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Es ist Nacht, Jules Maigret steht noch am Anfang seiner Karriere und hat Dienst im Revier Saint-Georges. Gleichzeitig öffnet sich in einer Villa in der Rue Chaptal ein Fenster, eine Frau ruft um Hilfe, ein Schuss fällt. Als der Vorfall gemeldet wird, begibt Maigret sich sofort an den Ort des Geschehens, doch die einflussreiche Familie wünscht keine Aufklärung. Auch sein Vorgesetzter stellt sich dem übereifrigen Maigret in den Weg. Doch dann darf er einen Zeugen verhören, in den legendären Büros der Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres.
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Seitenzahl: 223
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Der 30. Fall
Georges Simenon
Maigrets erste Untersuchung
Roman
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Annette Walter
Kampa
Eine schwarze Schranke teilte den Raum in zwei Hälften. Auf der Seite für das Publikum stand nichts als eine Bank ohne Lehne, ebenfalls schwarz gestrichen, vor einer weiß gekalkten Wand, die mit amtlichen Bekanntmachungen gepflastert war. Auf der anderen Seite sah man Pulte, Tintenfässer, mit dicken Akten gefüllte Regale, alles schwarz. Ein schwarz-weißer Raum. Das Auffallendste war ein gusseiserner Ofen, der auf einer Blechplatte stand, einer dieser Öfen, wie man sie heute nur noch in kleinen Bahnhöfen sieht. Sein Rohr stieg zuerst zur Decke auf, bildete dann ein Knie und führte durch den ganzen Raum, ehe es in der Wand verschwand.
Der Polizist mit dem runden Kindergesicht, der seine Uniform aufgeknöpft hatte und zu schlafen versuchte, hieß Lecœur.
Die runde, schwarz umrahmte Uhr zeigte ein Uhr fünfundzwanzig. Hin und wieder zischte die einzige Gaslampe, die das Büro erhellte, und manchmal bullerte der Ofen.
Draußen war es stiller geworden. Nur noch vereinzelt waren Knallfrösche zu hören oder das Grölen eines Betrunkenen, das Rattern einer Droschke, die die abfallende Straße hinunterfuhr.
Am Pult links saß der Sekretär des Kommissars von Saint-Georges über ein kleines Buch gebeugt und bewegte wie ein Schüler die Lippen. Das Buch war soeben erschienen und hatte den Titel: Anweisungen zur Herstellung eines portrait parlé für Polizeibeamte.
Auf das Deckblatt hatte jemand mit violetter Tinte in Druckschrift geschrieben: J. Maigret.
Schon dreimal seit Beginn der Nachtschicht hatte sich der junge Sekretär des Kommissars erhoben, um das Feuer im Ofen zu schüren, und nach diesem Ofen sollte er sich sein Leben lang zurücksehnen. Einen ganz ähnlichen würde er eines Tages am Quai des Orfèvres vorfinden, und noch später, wenn es in allen anderen Büros der Kriminalpolizei längst Zentralheizung gäbe, würde Oberkommissar Maigret, Chef der Sonderbrigade, den Ofen in seinem Arbeitszimmer behalten dürfen.
Es war der 15. April 1913. Die Kriminalpolizei hieß noch Sûreté. Ein ausländischer Souverän war am Morgen mit großem Pomp an der Gare de Longchamp eingetroffen, wo der Präsident der Republik ihn empfangen hatte. Von Nationalgardisten in Großer Uniform flankiert, waren die Staatskarossen zwischen Spalieren aus Menschen und Fahnen die Avenue du Bois und die Champs-Élysées hinuntergefahren.
Es hatte eine Galavorstellung in der Oper und ein Feuerwerk gegeben, ganz Paris war auf den Beinen, und der Lärm der Volksbelustigungen ließ erst jetzt allmählich nach.
Die Polizei war am Ende ihrer Kräfte. Trotz vorsorglicher Verhaftungen und geheimer Absprachen mit gewissen Individuen musste man bis zuletzt mit der Bombe eines Anarchisten rechnen.
Maigret und der Polizist Lecœur saßen um halb zwei morgens allein auf dem Kommissariat von Saint-Georges in der stillen Rue de La Rochefoucauld.
Beide hoben den Kopf, als sie draußen hastige Schritte hörten. Die Tür wurde geöffnet, und ein junger Mann blinzelte ins Gaslicht.
»Ist der Kommissar zu sprechen?«, fragte er keuchend.
»Ich bin sein Sekretär«, erwiderte Maigret, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben.
Er ahnte noch nicht, dass dies der Anfang seiner ersten Untersuchung war.
