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Anonyme Briefe erhält Maigret häufiger. Dass sie einen Mord ankündigen, auf feinem Büttenpapier geschrieben sind und sich mühelos zurückverfolgen lassen, kommt hingegen selten vor. Der Kommissar trinkt erst noch einen Pastis, ehe er sich zu der vornehmen Adresse nahe den Champs-Élysées aufmacht. Im prachtvollen Domizil eines bekannten Advokaten finden sich jedoch keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen. Doch dann wird die Sekretärin und Geliebte des Anwalts ermordet aufgefunden. Und es stellt sich heraus: Jeder im Haus hat etwas zu verbergen ...Maigrets 68. Fall spielt im schicken 8. Pariser Arrondissement.
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Seitenzahl: 183
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Georges Simenon
Maigret zögert
Roman
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Astrid Roth
Kampa
»Guten Morgen, Janvier.«
»Guten Morgen, Chef.«
»Guten Morgen, Lucas. Guten Morgen, Lapointe.«
Maigret musste lächeln, als er den jungen Lapointe begrüßte. Nicht nur, weil er einen neuen, perfekt sitzenden hellgrau melierten Anzug mit feinen roten Nadelstreifen trug. Alle lächelten an diesem Morgen, auf den Straßen, in den Bussen, in den Geschäften.
Der Vortag, ein Sonntag, war grau und stürmisch gewesen, mit kalten, winterlichen Regengüssen, und heute Morgen, beim Aufwachen, war der Frühling da, obwohl man erst den vierten März schrieb.
Die Sonne war noch etwas schwach, und das Blau des Himmels sehr zart, aber es lag Heiterkeit in der Luft, in den Augen der Passanten. Man freute sich des Lebens und genoss den herrlichen Duft des morgendlichen Paris.
Maigret hatte keinen Mantel angezogen und einen guten Teil des Weges zu Fuß zurückgelegt. Im Büro angekommen, hatte er sofort das Fenster geöffnet. Auch die Seine hatte ihre Farbe verändert, die roten Streifen an den Schornsteinen der Schlepper leuchteten, die Lastkähne sahen aus wie neu.
Er hatte die Tür zum Büro der Inspektoren geöffnet.
»Kommt ihr, Kinder?«
Das hier war der »kleine Rapport«, im Gegensatz zum eigentlichen Rapport, bei dem sich die Abteilungsleiter um den großen Chef versammelten. Nur Maigrets engste Mitarbeiter waren anwesend.
»Schönen Tag verbracht gestern?«, fragte er Janvier.
»Wir waren mit den Kindern bei meiner Schwiegermutter in Vaucresson.«
Lapointe fühlte sich in seinem neuen Anzug unwohl und hielt sich im Hintergrund.
Maigret setzte sich an seinen Schreibtisch, stopfte seine Pfeife und begann, die Post zu öffnen.
»Für dich, Lucas, betrifft den Fall Lebourg.«
Einige andere Dokumente reichte er Lapointe.
»Die müssen zur Staatsanwaltschaft.«
Von Blattwerk konnte man noch nicht sprechen, aber die Bäume am Quai schimmerten bereits zartgrün.
Es gab gerade keinen bedeutenden Fall, keinen jener Fälle, bei denen sich Journalisten und Fotografen in den Fluren drängten und man an allerhöchster Stelle zum Telefonhörer greifen musste. Nur das Übliche. Alltägliches.
»Ein Verrückter oder eine Verrückte«, verkündete er, einen Brief in der Hand, auf dem sein Name und die Adresse des Quai des Orfèvres in Druckbuchstaben standen.
Der Umschlag war weiß, von guter Qualität, abgestempelt im Postamt in der Rue de Miromesnil. Als der Kommissar den Briefbogen herausnahm, fiel ihm als Erstes das Papier auf, ein schweres Velin in ungewöhnlichem Format. Der obere Teil mit dem Briefkopf musste sorgfältig mithilfe eines Lineals und einer scharfen Klinge abgetrennt worden sein.
