Maigret in New York - Georges Simenon - E-Book

Maigret in New York E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Seit einem Jahr ist Maigret im Ruhestand. In seinem Häuschen in Meung-sur-Loire duftet es nach Madame Maigrets köstlichen Ragouts und im Garten nach reifem Obst. Nichts fehlt ihm zu seinem Glück. Da wendet sich ein amerikanischer Millionärssohn an ihn: Sein Vater werde bedroht, er brauche Maigrets Hilfe. Der muss nicht lange überlegen und besteigt mit dem jungen Mann ein Schiff nach New York. Kaum von Bord, verschwindet sein Auftraggeber spurlos. Maigret macht sich dennoch an die Arbeit, durchstreift die Bronx, das Greenwich Village. Mit dem American way of life allerdings kommt er gar nicht zurecht. Immerhin erhält er Unterstützung von seinem alten Freund O'Brien vom FBI und einem Privatdetektiv.

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Der 27. Fall

Georges Simenon

Maigret in New York

Roman

Kampa

1

Das Schiff hatte die Quarantänezone gegen vier Uhr morgens erreicht. Die meisten Passagiere schliefen noch. Einige waren vom Lärm des Ankerns zwar aufgewacht, aber nur wenige mochten sich an Deck begeben, um die Lichter von New York zu bewundern, wie sie es sich vorgenommen hatten.

Die letzten Stunden der Überfahrt waren die schlimmsten gewesen. Noch jetzt in der Bucht, nicht weit entfernt von der Freiheitsstatue, wurde das Schiff von starkem Seegang immer wieder angehoben Es regnete. Vielmehr, es nieselte. Eine feuchte Kälte legte sich auf alles, ließ die Decks dunkel und glatt werden, lackierte die Reling und Schotten.

Als die Maschinen abgestellt worden waren, hatte Maigret seinen dicken Mantel über den Pyjama gestreift und war an Deck gestiegen. Er sah einige Gestalten mit großen, schwankenden Schritten hin und her laufen. Durch das Stampfen des Schiffes wirkte es, als wären sie mal weit über, mal tief unter ihm.

Maigret hatte seine Pfeife geraucht, die Lichter der Stadt betrachtet und die von kleineren Schiffen in der Nähe, die auf die Beamten der Zoll- und Gesundheitsbehörden warteten.

Jean Maura hatte er noch nicht gesehen. In seiner Kabine war Licht zu sehen gewesen, und beinahe hätte Maigret bei ihm angeklopft. Aber wozu? Er war in seine Kabine zurückgekehrt, um sich zu rasieren. Er hatte – daran erinnerte er sich, wie man sich an unbedeutende Einzelheiten erinnert – aus der Flasche, die seine Frau ihm zwischen seine Sachen gepackt hatte, einen Schluck Marc genommen.

Was war dann geschehen? Es war seine erste Überfahrt, mit sechsundfünfzig Jahren, und ihn wunderte selbst, wie wenig neugierig er war, wie wenig empfänglich für die malerische Szenerie.

Es kam Leben ins Schiff. Man hörte die Stewards, die das Gepäck über die Gänge zogen, und nach und nach das Klingeln der Passagiere.

Als er fertig war, stieg er wieder an Deck. Inzwischen war der nebelartige Sprühregen milchig geworden, die Lichter der Betonpyramide, als die Manhattan ihm erschien, verblassten.

»Sie sind mir doch nicht böse, Herr Kommissar?«

Er hatte den jungen Maura nicht bemerkt. Er sah bleich und müde aus, wie alle Passagiere an diesem Morgen.

»Weshalb sollte ich Ihnen böse sein?«

»Sie wissen ja, Herr Kommissar … Ich war so nervös, so angespannt. Und als die anderen mich auf ein Glas einluden …«

Die meisten hatten zu viel getrunken. Es war der letzte Abend. Die Bar sollte geschlossen werden, und die Amerikaner konnten sich nur schwer von den französischen Likören trennen.