Der Mann war blond und schmächtig, hatte blaue Augen und einen rosigen Teint. Er trug einen Regenmantel über seinem dunklen Anzug, und in der einen Hand hielt er eine Melone, während er mit der anderen immer wieder seine geschwollene Nase betastete.
»Sind Sie überfallen worden?«
»Nein. Ich wollte einer Frau beistehen, die um Hilfe rief.«
»Auf der Straße?«
»In einer Villa in der Rue Chaptal. Ich glaube, Sie sollten besser sofort mitkommen. Man hat mich hinausgeworfen.«
»Wer?«
»Ein Diener oder Pförtner.«
»Vielleicht erzählen Sie besser von Anfang an? Was haben Sie in der Rue Chaptal gemacht?«
»Ich war auf dem Heimweg. Ich heiße Justin Minard. Ich bin zweiter Flötist bei den Concerts Lamoureux, aber abends spiele ich in der Brasserie Clichy am Boulevard de Clichy. Ich wohne in der Rue d’Enghien, genau gegenüber vom Petit Parisien. Wie jede Nacht bin ich durch die Rue Ballu gegangen, dann durch die Rue Chaptal.«
Als gewissenhafter Sekretär machte sich Maigret Notizen.
»Ungefähr in der Mitte der Straße, die fast immer menschenleer ist, sah ich ein Auto, einen Dion-Bouton, mit laufendem Motor. Am Steuer saß ein Mann in einem grauen Ziegenfellmantel. Sein Gesicht war fast völlig von einer großen Brille verdeckt. Als ich etwa auf Höhe des Autos war, wurde im zweiten Stock eines Hauses ein Fenster geöffnet.«
»Wissen Sie die Hausnummer?«
»17a. Das ist eine Villa mit einer Toreinfahrt. Alle anderen Fenster waren dunkel. Nur hinter dem Fenster von links war Licht, eben das, welches geöffnet wurde. Ich habe nach oben geschaut. Da beugte sich eine Frau hinaus und schrie um Hilfe.«
»Was haben Sie getan?«
»Moment! Jemand im Zimmer hat sie wohl zurückgezerrt. Im selben Augenblick knallte ein Schuss. Ich drehte mich zu dem Auto um, an dem ich vorbeigekommen war, und da fuhr es plötzlich los.«
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht bloß Motorenlärm gehört haben?«
»Ganz sicher. Ich bin zum Tor und habe geklingelt.«
»Waren Sie allein?«
»Ja.«
»Hatten Sie eine Waffe bei sich?«
»Nein.«
»Was hatten Sie vor?«
»Ich, äh …«
Die Frage brachte den Flötisten völlig aus dem Konzept, und er verstummte. Ohne den blonden Schnurrbart und die paar Härchen am Kinn hätte man ihn für höchstens sechzehn gehalten.
»Haben die Nachbarn nichts gehört?«
»Offenbar nicht.«
»Hat man Ihnen aufgemacht?«
»Nicht sofort. Ich habe bestimmt dreimal geklingelt. Dann habe ich gegen das Tor getreten. Schließlich hörte ich Schritte. Jemand hat eine Kette abgenommen und einen Riegel zurückgeschoben. In der Einfahrt brannte kein Licht, aber vor dem Haus steht eine Gaslaterne.«
Ein Uhr siebenundvierzig. Der Flötist warf immer wieder ängstliche Blicke auf die Wanduhr.
»Ein großer Kerl in schwarzer Livree hat mich gefragt, was ich will.«
»War er vollständig angezogen?«
»Ja, natürlich.«
»Von der Hose bis zur Krawatte.«
»Ja.«
»Und dabei brannte im Haus kein Licht?«
»Außer in dem Zimmer im zweiten Stock.«
»Was haben Sie zu ihm gesagt?«
»Das weiß ich nicht mehr. Ich wollte rein.«
»Warum?«
»Um nachzusehen, was da los war. Aber er versperrte mir den Weg. Ich sagte ihm, eine Frau habe um Hilfe gerufen.«
»War er irritiert?«
»Er hat mich wortlos angestarrt und mich mit seinem ganzen Gewicht zurückgestoßen.«
»Und dann?«
»Er hat gebrummt, ich hätte geträumt, ich sei betrunken, ich weiß nicht mehr, was, und dann hörte ich eine Stimme im Dunkeln, als ob jemand von oben etwas durchs Treppenhaus riefe.«
»Was haben Sie gehört?«
»›Beeilen Sie sich, Louis!‹«
»Und dann?«
»Dann hat er mich geschubst, und als ich mich wehrte, schlug er mir mit der Faust mitten ins Gesicht. Und dann war ich auf dem Gehsteig, vor dem verschlossenen Tor.«
»Brannte immer noch Licht im zweiten Stock?«
»Nein.«
»Und das Auto war nicht zurückgekommen?«
»Nein. Sollten wir jetzt nicht besser hingehen?«
»Wir? Wollen Sie mich etwa begleiten?«
Er war komisch und anrührend zugleich, dieser Flötist mit seiner mädchenhaften, zerbrechlichen Gestalt und seiner entschlossenen Miene.
