Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als die junge, schwangere Germaine verschwindet, dauert es nicht lange, und die Verdächtigen sind gefunden: Eine flämische Familie wird beschuldigt, weil ... Ja, warum eigentlich? Weil die flämischen Kaufleute im französischen Givet fremd sind und wohlhabender als der Rest der Dorfgemeinschaft? Oder liegt es daran, dass der Sohn der Familie ein Verhältnis mit der jungen Frau hatte, aber eine bessere Partie in Aussicht? Maigret soll den Ruf der Familie wiederherstellen.Maigrets 14. Fall spielt in Givet, einer Kleinstadt in den Ardennen, an der französisch-belgischen Grenze.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 151
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Georges Simenon
Maigret bei den Flamen
Roman
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Bärbel Brands
Kampa
Gleich als Maigret in Givet aus dem Zug stieg, erblickte er Anna Peeters.
Sie stand an der Tür des Abteils, als hätte sie vorhergesehen, an welcher Stelle des Bahnsteigs sein Waggon halten würde! Sie schien weder überrascht noch stolz darauf zu sein. Maigret fand sie so vor, wie er sie in Paris gesehen hatte und wie sie vermutlich immer aussah: im stahlgrauen Kostüm, mit schwarzen Schuhen und einem jener Hüte, an deren Form oder Farbe man sich unmöglich erinnern kann.
Hier auf dem Bahnsteig, auf dem nur noch wenige Reisende umherirrten und über den der Wind hinwegfegte, wirkte sie jedoch größer und etwas kräftiger. Ihre Nase war gerötet, und sie hielt ein zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand.
»Ich war mir sicher, dass Sie kommen würden, Herr Kommissar …«
War sie sich nun ihrer selbst oder seiner so sicher? Ohne ein Lächeln fuhr sie fort:
»Haben Sie noch weiteres Gepäck?«
Aber nein. Maigret hatte nur seine Reisetasche aus grobem, abgegriffenem Leder bei sich, die er, obwohl sie ziemlich schwer war, selbst trug.
Mit ihm waren lediglich ein paar Reisende dritter Klasse ausgestiegen, die den Bahnhof inzwischen verlassen hatten. Anna Peeters reichte dem Beamten, der die junge Frau eindringlich musterte, ihre Bahnsteigkarte.
Draußen fuhr sie unbeirrt fort:
»Ich wollte Ihnen zuerst ein Zimmer in unserem Haus herrichten. Aber dann dachte ich, es wäre vielleicht besser, wenn Sie im Hotel wohnten. Ich habe Ihnen das beste Zimmer im Hôtel de la Meuse reservieren lassen …«
Sie waren kaum hundert Meter durch die kleinen Straßen der Stadt gegangen, schon schaute ihnen jeder nach. Die Reisetasche zerrte an Maigrets Arm, während er schwerfällig dahinstapfte. Er versuchte sich alles einzuprägen: die Menschen, die Häuser und vor allem seine Begleiterin.
»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte er, als er ein Rauschen hörte.
»Das Hochwasser der Maas, das gegen die Brückenpfeiler anbrandet. Der Schiffsverkehr ist schon seit drei Wochen eingestellt.«
Als sie aus einer Gasse heraustraten, sahen sie den Fluss vor sich. Er war gewaltig angeschwollen und seine Begrenzung kaum zu erkennen. Die braune Flut hatte manche Wiese überschwemmt, an einer Stelle sah man einen Schuppen aus dem Wasser ragen. Mindestens hundert Boote, Schlepper, Lastkähne, Baggerschiffe drängten sich dicht aneinander und bildeten einen großen Block.
»Dort ist Ihr Hotel … Es ist nicht sehr komfortabel, aber vielleicht möchten Sie zuerst ein Bad nehmen?«
Unglaublich! Maigret wurde einfach nicht schlau aus ihr. Womöglich hatte ihn noch keine andere Frau so neugierig gemacht wie sie, die vollkommen gelassen blieb, ohne zu lächeln, sich nicht bemühte, hübsch auszusehen, und gelegentlich ihre Nase mit einem Taschentuch abtupfte.