Allerdings war Jean Maura erst knapp neunzehn Jahre alt. Er hatte eine lange Phase nervöser Anspannung hinter sich und war schnell sturzbetrunken. Abwechselnd weinte er und gab Drohungen von sich, es war unerfreulich.

Schließlich brachte Maigret ihn gegen zwei Uhr morgens ins Bett. Er hatte ihn förmlich mit Gewalt in die Kabine ziehen müssen, wo der Junge protestiert und ihn angebrüllt hatte:

»Bloß weil Sie der berühmte Kommissar Maigret sind, dürfen Sie mich noch lange nicht wie ein kleines Kind behandeln! Nur einer auf der Welt, ein Einziger, verstehen Sie, hat das Recht, mir etwas zu befehlen, und das ist mein Vater!«

Jetzt war ihm übel und elend zumute, er schämte sich, und es war an Maigret, ihn wieder aufzurichten. Er legte ihm seine schwere Pranke auf die Schulter und sagte:

»Das ist mir auch passiert, mein Lieber, und zwar früher als Ihnen.«

»Ich war gemein und ungerecht. Ich musste immer an meinen Vater denken.«

»Natürlich.«

»Ich freue mich so sehr darauf, ihn wiederzusehen und zu erfahren, dass ihm nichts geschehen ist.«

Maigret rauchte im Nieselregen seine Pfeife und beobachtete ein näherkommendes graues Boot. Während es von den Wellen hoch- und niedergeworfen wurde, manövrierte es geschickt an das Fallreep heran. Wie Trapezkünstler kletterten Beamte an Bord des Dampfers und verschwanden in der Kabine des Kapitäns.

Die Laderäume wurden geöffnet, die Spills arbeiteten bereits. Auf Deck versammelten sich immer mehr Passagiere. Einige versuchten trotz des Dämmerlichts zu fotografieren. Andere tauschten Adressen aus, versprachen zu schreiben und sich wiederzusehen. Manche saßen in den Salons und füllten ihre Zollerklärungen aus.

Die Zollbeamten gingen von Bord, das Boot entfernte sich. Dann näherten sich zwei Schnellboote mit Beamten der Polizei, der Gesundheits- und der Einwanderungsbehörde. Gleichzeitig wurde im Speisesaal das Frühstück serviert.

Zu welchem Zeitpunkt verlor Maigret Jean Maura aus den Augen? Es machte ihm hinterher die größte Mühe, den Moment festzumachen. Er hatte eine Tasse Kaffee getrunken und dann Trinkgelder verteilt. Unbekannte Menschen hatten ihm die Hand geschüttelt. Dann hatte er in der Schlange gewartet, bis ihm im Salon ein Arzt den Arm abtastete und seine Zunge ansah, während andere Beamte seine Papiere überprüften.

Auf Deck gab es Aufruhr und Gedränge. Es waren Journalisten an Bord gekommen, um Fotos von einem europäischen Minister und einem Filmstar zu schießen.

Eine kleine Begebenheit amüsierte ihn. Er meinte zu verstehen (denn Maigrets Englisch stammte noch aus Schulzeiten), wie einer der Zeitungsleute, der mit dem Schiffskommissar die Passagierlisten durchsah, sagte:

»Ach, hier heißt ja einer so wie der berühmte Kriminalkommissar.«

Wo war Maura in diesem Augenblick? Zwei Schlepper zogen das Schiff. Es näherte sich der Freiheitsstatue, von den Passagieren an der Reling bewundert. Unentwegt fuhren kleine braune Boote, zum Bersten voll wie die Metro, am Dampfer vorbei: Pendler aus Hoboken oder Jersey City auf dem Weg zur Arbeit.

»Würden Sie bitte hier herüberkommen, Monsieur Maigret?«

Das Schiff legte am Quai der French Line an. Im Gänsemarsch gingen die Passagiere von Bord, etwas besorgt, ob sie ihr Gepäck wohl in der Zollhalle wiederfinden würden.