»Immerhin habe ich den Faustschlag abbekommen. Ich werde übrigens Anzeige erstatten.«
»Das ist Ihr gutes Recht.«
»Aber das verschieben wir besser auf später. Meinen Sie nicht?«
»Wie war noch die Nummer des Hauses?«
»17a.«
Maigret runzelte die Stirn. Die Adresse kam ihm irgendwie bekannt vor. Er zog eine Akte aus dem Regal, blätterte darin, fand den Namen des Hauseigentümers, und sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr.
An diesem Abend trug er ein Jackett. Es war übrigens sein erstes. In einer Dienstanweisung war vor einigen Tagen allen Polizeibeamten empfohlen worden, anlässlich der Staatsvisite im Gesellschaftsanzug zu erscheinen. Denn jeden konnte jederzeit der Befehl ereilen, sich unter die offiziellen Gäste zu mischen.
Sein Regenmantel glich dem von Justin Minard wie ein Ei dem anderen.
»Kommen Sie! Lecœur, wenn jemand nach mir fragt, ich bin gleich wieder da.«
Ihm war unwohl; der Name, den er eben in der Akte gelesen hatte, stimmte ihn nicht eben optimistisch.
Er war sechsundzwanzig Jahre alt und hatte vor fünf Monaten geheiratet. In den vier Jahren, die er bei der Polizei war, hatte er sich allmählich hochgearbeitet. Er hatte alle niederen Dienste durchlaufen, auf den Straßen, den Bahnhöfen, in den Warenhäusern. Erst seit knapp einem Jahr war er Kommissariatssekretär in Saint-Georges.
Und im ganzen Viertel war der Name der Bewohner von 17a in der Rue Chaptal wohl der berühmteste.
Gendreau-Balthazar. Balthazar-Kaffee. Dieser Name prangte in fetten braunen Lettern an allen Wänden der Metrostationen. Und die Lieferwagen der Firma Balthazar mit dem prächtigen Vierergespann gehörten sozusagen zum Pariser Stadt- bild.
Maigret trank Balthazar-Kaffee. Und wenn er durch die Avenue de l’Opéra kam, sog er an einer bestimmten Stelle, gleich neben der Waffenhandlung, begierig den Duft des Kaffees ein, der hinter den Fenstern des Balthazar-Ladens geröstet wurde.
Die Nacht war kalt und klar. Auf der steilen Straße war keine Menschenseele, keine Droschke zu sehen. Damals war Maigret fast ebenso mager wie der Flötist, sodass die beiden wie zwei ausgehungerte Jünglinge wirkten, als sie zusammen die Straße hochgingen.
»Betrunken sind Sie aber nicht, oder?«
»Ich trinke nie. Der Arzt hat es mir verboten.«
»Und Sie sind sicher, dass ein Fenster geöffnet wurde?«
»Ganz sicher.«
Es war das erste Mal, dass Maigret eigenverantwortlich ermittelte. Bisher hatte er immer nur seinen Chef, Monsieur Le Bret, den elegantesten Kommissar von Paris, bei Hausdurchsuchungen begleitet, unter anderem vier Mal zur amtlichen Feststellung von Ehebruch.
Die Rue Chaptal lag ebenso verlassen da wie die Rue de La Rochefoucauld. In der Villa der Gendreau-Balthazars, einem der schönsten Palais des Viertels, brannte kein Licht.
»Sie sagten, vor dem Haus hielt ein Auto?«
»Ja, genau hier.«
Nicht unmittelbar vor dem Eingang. Etwas weiter oben. Maigret, den Kopf noch ganz voll mit den neuesten Theorien über Zeugenaussagen, zündete ein Streichholz an und beugte sich über das Holzpflaster.
»Da, sehen Sie?«, triumphierte der Musiker und deutete auf eine große schwärzliche Öllache.