Anna Peeters musste zwischen fünfundzwanzig und dreißig sein. Sie war sehr groß und von kräftigem Körperbau, der jeglicher Anmut entbehrte.
Ihre Kleidung war kleinbürgerlich und äußerst unauffällig. Doch in ihrem Auftreten lag eine Ruhe, die beinahe vornehm wirkte.
Sie behandelte ihn wie einen Gast: Sie war hier zu Hause, sie kümmerte sich um alles.
»Ich wüsste nicht, warum ich ein Bad nehmen sollte.«
»Wollen Sie dann bitte gleich zu uns kommen? Geben Sie Ihre Reisetasche dem Hausdiener … Garçon! Bringen Sie die Tasche in Zimmer drei. Monsieur wird später wiederkommen.«
Maigret beobachtete sie verstohlen und kam sich vor wie ein Idiot.
Dabei war er alles andere als ein unbeholfener kleiner Junge. Wenn sie auch nicht gerade schmächtig war, er war doppelt so kräftig wie sie, und sein weiter Mantel verlieh ihm etwas Wuchtiges.
»Sind Sie nicht zu müde?«
»Ganz und gar nicht!«
»Dann kann ich Ihnen ja auf dem Weg schon erste Hinweise geben.«
Erste Hinweise hatte sie ihm bereits in Paris gegeben! Als er diese Unbekannte eines schönen Tages in seinem Büro vorfand, wo sie schon seit zwei oder drei Stunden auf ihn gewartet hatte. Vom Bürodiener ließ sie sich nicht abwimmeln.
»Es ist vertraulich!«, hatte sie eingewendet, als Maigret sie in Anwesenheit zweier Inspektoren nach ihrem Anliegen fragte.
Sobald sie allein gewesen waren, hatte sie ihm einen Brief überreicht. Maigret hatte die Schrift eines Cousins seiner Frau erkannt, der in Nancy wohnte.
Mein lieber Maigret,
Mademoiselle Anna Peeters hat sich auf Empfehlung meines Schwagers, der sie seit über zehn Jahren kennt, an mich gewandt. Sie ist eine achtbare junge Frau und wird dir selbst von ihrem Unglück berichten. Bitte hilf ihr, so gut es geht …
»Wohnen Sie in Nancy?«
»Nein, in Givet.«
»Aber dieser Brief …«
»Ich bin extra nach Nancy gefahren, bevor ich hergekommen bin. Ich wusste, dass mein Cousin jemand Bedeutenden bei der Polizei kennt …«
Sie war keine gewöhnliche Bittstellerin. Weder senkte sie den Blick noch verhielt sie sich unterwürfig. Sie schaute Maigret in die Augen und sprach geradeheraus, als forderte sie lediglich ein, was ihr zustand.
»Meine Eltern und ich sind verzweifelt. Es wird einen fürchterlichen Justizirrtum geben, wenn Sie uns nicht helfen!«
Maigret hatte sich Notizen gemacht. Eine ziemlich verworrene Familienangelegenheit.
Die Peeters führten ein Lebensmittelgeschäft an der belgischen Grenze. Sie hatten drei Kinder: Anna, die im Geschäft half, Maria, die Lehrerin war, und Joseph, der in Nancy Jura studierte … Joseph hatte ein Kind mit einem Mädchen aus der Stadt. Das Kind war jetzt drei Jahre alt und seine Mutter, das Mädchen, plötzlich verschwunden. Man verdächtigte die Peeters, sie getötet oder entführt zu haben.
Dienstlich ging Maigret dieser Fall nichts an. Er fiel in die Zuständigkeit eines Kollegen in Nancy. Maigret hatte ihm ein Telegramm geschickt und die entschiedene Antwort erhalten:
PEETERS ZWEIFELLOS SCHULDIG
VERHAFTUNG FOLGT
Eben das hatte Maigret bewogen, nach Givet zu fahren. Ohne einen offiziellen Auftrag, rein privat. Und schon am Bahnhof hatte ihn diese Anna, die er seither unablässig beobachtete, ans Gängelband genommen.
Die Strömung war stark. An jedem Brückenpfeiler brandete die Flut auf, brach sich in tosenden Kaskaden und führte ganze Bäume mit sich fort.