Wo war Jean Maura? Er suchte ihn. Dann musste auch er hinunter, denn wieder wurde sein Name aufgerufen. Er sagte sich, er würde den jungen Mann unten beim Gepäck treffen, zumal sie beide die gleichen Initialen hatten.

Es lag nichts Dramatisches in der Luft, keine Unruhe. Maigret fühlte sich nur gerädert von der anstrengenden Überfahrt. Es war vielleicht ein Fehler gewesen, sein Haus in Meung-sur-Loire zu verlassen.

Ihm war überdeutlich, dass er nicht hierhergehörte. In solchen Momenten wurde er mürrisch. Und da ihm vor den Menschenmengen und den Formalitäten graute und da er Mühe hatte zu verstehen, was man ihm auf Englisch sagte, wurde seine Laune immer schlechter.

Wo war Maura? Er wurde nach seinen Schlüsseln gefragt, die er wie gewöhnlich in allen Taschen suchte, um sie schließlich genau da zu finden, wo sie sein mussten. Er hatte nichts zu verzollen und musste trotzdem all die kleinen Päckchen öffnen, die Madame Maigret sorgfältig verschnürt hatte. Sie war noch nie in die Lage gekommen, den Zoll passieren zu müssen.

Als er endlich abgefertigt war, wandte er sich an den Schiffskommissar:

»Haben Sie den jungen Maura gesehen?«

»An Bord ist er nicht mehr, und hier offenbar auch nicht. Soll ich mich nach ihm erkundigen?«

Es war trubelig wie in einer Bahnhofshalle, wo einem die Träger das Gepäck gegen die Beine schlugen. Er hielt überall Ausschau nach Maura.

»Er muss schon gegangen sein, Monsieur Maigret. Vielleicht wurde er abgeholt?«

Wer sollte ihn abgeholt haben, da doch niemand von seiner Ankunft wusste?

Er musste dem Träger folgen, der sich seines Gepäcks bemächtigt hatte. Er kannte sich mit dem Kleingeld nicht aus, das ihm der Barmann herausgegeben hatte, und wusste nicht, wie viel Trinkgeld er geben sollte. Schließlich schob man ihn regelrecht hinein in ein gelbes Taxi.

»Zum Hotel St. Regis«, wiederholte er vier- oder fünfmal, bis er verstanden wurde.

Die Sache war vollkommen idiotisch! Er hätte sich von diesem Jungen nicht beeindrucken lassen sollen. Schließlich war er genau das, ein Junge! Und was den anderen betraf, diesen Monsieur d’Hoquélus, so fragte sich Maigret, ob er seriöser war als der junge Mann.

Es regnete. Der Wagen fuhr durch ein dreckiges Viertel mit Häusern von abstoßender Hässlichkeit. Das war New York?

Vor zehn, nein, vor genau neun Tagen hatte Maigret noch auf seinem Stammplatz im Café Cheval-Blanc in Meung gesessen. Da hatte es übrigens auch geregnet. Es kann an den Ufern der Loire wie in Amerika regnen. Maigret spielte Belote. Es war fünf Uhr nachmittags.

War er nicht schließlich im Ruhestand? Er genoss seine Freiheit, mochte das Häuschen, das er liebevoll eingerichtet hatte. Ein Haus auf dem Land. Davon hatte er sein Leben lang geträumt. Es roch nach reifem Obst, nach frischem Heu und Bohnerwachs und manchmal nach einem Ragout, das auf dem Herd köchelte – und Madame Maigret kochte göttliche Ragouts!

Manchmal fragten irgendwelche Idioten mit einem Lächeln, das ihn wütend machte:

»Sehnen Sie sich nicht zurück, Monsieur Maigret?«

Wonach denn? Nach den eisigen Fluren im Polizeikommissariat vielleicht? Den endlosen Ermittlungen? Den Tagen und Nächten, die er mit der Jagd nach irgendeinem Schurken verbracht hatte?

