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Früher, als Streifenpolizist, hat Maigret sie alle gekannt, die Clochards, die unter den Brücken schlafen. Doch nun durchwühlt er die Habseligkeiten des »Doktors«. Mit eingeschlagenem Kopf wurde der Obdachlose aus der Seine gefischt und liegt seither im Koma. Madame Maigret weiß mehr über die Vergangenheit des Opfers, denn der Mann kommt wie sie aus dem Elsass. Dass jemand einen Clochard ermorden will, hat Maigret noch nie erlebt. Und auch nicht, dass sich ein Opfer weigert, bei der Suche nach dem Täter zu helfen.Maigrets 60. Fall spielt an der Seine in Paris und außerhalb.
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Der 60. Fall
Georges Simenon
Maigret und der Clochard
Roman
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung
Kampa
Auf dem Weg vom Quai des Orfèvres zum Pont Marie hielt Maigret einen Moment lang inne – so kurz, dass Lapointe, der neben ihm ging, es gar nicht bemerkte. Und doch fühlte sich der Kommissar für ein paar Sekunden, vielleicht nur für den Bruchteil einer Sekunde in das Alter seines Kollegen zurückversetzt.
Das hing vermutlich mit der besonderen Luft zusammen, ihrem Leuchten, dem Geruch und Geschmack. Es hatte früher einmal einen ganz ähnlichen Morgen gegeben, viele ähnliche Morgen. Maigret hatte damals, als frischgebackener Inspektor bei der Kriminalpolizei – von den Parisern noch Sûreté genannt –, zum Außendienst gehört und war von morgens bis abends in den Pariser Straßen unterwegs gewesen.
Obwohl man schon den 25. März schrieb, war dies der erste wirkliche Frühlingstag. Er war besonders frisch und klar, denn in der Nacht hatte es leicht geregnet, begleitet von Donnergrollen in der Ferne. Zum ersten Mal in diesem Jahr hatte Maigret seinen Mantel im Schrank im Büro gelassen, und von Zeit zu Zeit fuhr ihm der Wind unter die aufgeknöpfte Jacke.
Auf solche Weise von der Vergangenheit angeweht, fiel er, ohne es zu merken, in seine damalige Gangart; weder langsam noch schnell, nicht schlendernd wie einer, der bei allem Sehenswerten stehen bleibt, aber auch nicht zügig wie jemand, der ein Ziel hat.
Die Hände auf dem Rücken verschränkt, blickte er um sich, nach rechts, nach links, nach oben, und nahm Bilder in sich auf, die er schon lange nicht mehr beachtet hatte.
Für einen so kurzen Weg nahm man nicht einen der schwarzen Wagen, die auf dem Hof der Kriminalpolizei standen; die beiden Männer gingen zu Fuß die Seine entlang. Als sie den Platz vor Notre-Dame überquerten, flogen Tauben auf. Es stand dort schon ein großer, gelber Reisebus aus Köln.
Über den eisernen Steg erreichten sie die Île Saint-Louis, und hinter einem offenen Fenster bemerkte Maigret ein junges Zimmermädchen in schwarzem Kleid und Spitzenhäubchen, das einem Boulevardstück entsprungen schien. Ein Metzgergeselle in gestreifter Jacke lieferte etwas weiter unten Fleisch ab; ein Briefträger kam aus einem Haus.
Die Knospen waren an diesem Morgen aufgeplatzt und sprenkelten die Bäume mit zartem Grün.
»Noch immer Hochwasser«, bemerkte Lapointe, der bisher nichts gesagt hatte.
Das stimmte. Seit einem Monat hatte es nur manchmal für ein paar Stunden aufgehört zu regnen, und fast jeden Abend sah man im Fernsehen Bilder von über die Ufer getretenen Flüssen, von Städten und Dörfern, durch deren Straßen das Wasser strömte. Auf der gelblichen Seine trieben Abfälle, alte Kisten und Äste.
Die beiden Männer gingen den Quai de Bourbon bis zum Pont Marie hinunter, schlenderten hinüber und sahen stromabwärts einen grauen Frachtkahn, an dessen Bug das blau-weiße Dreieck der Compagnie Générale gemalt war. Er hieß Le Poitou, und ein Kran, dessen Knarren und Kreischen sich mit den wirren Geräuschen der Stadt vermischte, entlud den Sand, den das Schiff geladen hatte.