»Wissen Sie, ich glaube, es entspricht nicht ganz den Vorschriften, dass Sie mich begleiten.«
»Aber man hat mich ins Gesicht geschlagen!«
Trotzdem war Maigret nicht wohl in seiner Haut. Als er die Hand zum Klingelknopf hob, verspürte er einen Druck in der Magengegend, und er fragte sich, auf welchen Paragraphen er sich berufen konnte. Er hatte keinerlei Befugnis. Außerdem war es mitten in der Nacht. Konnte er mit auf frischer Tat ertappt kommen, wenn das einzige Beweisstück die geschwollene Nase eines Flötisten war?
Auch Maigret musste dreimal klingeln, brauchte aber nicht gegen die Tür zu treten. Schließlich fragte drinnen jemand:
»Wer ist da?«
»Polizei!«, antwortete er mit nicht sehr fester Stimme.
»Einen Augenblick bitte. Ich hole den Schlüssel.«
Ein Klicken in der Einfahrt. Die Villa hatte schon elektrisches Licht. Dann mussten sie lange warten.
»Das ist er«, sagte der Musiker, der die Stimme erkannt hatte.
Endlich! Kette, Riegel, ein verschlafen wirkendes Gesicht, ein Blick, der Maigret nur kurz streifte und an Justin Minard hängen blieb.
»Sie haben ihn also gekriegt«, sagte der Mann. »Ich nehme an, er hat sich anderswo noch mal ein Späßchen erlaubt.«
»Erlauben Sie, dass wir reinkommen?«
»Wenn es unbedingt sein muss. Ich bitte Sie aber, keinen Lärm zu machen, damit nicht das ganze Haus wach wird. Hier entlang.«
Links gelangte man über drei Marmorstufen zu einer zweiflügligen Glastür, die in eine Säulenhalle führte. Zum ersten Mal in seinem Leben betrat Maigret einen so prächtigen Raum. Allein durch seine Größe erinnerte er an die Empfangshalle eines Ministeriums.
»Heißen Sie Louis?«
»Woher wissen Sie das?«
Wie auch immer. Jedenfalls stieß Louis eine Tür auf, die aber nicht in einen Salon, sondern in eine Art Dienstbotenzimmer führte. Er war nicht mehr in Livree, schien gerade aus dem Bett zu kommen und hatte sich nur hastig eine Hose über das weiße Nachthemd mit dem rot bestickten Kragen gestreift.
»Ist Monsieur Gendreau-Balthazar da?«
»Welcher? Der Vater oder der Sohn?«
»Der Vater.«
»Monsieur Félicien ist noch nicht zurück. Und Monsieur Richard, der Sohn, schläft sicher längst. Vor etwa einer halben Stunde hat dieser Trunkenbold …«
Louis war groß und stämmig. Er mochte etwa fünfundvierzig Jahre alt sein. Sein rasiertes Kinn schimmerte bläulich. Er hatte sehr dunkle Augen und ungewöhnlich dichte schwarze Brauen.
Maigret schluckte und trat dann tapfer die Flucht nach vorn an: »Ich möchte zu Monsieur Richard.«
»Wünschen Sie, dass ich ihn wecke?«
»Jawohl.«
»Würden Sie mir Ihren Ausweis zeigen?«
Maigret reichte ihm seinen Polizeiausweis.
»Sind Sie schon lange im Viertel?«
»Seit zehn Monaten.«
»Gehören Sie zum Kommissariat Saint-Georges?«
»Ja.«
»Sie kennen also Monsieur Le Bret?«
»Das ist mein Chef.«
Worauf Louis wie beiläufig, aber mit drohendem Unterton sagte:
»Ich kenne ihn auch. Ich habe die Ehre, ihn zu bedienen, wenn er zum Mittag- oder Abendessen kommt.«
Er ließ einige Sekunden verstreichen, indem er geflissentlich an Maigret vorbeisah:
»Wünschen Sie immer noch, dass ich Monsieur Richard wecke?«
»Ja.«
»Haben Sie eine Vollmacht?«
»Nein.«
»Na schön. Warten Sie bitte.«
Bevor er ging, holte er aus einem Schrank eine gestärkte Hemdbrust, einen Kragen und eine schwarze Krawatte. Dann nahm er seinen Rock vom Haken und zog ihn über.
Im Zimmer gab es nur einen Stuhl. Weder Maigret noch Justin Minard setzten sich. Tiefes Schweigen umgab sie. Das ganze Haus lag im Halbdunkel, sehr feierlich, sehr eindrucksvoll.
Zweimal zog Maigret seine Uhr aus der Tasche. Zwanzig Minuten vergingen, bis Louis von Neuem erschien, immer noch mit eisiger Miene.
