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Die Maigets leben noch nicht am Boulevard Richard-Lenoir, sondern in einer Wohnung an der Place des Vosges. Ein Fremder, der sich vor dem Haus herumtreibt, weckt Madames Interesse. Wochenlang beobachtet sie ihn. Etwas ist seltsam an Madame Maigrets "Liebhaber", wie der Kommissar ihn nennt, um seine Frau zu necken. Eines Abends steht der Mann nicht von seiner Parkbank auf. Er ist tot, erschossen. Und Maigret muss in seiner direkten Nachbarschaft ermitteln. Maigrets 94. Fall spielt an der Place des Vosges im Pariser Stadtteil Marais.
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Seitenzahl: 73
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Der 94. Fall
Georges Simenon
Madame Maigrets Liebhaber
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Bärbel BrandsMit einem Nachwort von Daniel Kampa
Kampa
Wie die meisten Ehepaare pflegten auch die Maigrets einige Angewohnheiten, die ihnen mit der Zeit so heilig geworden waren wie den Gläubigen der Gottesdienst.
So begann der Kommissar in all den Jahren, die sie an der Place des Vosges wohnten, im Sommer, sobald er die Treppe, die vom Hof hinaufführte, betreten hatte, den Knoten seiner dunklen Krawatte zu lösen, was ihm, sobald er die erste Etage erreicht hatte, vollständig gelungen war.
Dort endete auch die prächtige Treppe des Hau- ses, das einst ein herrschaftliches Stadthaus gewesen war, eine Treppe mit einem schmiedeeisernen Geländer, die sich majestätisch zwischen Wänden aus unechtem Marmor emporwand. Sie wurde nun schmal und steil, und Maigret, der ein wenig keuchte, hatte sich den falschen Kragen aufgeknöpft, als er die zweite Etage erreichte. Er musste jetzt nur noch durch einen dämmrigen Flur bis zu seiner Wohnungstür gehen, der dritten links, und kaum hatte er, sein Jackett über dem Arm, den Schlüssel in das Schlüsselloch gesteckt, rief er wie immer:
»Ich bin’s!«
Er schnupperte, erriet am Duft, was es zum Mittagessen gab und betrat das Esszimmer. Dessen großes, weit geöffnetes Fenster gab den Blick frei auf das herrliche Treiben der Place des Vosges mit ihren vier plätschernden Springbrunnen.
Es war Juni und besonders warm, und im Kriminalkommissariat am Quai des Orfèvres unterhielt man sich nur noch über die Ferien. Selbst auf den Boulevards trug mancher Mann sein Jackett über dem Arm, und in den Straßencafés floss das Bier in Strömen.
»Hast du deinen Liebhaber wiedergesehen?«, fragte Maigret, der am Fenster stand und sich die Stirn wischte.
In diesem Augenblick hätte niemand vermutet, dass er sich noch kurz zuvor stundenlang in einer Art Labor für Verbrechensbekämpfung – denn nichts anderes ist der Quai des Orfèvres – mit den düstersten und deprimierendsten Winkeln der menschlichen Seele befasst hatte.
Außerhalb der Arbeit amüsierte ihn die geringste Kleinigkeit, besonders, wenn sie ihm Anlass gab, seine allzu gutmütige Frau zu necken. Seit zwei Wochen machte er sich nun einen Spaß daraus, sich bei ihr nach ihrem Liebhaber zu erkundigen.
»Ist er wieder zweimal um den Platz spaziert? Ganz der geheimnisvolle Grandseigneur? Dass du bei deiner Schwäche für vornehme Männer ausgerechnet mich geheiratet hast!«
Madame Maigret ging zwischen Küche und Esszimmer hin und her und deckte den Tisch. Sie wollte kein Dienstmädchen und begnügte sich mit einer Putzfrau, die jeden Morgen kam und die groben Arbeiten verrichtete. Sie fand Gefallen an dem Spaß und tat empört.