Der Text war wie die Adresse in sehr regelmäßigen Druckbuchstaben geschrieben.
»Vielleicht doch nicht verrückt«, murmelte er.
Sehr geehrter Herr Hauptkommissar,
ich kenne Sie nicht persönlich, aber was ich über Ihre Ermittlungen und Ihre Haltung Kriminellen gegenüber weiß, lässt mich Ihnen vertrauen. Dieser Brief wird Sie erstaunen. Werfen Sie ihn nicht voreilig in den Papierkorb. Es handelt sich weder um einen Scherz noch um das Werk eines Irren.
Sie wissen besser als ich, dass die Wirklichkeit manchmal schier unglaublich ist. Jemand wird bald einen Mord begehen, wahrscheinlich schon in wenigen Tagen. Vielleicht jemand, den ich kenne, vielleicht ich selbst.
Ich schreibe Ihnen nicht, um die Tat zu verhindern. Das Drama ist sozusagen unabwendbar. Aber ich möchte, dass Sie schon jetzt darum wissen.
Wenn Sie mir Glauben schenken, inserieren Sie bitte bei den Kleinanzeigen in Le Figaro oder in Le Monde folgenden Text: K.R. Erwarte zweiten Brief.
Ich weiß nicht, ob ich ihn schreiben werde. Ich bin sehr durcheinander. Manche Entscheidungen sind nicht leicht zu treffen.
Vielleicht werde ich Sie eines Tages in Ihrem Büro sehen, aber dann werden wir auf unterschiedlichen Seiten stehen.
Ihr ergebener …
Maigret lächelte nicht mehr. Mit düsterem Blick betrachtete er das Blatt, dann sah er seine Mitarbeiter an.
»Nein, der Mann ist nicht verrückt«, wiederholte er. »Hört zu!«
Langsam las er ihnen den Text vor, einige Wörter betonte er. Er bekam häufig Briefe dieser Art, aber die meisten waren sprachlich weniger gewählt. Oft waren bestimmte Sätze unterstrichen, oder die Briefe waren mit roter oder grüner Tinte geschrieben, und viele enthielten Rechtschreibfehler.
Hier hatte die Hand nicht gezittert. Die Schrift war energisch und schnörkellos, nichts war korrigiert worden.
Er hielt den Briefbogen gegen das Licht und las das Wasserzeichen: Vélin du Morvan.
Jedes Jahr bekam er Hunderte anonymer Briefe. Mit wenigen Ausnahmen waren sie auf preiswertem Papier geschrieben, wie man es an jeder Ecke bekommt. Manchmal waren die Wörter aus Zeitungen ausgeschnitten.
»Keine eindeutige Drohung«, murmelte er. »Eine dumpfe Angst … Le Figaro und Le Monde, zwei Tageszeitungen, die vor allem das Bildungsbürgertum liest.«
Er blickte die drei erneut an.
»Kümmerst du dich darum, Lapointe? Setz dich zunächst mit dem Papierfabrikanten in Verbindung. Den findest du bestimmt im Morvan.«
»Verstanden, Chef.«
So begann ein Fall, der Maigret mehr Sorgen machen sollte als viele der Verbrechen, die es auf die Titelseiten der Zeitungen schaffen.
»Du gibst die Anzeige auf.«
»In Le Figaro?«
»In beiden Zeitungen.«
Es klingelte zum Rapport, dem eigentlichen, und Maigret begab sich mit einer Akte in der Hand ins Büro des Direktors. Auch hier stand das Fenster offen, Straßenlärm drang herein. Einer der Kommissare trug einen Mimosenzweig im Knopfloch und meinte, sich erklären zu müssen:
»Die werden auf der Straße verkauft. Für einen guten Zweck.«
Maigret sagte nichts von dem Brief. Seine Pfeife schmeckte gut. Er ließ die Augen über die Gesichter seiner Kollegen schweifen. Einer nach dem anderen legten sie ihre belanglosen Fälle dar. Er rechnete im Kopf nach, wie viele Male er wohl schon dieser Zeremonie beigewohnt hatte. Tausende Male.
