Maigret und das Verbrechen in Holland - Georges Simenon - E-Book

Maigret und das Verbrechen in Holland E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Auf einer Vortragsreise in Holland wird Professor Jean Duclos' Gastgeber Conrad Popinga erschossen, und ausgerechnet Duclos wurde mit der Tatwaffe in der Hand gesehen. Als Maigret in der Hafenstadt Delfzijl ankommt, muss er erst einmal einer Kuh beim Kalben helfen. Bei seinen Ermittlungen werden ihm einige Steine in den Weg gelegt: nicht nur von den niederländischen Kollegen, auch vom vermeintlichen Täter, der den Fall lieber selbst lösen möchte. Noch dazu Maigret der Landessprache nicht mächtig ist.

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Der 8. Fall

Georges Simenon

Maigret und das Verbrechen in Holland

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker

Kampa

1Das Mädchen mit der Kuh

Als Maigret an einem Nachmittag im Mai nach Delfzijl kam, kannte er von dem Fall, der ihn in die kleine, im äußersten Norden Hollands gelegene Stadt rief, nur die grundlegenden Fakten.

Ein gewisser Jean Duclos, Professor an der Universität Nancy, war auf einer Vortragsreise durch die Länder des Nordens. In Delfzijl war er Gast eines Lehrers der Marineschule namens Popinga. Nun war Monsieur Popinga ermordet worden, und auch wenn man den französischen Professor nicht direkt beschuldigte, hatte man ihn gebeten, die Stadt nicht zu verlassen und sich den niederländischen Behörden zur Verfügung zu halten.

Das war alles, oder fast alles. Jean Duclos hatte die Universität Nancy benachrichtigt, die erwirkt hatte, dass jemand von der Pariser Kriminalpolizei nach Delfzijl geschickt wurde.

Mit dieser Aufgabe wurde Maigret betraut. Es war ein eher offiziöser als offizieller Auftrag, den er noch weniger offiziell gemacht hatte, indem er es unterlassen hatte, seine holländischen Kollegen von seiner Ankunft zu unterrichten.

Von Jean Duclos hatte er einen recht verworrenen Bericht erhalten, dem eine Liste mit den Namen derer angefügt war, die mehr oder weniger in diese Geschichte verstrickt waren. Kurz bevor sein Zug in den Bahnhof Delfzijl einfuhr, las er diese Liste:

Conrad Popinga (das Opfer), zweiundvierzig Jahre alt, ehemaliger Schiffskapitän für Überseestrecken, Lehrer an der Marineschule in Delfzijl. Verheiratet. Keine Kinder. Sprach fließend Englisch, Deutsch und ziemlich gut Französisch.

Liesbeth Popinga, seine Frau. Tochter eines Gymnasialdirektors in Amsterdam. Sehr gebildet. Ausgezeichnete Französischkenntnisse.

Any Van Elst, jüngere Schwester von Liesbeth Popinga, für ein paar Wochen zu Besuch in Delfzijl. Hat vor Kurzem ihren Doktor in Jura gemacht. Fünfundzwanzig Jahre. Versteht ein wenig Französisch, spricht es aber nur gebrochen.

Familie Wienands. Bewohnt die Nachbarvilla der Popingas. Carl Wienands ist Lehrer für Mathematik an der Marineschule. Frau und zwei Kinder. Keine Französischkenntnisse.

Beetje Liewens, achtzehn Jahre alt. Tochter eines Bauern, der auf den Export reinrassiger Kühe spezialisiert ist. Zwei Aufenthalte in Paris. Spricht perfekt Französisch.

 

Das alles sagte nicht viel aus. Namen, mit denen zumindest Maigret nichts anfangen konnte, der aus Paris kam und mit der Eisenbahn einen ganzen Tag und eine halbe Nacht gebraucht hatte.

Delfzijl verwirrte ihn von Anfang an. In der Morgendämmerung war er durch das traditionelle Tulpen-Holland gefahren und dann durch Amsterdam, das er bereits kannte. Die Provinz Drenthe, eine richtige Heidekrautwüste, durch die sich bis zum Horizont in dreißig Kilometern Entfernung Kanäle zogen, hatte ihn überrascht.

Er befand sich jetzt in einer Gegend, die nichts mit den holländischen Ansichtskarten gemein hatte und hundertmal nördlicher wirkte, als er es sich vorgestellt hatte.