Etwa fünfzig Meter von diesem entfernt war ein anderer Frachtkahn oberhalb der Brücke festgemacht. Er wirkte sauberer, schien frisch geputzt worden zu sein, und eine belgische Fahne wehte träge am Heck, während neben der weißen Kajüte ein Baby in einer Art Hängematte schlief und ein hochgewachsener Mann mit blassblondem Haar zum Quai blickte, als wartete er auf etwas.
Das Schiff hieß, wie goldene Buchstaben sagten, De Zwarte Zwaan. Ein flämischer Name, den weder Maigret noch Lapointe verstanden.
Es war zwei oder drei Minuten vor zehn. Die beiden Polizeibeamten erreichten den Quai des Célestins. Als sie gerade die Rampe zum Hafen hinuntergehen wollten, hielt ein Auto, drei Männer stiegen aus, und die Tür schlug zu.
»So was! Wir sind genau zur gleichen Zeit da …«
Die drei kamen ebenfalls aus dem Palais de Justice, allerdings aus dem imposanteren, den Richtern und Staatsanwälten vorbehaltenen Teil. Es handelte sich um Staatsanwalt Parrain, Untersuchungsrichter Dantziger und einen alten Gerichtsschreiber, dessen Namen sich Maigret nicht merken konnte, obwohl er ihm schon hundertmal begegnet war.
Die Passanten, die ihren Geschäften nachgingen, die Kinder, die auf dem Gehsteig gegenüber spielten, ahnten nicht, dass hier ein Lokaltermin der Staatsanwaltschaft stattfand. An diesem hellen Morgen sah es so gar nicht nach etwas Offiziellem aus. Der Staatsanwalt zog ein goldenes Etui aus seiner Tasche und bot Maigret, der seine Pfeife im Mund hatte, mechanisch eine Zigarette an.
»Ach ja, das habe ich vergessen …«
Er war groß, schlank, blond und distinguiert. Der Kommissar dachte wieder einmal, dass dies eine Besonderheit der Staatsanwaltschaft war. Untersuchungsrichter Dantziger, klein und rund, war wenig elegant gekleidet. Untersuchungsrichter konnten ganz verschieden sein, aber warum ähnelten die Staatsanwälte alle mehr oder weniger hohen Ministerialbeamten und hatten oft auch deren Manieren, Eleganz und Dünkel?
»Wollen wir dann, Messieurs?«
Sie gingen über die uneben gepflasterten Steine hinunter und gelangten unweit des Frachtkahns ans Ufer.
»Ist es der hier?«
Maigret wusste kaum mehr als die anderen. Er hatte in den Tagesmeldungen den kurzen Bericht darüber gelesen, was sich in der Nacht ereignet hatte, und war vor einer halben Stunde telefonisch gebeten worden, dem Termin mit der Staatsanwaltschaft beizuwohnen.
Er tat das nicht ungern. So würde er einer Welt und Atmosphäre wiederbegegnen, mit der er schon mehrmals zu tun gehabt hatte. Alle fünf gingen sie auf das Motorschiff zu, das eine schmale hölzerne Laufplanke mit dem Ufer verband. Der große blonde Schiffer kam ihnen entgegen.
»Reichen Sie mir die Hand«, sagte er zu dem Staatsanwalt, der die Reihe anführte. »Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Er sprach mit stark flämischem Akzent. Das Gesicht mit den ausgeprägten Zügen, die hellen Augen und langen Arme, seine Art, sich zu bewegen, ließen an belgische Rennfahrer denken, die nach einem Rennen manchmal ein Interview im Fernsehen gaben.
Hier war der Lärm des Krans, der den Sand entlud, deutlich zu hören.
»Sie heißen Joseph van Houtte?«, fragte Maigret, nachdem er einen Blick auf ein Stück Papier geworfen hatte.
»Ja, Monsieur, Jef van Houtte.«
»Sind Sie der Besitzer dieses Schiffes?«
»Natürlich. Wer sollte es sonst sein?«
Verlockender Essensduft stieg aus der Kombüse herauf, und am Fuß der mit geblümtem Linoleum belegten Treppe sah man eine blutjunge Frau hin und her gehen.
Maigret deutete auf das Baby in der Hängematte.