Aber noch öfter hatte er früher seinen Vorgesetzten, den Hauptkommissar, darum beneidet, dass er jeden Morgen das Allerheiligste betreten durfte. Musste es nicht wunderbar sein, Hauptkommissar zu sein? Damals hatte er nicht davon zu träumen gewagt, so wenig wie heute Lapointe oder Janvier, ja nicht einmal sein guter Lucas.
Und doch war der Traum Wirklichkeit geworden. Er hatte seit vielen Jahren nicht mehr darüber nachgedacht, aber an einem Morgen wie diesem, da ein herrlicher Duft in der Luft lag und die Menschen lächelten, statt über den Lärm der Busse zu schimpfen, wurde er sich dessen wieder bewusst.
Als er eine halbe Stunde später in sein Büro zurückkam, stand zu seiner Überraschung Lapointe am Fenster.
In seinem schicken Anzug wirkte er schlanker, größer und vor allem viel jünger. Zwanzig Jahre zuvor hätte ein Inspektor sich nicht so kleiden dürfen.
»Das war fast zu einfach, Chef.«
»Hast du den Papierfabrikanten ausfindig gemacht?«
»Géron & Fils. Seit drei oder vier Generationen haben sie die Morvan-Mühlen in Autun. Ein Handwerksbetrieb, keine Fabrik. Das Papier wird handgeschöpft und für Luxusausgaben, vor allem von Gedichten, oder für Briefpapier verwendet. Die Gérons beschäftigen nur etwa zehn Arbeiter. Sie sagten, es gebe noch mehrere solcher Mühlen in der Gegend.«
»Kennst du den Namen ihres Vertreters in Paris?«
»Sie haben keinen Vertreter. Sie liefern direkt an Kunstverlage und zwei Papeterien, eine in der Rue du Faubourg Saint-Honoré, die andere in der Avenue de l’Opéra.«
»Ganz oben links an der Faubourg Saint-Honoré?«
»Kann sein, der Nummer nach … Die Papeterie Roman.«
Maigret kannte das Geschäft, er war oft vor dem Schaufenster stehen geblieben. Einladungskarten und Visitenkarten waren dort ausgestellt, mit Namen, wie man sie nur noch selten hörte:
Comte und Comtesse de Vaudry geben sich die Ehre …
Baronesse de Grand-Lussac freut sich, Ihnen mitteilen zu dürfen …
Prinzen, Herzöge, echte oder falsche. Sie luden zu Diners ein, zu Jagden und Bridgepartien, zeigten die Vermählung ihrer Tochter oder die Geburt eines Kindes an, und das alles auf edlem Papier.
Im zweiten Schaufenster konnte man Schreibunterlagen mit geprägten Wappen bewundern und in feines Leder gebundene Speisepläne.
»Am besten gehst du dort mal vorbei.«
»Bei Roman?«
»Das ist wahrscheinlich eher unser Viertel.«
Das Geschäft in der Avenue de l’Opéra war zwar vornehm, aber es gab dort auch Schreibzeug und gewöhnliche Büroartikel.
»Bin schon unterwegs, Chef.«
Der Glückspilz! Maigret blickte ihm nach wie einem Mitschüler, den der Lehrer mit einem Auftrag hinausschickt. Ihm blieben die alltäglichen Pflichten, Papierkram, immer nur Papierkram. Ein unbedeutender Bericht für einen Untersuchungsrichter, der ihn ungelesen zu den Akten legen würde, denn der Fall wurde längst nicht mehr verfolgt.
Der Pfeifenrauch färbte die Luft allmählich blau. Von der Seine wehte eine leise Brise herein und ließ die Papiere rascheln. Schon um elf war Lapointe zurück. Er stürmte ins Büro.