Eine Kleinstadt: zehn oder höchstens fünfzehn Straßen, gepflastert mit schönen roten Klinkersteinen, die sich so regelmäßig aneinanderreihten wie Fliesen in einer Küche. Niedrige Häuser, ebenfalls aus Klinkersteinen und mit Holztäfelungen in hellen, lustigen Farben geschmückt.

Eine Spielzeugstadt, nicht zuletzt wegen eines Deichs, der die Stadt komplett umschloss. In diesem Deich befanden sich Durchlässe, die bei Flut durch schwere Eisentore geschlossen werden konnten und Schleusentoren glichen.

Dahinter die Emsmündung. Die Nordsee. Ein breites silbernes Band. Frachtschiffe, die unter den Kränen am Kai entladen wurden. Kanäle und viele Segelschiffe, groß und schwer wie Lastkähne, aber seetauglich.

Die Sonne schien. Der Bahnhofsvorsteher trug eine hübsche orangefarbene Mütze und grüßte den Fremden ganz selbstverständlich.

Gegenüber befand sich ein Café. Maigret ging hinein und wagte kaum, sich zu setzen. Der Raum war nicht nur gebohnert wie ein kleinbürgerliches Esszimmer, sondern wirkte auch ebenso privat.

Ein einziger Tisch, die Tageszeitungen in Messinghalter gespannt. Der Wirt, der mit zwei Gästen Bier trank, stand auf, um Maigret zu begrüßen.

»Sprechen Sie Französisch?«, fragte der Kommissar.

Ein leicht verlegenes Kopfschütteln.

»Bringen Sie mir … Bier …«

Nachdem er sich gesetzt hatte, zog er die Liste aus der Tasche. Der letzte Name darauf sprang ihm ins Auge. Er deutete darauf und sagte zwei- oder dreimal:

»Liewens …«

Die drei Männer sprachen miteinander. Dann stand einer auf, ein großer Bursche mit Seemannsmütze, und gab Maigret ein Zeichen, ihm zu folgen. Da der Kommissar noch kein holländisches Geld hatte und einen Hundertfrancschein wechseln wollte, sagte man ihm mehrmals:

»Morgen! … Morgen! …«

Morgen! Falls er wiederkommen würde!

Hier ging es familiär zu. Das hatte etwas sehr Einfaches, ja Argloses. Ohne ein Wort führte der Cicerone Maigret durch die Straßen der kleinen Stadt. Zur Linken befand sich ein Laden voller alter Anker, Taue, Ketten, Bojen und Kompasse, die bis auf den Gehsteig ausgebreitet waren. Ein Stück weiter arbeitete ein Segelmacher vor seiner Türschwelle.

Und im Schaufenster der Konditorei lag eine unglaubliche Auswahl an Schokoladen und sehr kunstvoll dekorierten Süßwaren.

»Nicht Englisch sprechen?«

Maigret schüttelte den Kopf.

»Nicht Deutsch?«

Wieder schüttelte Maigret den Kopf, und der Mann verstummte erneut. Am Ende einer Straße begann schon das Land: grüne Wiesen und ein Kanal, auf dem beinah über die gesamte Breite Baumstämme aus dem Norden schwammen, die darauf warteten, durch das Land befördert zu werden.

Ein Stück in der Ferne ein Dach mit glänzenden Ziegeln.

»Liewens! … Dag, mijnheer!«

Und Maigret setzte seinen Weg allein fort, nachdem er versucht hatte, dem Mann zu danken, der ihn, ohne ihn zu kennen, fast eine Viertelstunde lang aus reiner Gefälligkeit begleitet hatte.

Der Himmel war wolkenlos, die Luft von einer erstaunlichen Klarheit. Der Kommissar kam an einem Holzlager vorüber, wo Eichen-, Akazien- und Teakholz-Bretter haushoch gestapelt lagen.

Ein Schiff war festgemacht. Spielende Kinder. Dann einen Kilometer weit keine Menschenseele. Immer noch die auf dem Kanal treibenden Holzstämme. Weiße Zäune und Felder, auf denen prächtige Kühe weideten.

Wieder prallte die Wirklichkeit auf vorgefasste Meinungen: Ein Bauernhof bedeutete für Maigret ein Strohdach, Misthaufen und eine Vielzahl von Tieren.