»Ich habe nicht behauptet, er sei vornehm!«
»Aber du hast ihn so beschrieben. Hellgrauer Hut mit Band, schmaler gezwirbelter, wahrscheinlich gefärbter Schnurrbart, Spazierstock mit geschnitztem Elfenbeinknauf …«
»Mach dich nur lustig! Du wirst schon noch sehen, dass ich recht habe. Ich sage dir, er ist etwas Besonderes und führt etwas im Schilde …«
Vom Fenster aus verfolgte man unwillkürlich das Treiben auf dem Platz, der am Vormittag recht still war. Am Nachmittag hingegen kamen die Mütter und Dienstmädchen aus dem Viertel, saßen auf den Bänken und hüteten ihre spielenden Kinder.
Rund um die von einem schmiedeeisernen Gitter eingefasste kleine Grünanlage, die so typisch für Paris ist, ähneln sich die Häuser einander mit ihren Arkaden und den schrägen Schieferdächern.
Anfangs hatte Madame Maigret den Unbekannten kaum beachtet, obwohl man ihn kaum übersehen konnte in seiner Aufmachung und dem Verhalten, das einer Epoche zu entstammen schien, die zwanzig oder dreißig Jahre zurücklag. Er glich einem alten Beau, wie man ihn nur mehr als Karikatur in Witzblättern findet.
Es war noch früh am Morgen gewesen, alle Fenster waren weit geöffnet, und man sah die Dienstmädchen durch die Wohnungen huschen und sauber machen.
»Fast könnte man vermuten, er suche etwas«, hatte Madame Maigret bemerkt.
Am Nachmittag war sie bei ihrer Schwester gewesen, und am folgenden Morgen entdeckte sie ihren Unbekannten zur selben Zeit wieder. Gemächlich spazierte er um den Platz herum, legte eine zweite Runde ein und verschwand schließlich in Richtung der Place de la République.
»Sicher hat er ein Faible für kleine Dienstmädchen und wartet nur darauf, ihnen beim Ausklopfen der Teppiche zuzusehen«, hatte Maigret gesagt, als seine Frau beiläufig auf ihren alten Beau zu sprechen kam.
An diesem Nachmittag jedoch hatte sie nicht schlecht gestaunt, als sie ihn seit drei Uhr genau gegenüber ihrem Fenster auf einer Bank sitzen sah, reglos, die Hände auf den Knauf seines Spazierstocks gestützt.
Um vier Uhr saß er noch immer dort. Erst gegen fünf erhob er sich und ging durch die Rue des Tournelles davon. In der ganzen Zeit hatte er mit niemandem gesprochen, nicht einmal eine Zeitung aufgeschlagen.
»Findest du das etwa nicht seltsam, Maigret?«
Madame Maigret hatte ihren Mann stets bei seinem Nachnamen genannt.
»Ich hab’s dir doch schon gesagt. Da waren bestimmt hübsche junge Dienstmädchen in seiner Nähe …«
Am nächsten Tag kam sie noch einmal darauf zurück.
»Ich habe ihn beobachtet, er hat wieder zwei Stunden auf derselben Bank gesessen …«
»Weißt du was? Vielleicht ist er in dich verliebt und sitzt dort, um dich anzuschauen! Von der Bank aus müsste man unsere Wohnung direkt im Blick haben …«
»So ein Unsinn!«
»Ach ja? Erstens hat er einen Spazierstock, und du hattest immer etwas übrig für Männer mit Spazierstock, und ich wette, er trägt auch einen Zwicker …«
»Warum?«
»Weil du auch für Männer mit Zwicker eine Schwäche hast!«
Nach zwanzig Jahren Ehe neckten sie sich liebevoll, während sie zugleich ihre tiefe Verbundenheit genossen.