»Ist das Ihr Sohn?«
»Es ist kein Sohn, Monsieur. Es ist eine Tochter. Sie heißt Yolande. Wie meine Schwester, und da sie die Patin ist …«
Staatsanwalt Parrain fand es angebracht, sich einzuschalten, nachdem er dem Schreiber bedeutet hatte, sich Notizen zu machen.
»Erzählen Sie uns, was geschehen ist.«
»Also, ich habe ihn herausgefischt, und der Kollege vom anderen Schiff hat mir geholfen.«
Er zeigte auf die Poitou, an deren Heck ein Mann am Steuerrad lehnte und zu ihnen herüberblickte, als wartete er darauf, dass er an die Reihe kam.
Ein Schlepper stieß mehrere Signaltöne aus und fuhr langsam, vier Kähne hinter sich herziehend, flussaufwärts. Jedes Mal, wenn einer der Kähne in Höhe der Zwarte Zwaan vorüberkam, hob Jef van Houtte den rechten Arm, um zu grüßen.
»Kannten Sie den Ertrunkenen?«
»Ich hatte ihn noch nie gesehen.«
»Wie lange haben Sie schon hier festgemacht?«
»Seit gestern Abend. Ich komme aus Jeumont mit einer Ladung Ziegelsteine für Rouen. Ich wollte durch Paris durchfahren und die Nacht an der Schleuse von Suresnes bleiben. Plötzlich habe ich bemerkt, dass mit dem Motor irgendwas nicht stimmte. Unsereins übernachtet nicht gern mitten in Paris, verstehen Sie?«
Maigret bemerkte von Weitem zwei oder drei Clochards unter der Brücke und unter ihnen eine sehr dicke Frau. Er meinte, sie schon einmal gesehen zu haben.
»Wie ist das vor sich gegangen? Hat sich der Mann ins Wasser gestürzt?«
»Das glaube ich nicht, Monsieur. Wenn er sich ins Wasser gestürzt hätte, was hätten dann die beiden anderen hier gewollt?«
»Wie spät war es? Wo waren Sie? Berichten Sie uns ganz genau, was an diesem Abend geschehen ist. Sie haben kurz vor Einbruch der Dunkelheit am Quai festgemacht?«
»Richtig.«
»Haben Sie einen Clochard unter der Brücke bemerkt?«
»Solche Dinge bemerkt man nicht. Es sind immer welche dort.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Wir haben zu Abend gegessen, Hubert, Anneke und ich.«
»Wer ist Hubert?«
»Mein Bruder. Er arbeitet bei mir. Anneke ist meine Frau. Sie heißt Anna, aber bei uns sagen wir Anneke.«
»Und dann?«
»Mein Bruder hat seinen guten Anzug angezogen und ist tanzen gegangen. Ist ja schließlich noch ein junger Kerl.«
»Wie alt?«
»Zweiundzwanzig.«
»Ist er hier?«
»Er macht Einkäufe, müsste aber bald zurückkommen.«
»Was haben Sie nach dem Essen gemacht?«
»Ich habe am Motor gearbeitet. Ich habe sofort gesehen, dass Öl auslief, und da ich heute Morgen weiterfahren wollte, habe ich den Schaden repariert.«
Verstohlen beobachtete er die Herren nacheinander, mit dem misstrauischen Blick von Leuten, hätte man sagen können, die es nicht gewohnt sind, mit der Justiz zu tun zu haben.
»Wann waren Sie damit fertig?«
»Nicht mehr gestern Abend. Erst heute Morgen bin ich fertig geworden.«
»Wo waren Sie, als Sie die Schreie gehört haben?«
Er kratzte sich am Kopf und starrte auf das vor Sauberkeit blitzende Deck.