Aber hier stand er vor einem schönen neuen Haus, das von einem Garten voll wunderbar blühender Blumen umgeben war. Auf dem Kanal vor dem Haus lag ein schmal geschnittenes Mahagoniboot, am Zaun ein Damenfahrrad.

Er suchte vergeblich nach einer Klingel. Er rief, aber niemand antwortete. Ein Hund kam angelaufen und strich ihm um die Beine.

Links vom Haus erstreckte sich ein langes Gebäude mit regelmäßig verteilten Fenstern ohne Vorhänge. Ohne die solide Bauweise und vor allem ohne die hübsche Bemalung hätte man es für einen Schuppen halten können.

Das Muhen von Kühen klang von dort herüber, und Maigret ging um die Blumenrabatten herum und stand schließlich vor einer weit geöffneten Tür.

Das Gebäude war ein Stall, in dem es aber so sauber war wie in einem Wohnhaus. Überall roter Klinker, der dem Ganzen einen warmen, ja prächtigen Glanz verlieh. Abflussrinnen und eine automatische Vorrichtung zur Verteilung des Futters in die Raufen. Und hinter jeder Box ein Flaschenzug, dessen Sinn Maigret erst später aufging: Er sollte den Schwanz der Kuh beim Melken hochhalten, damit kein Schmutz in die Milch geriet.

Im Inneren herrschte Halbdunkel. Die Tiere waren draußen, nur eins lag im ersten Verschlag auf der Seite.

Ein junges Mädchen kam auf den Kommissar zu und fragte ihn zunächst etwas auf Holländisch.

»Mademoiselle Liewens?«

»Ja … Sind Sie Franzose?«

Während sie sprach, beobachtete sie die Kuh. Das Mädchen hatte ein leicht ironisches Lächeln, das Maigret nicht sofort verstand.

Wieder einmal erwiesen sich seine Vorstellungen als falsch. Beetje Liewens trug schwarze Gummistiefel, in denen sie wie eine Reiterin aussah.

Ihr grünes Seidenkleid wurde von einem weißen Kittel fast völlig verdeckt.

Ein rosiges, vielleicht zu rosiges Gesicht. Ein gesundes, heiteres Lächeln, dem es aber an Feinheit fehlte. Große blaue Augen. Rotes Haar.

Zuerst musste sie noch nach den französischen Wörtern suchen, die sie mit starkem Akzent aussprach. Aber es dauerte nicht lange, da war sie wieder mit der Sprache vertraut.

»Möchten Sie meinen Vater sprechen?«

»Sie …«

Beinah hätte sie laut gelacht.

»Sie müssen mich entschuldigen … Mein Vater ist nach Groningen gefahren und kommt erst am Abend zurück. Die beiden Knechte sind am Kanal und laden Kohle ab. Das Mädchen macht Besorgungen. Und gerade diesen Augenblick hat sich die Kuh zum Kalben ausgesucht … Wir haben nicht damit gerechnet. Ich bin ganz allein.«

Sie lehnte an einer Seilwinde, die sie für alle Fälle vorbereitet hatte, falls sie dem Tier helfen musste. Sie lächelte ihn strahlend an.

Draußen schien die Sonne. Ihre Stiefel glänzten. Sie hatte rundliche, rosige Hände mit gepflegten Nägeln.

»Es ist wegen Conrad Popinga …«

Sie runzelte die Stirn. Die Kuh hatte versucht aufzustehen und war dann schwerfällig wieder zurückgefallen.

»Jetzt ist es so weit … Wollen Sie mir helfen?«

Sie zog die bereitliegenden Gummihandschuhe an.

 

So begann Maigret diese Ermittlungen damit, dass er mit einem jungen Mädchen, dessen sichere Bewegungen sportliches Training verrieten, einem reinrassigen friesischen Kalb auf die Welt half.

Eine halbe Stunde später, während das Neugeborene schon das Euter seiner Mutter suchte, beugte er sich mit Beetje über einen Wasserhahn und seifte sich die Arme bis zu den Ellbogen ein.

»Haben Sie das zum ersten Mal gemacht?«, scherzte sie.

»Ja, zum ersten Mal …«

Sie war achtzehn Jahre alt. Als sie ihren weißen Kittel auszog, sah man, dass ihr Seidenkleid ihre vollen Formen betonte, die vielleicht durch die klare sonnige Luft besonders betörend wirkten.

