werde ich keine annehmen.“
„Glaubst du, dass Gott dich lassen wird?“
„Wenn er fair ist.“
Er ließ sie wieder los: „Was willst du dann jetzt machen?“
„Das weißt du.“ flüsterte Lotta und Yannik wandte den Blick ab:
„Und du weißt, dass das nicht geht.“
„Nicht alles. Aber fast. Ich will das, was geht.“
„Bist du dir sicher, dass dich das glücklich macht?“
„Es macht mich nicht glücklich. Es macht mich traurig. Aber das soll es auch. Ich will traurig sein. Die ganze Nacht.“ Wie zur Bestätigung rann eine Träne an ihrer Wange herab. Die Yannik nicht übersah:
„Das tut dir nicht gut.“
„Nein. Es tut mir weh.“
„Ich verstehe dich nicht.“
Lotta biss sich auf die Lippen: „Es ist der Abschied. Den ich nie hatte. Es war einfach zu Ende – damals. Dieses Mal soll es nicht einfach zu Ende sein.
Dieses Mal soll das Ende so lange währen, wie es geht.“
„Das wünscht du dir.“
„Ist das ein schlechter Wunsch?“
„Ein seltsamer.“
Nun griff sie nach seinen Händen: „Erfüllst du ihn mir trotzdem?“
„Ich werde mir Mühe geben.“
„Das reicht mir.“
Er zog sie an sich heran: „Dann komm her.“
„Liebe Kinder meines Vaters. Hier in Deutschland, aber auch auf der ganzen Welt. Die Tragödie, die uns vor einigen Tagen ereilt hat, ruft in mir immer noch Trauer und Zorn hervor. Aber wir können nicht auf dem Boden liegenbleiben. Wir müssen wieder aufstehen und weitergehen. Der Sprecher der Regierung hat eben die Fakten zusammengefasst. Sie sind einfach und eindeutig: ein tragischer Unfall; eine Katastrophe, für die wir nichts können; menschliches Versagen außerhalb unseres Zugriffs. Aber das ist nicht alles. Es sind unsere Herzen. Sie sind gebrochen. Durch die Zerstörung. Mehr noch durch die Opfer. Aber sie sind nicht zerbrochen. Sie schlagen noch. Und sie können heilen. Ich will sie euch heilen. Doch ich kann nicht jeden Menschen einzeln anrühren. Also müssen wir uns alle gegenseitig heilen. Viele von uns haben geliebte Menschen verloren. Aber viele andere geliebte Menschen sind noch da. Heilt euch. Einer den anderen.
Und darüber hinaus brauchen wir Hoffnung. Hoffnung, dass es weitergeht.
Dass diese Tragödie nicht das Ende ist – dieses Landes, dieser Regierung.
Die Gebäude mögen nicht mehr stehen, aber eine Regierung ist nicht ein Gebäude – genau, wie meine Gemeinde kein Gebäude ist. Die Gemeinde sind Menschen – die Regierung auch. Sie kann dieses Land weiter führen.
Das muss sie. Damit wir merken, dass wir weitergehen können. Damit diejenigen, die sich dafür momentan zu schwach fühlen, mitgetragen werden können. Und sie muss das aus einer Position heraus tun, die Macht und Würde ausdrückt. Dieses Land muss zeigen, dass es nicht zerbrochen ist. Dass es geheilt werden kann. Dafür braucht sie Raum – dafür braucht sie Gebäude. Genau wie sich meine Gemeinde nicht auf einem freien Feld versammeln soll, soll sich unsere Regierung nicht in einem Trümmerhaufen versammeln. Berlin ist eine Stadt mit großer Geschichte – eine Stadt, die wie kaum eine andere auf dieser Welt für den Gedanken von Vereinigung steht.
Aber der Aufbau wird lange dauern und das Leben muss trotzdem weitergehen. Ich biete der Regierung daher die Hilfe der Stadt an, die ich bereits zu meiner Heimat gemacht habe. Hier steht alles zur Verfügung.
Von hier aus können die Geschäfte ohne Verzögerung weitergeführt werden. Auf Verwaltungsebene ist mir bereits Unterstützung zugesichert worden. Und auch ich will unterstützen. Viel zu lange habe ich mich darauf beschränkt, die Menschen dieser Welt nur auf einer geistlichen Ebene zu lenken. Es wird Zeit, dass ich mich in die Geschicke des Alltags mit einklinke. Euch Führung und Leitung gebe bei allen Herausforderungen.
Nicht alleine. Natürlich. Ich will keine politische Macht. Aber ich sehe – immer wieder – dass ich einen Beitrag leisten kann. Dass mein Wissen – mein ganzes Wesen – euch zum Guten dienen kann. Es gibt bestimmt einige unter euch, die sich jetzt fragen: ‚Warum redet er so? Er ist Gottes Sohn – er kann den ganzen Laden alleine schmeißen.‘ Aber ich dränge mich nicht auf.