»Bitte folgen Sie mir …«
Minard wollte schon hinter Maigret hergehen, als der Diener sich ihm in den Weg stellte:
»Sie nicht. Außer Sie sind auch bei der Polizei.«
Wie lächerlich! Maigret kam sich feige vor, weil er den Flötisten allein zurückließ. Das dunkel getäfelte Dienstbotenzimmer erinnerte ihn an eine Gefängniszelle, und im Geist sah er den Diener mit dem bläulichen Kinn zurückkommen und sich auf sein Opfer stürzen.
Er folgte Louis durch die Säulenhalle und dann die mit einem dunkelroten Läufer bedeckte Treppe hinauf.
Es brannten nur wenige Lampen, und die gelblich schimmernden Glühbirnen ließen große Flächen im Dunkeln. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock stand eine Tür offen, und in ihrem Rahmen sah er im Gegenlicht einen Mann im Morgenrock.
»Ich höre, Sie wollen mich sprechen. Bitte treten Sie ein. Lassen Sie uns allein, Louis.«
Das Zimmer diente als Wohn- und Arbeitsraum. Die Wände waren mit Leder bespannt, es roch nach Havannazigarren und einem Parfum, das Maigret nicht kannte. Eine halb geöffnete Tür führte in ein Schlafzimmer. Man sah ein Himmelbett, zerwühlte Kissen.
Richard Gendreau-Balthazar trug einen Pyjama unter dem Morgenrock, und seine bloßen Füße steckten in Lederpantoffeln.
Er mochte etwa dreißig sein, hatte braunes Haar, und sein Gesicht hätte gewöhnlich gewirkt, wäre da nicht die schiefe Nase gewesen.
»Louis sagt, Sie gehören zum Kommissariat unseres Viertels?«
Er öffnete ein geschnitztes Kistchen, in dem Zigaretten lagen, und schob es seinem Besucher hin. Maigret lehnte dankend ab.
»Sie rauchen nicht?«
»Nur Pfeife.«
»Dann ist es mir lieber, Sie rauchen nicht, Pfeifengeruch ist mir zuwider. Sie haben mit meinem Freund Le Bret telefoniert, ehe Sie herkamen, nehme ich an?«
»Nein.«
»Ach! Entschuldigen Sie, aber mit den Sitten und Bräuchen Ihres Gewerbes kenne ich mich nicht gut aus. Le Bret ist oft in diesem Haus, aber – und das betone ich ausdrücklich – nicht in seiner Eigenschaft als Kommissar, den man ihm übrigens kaum anmerkt. Er ist wirklich ein feiner Mann, und seine Frau ist äußerst charmant. Nun, kommen wir zur Sache. Wie spät ist es?«
Er tat so, als suchte er seine Uhr, bis Maigret schließlich seine große silberne Taschenuhr hervorzog.
»Fünf vor halb drei.«
»Und zu dieser Jahreszeit wird es gegen fünf Uhr hell, nicht wahr? Ich weiß das, weil ich gelegentlich zu sehr früher Stunde im Bois de Boulogne ausreite. Ich habe übrigens immer geglaubt, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang sei das Heim der Bürger unantastbar.«
»Ja, das stimmt, aber …«
Er fiel Maigret ins Wort:
»Wohlgemerkt, ich sage das nur, um Ihr Gedächtnis aufzufrischen. Sie sind jung und zweifellos neu in Ihrem Beruf. Sie haben Glück, dass Sie hier auf einen Freund Ihres Chefs stoßen. Ich nehme an, Sie haben gute Gründe, so in dieses Haus einzudringen. Louis hat mir den Vorgang kurz geschildert. Der Kerl, den er hinausgeworfen hat, ist womöglich gefährlich, wie? Aber selbst wenn dem so ist, mein Freund, hätten Sie bis zum Morgen warten können, meinen Sie nicht auch? Setzen Sie sich bitte.«
Er selbst ging auf und ab und stieß dabei den Rauch seiner Zigarette aus. Eine ägyptische Zigarette mit goldenem Filter.
»So, und nun, nach dieser kleinen, notwendigen Belehrung, sagen Sie mir, was Sie wissen möchten.«
»Wer bewohnt das Zimmer im oberen Stock?«
»Wie bitte?«
»Verzeihen Sie. Ich weiß, Sie sind nicht verpflichtet, mir zu antworten, zumindest nicht im Augenblick.«
»Verpflichtet, Ihnen?«, wiederholte Richard ungläubig.