»Wir können Tee trinken und uns dabei unterhalten. Kommen Sie ins Haus.«

Das Hausmädchen war inzwischen zurückgekommen. Das Wohnzimmer war etwas dunkel und streng, aber zugleich auch behaglich. Die kleinen Fensterscheiben waren kaum merklich zartrosa getönt. Maigret hatte so etwas noch nie gesehen.

Ein Regal voller Bücher. Zahlreiche Werke über Viehzucht und Tierheilkunde. An den Wänden Goldmedaillen von internationalen Ausstellungen und Urkunden.

Und inmitten von all dem die neuesten Werke von Claudel, von André Gide, von Valéry.

Beetje lächelte kokett.

»Wollen Sie mein Zimmer sehen?«

Sie beobachtete, was es für einen Eindruck auf ihn machte. Kein Bett, sondern eine mit blauem Samt bezogene Couch. Die Wände mit Toile-de-Jouy-Stofftapeten bespannt. Dunkle Regale und noch mehr Bücher. Eine Puppe aus Paris in einem raschelnden Kleid.

Fast ein Boudoir, aber mit einer ein wenig schweren, soliden, ernsten Atmosphäre.

»Ist es nicht wie in Paris?«

»Würden Sie mir erzählen, was letzte Woche passiert ist …?«

Beetjes Gesicht verfinsterte sich, aber nicht so sehr, dass man vermutet hätte, sie nehme die Ereignisse besonders schwer.

Wie hätte sie sonst so stolz lächeln können, als sie ihm ihr Zimmer zeigte?

»Jetzt trinken wir Tee …«

Und sie saßen einander gegenüber, dazwischen die Teekanne, die mit einer Art Krinoline zugedeckt war.

Beetje musste nach Worten suchen. Aber sie wurde besser und bewaffnete sich mit einem Wörterbuch und blätterte manchmal eine ganze Weile, ehe sie den richtigen Ausdruck gefunden hatte.

Auf dem Kanal glitt ein Schiff mit einem großen grauen Segel vorüber, dem mangels Windes mit Stangen nachgeholfen wurde. Es bahnte sich seinen Weg zwischen den Baumstämmen, die den Wasserweg blockierten.

»Sind Sie schon bei den Popingas gewesen?«

»Ich bin erst vor einer Stunde angekommen und habe bis jetzt nichts weiter tun können, als Ihrer Kuh beim Kalben zu helfen.«

»Ja … Conrad war ein charmanter, wirklich sympathischer Mann. Früher ist er in der ganzen Welt herumgekommen, erst als Zweiter, dann als Erster Offizier. Sagen Sie das auch so auf Französisch? Als er dann sein Kapitänspatent bekam, hat er geheiratet und seiner Frau wegen als Lehrer an der Marineschule angefangen. Keine so gute Stellung. Er besaß eine kleine Jacht, aber Madame Popinga hat Angst vor Wasser, und er musste sie wieder verkaufen. Er hatte nur noch ein Boot auf dem Kanal … Haben Sie meines gesehen? Fast das gleiche! Abends gab er Schülern Privatunterricht. Er arbeitete viel.«

»Wie war er?«

Sie verstand nicht sofort. Schließlich holte sie ein Foto, auf dem ein großer, pausbäckiger junger Mann zu sehen war, mit hellen Augen und kurzgeschnittenem Haar, der auffallend freundlich und gesund wirkte.

»Das ist Conrad … Er sieht nicht wie vierzig aus, nicht wahr? Seine Frau ist älter, fünfundvierzig vielleicht. Haben Sie sie noch nicht gesehen? Überhaupt ist sie ganz anders. Zum Beispiel … Hier sind alle protestantisch. Ich gehöre der freien Kirche an. Liesbeth Popinga gehört der Staatskirche an, die strenger ist, viel – wie sagen Sie … konversativer?«

»Konservativer.«

»Ach ja. Sie ist Vorsitzende mehrerer Wohltätigkeitsvereine.«

»Sie mögen sie nicht?«

»Doch … Aber das ist nicht dasselbe. Sie ist die Tochter eines Gymnasialdirektors, verstehen Sie, während mein Vater nur Bauer ist … Aber sie ist sehr lieb und freundlich.«

»Was ist passiert?«

»Hier werden oft Vorträge gehalten. Es ist eine Kleinstadt mit fünftausend Einwohnern, aber man will sich weiterbilden. Am letzten Donnerstag sprach Professor Duclos aus Nancy hier … Kennen Sie ihn?«

Sie war sehr erstaunt, dass Maigret den Professor nicht kannte, den sie für eine französische Berühmtheit hielt.