»Es ist immer noch zu einfach.«
»Wie meinst du das?«
»Man könnte glauben, dieses Papier sei absichtlich gewählt worden. Das Geschäft wird übrigens nicht mehr von Monsieur Roman geführt, er ist vor zehn Jahren gestorben, sondern von einer Madame Laubier, einer Witwe um die fünfzig. Ich konnte mich kaum loseisen. Seit fünf Jahren hat sie kein solches Papier bestellt. Es wird nicht mehr gekauft. Es ist zu teuer und eignet sich nicht für die Schreibmaschine.
Sie hatte dafür noch drei Kunden. Der eine ist letztes Jahr gestorben, ein Comte mit einem Schloss in der Normandie und einem Rennstall. Seine Witwe lebt in Cannes und hat nicht nachbestellt. Dann war da noch eine Botschaft, aber der neue Botschafter ordert ein anderes Papier.«
»Bleibt also noch ein Kunde.«
»Ja, ein einziger, und deshalb ist es fast zu einfach. Es handelt sich um Monsieur Émile Parendon, einen Anwalt in der Avenue Marigny. Er benutzt dieses Papier seit mehr als fünfzehn Jahren und will kein anderes. Kennen Sie den Namen?«
»Nie gehört. Hat er kürzlich welches bestellt?«
»Das letzte Mal letzten Oktober.«
»Mit Briefkopf?«
»Ja, sehr dezent. Immer tausend Blatt und tausend Umschläge aufs Mal.«
Maigret nahm den Telefonhörer ab.
»Verbinden Sie mich bitte mit Maître Bouvier.«
Ein Anwalt, den er seit mehr als zwanzig Jahren kannte und dessen Sohn ebenfalls Anwalt war.
»Hallo, Bouvier? Hier Maigret. Störe ich?«
»Sie stören nie.«
»Ich hätte gerne eine Auskunft.«
»Vertraulich natürlich …«
»Das sollte tatsächlich unter uns bleiben. Kennen Sie einen Kollegen namens Émile Parendon?«
Bouvier schien überrascht.
»Was zum Teufel will die Kriminalpolizei von Parendon?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nichts.«
»Das denke ich aber auch. Ich bin Parendon nur fünf-, sechsmal begegnet. Er ist praktisch nie bei Gericht und wenn, dann nur bei Zivilprozessen.«
»Wie alt ist er?«
»Schwer zu sagen. Vierzig, vielleicht auch fünfzig.«
Und wohl an seine Sekretärin gewandt, sagte er:
»Meine Liebe, suchen Sie bitte im Jahrbuch der Anwaltskammer das Geburtsdatum von Parendon heraus … Émile … Es gibt nur einen.«
Dann, wieder zu Maigret:
»Sie haben bestimmt von seinem Vater gehört. Er lebt wohl noch oder ist erst kürzlich gestorben. Professor Parendon, Chirurg im Laennec, Mitglied der Académie de médicine, der Académie des sciences morales et politiques und so weiter und so fort. Eine Persönlichkeit! Wenn wir uns das nächste Mal sehen, erzähle ich Ihnen mehr von ihm. Er war blutjung, als er vom Land nach Paris kam. Klein und stämmig, sah aus wie ein junger Stier, und er sah nicht nur so aus.«
»Und sein Sohn?«
»Durch und durch Jurist. Er hat sich auf internationales Recht spezialisiert, insbesondere Seerecht. Er soll der Beste auf dem Gebiet sein. Die Leute kommen von überall auf der Welt zu ihm. Er wird oft bei schwierigen Fällen, wenn es um viel Geld geht, als Schlichter bestellt.«
»Was für ein Mensch ist er?«
»Völlig unauffällig. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn auf der Straße erkennen würde.«
»Verheiratet?«
»Danke, meine Liebe … So, jetzt weiß ich, wie alt er ist. Sechsundvierzig … Ob er verheiratet ist? Beinahe hätte ich gesagt, ich kann mich nicht erinnern. Aber jetzt fällt’s mir ein. Natürlich ist er verheiratet und sogar sehr gut. Seine Frau ist eine der Töchter von Gassin de Beaulieu. Sie kennen ihn. Er war einer der härtesten Richter während der Befreiung, wurde dann zum Präsidenten des Kassationsgerichtshofs ernannt. Er wird wohl inzwischen als Pensionär auf seinem Schloss in der Vendée leben. Die Familie ist sehr reich.«
»Wissen Sie sonst noch etwas?«
»Was sollte ich sonst noch wissen? Ich habe derlei Leute nie vor der Strafkammer oder vor dem Schwurgericht verteidigt.«
»Gehen sie viel aus?«
»Die Parendons? Zumindest verkehren sie nicht in meinen Kreisen.«
»Danke, mein Lieber.«
»Eine Hand wäscht die andere.«
Maigret las den Brief noch einmal, den Lapointe ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er las ihn zwei-, dreimal, und seine Miene verfinsterte sich zusehends.
