Betty - Georges Simenon - E-Book

Betty E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

»›Ich habe Durst ...‹, murmelte sie. Jemand reichte ihr ein Glas, ihres oder ein anderes, das war nicht mehr wichtig.« Nichts ist mehr wichtig, Bettys Leben liegt in Scherben. Ihr Mann hat sie bei einem Seitensprung erwischt, sie aus dem großbürgerlichen Haus gejagt; ihre beiden Töchter darf Betty nichts mehr sehen. Drei Tage lässt sie sich von Bar zu Bar treiben, bis ihre selbstzerstörerische Odyssee im Le trou bei Mario endet, wo sie völlig zusammenbricht. In einem Hotel in Versailles wacht sie auf. Laure, die Geliebte von Mario, kümmert sich rührend um Betty, richtet sie wieder auf, hilft ihr, mit ihrer dunklen Vergangenheit ins Reine zu kommen. Aber wer ist Betty wirklich, was will sie vom Leben? Und welchen Preis muss sie, müssen die anderen dafür zahlen?

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Band 97

Georges Simenon

Betty

Roman

Mit einem Nachwort von Michael Köhlmeier

Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz

Kampa

1

»Würden Sie gerne etwas essen?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr schien, die Stimme, die sie hörte, habe keinen natürlichen Klang, als spräche einer hinter Glas.

»Verstehen Sie, wenn ich sage, etwas essen, dann heißt das Kaninchen, Sie können es ja hier bei allen sehen, heute ist Kaninchentag. Schade, falls Sie das nicht gerade lieben. Am Kabeljautag, da gibt es eben nur Kabeljau.«

Es war komisch, den Silben zu lauschen, die aufeinanderfolgten, sich verbanden, Wörter bildeten, Sätze, etwa so, wie Garn sich allmählich in Spitze verwandelt, Wolle in einen Strickstrumpf.

Das Bild vom Strickstrumpf, halbfertig an drei Nadeln baumelnd, machte sie lächeln. Sie kam unerwartet, diese Vorstellung von einem derart gewöhnlichen Gegenstand, hier, einem Mann gegenüber, der ganz offenbar wünschte, vornehm zu wirken, und der seine Sätze mit großer Sorgfalt konstruierte. Gekleidet war er in Grau. Er war ganz und gar grau: seine Augen, sein Haar, seine Haut, sogar Krawatte und Hemd. Man sah keinen einzigen Farbtupf. Und beim Zuhören dachte sie nicht einmal an einen grauen Strumpf, sondern an einen schwarzen, denn sie hatte noch nie beobachtet, dass jemand andere Strümpfe strickt als schwarze, vor langer Zeit, in der Vendée, damals war sie erst vierzehn. Und heute, da war sie achtundzwanzig …

»Es ist nur eine Frage der Gewohnheit.«

Fast hätte sie gefragt:

»Wieso Gewohnheit?«

Denn ihre Gedanken gingen in mehrere Richtungen zugleich. Sie sah keinen Zusammenhang zwischen dieser Gewohnheit und dem Wollstrumpf, hatte aber vergessen, dass der Strumpf ihrer eigenen Erinnerung entsprang, nicht der ihres Begleiters. Die Frage aber stand ihr sehr deutlich im Gesicht, denn der Mann sprach geduldig weiter und mit einem rührenden Eifer:

»Lieben oder nicht lieben.«

Lieben? Was? Sie hatte Kaninchen und Kabeljau vergessen. Ihr Blick traf sich abermals mit dem des amerikanischen Offiziers, drüben auf seinem Barhocker. Er starrte sie ausdauernd an, und sie fragte sich, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.

»Mittwoch ist Cassoulettag, besser gesagt, Cassouletnacht.«

Aus dem dünnen Lächeln ihres Gegenübers schloss sie, dass es ihm auf den feinen Unterschied ankam, und sie wollte ihn gern verstehen.