»Ein großer Jurist … auf kriminalistische und … wie heißt das … psychologische Fragen spezialisiert. Er hat von der Verantwortung des Täters gesprochen. Ist das richtig gesagt? Sie müssen mich verbessern, wenn ich Fehler mache …

Madame Popinga ist die Vorsitzende der Gesellschaft. Die Redner werden immer bei ihr zu Hause empfangen.

Um zehn Uhr fand eine kleine Gesellschaft im engen Kreis statt. Professor Jean Duclos, Conrad Popinga und seine Frau, Wienands mit ihren Kindern … Und ich.

Sie wohnen einen Kilometer von hier entfernt, ebenfalls am Amsterdiep. Amsterdiep ist der Kanal, den Sie dort sehen. Es gab Wein und Kuchen. Conrad hat das Radio angestellt. Any war auch da, die hatte ich vergessen. Sie ist die Schwester von Madame Popinga und Rechtsanwältin. Conrad wollte tanzen. Der Teppich wurde aufgerollt. Die Wienands sind der Kinder wegen schon zeitig gegangen, das kleinste hat geweint. Sie wohnen neben den Popingas. Um Mitternacht wurde Any müde. Ich hatte mein Fahrrad mit. Conrad hat mich nach Hause gebracht und ist ebenfalls mit dem Fahrrad gefahren.

Ich bin nach Hause gekommen, wo mich mein Vater erwartet hatte.

Erst am nächsten Morgen haben wir von dem Drama erfahren. Ganz Delfzijl war in Aufregung …

Ich glaube nicht, dass es meine Schuld war. Als Conrad nach Hause kam, wollte er sein Fahrrad in den Schuppen hinter dem Haus stellen …

Jemand hat mit einem Revolver geschossen. Conrad ist gestürzt, und eine halbe Stunde später war er tot.

Armer Conrad! … Mit offenem Mund …«

Sie wischte sich eine Träne ab, die sich auf ihrer glatten, rosigen Wange, die wie die Schale eines reifen Apfels aussah, seltsam ausnahm.

»Ist das alles?«

»Ja. Die Polizei aus Groningen ist gekommen, um der Landpolizei zu helfen. Sie hat festgestellt, dass der Schuss vom Haus aus abgegeben wurde. Offenbar hat man gleich danach den Professor gesehen, wie er mit einem Revolver in der Hand die Treppe herunterkam … Und es war der Revolver, mit dem geschossen worden war …«

»Professor Jean Duclos?«

»Ja. Deshalb man hat ihn nicht abreisen lassen.«

»Dann befanden sich also zu diesem Zeitpunkt Madame Popinga, ihre Schwester Any und Professor Duclos im Haus?«

»Ja.«

»Und vorher waren auch noch die Wienands, Sie und Conrad dort …«

»Und auch Cor … Den habe ich vergessen.«

»Cor?«

»Eine Abkürzung für Cornelius. Ein Schüler der Marineschule, der bei Popinga Privatstunden nahm.«

»Wann ist er gegangen?«

»Zusammen mit Conrad und mir. Aber er ist mit seinem Fahrrad nach links gefahren, zurück zu dem Schulschiff, das auf dem Emskanal liegt … Nehmen Sie Zucker?«

Der Tee dampfte in den Tassen. Ein Auto hielt vor der Tür des Hauses. Kurz darauf trat ein großgewachsener, breitschultriger, leicht ergrauter Mann ein. Er hatte ein ernstes Gesicht und etwas Schweres, das seine Ruhe noch unterstrich.

Es war der Bauer Liewens, der darauf wartete, dass seine Tochter ihm den Besucher vorstellte.

Er drückte Maigret kräftig die Hand, sagte aber nichts.

»Mein Vater spricht kein Französisch.«

Sie goss ihm eine Tasse Tee ein, die er im Stehen in kleinen Schlucken trank. Dann berichtete sie ihm auf Holländisch von der Geburt des Kalbes.

Offenbar erzählte sie ihm auch von der Rolle, die der Kommissar dabei gespielt hatte, denn er sah Maigret erstaunt und ein wenig spöttisch an und begab sich dann nach einer steifen Verabschiedung in den Stall.

»Hat man Professor Duclos ins Gefängnis gebracht?«, fragte Maigret.