»Zuerst bin ich noch einmal hinaufgegangen, um eine Zigarette zu rauchen und um zu sehen, ob Anneke schlief.«
»Wann war das?«
»Gegen zehn Uhr … Ich weiß es nicht genau.«
»Schlief sie?«
»Ja, Monsieur. Und die Kleine auch. Sie weint nachts manchmal, weil ihre ersten Zähne kommen.«
»Dann sind Sie wieder zu Ihrem Motor zurückgegangen?«
»Aber sicher.«
»War es dunkel in der Kajüte?«
»Ja. Meine Frau schlief ja dort.«
»War das Deck auch dunkel?«
»Sicher.«
»Und dann?«
»Viel später dann habe ich ein Motorengeräusch gehört, als würde ein Auto in der Nähe des Schiffes halten.«
»Haben Sie nicht nachgesehen?«
»Nein. Warum hätte ich das tun sollen?«
»Und weiter?«
»Ein wenig später hörte man einen lauten Plumps …«
»Als fiele jemand in die Seine?«
»Ja, Monsieur.«
»Und dann?«
»Dann bin ich die Leiter hochgestiegen und habe den Kopf durch die Luke gesteckt.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Zwei Männer, die zu dem Auto liefen.«
»Es war also doch ein Auto?«
»Ja. Ein rotes. Ein Peugeot 403.«
»Es war hell genug, das zu erkennen?«
»Genau über der Quaimauer steht eine Laterne.«
»Wie sahen die beiden Männer aus?«
»Der kleinere trug einen hellen Regenmantel und hatte breite Schultern.«
»Und der andere?«
»Den konnte ich nicht so deutlich sehen, weil er als Erster ins Auto gestiegen ist. Er hat sofort den Motor angelassen.«
»Haben Sie sich die Kennnummer gemerkt?«
»Die was?«
»Die Nummer auf dem Schild?«
»Ich weiß nur, es waren zwei Neunen darunter, die beiden letzten Ziffern waren Sieben und Fünf.«
»Wann haben Sie die Schreie gehört?«
»Als das Auto losfuhr.«
»Mit anderen Worten, zwischen dem Augenblick, wo der Mann ins Wasser gefallen ist, und dem Augenblick, wo er geschrien hat, ist eine gewisse Zeit verstrichen. Sonst hätten Sie die Schreie doch schon früher gehört?«
»Ich glaube schon, Monsieur. Nachts ist es hier ja still, stiller als jetzt.«
»Wie spät war es?«
»Nach Mitternacht.«
»Waren Leute auf der Brücke?«
»Da habe ich nicht hingesehen.«
Oberhalb der Mauer, auf dem Quai, waren ein paar Passanten stehen geblieben, beunruhigt über diese Männer, die an Deck eines Schiffes miteinander sprachen. Es schien Maigret, dass die Clochards ein paar Meter näher gekommen waren. Der Kran entlud weiter Sand aus der Poitou und schüttete ihn in bereitstehende Lastwagen.
»Hat er laut geschrien?«
»Ja.«
»Was für ein Schrei war das? Rief er um Hilfe?«
»Er schrie einfach. Dann hörte man nichts mehr. Dann …«
»Was haben Sie getan?«
»Ich bin ins Beiboot gesprungen und habe es losgemacht.«
»Konnten Sie den ertrinkenden Mann sehen?«
»Nein – nicht gleich. Der Kapitän der Poitou hat wohl auch etwas gehört, denn er rannte an der Reling seines Kahns entlang und versuchte, etwas mit dem Bootshaken zu fassen.«
»Und weiter?«
Der Flame tat offenbar sein Möglichstes. Vor lauter Anstrengung perlte Schweiß auf seiner Stirn.
»›Da! Da!‹, rief er.«
»Rief wer?«
»Der Kapitän der Poitou.«
»Und haben Sie etwas gesehen?«
»Manchmal hab ich etwas gesehen, dann war es wieder verschwunden.«
»Weil der Körper unterging?«
»Ja – und er wurde von der Strömung mitgezogen.«
»Ihr Beiboot wohl auch?«
»Ja. Der Kollege ist hineingesprungen.«
»Der von der Poitou?«
Jef seufzte und dachte vermutlich, dass die Herren etwas schwer von Begriff waren. Für ihn war es alles ganz einfach, er hatte sicher schon öfter in seinem Leben ähnliche Szenen erlebt.