»Haben Sie darauf große Lust?«

Lust? Das Gespräch wurde immer komischer, und sie begriff inzwischen gar nichts mehr. Alles ging durcheinander. Na gut. Sie sagte feierlich:

»Ja.«

Sie wusste nicht genau, um was es sich drehte, doch unhöflich sein wollte sie auch nicht. Diesen übertrieben gut gekleideten Mann mit dem faszinierend scharfen Blick, sie kannte ihn nicht. Sie wusste nicht einmal seinen Namen. Trotzdem, sie war ihm näher als jemals irgendwem sonst, das war eindeutig, denn außer ihm gab es nichts mehr auf der Welt.

Das schien unglaublich, aber es war so. Dauern würde es, solang es eben dauerte, eine Stunde oder eine Nacht, oder auch länger. Und bei diesem Gedanken musste sie lächeln, und dies Lächeln war für einen Moment ohne jede Bitterkeit. Er war sehr höflich. Im Auto hatte er nicht versucht sie anzufassen, und er hatte keine einzige Frage gestellt.

Denn sie erinnerte sich an das Auto, an das weiche und kühle Leder der Sitze, an den Regen auf der Windschutzscheibe und den beschlagenen Seitenfenstern, wo sie gedankenlos mit der Fingerspitze zeichnete. Noch einmal sah sie die Stadtlichter, die sich in jedem Tropfen brachen, und die Scheinwerfer auf der Landstraße, später dann. Alles hätte sie bis in die kleinsten Einzelheiten erzählen können, wie vor dem Untersuchungsrichter oder beim Arzt, alles, was geschehen war, seit …

Seit wann? Zumindest seit der Bar in der Rue de Ponthieu. Noch weiter zurückgehen war allzu unangenehm, und sie wollte nicht daran denken. Man durfte nicht ruinieren, was so schwer zu erreichen war und noch schwerer festzuhalten: diesen Zustand eines wirklichen Gleichgewichts, oder genauer: eines vollkommenen Schwebens, in dem sie sich jetzt gerade befand, ein angenehmes Schweben, erholsam, beinahe heiter.

Nicht heiter im gewöhnlichen Wortsinn, natürlich nicht. Sie hatte keine Lust zu lachen, auch nicht zu tanzen oder Geschichten zu erzählen. Erregend war vielmehr, dass sie gar nichts wusste, nicht, was nachher kommen würde, weder heute Nacht noch morgen, noch in den folgenden Tagen, und dass sie sich nicht drum scherte.

Bevor sie in der Rue de Ponthieu aufbrachen, hätte sie ihren Begleiter bitten sollen, dass er einen Moment wartete, und hinuntergehen zum Waschraum, die Toilettenfrau hätte ihr sicher ein paar Seidenstrümpfe verkauft. Man bekommt dort fast immer welche.

Sie war nervös, denn an jedem Bein hatte sie eine Laufmasche. Zum ersten Mal im Leben hatte sie ihre Strümpfe ewig nicht gewechselt. Zwei Tage? Drei? Sie mochte nicht dran denken. Sie hatte auch kein Bad genommen, und das wäre ihr ziemlich bald sehr unangenehm. Gab es dort gleich eine Badewanne und ließ er ihr genug Zeit?

Sie sah Gesichter, sehr nah oder sehr fern, Haare, Augen, Nasen, Münder, die sich bewegten, und sie hörte Stimmen, die nicht immer aus diesen Mündern kamen. Sie wollte Klarheit über diesen Ort hier, an dem sie sich befand, doch ohne Erfolg, und gedankenlos griff sie nach ihrem Whiskyglas.

»Auf Ihr Wohl!«

Da war eine blonde Frau, eine Bardame, hinter dem Tresen, mit so großem Busen, wie sie selbst als junges Mädchen sich einen gewünscht hatte. Da war ein Schwarzer mit weißer Kappe, der lächelnd mal in der einen, mal in der andren Tür auftauchte und den offenbar alle Welt kannte. Da war der amerikanische Offizier, auf den Tresen gestützt, sein Glas ständig in der Hand, und er betrachtete sie noch immer.