Nein, wirklich nicht. Er war glücklich. Er las nicht einmal die Rubrik Vermischtes oder die Polizeiberichte in der Zeitung. Und wenn Lucas, der fünfzehn Jahre lang sein Lieblingsinspektor gewesen war, ihn besuchte, dann wurde »das Haus« am Quai des Orfèvres mit keinem Wort erwähnt.

Er spielt also seine Partie und meldet eine Terz in der Trumpffarbe. Der Kellner kommt und sagt, Maigret werde am Telefon verlangt. Er geht hin mit seinen Karten in der Hand.

»Bist du’s, Maigret?«

Seine Frau. Sie nennt ihn immer beim Nachnamen.

»Hier ist ein Monsieur aus Paris. Er möchte dich sprechen.«

Natürlich geht er nach Hause. Davor steht ein altmodischer, glänzend polierter Wagen, mit livriertem Chauffeur am Steuer. Maigret wirft einen Blick in den Fond und meint, einen älteren, in eine Decke gehüllten Herrn zu erkennen.

Wie immer in solchen Fällen erwartet ihn seine Frau schon an der Tür. Sie flüstert ihm zu:

»Ein junger Mann. Er sitzt im Wohnzimmer. Im Auto wartet ein älterer Herr, vielleicht sein Vater. Ich sagte, er soll ihn hereinbitten, aber er meint, das ist nicht nötig.«

So dumm ist man – eben noch spielt man friedlich Karten, und schon lässt man sich nach Amerika einschiffen!

Immer die gleiche Leier am Anfang, die gleiche Nervosität, die unruhigen Hände, die schnellen Blicke aus dem Augenwinkel.

»Ich kenne fast alle Ihre Ermittlungen … ich weiß, Sie sind der Einzige, der …«, und so weiter und so weiter.

Die Menschen gehen immer davon aus, dass ihre eigene tragische Geschichte ganz außergewöhnlich ist.

»Ich bin ja noch jung. Vielleicht lachen Sie mich aus.«

Und die Leute nehmen an, man mache sich über sie lustig, weil niemand ihren so außergewöhnlichen Fall verstehen könne.

»Mein Name ist Jean Maura. Ich studiere Jura. Mein Vater ist John Maura.«

Na und? Der Junge spricht den Namen aus, als müsste die ganze Welt ihn kennen.

»John Maura, New York.«

Maigret grummelt etwas und raucht seine Pfeife.

»Es wird oft in der Zeitung über ihn berichtet. Er ist sehr reich und sehr bekannt in Amerika. Verzeihen Sie, dass ich es sage, aber es ist nötig, damit Sie verstehen …«

Und dann erzählt er seine komplizierte Geschichte, die seinen Zuhörer ermüdet und nicht im Geringsten interessiert. Maigret denkt an sein Kartenspiel und schenkt sich mechanisch einen Cognac ein. Madame Maigret geht in der Küche hin und her. Die Katze reibt sich an seinen Beinen. Durch den Vorhang sieht es so aus, als machte der alte Herr hinten im Auto ein Nickerchen.

»Wissen Sie, das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir ist ein ganz besonderes, nicht wie bei anderen. Er hat nur mich auf der Welt, nur ich zähle für ihn. Obwohl er sehr viel zu tun hat, schreibt er mir jede Woche einen langen Brief. In der Ferienzeit verbringen wir immer einige Monate zusammen in Italien oder Griechenland, Ägypten oder Indien. Ich habe Ihnen seine letzten Briefe mitgebracht. Sie sind getippt, aber denken Sie nicht, er hätte sie diktiert! Mein Vater pflegt seine privaten Briefe selbst auf einer Reiseschreibmaschine zu schreiben.«

»Mein Liebster …«

Der Ton klingt fast, als wären die Briefe an eine Geliebte gerichtet. Den Papa in Amerika beschäftigt alles: die Gesundheit seines Sohnes, sein Schlaf, seine Träume, seine Stimmung, seine Ausgänge. Er freut sich auf die kommenden Ferien. Wohin sollen sie diesmal reisen?

Sehr zärtlich, mütterlich und schmeichlerisch zugleich.