Maigrets Ohren färbten sich dunkelrot:
»In dem Zimmer ist heute Nacht ein Schuss gefallen.«
»Verzeihung, Sie sind wohl nicht ganz bei Trost? Auch wenn heute Nacht ganz Paris in Feierlaune schwelgt, gehe ich doch davon aus, dass Sie nicht betrunken sind.«
Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Die Tür war offen geblieben, und Maigret sah eine Gestalt auf dem Treppenabsatz. Eine Gestalt, die einer Titelseite der Vie Parisienne entsprungen schien. Der Mann trug Frack, Cape und Zylinder. Er war mager und alt und sein dünner, gezwirbelter Schnurrbart offensichtlich gefärbt.
Zögernd und erstaunt, vielleicht auch furchtsam blieb er auf der Schwelle stehen.
»Kommen Sie herein, Papa. Ich glaube, das wird Sie amüsieren. Dieser Herr hier ist Angestellter Le Brets …«
Ein sehr merkwürdiger Anblick: Félicien Gendreau-Balthazar war gewiss nicht betrunken, und doch wirkte er fahrig, haltlos, irgendwie verwirrt.
»Haben Sie Louis gesehen?«, fragte sein Sohn.
»Er ist unten, mit einem Mann.«
»Das ist es eben. Ein Betrunkener, vielleicht auch ein Verrückter, der aus einer Anstalt ausgerissen ist, hat heute Nacht beinah die Tür eingeschlagen. Louis ist hinuntergegangen und konnte ihn nur mit Mühe daran hindern hereinzukommen. Und nun ist Monsieur …«
Er sah Maigret fragend an.
»Maigret.«
»… Monsieur Maigret, der Sekretär unseres Freundes Le Bret, hier, um mich zu fragen … Tja, was wollen Sie eigentlich wissen?«
»Wer das Zimmer bewohnt hinter dem zweiten Fenster von links gleich über uns.«
Der Vater wirkte ängstlich. Aber es war eine merkwürdige Angst. So schaute er seinen Sohn beinahe unterwürfig an. Er wagte nicht, den Mund aufzumachen, als ob er auf Richards Erlaubnis wartete.
»Meine Schwester«, sagte dieser schließlich. »So, jetzt wissen Sie’s.«
»Ist sie da?«
Maigret sah nicht den Sohn, sondern den Vater an. Aber wieder war es der Sohn, der antwortete.
»Nein. Sie ist in Anseval.«
»Wie bitte?«
»Auf unserem Schloss. Schloss Anseval, in der Nähe von Pouilly-sur-Loire im Département Nièvre.«
»Das heißt, das Zimmer ist unbewohnt?«
»Sieht ganz so aus.«
Spöttisch fügte er hinzu:
»Ich nehme an, Sie wollen sich selbst davon überzeugen. Ich gehe mit Ihnen hoch. Dann kann ich morgen unserem Freund Le Bret dazu gratulieren, was für pflichtbewusste Angestellte er hat. Folgen Sie mir bitte.«
Zu Maigrets Erstaunen kam der Vater auch mit, ziemlich verschüchtert.
»Hier, das ist das Zimmer, das Sie meinen. Sie haben Glück, dass es nicht abgeschlossen ist.«
Er drehte einen Lichtschalter. Die Möbel des Schlafzimmers waren aus weiß lackiertem Holz und die Wände mit blauer Seide bespannt. Eine Seitentür führte zu einem Boudoir, und alles war mustergültig aufgeräumt.
»Nun nehmen Sie aber bitte auch alles ganz genau auf. Meine Schwester wird entzückt sein, wenn sie hört, dass die Polizei ihre Sachen durchwühlt hat.«
Maigret ließ sich nicht beirren und trat ans Fenster. Das Blau der schweren Vorhänge war dunkler als die Tapete. Er schob sie auseinander, und eine Tüllgardine wurde sichtbar, die das Tageslicht dämpfen sollte. Er bemerkte, dass ein Zipfel der Gardine im Fenster festgeklemmt war.
»Ich nehme an, dass heute Abend niemand hier gewesen ist«, sagte er.
»Höchstens eins der Mädchen.«
»Es gibt mehrere?«
»O ja«, erwiderte Richard sarkastisch. »Zwei, Germaine und Marie. Außerdem noch Louis’ Frau, unsere Köchin, und eine Frau für die Wäsche. Aber die ist ebenfalls verheiratet. Sie kommt am Morgen und geht abends wieder.«
Der alte Gendreau blickte immerzu von einem zum anderen.
»Worum geht es denn eigentlich?«, fragte er schließlich, nachdem er sich geräuspert hatte.
»Das weiß ich auch nicht. Fragen Sie Monsieur Maigret.«
»Jemand, der kurz vor halb zwei vorbeikam, hat gehört, wie dieses Fenster geöffnet wurde. Er hat nach oben geschaut und eine Frau entdeckt, die völlig verstört um Hilfe rief.«
Er sah, wie der Vater den goldenen Knauf seines Stocks umklammerte.