Ein paar Leute aßen, andere hatte nur etwas zu trinken, manche in Gruppen, andere waren allein und starrten schweigend vor sich hin.

»Ist Ihnen noch nie der Gedanke gekommen, dass wir genau darum voll sind mit Tieren?«

Sie war betrunken, das war ihr klar. Sie war schon lange betrunken, aber im Augenblick ging es ihr damit ziemlich gut. Sie fühlte sich nicht krank, musste sich nicht erbrechen, nicht weinen. War ihr Begleiter auch betrunken? Hatte er vorher schon getrunken, vor ihrer Begegnung im Ponthieu?

Er war einfach hereingekommen, von der finsteren Straße, Regentropfen auf seinem Tweedanzug. Auch dort war er Stammgast, das merkte sie an der Art, wie er sich umschaute und den Barmann grüßte, mit einem Wink.

Sie saß auf einem Hocker, und er hatte sie gefragt, ob er sich auf den Hocker daneben setzen dürfe.

»Ja, selbstverständlich.«

Seine Hände waren lang und weiß, sehr trocken, und die ganze Zeit über spielte er mit ihnen, als wären es fremde Gegenstände.

Auch er wusste nicht, woher sie kam oder was sie vorher getrunken hatte. Vielleicht hatte er die Laufmaschen gar nicht bemerkt? Jedenfalls konnte er nicht ahnen, dass sie nicht gebadet, sich nicht einmal hatte waschen können, nach dem Mann vom Nachmittag.

Sie waren nicht mehr in der Rue de Ponthieu. Sie wusste nicht, wo sie sich jetzt befanden. Sie hatte nur die Avenue de Versailles wiedererkannt, denn dort hatte sie kurz das Haus ihrer Mutter erblickt, dann hatten sie die Landstraße genommen, waren nach rechts abgebogen, in einen schlammigen Weg. Beim Aussteigen atmete sie den Geruch von feuchtem Laub, sprang über eine Pfütze. Auch jetzt noch spürte sie das Wasser im linken Schuh.

Sie waren in einem Restaurant, denn hier wurde gegessen. Es gab auch eine Bar. Gedämpft tönte aus einer Jukebox Musik, der niemand zuhörte. Dennoch hatte sie den Eindruck, es handle sich nicht um ein Lokal wie jedes andre, und auch, dass alle sie anschauten.

All diese Leute, auch der amerikanische Offizier, wirkten wie Bekannte, ganz besonders, wenn sie nicht miteinander sprachen, und der Patron ging von Tisch zu Tisch, setzte sich einen Augenblick, und auch er ließ sie nicht aus den Augen. Sie war gut frisiert. Sie hatte auch keinen schwarzen Fleck auf der Nase. Ihr Kostüm war durchaus dezent. Natürlich, die Strümpfe, aber das passiert jeder Frau.

Vielleicht hätte er sie vorstellen müssen, damit man sie hier aufnahm. Oder musste sie eine Prüfung bestehen?

»Wie geht’s, Doktor?«

Der Patron, ohne sich zu setzen, wandte sich an ihren Begleiter, der zwinkerte nur zurück, gab keine richtige Antwort, dann schaute er wieder auf seine Hände, die flach auf dem Tisch lagen, und kratzte sorgfältig die Haut zwischen zwei Fingern.

»Sie hören mir nicht zu …«

Sie war es, zu der er sprach, der Patron war schon weitergegangen.

»Doch, ganz sicher, ich höre zu.«

»Und was habe ich gesagt?«

»Dass, wenn man Tiere isst …«

Er starrte sie an, und sie fragte sich, ob das wohl die richtige Antwort war. Sie musste ihn gekränkt haben, denn er erhob sich mit einem Murmeln:

»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.«

Er ging mit kräftigen Schritten zu einer der Türen. Der Patron nutzte den Augenblick, kam heran und griff nach den zwei leeren Gläsern.