»Nein. Er ist mit einem Polizisten im Hotel Van Hasselt.«

»Und Conrad?«

»Seine Leiche wurde nach Groningen überführt, etwa dreißig Kilometer von hier. Eine große Stadt mit hunderttausend Einwohnern und einer Universität, wo Jean Duclos am Abend zuvor gesprochen hatte. Eine furchtbare Geschichte, nicht wahr? Man kann es kaum begreifen …«

Furchtbar vielleicht, aber man merkte nichts davon! Wahrscheinlich wegen dieser klaren Luft und dieser angenehmen, behaglichen Umgebung mit dem dampfenden Tee und wegen dieser Kleinstadt, die einem Spielzeug glich, das jemand zum Spaß ans Ufer des Meeres gestellt hat.

Wenn man sich aus dem Fenster beugte, sah man über der roten Backsteinstadt den Schornstein und das Deck eines großen Frachters, der gerade entladen wurde. Und auf dem Emskanal ließen sich die Schiffe von der Strömung zum Meer treiben.

»Hat Conrad Sie oft nach Hause gebracht?«

»Jedes Mal, wenn ich bei ihm war. Er war ein Freund.«

»War Madame Popinga nicht eifersüchtig?«

Maigret sagte das so dahin, weil sein Blick gerade auf den verführerischen Busen des jungen Mädchens gefallen war und vielleicht weil ihm dabei das Blut in die Wangen stieg.

»Warum?«

»Ich weiß nicht … Spätabends, zu zweit allein …«

Sie lachte und zeigte dabei ihre weißen Zähne.

»In Holland macht man das so. Cor hat mich auch öfter nach Hause gebracht.«

»Und er war nicht in Sie verliebt?«

Sie sagte weder Ja noch Nein. Sie gluckste. Das ist das richtige Wort: ein kleines, befriedigtes, kokettes Glucksen.

Durch das Fenster sah man ihren Vater, der das Kalb wie ein Baby aus dem Stall trug und es auf die Wiese in die Sonne stellte.

Das Tier schwankte auf seinen vier dünnen Beinen, fiel fast hin, setzte plötzlich zu einem vier oder fünf Meter langen Galopp an und blieb dann wie angewurzelt stehen.

»Hat Conrad Sie nie geküsst?«

Wieder ein Lächeln, aber sie wurde ein wenig rot dabei.

»Doch …«

»Und Cor?«

Sie wurde etwas verlegen und wandte den Kopf halb ab.

»Auch … Warum fragen Sie mich das?«

Sie blickte ihn seltsam und ein wenig neckisch an. Vielleicht erwartete sie, dass auch Maigret sie küsste?

Draußen rief ihr Vater nach ihr. Sie öffnete das Fenster, und er sprach holländisch mit ihr. Als sie sich umdrehte, sagte sie:

»Entschuldigen Sie … Ich muss den Bürgermeister wegen der Eintragung in den Stammbaum holen. Das ist sehr wichtig. Wollen Sie nicht auch nach Delfzijl?«

Er verließ mit ihr das Haus. Sie nahm ihr Fahrrad und ging, es an der Lenkstange schiebend, neben ihm, wobei sie sich ein wenig in den Hüften wiegte, die schon so breit waren wie die einer Frau.

»Ein schönes Land, nicht wahr? … Armer Conrad, der es nicht mehr sehen kann. Morgen machen die Bäder wieder auf. Früher kam er jeden Tag und blieb eine Stunde im Wasser …«

Maigret blickte beim Gehen auf den Boden.

2Die Mütze des Baes

Gegen seine Gewohnheit prägte sich Maigret einige äußere, vor allem topographische Einzelheiten ein. Man konnte es guten Gewissens ein Gespür nennen, denn bei der Lösung des Falles sollte es später um Fragen von Minuten und Metern gehen.

Zwischen dem Hof der Liewens und dem Haus der Popingas lagen etwa zwölfhundert Meter. Beide Häuser standen am Ufer des Kanals, und man ging, um vom einen zum andern zu gelangen, den Treidelpfad entlang.

Der Kanal wurde im Übrigen kaum noch benutzt, seit der viel breitere und tiefere Emskanal gebaut worden war, der Delfzijl mit Groningen verband.

Dieser hier, der Amsterdiep, war schlammig, gewunden, lag im Schatten schöner Bäume. Er diente fast nur noch der Beförderung von Baumstämmen und wurde von wenigen Schiffen mit geringer Tonnage befahren.