Der Wind, der flussaufwärts durch das Maastal brauste, wirbelte das Wasser auf und trug es so hoch hinaus, dass es mächtige Wellen schlug.
Es war drei Uhr nachmittags und dämmerte bereits.
Durch die fast leeren Straßen fegte der Wind. Einige wenige Passanten eilten vorüber, und Anna war nicht die Einzige, die sich schnäuzte.
»Sehen Sie die Gasse dort links?«
Diskret bedeutete ihm die junge Frau, einen Moment stehen zu bleiben, und wies mit einer kaum wahrnehmbaren Geste auf das zweite Haus in der Gasse. Es war ein armseliges zweistöckiges Haus. Hinter einem Fenster zeichnete sich schon der Schein einer Petroleumlampe ab.
»Dort wohnt sie!«
»Wer?«
»Sie! Germaine Piedbœuf. Das Mädchen, das …«
»… mit Ihrem Bruder ein Kind hat?«
»Wenn es überhaupt von ihm ist! Das ist noch gar nicht bewiesen … Sehen Sie mal!«
In einem Hauseingang stand ein Pärchen: ein Mädchen ohne Hut, wahrscheinlich eine kleine Fabrikarbeiterin, und ein Mann, der sie an sich presste.
»Ist sie das?«
»Nein. Sie ist ja verschwunden. Aber das ist auch so eine … Verstehen Sie? Es ist ihr gelungen, meinem Bruder einzureden …«
»Ähnelt das Kind ihm denn nicht?«
Und sie erwiderte trocken:
»Es ähnelt seiner Mutter … Aber kommen Sie. Diese Leute liegen ständig hinter ihren Gardinen auf der Lauer.«
»Hat sie Angehörige?«
»Ihren Vater, der Nachtwächter in der Fabrik ist, und ihren Bruder Gérard.«
Der Kommissar hatte sich das kleine Haus und vor allem das von der Petroleumlampe erleuchtete Fenster bereits eingeprägt.
»Kennen Sie Givet?«
»Ich bin einmal durchgefahren.«
Ein unendlich langer, sehr breiter Quai, an dem sich alle zwanzig Meter ein Poller zum Festmachen der Lastkähne befand. Einige Lagerhäuser. Ein niedriges Gebäude, auf dem eine Fahne wehte.
»Der französische Zoll … Unser Haus steht ein Stück weiter, in der Nähe des belgischen Zolls.«
Das Wasser war so aufgepeitscht, dass die Kähne gegeneinanderstießen. Pferde liefen frei herum und grasten auf dem kargen Grün.
»Sehen Sie das Licht dort? Da ist es …«
Ein Zollbeamter ließ sie passieren, ohne etwas zu sagen. Ein paar Schiffer begannen plötzlich, Flämisch zu reden.
»Was haben sie gesagt?«
Sie zögerte und wandte zum ersten Mal den Kopf ab.
»Dass man nie die Wahrheit erfahren wird.«
Und sie ging schneller, beugte sich vor, um dem Gegenwind zu trotzen.
Das hier war kein Wohngebiet, es war das Reich des Flusses, der Boote, des Zolls und der Befrachter. Hie und da schaukelte ein elektrisches Licht im Wind. Wäsche knatterte auf einem Kahn. Kinder spielten im Matsch.
»Ihr Kollege war erst gestern wieder bei uns und hat uns vom Untersuchungsrichter ausgerichtet, dass wir uns dem Gericht zur Verfügung halten sollen. Sie haben nun zum vierten Mal alles durchsucht, sogar den Brunnen …«
Sie näherten sich dem Haus der Flamen, das nun deutlich vor ihnen aufragte. Es war ziemlich mächtig und stand für sich allein nah am Ufer, dort, wo die meisten Schiffe lagen. Das einzige Gebäude in Sichtweite, hundert Meter entfernt, war das belgische Zollhaus mit dem dreifarbigen Grenzpfosten.
»Treten Sie bitte ein.«
An der gläsernen Eingangstür klebten durchsichtige Reklameschilder, die für ein Messingputzmittel warben. Die Ladenklingel ertönte.