»Dasselbe?«

Auch ihn, schien ihr, auch ihn hatte sie schon gesehen. Das war eine Manie heute Nacht. Nicht nur bei den Personen, auch bei den Gegenständen. Alles erinnerte sie an etwas. Aber wann? Und wo?

»Sind Sie zum ersten Mal im Trou?«

»Ja.«

Sie wusste nicht, dass dieses Lokal Le Trou hieß, und sie fragte sich, ob es nicht ein Witz war oder eine Falle, ob sie nicht einen Fehler gemacht hatte mit ihrer ernsthaften Antwort.

»Kennen Sie ihn schon lange, den Doktor?«

»Nein.«

»Möchten Sie nichts essen?«

»Nein, danke. Ich habe keinen Hunger.«

»Fühlen Sie sich wie zu Hause. Hier sind die Leute bei sich zu Hause.«

Sie lächelte zum Dank, dass er sie angesprochen hatte, und trank, um Haltung bemüht, die Hälfte ihres Glases, öffnete die Handtasche und begann sich zu pudern. Ihr Gesicht war gedunsen. Sie schaute lieber nicht in den kleinen Spiegel, der ihr zugleich eine sehr brünette und vor allem sehr große Frau zeigte, die genau hinter ihr saß.

»Wenn Sie uns erst mal besser kennen, dann kommen Sie ganz bestimmt öfter her.«

Ihr Begleiter nahm jetzt wieder mit einem seltsam verschlossenen Ausdruck gegenüber Platz.

»Ich bitte um Entschuldigung, ich habe Sie lange allein gelassen.«

Erfolglos versuchte sie zu verstehen, was hinter ihr gesprochen wurde, war aber sicher, es war von ihr selbst die Rede. Nun erhob sie sich ihrerseits und murmelte:

»Erlauben Sie?«

Auf dem Weg zum Waschraum stand sie dem Schwarzen gegenüber, der sie mit einem breiten, lautlosen Lachen ansah, als wäre es ein komisches Abenteuer, sie plötzlich hier zu treffen, in diesem engen Gang. Er tat ihr jedoch nichts, verschwand mit noch breiterem Lachen, und sie erblickte eine schmutzige Küche, in schrecklicher Unordnung. Eine Tür, die nicht richtig schloss, trennte sie von den Toiletten, und dort öffnete sich eine Luke hinaus aufs Land.

Sie wurde langsam unruhig, ohne richtigen Grund, vielleicht bekam sie auch ein wenig Angst. Es war Zeit für noch ein Glas, so blieb sie an der Oberfläche und versank nicht in Furcht oder Traurigkeit.

Als sie zurückkam in den Gastraum und noch bevor sie wieder saß, kippte sie den Rest ihres Whiskys.

»Ich habe Durst!«, seufzte sie.

Ihr Begleiter rief:

»Joseph! Bringen Sie Madame noch etwas zu trinken!«

»Dasselbe?«

Sie sagte ja.

»Auch für Sie, Doktor?«

»Ja, bitte.«

Wieder wünschte sie, es möge schnell gehen, wünschte, irgendwo zu liegen, allein oder nicht, ganz gleich wo, die Augen zu schließen. Die Musik, das Stimmengewirr machten sie müde. Sie hatte genug vom Anblick dieser Köpfe, der Augen, die sie anstarrten, als wäre sie ein Gespenst oder ein Eindringling.

»Warum kratzen Sie sich?«

Tatsächlich, sie war den Fragen immer hinterher.

»Ich?«, fragte sie nach einer Pause, die ihr sehr lang vorkam.

Vielleicht hatte sie sich den Handrücken gekratzt. Sie hatte es nicht bemerkt. Jetzt ergriff der Mann diese Hand mit unterdrückter Gier, und sein Gesicht strahlte plötzlich in kindlicher Freude.