»Haben Sie beide ihn herausgefischt?«
»Ja.«
»Wie wirkte der Mann?«
»Er hatte die Augen noch offen, und im Boot fing er an zu spucken.«
»Hat er nichts gesagt?«
»Nein.«
»Sah er so aus, als hätte er Angst?«
»Nein.«
»Wonach sah er aus?«
»Nach gar nichts. Schließlich hat er sich nicht mehr gerührt, und das Wasser ist weiter aus seinem Mund geflossen.«
»Hatte er die Augen immer noch offen?«
»Ja. Ich dachte, er sei tot.«
»Sind Sie weggegangen, um Hilfe zu holen?«
»Nein. Ich nicht.«
»Ihr Kollege von der Poitou?«
»Nein. Jemand hat uns von der Brücke etwas zugerufen.«
»Es war also jemand auf dem Pont Marie?«
»Ja, mittlerweile. Er hat uns gefragt, ob jemand ertrunken sei. Ich habe geantwortet, ja. Er hat dann gerufen, er würde die Polizei benachrichtigen.«
»Hat er es getan?«
»Bestimmt, denn bald darauf sind zwei Polizisten auf Fahrrädern erschienen.«
»Regnete es da schon?«
»Es fing an zu regnen und zu donnern, als der Mann auf das Deck gehievt wurde.«
»Auf das Deck Ihres Schiffes?«
»Ja.«
»Ist Ihre Frau aufgewacht?«
»In der Kajüte brannte Licht, und Anneke sah uns zu. Sie hatte sich einen Mantel übergezogen.«
»Wann haben Sie das Blut gesehen?«
»Als der Mann neben dem Steuerrad lag. Es kam aus einem Spalt, den er am Kopf hatte.«
»Einem Spalt?«
»Einem Loch … Ich weiß nicht, wie Sie das nennen.«
»Sind die Polizisten sofort gekommen?«
»Fast sofort.«
»Und der Passant, der sie benachrichtigt hatte?«
»Den habe ich nicht wiedergesehen.«
»Sie wissen nicht, wer er war?«
»Nein.«
Es bedurfte einer gewissen Anstrengung, sich am hellen Morgen diese nächtliche Szene vorzustellen, die Jef van Houtte schilderte, so gut er konnte, wobei er nach Worten suchte, als müsste er eins nach dem anderen aus dem Flämischen übersetzen.
»Wissen Sie mit Sicherheit, dass der Clochard auf den Kopf geschlagen worden ist, bevor man ihn ins Wasser geworfen hat?«
»Das hat der Arzt gesagt. Einer der beiden Polizisten hat nämlich einen Arzt geholt. Dann ist ein Krankenwagen gekommen. Nachdem der Verletzte abtransportiert war, musste ich das Deck schrubben, denn da war eine große Blutlache.«
»Wie ist die ganze Sache Ihrer Meinung nach abgelaufen?«
»Ich weiß es nicht, Monsieur.«
»Zur Polizei haben Sie gesagt …«
»Ich habe nur gesagt, was ich vermutete, nicht wahr?«
»Dann wiederholen Sie es bitte!«
»Ich schätze, der Mann hat unter der Brücke geschlafen.«
»Aber Sie haben ihn vorher dort nicht gesehen?«
»Ich habe nicht darauf geachtet. Es schlafen doch immer Leute unter den Brücken.«
»Gut. Ein Auto ist also die Rampe hinuntergefahren …«
»Ein rotes Auto. Da bin ich sicher.«
»Und es blieb nicht weit von Ihrem Schiff entfernt stehen?«
Er nickte und zeigte mit dem Arm zu einem Punkt am Ufer.
»Lief der Motor weiter?«
Diesmal schüttelte er den Kopf.
»Aber Sie haben Schritte gehört?«
»Ja.«
»Die Schritte von zwei Personen?«
»Ich habe zwei Typen gesehen, die zum Auto zurückgingen.«
»Aber Sie haben die Männer nicht zur Brücke hingehen sehen?«
»Ich war ja unten und arbeitete am Motor.«
»Und diese beiden Männer, von denen der eine einen hellen Regenmantel trug, könnten den schlafenden Clochard niedergeschlagen und in die Seine geworfen haben?«
»Als ich raufkam, war er schon im Wasser.«
»Der Arztbericht sagt, dass der Mann sich die Kopfverletzung nicht bei dem Sturz ins Wasser zugezogen haben kann. Nicht einmal, wenn er unglücklich vom Rand des Quais gestürzt wäre.«
Van Houtte sah sie an, als wollte er sagen, das sei nicht seine Sache.