»Und dann?«, fragte Richard.
»Die Frau ist zurückgezerrt worden, und in dem Augenblick ist ein Schuss gefallen.«
»Ach ja?«
Der junge Gendreau blickte mit gespieltem Entsetzen um sich und tat so, als suchte er das Einschussloch auf der seidenen Tapete.
»Was mich nur wundert, Monsieur Maigret – Sie heißen doch Maigret, richtig? –, dass Sie angesichts einer so ernsten Anschuldigung nicht einmal die elementarsten Vorsichtsmaßnahmen ergriffen und ihren Vorgesetzten eingeschaltet haben. Mir scheint, es war ein wenig leichtsinnig von Ihnen, gleich hierherzulaufen! Und dieser Passant mit der blühenden Phantasie – haben Sie wenigstens Erkundigungen über ihn eingezogen?«
»Er ist unten.«
»Es freut mich ungemein, ihn unter meinem Dach zu wissen. Sie sind also nicht nur mitten in der Nacht hier eingedrungen, unter Missachtung der Gesetze, die die Freiheit der Bürger schützen, nein, Sie haben auch noch ein in meinen Augen höchst verdächtiges Individuum mitgebracht. Aber da Sie nun einmal hier sind, und damit Sie unserem Freund Le Bret morgen ausführlich Bericht erstatten können, bitte ich Sie, machen Sie ihre üblichen Feststellungen, tun Sie Ihre Pflicht. Sie wollen sich doch bestimmt vergewissern, dass das Bett heute Nacht nicht benutzt worden ist.«
Er riss die Seidendecke vom Bett. Die Laken waren glatt, das Kissen makellos.
»Bitte, sehen Sie sich nur um. Schnüffeln Sie in allen Ecken. Sie haben doch wohl eine Lupe dabei?«
»Die brauche ich nicht.«
»Entschuldigen Sie. Abgesehen von Le Bret hatte ich noch nicht die Ehre, Leute von der Polizei kennenzulernen. Nur in Kriminalromanen. Sie sagen, jemand hat geschossen? Vielleicht liegt irgendwo eine Leiche. Lassen Sie uns zusammen suchen. Wer weiß, vielleicht ist sie hier im Schrank.«
Er öffnete die Schranktür, man sah darin nur Kleider.
»Und hier? Lises Schuhe. Sie hat einen richtigen Schuhtick, wie Sie sehen. Gehen wir jetzt rüber ins Boudoir …«
Er wirkte angespannt, wurde immer sarkastischer.
»Diese Tür? Sie ist seit Mamas Tod verriegelt. Aber vom Flur aus kann man in die Räume gelangen. Kommen Sie. Aber ja doch! Ich bitte darum.«
Die nächste halbe Stunde war ein reiner Albtraum. Maigret blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen, denn Richard erteilte ihm buchstäblich Befehle. Und was die Irrwege durch das Haus besonders gespenstisch machte, war, dass der alte Gendreau-Balthazar ihnen auf den Fersen blieb, den Zylinder auf dem Kopf, das Cape über den Schultern und den Stock mit dem Goldknauf in der Hand.
»Aber nein! Wir gehen noch nicht hinunter. Sie vergessen, dass es oben noch ein Stockwerk gibt, die Mansarden, wo die Dienstboten schlafen.«
Im Flur hingen nackte Glühbirnen, die Decke war schräg. Richard klopfte an die Türen.
»Machen Sie auf, Germaine. Aber ja. Auch wenn Sie im Nachthemd sind. Die Polizei ist da.«
Ein ziemlich fülliges Mädchen mit verschlafenen Augen. Ein schaler Geruch, ein verschwitztes Bett, ein Kamm voller Haare auf dem Waschtisch.
»Haben Sie einen Schuss gehört?«
»Einen was?«
»Wann sind Sie zu Bett gegangen?«
»Ich bin um zehn Uhr raufgekommen.«
»Und Sie haben nichts gehört?«
Es war Richard, der die Fragen stellte.
»Auf zur nächsten! … Öffnen Sie, Marie … Aber nein, meine Liebe, das spielt keine Rolle …«
Ein Mädchen von sechzehn Jahren, das einen grünen Mantel über sein Nachthemd gestreift hatte und am ganzen Leib zitterte.
»Haben Sie einen Schuss gehört?«
Entsetzt starrte sie Richard und Maigret an.