Und gleich hinter der Türschwelle umfing sie eine Wärme, eine undefinierbare, sirupartige Atmosphäre der Ruhe, dominiert von Gerüchen. Aber von welchen? Einem Hauch Zimt und einer stärkeren Note gemahlenen Kaffees. Es roch auch nach Petroleum und Genever.
Eine einzige Glühbirne. Hinter der dunkelbraun gestrichenen Holztheke stand eine weißhaarige Frau in schwarzer Bluse und unterhielt sich auf Flämisch mit einer Schiffersfrau, die ein Kind auf dem Arm trug.
»Bitte hier entlang, Herr Kommissar.«
Maigret hatte gerade noch einen Blick auf die gut gefüllten Regale werfen können. Aber vor allem war ihm der Zinkbeschlag am Ende der Theke aufgefallen, auf dem Schnapsflaschen mit Ausgießern aus Zinn standen. Doch es blieb ihm keine Zeit, stehen zu bleiben. Eine weitere Glastür, bespannt mit einer Gardine. Man betrat die Küche. Ein alter Mann saß in einem Korbsessel dicht am Herd.
»Hier entlang …«
Ein kalter Flur. Noch eine Tür, und man gelangte ganz unerwartet in einen Raum: halb Salon, halb Esszimmer, mit einem Klavier darin und einem Geigenkasten, das Parkett gewienert, komfortable Möbel und an den Wänden Drucke von Gemälden.
»Geben Sie mir bitte Ihren Mantel.«
Der Tisch war gedeckt: ein grobkariertes Tischtuch, Silberbesteck, Tassen aus zartem Porzellan.
»Sie nehmen doch sicher einen Kaffee?«
Nachdem Anna Maigrets Mantel in den Flur gehängt hatte, kehrte sie in einer Hemdbluse aus weißer Seide zurück, die sie noch burschikoser erscheinen ließ. Warum fehlte ihr jegliche weibliche Ausstrahlung? Man konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich verliebte, und erst recht nicht, dass sich ein Mann in sie verliebte.
Alles war vorbereitet. Sie brachte eine dampfende Kaffeekanne herein, füllte drei Tassen, verschwand und kam mit einer Reistorte zurück.
»Setzen Sie sich, Herr Kommissar. Meine Mutter kommt sofort.«
»Spielen Sie Klavier?«
»Ja, und meine Schwester. Aber sie hat dafür weniger Zeit. Abends muss sie die Arbeiten ihrer Schülerinnen korrigieren.«
»Und wer spielt Geige?«
»Mein Bruder.«
»Ist er nicht hier in Givet?«
»Er wird gleich kommen. Ich habe ihn von Ihrer Ankunft unterrichtet.«
Sie schnitt die Torte an und legte ihm mit der Selbstgewissheit der Gastgeberin ein Stück auf den Teller. Madame Peeters trat ein, die Hände vor dem Bauch gefaltet, und begrüßte ihn mit einem schüchternen, melancholischen Lächeln.
»Anna sagte mir, Sie würden freundlicherweise …«
Sie war mehr Flämin als ihre Tochter und sprach mit einem leichten Akzent. Sie hatte feine Züge, und ihr silberweißes Haar verlieh ihr etwas Vornehmes. Sie setzte sich auf den Rand ihres Stuhls wie jemand, der daran gewöhnt ist, immerzu aufzuspringen.
»Sie müssen hungrig sein nach der Reise … Ich selbst habe keinen Appetit mehr seit …«
Maigret dachte an den Alten, der in der Küche geblieben war. Warum kam er nicht, um auch von der Torte zu essen? Genau in diesem Augenblick sagte Madame Peeters zu ihrer Tochter:
»Bring deinem Vater ein Stück …«
Und zu Maigret:
»Er verlässt seinen Sessel nur selten und nimmt kaum noch etwas wahr.«
Die Atmosphäre im Haus entbehrte jeglicher Dramatik. Man hatte den Eindruck, draußen könnten die entsetzlichsten Katastrophen passieren, ohne den Frieden im Haus der Flamen zu stören, in dem kein Staubkörnchen zu finden war, in das kein Luftzug eindrang, kein Geräusch. Man hörte lediglich das Bullern des Ofens.