»Maigret, ich habe alles genau beobachtet. Tatsächlich saß ein Dienstmädchen auf einem Stuhl ihm gegenüber. Sie ist mir schon beim Gemüsehändler aufgefallen, zum einen, weil sie sehr hübsch ist, und zum anderen, weil sie so vornehm wirkt.«
»Siehst du!« Maigret triumphierte. »Dein nobles Dienstmädchen hat dem alten Herrn gegenübergesessen. Du hast doch sicher auch schon mal bemerkt, dass sich manche Damen irgendwo niederlassen und nicht darauf achten, welches Bild sie abgeben? Dein Liebhaber hat womöglich den Nachmittag damit verbracht, sich an einem solchen Anblick zu erfreuen.«
»Was du immer denkst!«
»Solange ich deinen geheimnisvollen Unbekannten noch nicht gesehen habe …«
»Kann ich etwas dafür, dass er nur dann auftaucht, wenn du nicht da bist?«
Maigret, der so vielen Tragödien beiwohnte, erfreute sich an diesen kleinen Scherzen und vergaß niemals, sich nach Madame Maigrets Liebhaber, wie sie ihn inzwischen nannten, zu erkundigen.
»Mach dich ruhig lustig! Für mich hat er etwas Faszinierendes, das mir zugleich ein wenig unheimlich ist. Wie soll ich es ausdrücken … Man kann den Blick nicht von ihm abwenden. Er kann stundenlang reglos dasitzen, ohne auch nur die Pupillen hinter seinem Zwicker zu bewegen.«
»Hast du seine Pupillen von hier aus sehen können?«
Madame Maigret errötete, als hätte man sie auf frischer Tat ertappt.
»Ich habe ihn mir aus der Nähe angesehen … Ich wollte vor allem wissen, ob du recht hast. Das blonde Dienstmädchen, in Begleitung der beiden Kinder, benimmt sich jedenfalls sehr anständig, da kann man nichts sagen …«
»Bleibt sie auch den ganzen Nachmittag dort?«
»Sie kommt gegen drei, meistens kurz nach ihm, und hat stets eine Häkelarbeit dabei. Etwa zur gleichen Zeit gehen sie wieder fort. Stundenlang häkelt sie, ohne aufzublicken, es sei denn, um die Kinder zurückzurufen …«
»Chérie, glaubst du nicht, dass auf den begrünten Plätzen von Paris Hunderte von Dienstmädchen sitzen, die stundenlang häkeln oder stricken, während sie die Kinder ihrer Herrschaft hüten?«
»Durchaus möglich.«
»Und ein Haufen alter Pensionäre, die nichts Besseres zu tun haben, als sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen und mehr oder weniger lüstern eine hübsche Frau zu beobachten?«
»Dieser Mann ist nicht alt.«
»Du hast mir doch selbst gesagt, dass sein Schnurrbart wahrscheinlich gefärbt ist und er eine Perücke trägt.«
»Ja, aber er wirkt nicht alt.«
»Ist er so alt wie ich?«
»Mal wirkt er älter, mal jünger …«
Und Maigret, der so tat, als sei er eifersüchtig, brummte:
»Eines Tages werde ich mir deinen Liebhaber mal aus der Nähe ansehen müssen.«
Natürlich dachte er gar nicht daran, ebenso wenig wie Madame Maigret. Auf gleiche Weise hatten sie sich eine Zeit lang über ein Liebespaar amüsiert, das sich jeden Abend unter den Arkaden traf, sich stritt und wieder versöhnte, bis sich das junge Dienstmädchen der Milchhändlerin eines Tages an derselben Stelle mit einem anderen jungen Mann traf.
»Weißt du, Maigret …?«
»Was?«
»Ich habe nachgedacht … und mich gefragt, ob der Mann vielleicht jemanden bespitzelt?«
Die Tage vergingen, und es wurde immer heißer. Am Abend drängten sich nun viele Menschen auf dem Platz, darunter all die Handwerker der kleinen Werkstätten in den umliegenden Straßen, die zwischen den vier Springbrunnen umherspazierten, um frische Luft zu schnappen.
»Ich finde es seltsam, dass er sich am Vormittag nie setzt und stattdessen zwei Mal um den Platz geht, als würde er auf ein Zeichen warten.«
»Und was macht die hübsche Blonde währenddessen?«