»Hier ist es, oder?«

Er zeigte auf einen unsichtbaren Punkt.

»Ja … Ich glaube …«

»Unter der Haut?«

Er machte ihr plötzlich Angst, und damit er sich nicht aufregte, antwortete sie immer mit Ja.

»Kriecht er?«

»Wer kriecht?«

»Krabbelt er unter der Oberfläche oder tiefer? Das ist sehr wichtig, denn sie haben alle unterschiedliche Eigenschaften. Ich kenne welche, die …«

»Von was reden Sie?«

»Von Würmern.«

»Was für Würmer?«

»Ach so, Sie wissen das gar nicht, Sie haben Würmer unter der Haut, alle möglichen Würmer, winzige und riesige, dicke und dünne, zapplige und friedliche. Sie haben ganz sicher auch noch andere kleine Tierchen, noch viel, viel zartere, ich werde sie Ihnen zeigen und ihre Eigenschaften erklären.«

Ganz nah sah sie das schmale und farblose Gesicht, das graue, sorgfältig gekämmte Haar, die fast ebenso grauen Augen, und plötzlich begriff sie, irgendetwas stimmte hier nicht. Sie wollte ihre Hand zurückziehen; sie versuchte es, doch er hielt sie fest.

»Sie werden sehen, ich nehme sie mir vor, diese Viecher, die uns so teuflisch quälen …«

Mit seiner freien Hand holte er aus der Tasche einen sehr scharf geschliffenen goldenen Zahnstocher.

»Keine Angst. Ich habe Übung.«

Eine Stimme sagte deutlich:

»Sie lassen sie jetzt in Ruhe, Doktor.«

Er versuchte dennoch, ihre Haut zu ritzen.

»Ich sage noch einmal, Sie lassen sie jetzt in Ruhe.«

»Ich entferne nur einen kleinen Wurm, der macht ihr Schmerzen und …«

Der Patron kam noch einen Schritt heran, legte dem Doktor fast freundschaftlich seine Hand auf die Schulter.

»Kommen Sie einen Augenblick mit.«

»Gleich. Sie hat mich gebeten …«

»Kommen Sie.«

»Warum?«

»Nur ein Wort unter uns.«

Der graue Mann hob den Blick, zögerte.

»Hast du Angst, dass ich ihr wehtue? Du vergisst, ich habe …«

Sein Lächeln war bitter, resigniert. Er war immerhin groß, der Patron klein und stämmig. Eine Sekunde später stand er auf, den Zahnstocher in der Hand, gedemütigt, und ließ sich wegschieben zur Hintertür.

Betty betrachtete ihre Hände, ängstlich, verstört, leerte ihr Glas und gleich darauf, nach einem Schulterzucken, das ihres Begleiters. Sie wusste noch immer nicht, wer das war. Sie wusste gar nichts. Sie wusste gar nichts mehr und merkte, langsam durchrieselte sie Panik. Der amerikanische Offizier an der Bar beobachtete sie ohne ein Lächeln, bedrohlich.

»Garçon!«

»Ja, Madame?«

»Etwas zu trinken.«

Er fragte nicht mehr, ob sie dasselbe wollte. Sie hatte es eilig. Je schneller, desto besser. Die Bilder verschwammen. Irgendwo waren rote Haare, zum Beispiel, und die konnten ganz dicht bei ihr sein oder auch hinten im Raum, und sie wusste nicht, gehörten sie zu einer Frau oder einem Mann. Sie musste sich anstrengen und die Augen scharf stellen, und nun erblickte sie starre, gleichgültige Gesichter, womöglich von Wachsfiguren.

Alle waren auf sie böse, und sie vermochte nicht herauszufinden, warum.

Sicher hatte sie einen Fehler gemacht, die Regeln des Lokals verletzt. Wie hätte sie es anders machen sollen, da sie die Regeln nun mal nicht kannte? Warum erklärte sie ihr niemand?