Während Maigret von der mächtigen Torte aß, fragte er:
»An welchem Tag genau ist es passiert?«
»Am 3. Januar, einem Mittwoch.«
»Heute haben wir den 20.«
»Ja, man hat uns nicht gleich verdächtigt.«
»Diese junge Frau … Wie heißt sie noch?«
»Germaine Piedbœuf. Sie ist gegen acht Uhr abends in den Laden gekommen, meine Mutter hat sie empfangen.«
»Was wollte sie?«
Madame Peeters bemühte sich, ihre Tränen zu unterdrücken.
»Das Gleiche wie immer. Sich beschweren, dass Joseph sie nicht besuchte, nichts von sich hören ließ … Dabei arbeitet der Junge doch so viel! Man muss es ihm hoch anrechnen, dass er trotz allem sein Studium fortsetzt.«
»Ist sie lange geblieben?«
»Vielleicht fünf Minuten. Ich musste sie bitten, nicht so zu heulen. Die Schiffer hätten es hören können. Dann ist Anna in den Laden gekommen und hat ihr gesagt, sie solle besser gehen.«
»Ist sie gegangen?«
»Anna hat sie nach draußen begleitet. Ich bin in die Küche zurückgegangen und habe den Tisch abgeräumt.«
»Und seitdem haben Sie sie nicht mehr gesehen?«
»Nein.«
»Und aus dem Ort ist ihr auch niemand mehr begegnet?«
»Alle streiten es ab.«
»Hat sie mit Selbstmord gedroht?«
»Nein! Solche Frauen bringen sich nicht um … Noch etwas Kaffee? Ein Stück Torte? Anna hat sie gebacken.«
Ein weiterer Pinselstrich, der das Bild von Anna ergänzte: Sie saß still auf ihrem Stuhl, beobachtete den Kommissar, als wären die Rollen vertauscht, als gehörte sie an den Quai des Orfèvres und er hierher.
»Erinnern Sie sich noch daran, was Sie an jenem Abend gemacht haben?«
Es war Anna, die traurig lächelnd antwortete.
»Man hat uns so oft verhört, dass wir uns noch an die kleinste Einzelheit erinnern können. Ich bin in mein Zimmer hinaufgegangen, um mir Wolle zum Stricken zu holen. Als ich herunterkam, saß meine Schwester hier am Klavier, und Marguerite kam gerade herein.«
»Marguerite?«
»Unsere Cousine, die Tochter von Doktor Van de Weert. Sie wohnen auch in Givet. Ich sage es Ihnen lieber gleich, Sie erfahren es ja doch, Marguerite ist Josephs Verlobte.«
Madame Peeters erhob sich seufzend, weil es im Laden geklingelt hatte. Man hörte sie mit fast heiterer Stimme Flämisch sprechen und Bohnen oder Erbsen abwiegen.
»Darunter leidet meine Mutter doch so sehr … Seit jeher ist es beschlossene Sache, dass Joseph und Marguerite heiraten. Sie waren schon mit sechzehn verlobt. Aber Joseph sollte erst sein Studium beenden. Ja, und dann kam dieses Kind …«
»Und trotzdem wollten sie heiraten?«
»Marguerite wollte keinen anderen. Sie liebten sich immer noch.«
»Wusste Germaine Piedbœuf davon?«
»Ja. Aber sie hat darauf bestanden, Joseph zu heiraten, und um endlich seine Ruhe zu haben, hat mein Bruder eingewilligt. Die Hochzeit sollte nach dem Examen stattfinden.«
Wieder ertönte die Ladenklingel, und Madame Peeters schlurfte durch die Küche.