»Ich möchte Sie davon überzeugen, dass ich kein überspannter Junge bin, der sich etwas einbildet. Aber seit etwa einem halben Jahr passiert irgendetwas Ernstes. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich bin mir sicher. Mein Vater hat Angst. Er ist nicht mehr derselbe. Er scheint sich einer Gefahr bewusst zu sein.

Er hat auch sein Leben ganz umgestellt. In den letzten Monaten war er ununterbrochen auf Reisen. Von Mexiko nach Kalifornien und von Kalifornien nach Kanada, und das so überstürzt, dass es mir vorkommt wie in einem Albtraum.

Ich dachte, dass Sie mir nicht glauben würden. Deshalb habe ich in seinen Briefen die Stellen unterstrichen, in denen er von der Zukunft spricht, mit einer Art untergründigem Schrecken.

Sie werden sehen, dass manche Worte immer wiederkehren. Es sind Worte, die er früher nie benutzt hat:

Wenn du allein bleiben solltest …

Wenn ich dir fehlen werde …

Wenn du dann allein bist …

Wenn ich nicht mehr da bin …

Mein Vater ist kerngesund. Ich habe ein Telegramm an seinen Arzt geschickt, um mich zu vergewissern. Hier ist seine Antwort. Er macht sich über mich lustig und schreibt, dass mein Vater noch gute dreißig Jahre vor sich hat, wenn er nicht verunglückt.

Verstehen Sie?«

Das fragen sie alle: Verstehen Sie?

»Ich habe meinen Notar aufgesucht, Monsieur d’Hoquélus. Sie kennen sicher seinen Namen. Er ist ein alter Herr mit großer Lebenserfahrung. Ich habe ihm die letzten Briefe gezeigt, und er fand sie ebenso beunruhigend wie ich.

Gestern hat er mir anvertraut, dass mein Vater ihn mit unerklärlichen Transaktionen beauftragt hat.

Monsieur d’Hoquélus ist der Geschäftspartner meines Vaters hier in Frankreich, sein Vertrauensmann. Er gibt mir Geld, was immer ich brauche. Nun hat ihn mein Vater beauftragt, an verschiedene Personen beträchtliche Summen als Schenkung unter Lebenden zu verteilen.

Nicht um mich zu enterben, das können Sie mir glauben. Im Gegenteil, denn es wurde privatschriftlich vereinbart, dass mir diese Beträge später zurückerstattet werden.

Aber warum das, wo ich doch der einzige Erbe bin?

Weil er befürchtet, mein Erbe könnte mir nicht auf normalem Weg übermittelt werden, nicht wahr?

Ich habe Monsieur d’Hoquélus mitgebracht. Er sitzt draußen im Wagen. Möchten Sie ihn sprechen?«

Wie sollte man nicht beindruckt sein vom würdevollen Ernst des alten Notars? Und er sagte das Gleiche wie der junge Mann.

»Ich bin überzeugt davon, dass sich im Leben von Joachim Maura etwas Schwerwiegendes zugetragen hat.«

»Warum nennen Sie ihn Joachim?«

»Es ist sein eigentlicher Vorname. In den Vereinigten Staaten hat er den dort geläufigen Namen John angenommen. Auch ich glaube, dass er sich in ernster Gefahr sieht. Als Jean mir mitteilte, er wolle nach Amerika reisen, mochte ich ihm seinen Plan nicht ausreden. Aber ich habe ihm geraten, sich von einem erfahrenen Mann begleiten zu lassen.«

»Warum fahren Sie nicht selbst?«

»Vor allem aufgrund meines Alters. Aber auch aus Gründen, die Sie später vielleicht verstehen werden. In New York braucht man jemanden mit Erfahrung in polizeilichen Dingen, davon gehe ich aus. Ich füge hinzu, mein Auftrag lautet, Jean Maura jede Summe auszuzahlen, die er benötigt, und unter den gegebenen Umständen kann ich seinen Wunsch nur billigen.«

Die halblaut geführte Unterhaltung hatte zwei Stunden gedauert, wobei Monsieur d’Hoquélus Maigrets altem Cognac gern zugesprochen hatte. Maigret hatte seine Frau ein paarmal an der Tür gehört, wo sie lauschte. Allerdings nicht aus Neugierde, sondern um zu erfahren, ob sie endlich den Tisch decken konnte.