»Schlafen Sie schon lange?«
»Ich weiß nicht.«
»Haben Sie etwas gehört?«
»Nein. Warum? Was ist los?«
»Noch Fragen, Monsieur Maigret?«
»Ich möchte sie fragen, woher sie kommt.«
»Woher kommen Sie, Marie?«
»Aus Anseval.«
»Und Germaine?«
»Auch aus Anseval.«
»Und Louis?«
»Aus Anseval, Monsieur Maigret«, erwiderte Richard höhnisch. »Ich sehe, Sie haben keine Ahnung, dass Leute, die ein Schloss besitzen, sich ihre Dienstboten aus der Umgebung zu beschaffen pflegen.«
»Und die nächste Tür?«
»Das ist das Zimmer von Madame Louis.«
»Schläft ihr Mann auch dort?«
»Nein, er schläft unten in der Pförtnerwohnung.«
Es dauerte, bis Madame Louis öffnete. Sie war klein, schwarzhaarig, sehr dick und beäugte sie misstrauisch.
»Ist jetzt bald Schluss mit dem Lärm? Wo ist Louis?«
»Unten. Sagen Sie, haben Sie einen Schuss gehört?«
Mit erbostem Gemurmel schlug sie ihnen die Tür fast vor der Nase zu. Weitere Türen wurden geöffnet zu unbewohnten Zimmern, Abstellkammern, Mansarden. Auch der Dachboden blieb Maigret nicht erspart, und dann musste er zurück in den ersten Stock und die Räume von Vater und Sohn besichtigen.
»Bleiben noch die Salons. Doch, doch. Ich bestehe darauf.«
Er knipste den großen Lüster an, die Kristalle klirrten leise.
»Keine Leiche? Kein Verletzter? Haben Sie alles gesehen? Wollen Sie nicht auch noch in den Keller? Es ist jetzt übrigens Viertel nach drei.«
Er öffnete die Tür zum Dienstbotenzimmer. Justin Minard saß auf einem Stuhl, Louis stand in der Ecke und bewachte ihn wie einen Gefangenen.
»Ist das der junge Mann, der den Schuss gehört haben will? Sehr erfreut, sein interessantes Gesicht gesehen zu haben. Monsieur Maigret, ich habe wohl jetzt das Recht, Anzeige wegen übler Nachrede und Hausfriedensbruch zu erstatten?«
»Ja, das ist Ihr gutes Recht.«
»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Louis, führen Sie die Herren hinaus.«
Der alte Gendreau öffnete den Mund, sagte aber nichts, Maigret presste ein »Ich danke Ihnen« hervor.
Louis ging hinter ihnen her und schloss die schwere Tür.
Ratlos und verwirrt standen sie nun auf dem Gehsteig der Rue Chaptal. Maigret drehte sich unwillkürlich zu dem Ölfleck auf dem Holzpflaster um, als ob er sich an etwas Greifbares klammern wolle.
»Ich kann Ihnen schwören, ich war nicht betrunken.«
»Ich glaube Ihnen.«
»Und ich bin auch nicht verrückt.«
»Natürlich nicht.«
»Glauben Sie, die Sache wird Ihnen schaden? Ich habe gehört, wie …«
Wie gesagt, in dieser Nacht trug Maigret sein erstes Jackett. Es war ihm unter dem Arm eine Spur zu eng.
Um zehn vor neun zog eine lächelnde, frisch nach Seife duftende Madame Maigret die Vorhänge im Schlafzimmer auf und ließ die heitere Sonne herein. Sie war erst seit Kurzem verheiratet und noch nicht an den Anblick eines schlafenden Mannes gewöhnt, seine rotbraunen Schnurrbartspitzen, die leise zuckten, seine Stirn, die sich in tiefe Falten zog, wenn eine Fliege sich darauf niederließ, und sein zerzaustes Haar. Sie lachte. Sie lachte jeden Morgen, wenn sie mit einer Tasse Kaffee in der Hand zu ihm kam und er sie aus verschlafenen Kinderaugen anblickte.
Sie war eine frische, mollige junge Frau, wie man sie nur noch in Konditoreien oder hinter der Marmortheke eines Milchladens sieht. Rund und voller Vitalität. Auch wenn sie ganze Tage allein in ihrer kleinen Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir saß, langweilte sie sich keine Sekunde lang.
»Woran denkst du, Jules?«
Sie nannte ihn damals noch nicht Maigret, aber sie behandelte ihn schon mit einem Respekt, der typisch für sie war, dem gleichen Respekt, mit dem sie wohl auch ihrem Vater begegnet war, und den sie ihrem Sohn gegenüber zeigen würde, wenn sie je einen haben sollte.
»Ich denke …«