»Sie wollten mir sagen, was Sie am Abend des 3. gemacht haben …«
»Ja, natürlich. Wie gesagt, als ich herunterkam, waren meine Schwester und Marguerite hier im Zimmer. Bis halb elf wurde Klavier gespielt. Mein Vater war wie gewöhnlich schon um neun schlafen gegangen. Meine Schwester und ich haben Marguerite noch bis zur Brücke begleitet …«
»Und Sie sind niemandem begegnet?«
»Nein … Es war sehr kalt. Wir sind dann nach Hause zurückgegangen. Auch am nächsten Morgen haben wir noch nichts geahnt. Nachmittags erzählte man sich schließlich, dass Germaine Piedbœuf verschwunden sei. Erst zwei Tage später ist der Verdacht auf uns gefallen, weil irgendwer gesehen hatte, wie sie in unser Haus gegangen war. Zuerst hat uns der Polizeikommissar vorladen lassen, dann Ihr Kollege aus Nancy … Monsieur Piedbœuf scheint Anzeige erstattet zu haben. Sie haben das Haus, den Keller, die Schuppen, einfach alles durchsucht und sogar den Garten umgegraben …«
»War Ihr Bruder am 3. nicht in Givet?«
»Nein, er kommt nur samstags, mit dem Motorrad, selten in der Woche … Die ganze Stadt ist gegen uns, weil wir Flamen sind und weil wir Geld haben.«
Sie sagte das mit einem gewissen Stolz, oder genauer: mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein.
»Sie können sich nicht vorstellen, was man uns schon alles angedichtet hat …«
Wieder die Ladenklingel, dann eine junge Stimme:
»Ich bin’s! Lasst euch nicht stören …«
Eilige Schritte. Gleich darauf stürzte eine sehr feminine Gestalt ins Zimmer und blieb, als sie Maigret erblickte, wie angewurzelt stehen.
»Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht …«
»Das ist Kommissar Maigret, der uns helfen will … Meine Cousine Marguerite.«
Eine zarte, behandschuhte Hand in Maigrets Pranke und ein schüchternes Lächeln.
»Anna hat mir gesagt, Sie wären bereit, uns …«
Sie war sehr zierlich, mehr noch als hübsch; blonde krause Löckchen umrahmten ihr Gesicht.
»Sie spielen Klavier?«
»Ja … Ich liebe nichts mehr als die Musik, besonders, wenn ich traurig bin.«
Mit ihrem Lächeln erinnerte sie an die hübschen Mädchen in den Werbekatalogen. Schmollmund, verschleierter Blick, den Kopf ein wenig geneigt.
»Ist Maria noch nicht zurück?«
»Nein. Ihr Zug hat sicher wieder Verspätung.«
Der Stuhl knarrte bedenklich, als Maigret die Beine übereinanderschlagen wollte.
»Wann genau sind Sie am Abend des 3. hierhergekommen?«
»Um halb neun … Vielleicht auch etwas früher. Wir essen immer zeitig zu Abend, und mein Vater hatte Freunde zum Bridge eingeladen …«
»War das Wetter so wie heute?«
»Es hat geregnet … eine ganze Woche lang.«
»Hatte die Maas schon Hochwasser?«
»Es fing gerade an, aber die Wehre sind erst am 5. oder 6. geöffnet worden. Die Lastschiffe fuhren noch.«
»Noch ein Stück Torte, Herr Kommissar? Nein? Vielleicht eine Zigarre?«
Anna reichte ihm eine Kiste belgischer Zigarren und murmelte, wie um sich zu entschuldigen:
»Die sind nicht geschmuggelt. Ein Teil des Hauses steht auf belgischem und ein Teil auf französischem Boden …«
»Ihr Bruder jedenfalls war in Nancy. Damit ist er raus aus der Sache …«, murmelte Maigret.
»Nein, er wird auch verdächtigt«, sagte Anna. »Ein Saufbold behauptet nämlich, er hätte sein Motorrad den Quai entlangfahren sehen. Das hat er vierzehn Tage später erzählt, als ob er sich da noch hätte erinnern können! Dahinter steckt Gérard, Germaine Piedbœufs Bruder. Der hat nichts zu tun und verbringt seine Zeit damit, Zeugen aufzutreiben. Stellen Sie sich vor, die Piedbœufs wollen eine Zivilklage einreichen und dreihunderttausend Franc Schadenersatz fordern!«
»Wo ist das Kind?«
Wieder hatte es geläutet, und man hörte Madame Peeters in den Laden eilen. Anna stellte die Torte ins Buffet und die Kaffeekanne auf den Ofen.
»Bei den Piedbœufs.«
Und man vernahm hinter der dünnen Wand die laute Stimme eines Schiffers, der Genever verlangte.
M