»Verstehst du, was das bedeutet?«
»Ja, Chef. Gewaltigen Ärger bedeutet das.«
»Wenn nicht Schlimmeres. Ein berühmter Chirurg, ein Gerichtspräsident, ein Experte für Seerecht, der in der Avenue Marigny wohnt und kostbarstes Briefpapier benutzt.«
Die Art Kundschaft, die Maigret am meisten fürchtete. Er hatte schon jetzt das Gefühl, wie auf Eiern zu gehen.
»Glauben Sie, dass er selbst diesen Brief geschrieben hat?«
»Er oder jemand aus der Familie, jedenfalls jemand, der an sein Briefpapier herankommt.«
»Merkwürdig, oder?«
Maigret schaute aus dem Fenster und antwortete nicht. Verfasser anonymer Briefe benutzen normalerweise nicht ihr eigenes Briefpapier, vor allem kein derart hochwertiges.
»Nun, es hilft nichts. Ich muss ihm einen Besuch abstatten.«
Er schlug im Telefonbuch nach und rief an. Eine Frauenstimme meldete sich:
»Sekretariat Maître Parendon.«
»Guten Tag, Mademoiselle. Hier Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei. Ich möchte nicht stören, aber dürfte ich kurz mit Maître Parendon sprechen?«
»Einen Moment bitte.«
Und schon sagte eine Männerstimme:
»Hier Parendon.«
Es klang fast fragend.
»Ich wollte Sie bitten, Maître …«
»Wer spricht? Meine Sekretärin hat Ihren Namen nicht richtig verstanden.«
»Kommissar Maigret.«
»Ah, jetzt verstehe ich, warum sie so überrascht war. Sie hat Ihren Namen bestimmt verstanden, aber sich nicht vorstellen können, dass wirklich Sie … Sehr erfreut, Ihre Stimme zu hören, Monsieur Maigret. Ich habe oft an Sie gedacht und manchmal sogar überlegt, Ihnen zu schreiben und Sie um Ihre Meinung über gewisse Dinge zu bitten. Aber da ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, habe ich mich gescheut, Sie …«
Parendon klang befangen, aber Maigret fühlte sich noch unbehaglicher. Er kam sich lächerlich vor mit diesem sinnlosen Brief.
»Und jetzt störe ich Sie, noch dazu wegen einer Lappalie. Ich würde gern persönlich bei Ihnen vorbeikommen, denn ich muss Ihnen ein Schriftstück zeigen.«
»Wann wäre es Ihnen recht?«
»Haben Sie am Nachmittag kurz Zeit?«
»Wie wäre es um halb vier? Ich muss gestehen, dass ich gewöhnlich ein kurzes Mittagsschläfchen halte.«
»Dann um halb vier bei Ihnen. Und vielen Dank für Ihr freundliches Entgegenkommen.«
»Ich freue mich auf Ihren Besuch.«
Als Maigret auflegte, blickte er Lapointe an, als erwachte er aus einem Traum.