Er war nicht stolz darauf, dass er sich hatte überreden lassen. Und wie verblüfft war seine Frau, als er ihr, nachdem das Auto abgefahren war, eröffnete:

»Ich reise nach Amerika.«

»Was sagst du?«

Und nun saß er in einem gelben Taxi und wurde durch Straßen gefahren, die er nicht kannte und die im feinen Regen trist und trostlos aussahen.

Weshalb war Jean Maura genau in dem Augenblick verschwunden, wo sie New York erreicht hatten? War er unerwartet jemandem begegnet? Oder hatte er vor lauter Sehnsucht nach dem Vater seinen Begleiter unhöflicherweise einfach stehen lassen?

Die Straßen waren vornehmer geworden. Der Wagen hielt an der Ecke einer Avenue, die Maigret noch nicht als die berühmte Fifth Avenue erkannte. Ein Hotelportier kam auf ihn zu.

Neue Verlegenheit, als er den Taxifahrer mit all den fremden Geldstücken bezahlte. In der Halle des Hotels St. Regis traf er am Empfang endlich auf einen Angestellten, der Französisch sprach.

»Ich möchte Monsieur John Maura sprechen.«

»Einen Moment, bitte.«

»Können Sie mir sagen, ob sein Sohn eingetroffen ist?«

»Es hat heute noch niemand nach Mister Maura gefragt.«

»Ist er auf seinem Zimmer?«

Mit kühler Höflichkeit antwortete ihm der Angestellte, indem er den Hörer abnahm:

»Ich werde seinen Sekretär fragen.«

Dann, am Apparat:

»Hallo? … Mister MacGill? … Hier ist der Empfang … Jemand fragt nach Mister Maura. Wie bitte? … Einen Moment, ich frage ihn … Würden Sie mir Ihren Namen nennen?«

»Maigret.«

»Hallo? … Der Herr heißt Maigret … Jawohl … Einen Augenblick.«

Dann, den Hörer wieder auflegend:

»Mister MacGill lässt ausrichten, dass Mister Maura nur nach vorheriger Verabredung empfängt. Wenn Sie ihm schreiben und ihm Ihre Adresse geben, wird er Ihnen antworten.«

»Seien Sie so freundlich und teilen Sie diesem Monsieur MacGill mit, dass ich extra aus Frankreich komme, weil ich Monsieur Maura Wichtiges zu sagen habe.«

»Bedaure. Eine weitere Störung der Herren wäre unverzeihlich. Wenn Sie sich die Mühe machen wollen, ein Wort zu schreiben, hier, in der Lobby? Dann lasse ich es von einem Boy hinaufbringen.«

Maigret war wütend. Mehr auf sich selbst als auf diesen MacGill, den er nicht kannte, aber schon verabscheute.

Wie er überhaupt in Bausch und Bogen alles verabscheute, was ihn hier umgab: die mit Vergoldungen überladene Hotelhalle, die Boys, die ihn spöttisch musterten, die hübschen Damen, die kamen und gingen, die selbstsicheren Herren, die ihn anrempelten, ohne sich zu entschul- digen.

Monsieur,

ich komme aus Frankreich in einer Sache von großer Wichtigkeit, mit der Ihr Sohn und Monsieur d’Hoquélus mich betraut haben. Da meine Zeit ebenso kostbar ist wie Ihre, bin ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich unverzüglich empfangen. Freundliche Grüße. Maigret

Man ließ ihn eine Viertelstunde in seiner Ecke schmoren. Voller Wut rauchte er eine Pfeife, obwohl er sich dachte, dass es unangebracht war. Schließlich holte ein Boy ihn ab, stieg mit ihm in den Fahrstuhl, führte ihn einen Korridor entlang, klopfte an einer Tür und ließ ihn allein.