»Dürfen wir mit Ihrer Frau sprechen?«
»Das können Sie gern tun. Aber Anneke wird Sie nicht verstehen, sie spricht nur Flämisch.«
Der Staatsanwalt blickte Maigret an, um zu prüfen, ob er noch etwas fragen wollte, und der Kommissar schüttelte den Kopf. Wenn überhaupt, würde er das erst später tun, wenn die Herren vom Gericht nicht mehr da wären.
»Wann können wir weiterfahren?«, fragte der Schiffer.
»Sobald Sie Ihre Aussage unterschrieben haben und uns sagen, wohin Sie fahren.«
»Nach Rouen.«
»Sie müssen uns dann Ihren jeweiligen Aufenthaltsort wissen lassen. Mein Schreiber wird Sie wegen der Unterschrift aufsuchen.«
»Wann?«
»Vermutlich am frühen Nachmittag.«
Das passte dem Schiffer offensichtlich nicht.
»Übrigens, wann ist Ihr Bruder wieder an Bord gekommen?«
»Kurz nachdem der Krankenwagen wieder abgefahren war.«
»Ich danke Ihnen.«
Jef van Houtte half ihm wieder, die schmale Planke zu überschreiten, und die kleine Gruppe bewegte sich Richtung Brücke, während die Clochards einige Meter zurückwichen.
»Was halten Sie davon, Maigret?«
»Mir kommt die Sache merkwürdig vor. Es geschieht selten, dass ein Clochard angegriffen wird.«
Unter dem Brückenbogen befand sich dicht an der Steinmauer eine Art Nest. Es ließ sich nicht genauer bezeichnen und hatte keine wirkliche Form, schien aber seit geraumer Zeit die Schlafstelle eines menschlichen Wesens zu sein.
Die Bestürzung des Staatsanwalts war geradezu komisch anzusehen, und Maigret konnte sich nicht verkneifen zu sagen:
»So ist das überall unter den Brücken. Ein solches Lager gibt es übrigens auch genau gegenüber der Kriminalpolizei.«
»Unternimmt die Polizei denn nichts dagegen?«
»Wenn sie eins auflöst, entsteht woanders eben ein neues.«
Es bestand aus Kisten und Fetzen von Planen. Ein Mensch konnte sich darin gerade so zusammenrollen. Auf dem Boden lagen Stroh, zerrissene Decken und Zeitungen. Trotz des Windes verströmte der Ort einen starken Geruch.
Der Staatsanwalt hütete sich, etwas anzurühren. Maigret bückte sich schließlich, um sich das Inventar aus der Nähe anzusehen.
Ein rohrförmiges Blech mit Löchern und einem Gitter hatte als Ofen gedient und war noch mit weißlicher Asche bedeckt. Daneben lagen ein paar Stücke Holzkohle, irgendwo aufgesammelt. Als der Kommissar die Decken auseinandernahm, kam etwas wie ein Schatz ans Licht: zwei alte Brotkanten, ein zehn Zentimeter langes Stück Knoblauchwurst und, in einer anderen Ecke, Bücher, deren Titel er halblaut vorlas:
»Sagesse von Verlaine … Oraisons funèbres von Bossuet …«
Er ergriff ein Heft, das länger im Regen und davor in einem Mülleimer gelegen haben musste. Eine alte Nummer einer medizinischen Zeitschrift. Und schließlich ein Teil eines Buches, nur die zweite Hälfte: Mémorial de Sainte-Hélène.
Richter Dantziger wirkte ebenso verblüfft wie der Staatsanwalt.
»Seltsame Lektüre«, bemerkte er.
»Er hat sie sich wohl nicht ausgesucht.«
Unter den löchrigen Decken bemerkte Maigret außerdem Kleidungsstücke: einen gestopften grauen Rollkragenpullover mit Farbklecksen, der wahrscheinlich einem Maler gehört hatte, eine gelbe Leinenhose, Filzpantoffeln mit durchlöcherten Sohlen und fünf ungleiche Strümpfe. Schließlich eine Schere, deren eine Spitze abgebrochen war.
»Ist der Mann tot?«, fragte Staatsanwalt Parrain. Er hielt Abstand, als fürchtete er, sich Flöhe einzufangen.
»Vor einer Stunde habe ich im Krankenhaus angerufen, da lebte er noch.«
»Meinen die Ärzte, dass er durchkommt?«
»Sie versuchen es. Er hat einen Schädelbruch, und sie befürchten eine Lungenentzündung.«