Das ist mir wichtig. Ich bin nicht gekommen, euren freien Willen zu beschneiden. Das ist euer Planet – eure Verantwortung. Ich bin nicht gekommen, zu regieren, sondern zu dienen. Damals wie heute. Lasst mich euch dienen. Mit diesem Angebot. Und mit allem, was ich darüber hinaus noch geben kann. Im Namen meines Vaters – Amen.“
Die Tür öffnete sich und Z hielt sich gar nicht erst mit Höflichkeiten auf:
„Was ist nun mit der Aufnahme?“
„Sollen wir uns vielleicht hinsetzen?“ fragte die Frau, die dahinterstand, vorsichtig – und bekam ein Schnauben zurück:
„Ist mir egal.“
„Nun gut.“ Sie schritt demonstrativ ins Wohnzimmer und setzte sich,
„damit es dir besser geht: Ich habe eine Freundin. Die ich auch gestern im Fitness-Studio treffen wollte. Sie ist nicht gekommen.“
Z blieb stehen und blickte auf sie herab: „Komisch.“
„Warum sagst du das so?“
„Na – als ob da kein Zusammenhang bestehen würde.“
„Zwischen was denn, Z?“ Sie warf genervt die Arme in die Luft, „ich hab überhaupt keine Ahnung, worum es überhaupt geht. Sie hat dir das geschickt – das ist bescheuert, gebe ich zu. Aber...“
„Sie erpresst mich damit.“ zischte er sie an, „deine tolle Freundin.“
Sie wurde bleich: „Erpresst?“
„Sie wird es Becka geben. Schicken. Vorspielen. Was auch immer. Wenn ich nicht mache, was sie sagt.“
„Was sagt sie denn?“
„Bisher noch nichts.“ murmelte Z, „aber es wird bestimmt keine Einladung zum Eis sein, die sie will.“
„Ich bin sprachlos.“ Sie schluckte laut – und dann gleich nochmal, als Z scharf
„Das hoffe ich nicht.“ sagte:
„Bitte?“
Er wedelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum: „Ich warte immer noch auf die Erklärung.“
Fast eine Minute lang schwieg sie. Dann setzte sie an – stockend: „Ich war gefrustet. Weil du mich aus deinem Leben ausgesperrt hast und...“
„Das war deine eigene Schuld.“ fuhr er dazwischen und sie daraufhin auf:
„Aber gleich so drastisch? Das musste doch nicht sein. Ich kann verstehen, dass du sauer warst. Aber so? Das wollte ich nicht.“
„Also habt ihr euch einen feinen Plan ausgedacht.“
„Ganz und gar nicht.“ widersprach sie, „es gab nie einen Plan. Schon gar nicht so einen. Sie hat mir einfach nur gut zugeredet, dass ich mich mit dir aussprechen soll. In der Hoffnung, dass du wieder Teil meines Lebens wirst.“
Z lachte spöttisch auf: „Und dann hast du ganz zufällig dein Handy da liegen gehabt und...“
„Handy?“ wiederholte sie verwirrt.
„So hast du es doch aufgenommen.“
„Z. Zum tausendsten Mal: Ich habe das nicht aufgenommen. Das muss sie getan haben.“
„Ich kann mich nicht erinnern, sie an diesem Tag gesehen zu haben.“
Sie biss sich auf die Lippen: „Ich habe dich glaube ich ein wenig negativer dargestellt, als du das wirklich bist. Da hat sie sich Sorgen gemacht. Und meinte, sie würde ‚Backup‘ spielen. Sie hat nebenan gewartet. Mit dem Vorsatz: Wenn du dich nicht benimmst, kommt sie rein und hilft mir.“
„Als ob das jemals notwendig gewesen wäre.“ stieß Z hervor.
„Wäre es nicht. Das weiß ich. Aber ich habe das Angebot trotzdem angenommen. Aus einem ganz anderen Grund.“
„Der da wäre?“
„Ich weiß, wie stur du sein kannst. Also wusste ich, dass die Gefahr besteht, dass ich dich nicht friedlich stimmen kann. Und dann hinterher jemanden brauche, der mich tröstet.“ Sie setzte ein bedrücktes Gesicht auf, um ihre Worte zu unterstreichen. Dabei reichten die Worte schon aus, um Z ein wenig ruhiger werden zu lassen. Denn das konnte er durchaus nachvollziehen. Da er das allerdings nicht nach außen hin preisgab, fuhr sie fort: „Was ja nicht der Fall war. Es war alles friedlich. Nicht freundlich, aber gesittet. Und sie war hinterher weg. Ich habe sie sogar gehen hören.“
Z runzelte die Stirn: „Ich nicht.“
„Weil du nicht wusstest, dass sie da ist.“
„Wird wohl stimmen.“
„Ich wusste nichts davon.“ Sie hob eine Hand, „ehrlich. Bis sie Wochen später ankam und mir so einen Stick in die Hand gedrückt hat und meinte, dass mir damit zusätzlich geholfen wäre. Denn du bist an diesem Tag ja auch gegangen ohne Aussicht auf weiteren Kontakt. Da meinte sie, mir unter die Arme greifen zu müssen. Aber ich dachte, die Entscheidung liegt bei mir.“
„Und wann hättest du das getan?“ erkundigte er sich mit schiefem Blick.
„Z. Ich hoffe doch, du hast inzwischen gerafft, dass ich das niemals getan hätte.“
„Ja... schon...“ Er brach ab – noch nicht bereit, sich komplett verständnisvoll zu zeigen.
„Ich habe es mir nicht mal angehört. Ich habe den Stick weggepackt. Und hatte nicht vor, ihn wieder hervorzuholen.“
„Aber du hast ihn nicht vernichtet.“ setzte er an diesem Punkt an.
„Ich dachte, wenn sie das mitkriegt, ist sie sauer auf mich. Ich wollte ihr nicht sagen, wie doof ich das finde. Sie ist...“ Nun brach sie ab – was für Z nicht drin war:
„Sie ist?“
„Naja – sie kann ein wenig aufbrausend sein.“
„Das ist schade. Vor allem jetzt, wo du sie anrufst und versuchst, ihr diesen Spuk auszutreiben.“
„Das habe ich schon versucht. Gestern – direkt nach unserem Telefonat.
Und heute auch nochmal. Ich kriege nur ihre Mailbox.“
„Dann fahren wir zu ihr hin.“ Z wandte sich zur Tür – drehte sich aber direkt wieder zurück, als sie hinter ihm flüsterte:
„Ich weiß nicht, wo sie wohnt.“