Mit dem Trinken jedenfalls erregte sie hier keinen Anstoß. Der Patron war der Beweis, denn beim ersten Mal hatte er Joseph selbst gerufen, und andere tranken ebenso viel wie sie, wenn nicht gar mehr. Eine junge Frau mit farblosem Haar und bleichem Gesicht saß, den Kopf zurückgelehnt, in einer Ecke auf der Bank, und ihr Begleiter, der ihr verliebt die Hand hielt, machte sich offenbar keine Sorgen.

Was würde passieren, wenn Betty jetzt schrie? Sie war nahe daran, nur um zu sehen, was geschah, nur damit sich etwas bewegte, damit sich endlich jemand um sie kümmerte und man sie nicht nur anstarrte.

Und wenn sie ihnen einfach alles gestand, was sie getan hatte seit drei Tagen? Bekämen diese Gesichter dann einen menschlichen Ausdruck? Gäbe es dann Mitleid oder wenigstens ein bisschen Interesse in diesen Fischaugen?

Mit zittrigen Fingern kramte sie in der Handtasche.

»Garçon!«

»Ja, Madame, dasselbe?«

Noch ein Beweis, es lag nicht am Trinken.

»Haben Sie Zigaretten?«

»Einen Moment.«

Man hörte einen Motor, draußen, ein Auto, das sich entfernte, das nur mit Mühe vorwärtskam im Schlamm.

»Mario bringt ihn nach Haus.«

Betty merkte nicht sofort, dass die Worte sich an sie selbst richteten, denn jemand hinter ihr hatte sie gesagt. Fast zugleich sah sie eine Frauenhand, und die reichte ihr eine Zigarette.

Sie drehte sich halb um. Die große Brünette, eine weiße Strähne im Haar, stand da, klopfte auf den Stuhl, wo der Doktor gesessen hatte, und fragte:

»Erlauben Sie?«

Ihre Stimme war rau, um den Hals trug sie graue Perlen. Vielleicht war der letzte Whisky einer zu viel, die Bilder nämlich wurden immer undeutlicher, wie schon am Nachmittag im Zimmer, noch bevor sich der Mann wieder anzog. Sie hatte nicht gesehen, wie er wegging. Er hätte ihre Handtasche mitnehmen können, ihre Kleider. Er hätte sie erwürgen können, und sie wäre nicht imstande gewesen, ihn zu beschreiben. Natürlich nicht, hätte er sie erwürgt. Aber …

Alles drehte sich. Die Töne verschwammen. Ihr Körper auf dem Stuhl begann jetzt zu schwanken, und sie verlor fast die Kontrolle. Würde es noch ein klein bisschen stärker, dann fiel sie auf den Boden, zwischen die Füße und Zigarettenkippen. Verdammt schmutzig wäre sie dann!

»Hat er Ihnen Angst gemacht?«

Wer? Warum? Es war, als hätte sie ihn schon vergessen, den Mann in Grau.

»Ist ein charmanter Junge, sogar ein ganz besondrer Mann.«

Die Frau hatte ihr Glas mitgebracht.

»Auf Ihr Wohl.«

»Auf Ihrs.«

»Hoffentlich haben Sie’s gemerkt, er nimmt Drogen? Als er Sie kurz allein gelassen hat, vorhin, das war für eine Spritze, und nicht das erste Mal heute Abend. Kennen Sie ihn?«

»Nein.«

»Er heißt Bernard. Er war Arzt in Versailles.«

Arzt in Versailles. Noch hörte sie zu, noch begriff sie den Sinn der Worte. Was sie nicht verstand, das war die Beziehung, in der all diese Worte zu ihr selbst stehen mochten. Warum sagte die Frau ihr das, so ernsthaft, als wäre es bedeutsam oder dramatisch? Sie hatte sicher die Laufmaschen an ihren Strümpfen entdeckt. Vielleicht war ihr auch aufgefallen, dass sie nicht sehr sauber war unter der Schminke.