»Herein!«

Warum hatte er sich MacGill als einen älteren, unwirschen Herrn vorgestellt? Ihm kam mit ausgestreckter Hand ein junger Mann entgegen, gut gebaut und sehr elegant.

»Sie müssen entschuldigen, aber Monsieur Maura wird von verschiedensten Bittstellern dermaßen belagert, dass wir gezwungen sind, ihn strengstens abzuschotten. Sie kommen aus Frankreich, sagen Sie? Verstehe ich richtig, dass Sie der … also der ehemalige …«

»Der ehemalige Kommissar Maigret, ja.«

»Bitte, nehmen Sie doch Platz. Eine Zigarre?«

Verschiedene Kisten standen auf einem Buffet. Der Raum war sehr groß, ein Salon. Trotz des riesigen Mahagonischreibtischs hatte er nicht den Charakter eines Büros.

Maigret lehnte die ihm angebotene Havanna ab. Während er sich erneut eine Pfeife stopfte, betrachtete er sein Gegenüber ohne Wohlwollen.

»Sie haben Nachrichten von Monsieur Jean für uns?«

»Darüber möchte ich mit Monsieur Maura persönlich sprechen, wenn Sie so freundlich sind, mich zu ihm zu führen.«

MacGill präsentierte lächelnd seine prächtigen Zähne.

»Man merkt, werter Monsieur, dass Sie aus Europa kommen. Sonst wüssten Sie, dass John Maura einer der meistbeschäftigten Männer von New York ist. Nicht einmal ich ahne, wo er sich zurzeit aufhält, obwohl ich mit all seinen Angelegenheiten vertraut bin, auch den privaten. Sie können also ohne Scheu mit mir sprechen.«

»Ich warte, bis Monsieur Maura Zeit für mich findet.«

»Er müsste wissen, worum es sich handelt.«

»Wie gesagt, es geht um seinen Sohn.«

»Muss ich, aufgrund Ihrer Stellung, etwa schließen, dass er Dummheiten gemacht hat?«

Maigret blieb reglos und antwortete nicht. Er betrachtete sein Gegenüber immer noch mit kühlem Blick.

»Verzeihen Sie meine Hartnäckigkeit, Herr Kommissar – ich denke, so werden Sie weiterhin angesprochen, obwohl Sie im Ruhestand sind, wie ich aus der Zeitung erfahren habe? Wie gesagt, Herr Kommissar, verzeihen Sie, wenn ich Sie nochmals daran erinnere, wir sind hier in den Vereinigten Staaten, nicht in Frankreich. Die Zeit von John Maura ist streng eingeteilt. Jean ist ein lieber Junge, vielleicht etwas zu empfindsam. Aber ich frage mich, was in aller Welt kann er …«

Maigret stand ruhig auf und griff nach seinem Hut, den er neben sich auf den Boden gelegt hatte.

»Ich werde hier im Hotel ein Zimmer nehmen. Wenn Monsieur Maura entschieden hat, mich zu empfangen …«

»Er ist frühestens in vierzehn Tagen zurück in New York.«

»Wissen Sie, wo er sich jetzt befindet?«

»Schwer zu sagen. Er reist mit dem Flugzeug. Vorgestern war er in Panama. Heute kann er in Rio oder Venezuela gelandet sein.«

»Ich danke Ihnen.«

»Haben Sie Freunde hier, Herr Kommissar?«

»Nur einige Polizeichefs, mit denen ich früher zusammengearbeitet habe.«

»Darf ich Sie zum Mittagessen einladen?«

»Danke, aber ich esse wohl mit einem meiner Bekannten.«

»Und wenn ich darauf bestehe? Ich bedauere, dass ich diese Rolle einnehmen muss und hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel. Ich bin älter als Jean, aber nur wenig, und ich mag ihn sehr. Sie haben mir nicht einmal gesagt, wie es ihm geht.«

»Darf ich fragen, wie lange Sie schon der Privatsekretär von Monsieur Maura sind?«

»Etwa seit einem halben Jahr. Das heißt, seitdem arbeite ich für ihn, aber ich kenne ihn viel länger, eigentlich schon immer.«

Im Nebenzimmer waren Schritte zu hören. Maigret sah, wie MacGills Gesicht die Farbe wechselte, wie er ängstlich lauschte und den vergoldeten Knauf anstarrte. Die Tür ging auf.