Hin und wieder ein Bauernhof. Eine Werft für Schiffsreparaturen.

Wenn man vom Haus der Popingas zum Hof ging, traf man nach dreißig Metern zuerst auf die Villa der Wienands. Dann folgte ein Haus im Rohbau, danach ein Stück Brachland und das Lager mit den hohen Holzstapeln.

Hinter diesem Lagerplatz folgte wieder eine Freifläche, und dann machten der Kanal und der Weg eine Biegung. Von dort aus konnte man deutlich die Fenster der Popingas sehen und genau links den weißen Leuchtturm, der auf der anderen Seite der Stadt stand.

»Ist das ein Leuchtturm mit rotierendem Licht?«, fragte Maigret.

»Ja.«

»Sodass er also auch nachts dieses Stück Weg beleuchtet?«

»Ja«, sagte sie wieder mit einem leisen Lächeln, als ob diese Frage eine schöne Erinnerung wachgerufen hätte.

»Für Verliebte nicht gerade das Richtige«, sagte er.

Sie verabschiedete sich vor dem Haus der Popingas, angeblich, um einen kürzeren Weg zu nehmen, aber in Wirklichkeit wahrscheinlich, um nicht mit ihm gesehen zu werden.

Maigret blieb nicht stehen. Es war ein modernes Klinkerhaus mit einem kleinen Ziergarten davor und einem Gemüsegarten dahinter, einer Allee zur Rechten und freiem Gelände zur Linken.

Er zog es vor, in die Stadt zurückzukehren, die nur fünfhundert Meter entfernt war. Sein Weg führte ihn an die Schleuse, die den Kanal vom Hafen trennte. Im Hafenbecken wimmelte es von Schiffen von hundert bis dreihundert Tonnen, die mit aufgestellten Masten nebeneinander vor Anker lagen und eine kleine schwimmende Welt bildeten.

Links befand sich das Hotel Van Hasselt, in das er hineinging.

 

Ein dunkler Raum mit lackierten Holztäfelungen, in dem es nach Bier, Genever und Bohnerwachs roch. Ein großer Billardtisch, ein weiterer Tisch, der mit Zeitungen in Haltern bedeckt war.

Als Maigret eintrat, stand in einer Ecke ein Mann auf und kam auf ihn zu.

»Sind Sie der Beamte, der mir von der französischen Polizei geschickt wurde?«

Er war groß, hager, knochig, hatte ein langes Gesicht mit markanten Zügen, trug einen Bürstenhaarschnitt und eine Hornbrille.

»Sie sind sicher Professor Duclos«, entgegnete Maigret.

Er hatte ihn sich nicht so jung vorgestellt. Duclos musste zwischen fünfunddreißig und achtunddreißig Jahre alt sein. Aber er hatte etwas an sich, das Maigret ins Auge stach.

»Sie sind aus Nancy?«

»Ich habe dort einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität …«

»Aber Sie sind nicht in Frankreich geboren!«

»In der französischen Schweiz. Ich bin naturalisierter Franzose. Ich habe in Paris und Montpellier studiert.«

»Und Sie sind Protestant?«

»Woran sehen Sie das?«

An nichts! An allem! Duclos gehörte zu einer Kategorie von Männern, die der Kommissar gut kannte. Männer der Wissenschaft. Ein Studium um des Studiums willen, Denken um des Denkens willen. Eine gewisse Strenge im Benehmen und in der Lebensführung und zugleich eine Neigung zu internationalen Beziehungen. Eine Begeisterung für Vorträge, Kongresse, für die schriftliche Korrespondenz mit ausländischen Partnern.

Er war ziemlich nervös, wenn man das über einen Mann sagen kann, dessen Gesicht kaum je eine Regung zeigt. Auf seinem Tisch lagen zwei dicke Bücher, verschiedene Papiere, daneben stand eine Flasche Mineralwasser.

»Wo ist der Polizist, der Sie überwachen soll?«

»Ich habe ihm mein Ehrenwort gegeben, nicht abzureisen. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass ich von literarischen und wissenschaftlichen Gesellschaften in Emden, Hamburg und Bremen erwartet werde. Ich sollte in diesen drei Städten Vorträge halten, als …«

Eine dicke blonde Frau erschien, die Wirtin des Hotels, und Jean Duclos erklärte ihr auf Holländisch, wer der Besucher war.