Sie hatte schöne braune Eichhörnchenaugen, und ihre tiefe, heisere Stimme hatte etwas Beruhigendes.

Betty versuchte die Augen zu schließen und sich zu konzentrieren, musste sie aber gleich wieder öffnen, denn plötzlich drehte sich alles.

»Ich habe Durst …«, murmelte sie.

Jemand reichte ihr ein Glas, ihres oder ein anderes, das war nicht wichtig.

»Haben Sie gegessen?«

»Ich glaube, ja.«

»Haben Sie keinen Hunger?«

»Nein.«

»Wollen Sie etwas an die frische Luft?«

»Nein.«

Sie konnte nicht, denn sie war unfähig zu gehen. Beim Versuch aufzustehen würde sie ganz sicher umfallen. Sie würde sowieso umfallen, nachher, früher oder später, aber lieber war es ihr, wenn es nicht bei vollem Bewusstsein geschah.

Ganz gleich, wo sie aufwachte, im Krankenhaus oder sonst wo. Und es wäre noch viel besser für alle, wenn sie gar nicht mehr aufwachte. Das dachte sie, tatsächlich. Sie war nicht traurig. Traurigkeit, die hatte sie schon lange hinter sich.

»Bei Alan hat es ganz schön gefunkt. Seit Sie reingekommen sind, hat er nur noch Augen für Sie, und ohne dass er’s merkt, ist er bei seinem achten Scotch.«

Betty zwang sich zu lächeln, hörte zu wie eine wohlerzogene Person.

»Ich höre Mario, er kommt zurück.«

Auch sie hörte das Auto, dann das Zuschlagen einer Wagentür, das Prasseln des Regens für den kurzen Moment, als jemand hereinkam. In welchem Auto … Da war ein Problem. Wenn Mario das Auto des Doktors genommen hatte …

»Ging’s, hast du ihn ins Bett geschafft?«

»Seine Frau hat mir geholfen.«

»Hat er sich nicht gewehrt?«

»Er zählt Kaninchen, sein ganzes Zimmer ist voll damit.«

Sie merkte schon, die beiden verständigten sich mit Blicken, von ihr war die Rede, die brünette Frau zuckte leicht die Achseln, als wollte sie sagen, so schlimm ist es auch wieder nicht. Es war ihr egal, und sie gab sich keine Mühe zu verstehen, was die beiden sich da ausdachten.

Sie wiederholte einfach so:

»Kaninchen …«

Und weil das klang wie eine Frage, bekam sie eine Antwort:

»Wenn er in dem Zustand ist, dann sieht er um sich herum alle möglichen Tiere, und dazu noch die kleinen Viecher, die ihm unter der Haut rumkrabbeln und die er unbedingt rausholen will mit seinem Zahnstocher. Als er noch eine Praxis hatte, gegen Ende, da hat er allen Patienten erklärt, dass ihre ganzen Krankheiten nur von diesen unsichtbaren Tierchen kommen, und er könnte sie von denen befreien …«

Wer? Was? Befreien wovon? Jetzt war es zu spät. Ein Glas, vielleicht nur ein Schluck weniger, und sie wäre jetzt immer noch in der Euphorie von vorhin.

Es tat ihr weh! Nirgends! Überall! Sie war schmutzig. Sie war jämmerlich. Und sie hatte niemanden, niemanden auf der Welt. Sie hatte unterschrieben. Hatte die beiden hergegeben. Nicht hergegeben, nein: verkauft, denn sie hatte den Scheck akzeptiert. Ein Schriftstück, ordnungsgemäß ausgestellt, und diktiert hatte die Worte der Notar am Telefon.

Ich, die Unterzeichnete, Élisabeth Étamble …

Sie hatte noch einmal anfangen müssen, auf einem anderen Blatt, denn geschrieben hatte sie zunächst Betty.

Ich, die Unterzeichnete, Élisabeth Étamble, geborene Fayet, 28