»Kommen Sie einen Moment, Jos!«

Ein mageres, nervöses Gesicht unter noch blondem, aber schon von weißen Fäden durchzogenem Haar. Der Blick richtete sich auf Maigret, die Stirn legte sich in Falten. Der Sekretär sprang auf, aber der andere hatte sich anders entschieden und den Raum betreten. Er kam näher, während er Maigret fixierte.

»Mir scheint …«, begann er, als müsste er sein Gedächtnis anstrengen.

»Kommissar Maigret von der Pariser Kriminalpolizei. Vielmehr, Ex-Kommissar. Seit einem Jahr bin ich im Ruhestand.«

John Maura war eher klein, sehr dünn, doch offenbar energiegeladen.

»Sie wünschen mich zu sprechen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, drehte er sich zu MacGill um.

»Was ist, Jos?«

»Ich weiß es nicht, Chef. Der Kommissar …«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Monsieur Maura, möchte ich Sie unter vier Augen sprechen. Es handelt sich um Ihren Sohn.«

Keine Regung im Gesicht des Mannes, der so zärtliche Briefe schrieb.

»Sie können ruhig vor meinem Sekretär sprechen.«

»Wie Sie wünschen. Ihr Sohn ist in New York.«

Maigret behielt die beiden genau im Blick. Täuschte er sich? Er hatte den Eindruck, dass MacGill überrascht war, während Maura nur in gleichgültigem Ton sagte:

»Ach ja?«

»Es scheint Sie nicht zu erstaunen.«

»Sie wissen sicher, dass mein Sohn tun und lassen kann, was er will.«

»Es wundert Sie nicht einmal, dass Ihr Sohn Sie noch nicht aufgesucht hat?«

»Ich weiß ja nicht, seit wann er hier ist.«

»Er ist heute Morgen mit mir zusammen hier angekommen.«

»Dann müssen Sie doch wissen …«

»Nichts weiß ich, das ist es eben. Im Gedränge bei den Formalitäten habe ich ihn aus den Augen verloren. Als ich ihn zuletzt sah, lag das Schiff noch in der Quarantäne vor Anker.«

»Höchstwahrscheinlich hat er Freunde getroffen.«

Dabei steckte sich John Maura eine lange Zigarre an. Auf der Bauchbinde standen seine Initialen.

»Es tut mir leid, Herr Kommissar, aber ich sehe nicht, was die Ankunft meines Sohnes …«

»… mit meinem Besuch zu tun haben soll?«

»Das in etwa wollte ich sagen. Ich bin sehr beschäftigt heute Vormittag. Ich überlasse Sie also meinem Sekretär, mit dem Sie sich in aller Offenheit unterhalten können. Entschuldigen Sie mich, Herr Kommissar.«

Ein sprödes Nicken. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand durch die Verbindungstür. Nach kurzem Zögern sagte auch MacGill:

»Sie erlauben?«

Er folgte seinem Chef und schloss die Tür hinter sich. Maigret blieb allein in dem Raum zurück. Allein und unzufrieden. Er hörte die beiden nebenan flüstern und wollte schon wütend gehen, als der Sekretär lächelnd zurückkehrte.

»Wie Sie sehen, Monsieur, hatten Sie keinen Grund, mir zu misstrauen.«

»Ich dachte, Monsieur Maura wäre in Rio oder Venezuela?«

Der andere lachte.

»Haben Sie am Quai des Orfèvres, wo Sie die Verantwortung trugen, denn nie zu einer Notlüge gegriffen, um einen Besucher loszuwerden?«

»Vielen Dank für diesen Vergleich.«