»War er nicht überrascht?«
»Nicht im Geringsten. Er hat keine Fragen gestellt. Er scheint äußerst froh zu sein, meine Bekanntschaft zu machen … Nur eines macht mich stutzig. Er hat gesagt, er sei schon oft drauf und dran gewesen, mir zu schreiben, um mich um meine Meinung zu bitten. Aber er macht gar kein Strafrecht, sondern nur Zivilrecht. Seerecht, und davon verstehe ich gar nichts. Warum also sollte er an meiner Meinung interessiert sein?«
Maigret schwindelte, als er sich wegen zu viel Arbeit bei seiner Frau vom Mittagessen abmeldete. Er wollte die Frühlingssonne mit einem Mittagessen in der Brasserie Dauphine feiern. Vor dem Essen genehmigte er sich einen Pastis am Tresen.
Wenn ihnen gewaltiger Ärger blühte, wie Lapointe gesagt hatte, so begann er wenigstens auf angenehme Art.
Maigret fuhr mit dem Bus bis zum Rond-Point. Auf den hundert Metern, die er bis zur Avenue Marigny zu Fuß zurücklegte, begegnete er mindestens drei Leuten, deren Gesichter er zu kennen meinte. Er hatte vergessen, dass er am Park des Élysée-Palasts vorbeilief und dass dieses Viertel Tag und Nacht bewacht wurde. Die »Schutzengel« erkannten ihn ebenfalls und grüßten ihn diskret und respektvoll.
Das Haus, in dem Parendon wohnte, war groß und massiv, gebaut, um den Jahrhunderten zu trotzen. Die Toreinfahrt war von Bronzekandelabern gesäumt. Vom Torbogen aus erblickte man keine gewöhnliche Conciergeloge, sondern einen regelrechten Salon, in dem, wie in einem Ministerium, ein mit grünem Samt bezogener Tisch stand.
Auch hier traf der Kommissar auf ein bekanntes Gesicht, einen gewissen Lamule oder Lamure, der lange in der Rue des Saussaies gearbeitet hatte.
Er trug eine graue Uniform mit Silberknöpfen und schien überrascht, Maigret vor sich zu sehen.
»Zu wem möchten Sie, Chef?«
»Zu Maître Parendon.«
»Fahrstuhl oder Treppe links. Erster Stock.«
Im Hinterhof Autos, Garagen und Flachbauten, die einmal Pferdeställe gewesen sein mussten. Mechanisch klopfte Maigret seine Pfeife am Schuhabsatz aus und stieg die Marmortreppe empor.
Er hatte kaum an der einzigen Tür geklingelt, da öffnete ihm schon ein Diener in weißem Jackett, als hätte er auf der Lauer gelegen.
»Ich möchte zu Maître Parendon. Ich habe einen Termin.«
»Hier entlang, Herr Kommissar.«
Er nahm Maigrets Hut und führte ihn in eine Bibliothek, wie der Kommissar noch nie eine gesehen hatte. Die Wände in dem langen und sehr hohen Raum waren über und über mit Büchern bedeckt, ausgenommen ein Marmorkamin, auf dem die Büste eines älteren Mannes stand. Die Bücher waren allesamt gebunden, die meisten in rotem Leder. Das Mobiliar beschränkte sich auf einen langen Tisch, zwei Stühle und einen Sessel.
Er hätte gern die Titel der Bücher studiert, aber schon kam eine junge Sekretärin mit Brille auf ihn zu.
»Wenn Sie mir bitte folgen würden, Herr Hauptkommissar?«
Durch die mehr als drei Meter hohen Fenster fielen Sonnenstrahlen auf die Teppiche, die Möbel und die Gemälde. Auch der Flur war reich geschmückt mit antiken Konsolen, Stilmöbeln, Büsten und Gemälden, die Herren in Kostümen aus allen Epochen zeigten.
Das Mädchen öffnete eine helle Eichentür, und ein Mann erhob sich von seinem Schreibtisch, um dem Besucher zur Begrüßung entgegenzugehen. Auch er trug eine Brille mit sehr dicken Gläsern.
»Danke, Mademoiselle Vague.«
Maigret musste einige Schritte gehen, das Zimmer war so groß wie eine Empfangshalle. Auch hier waren die Wände voller Bücher, hin und wieder sah man ein Porträt. Die Sonne malte ein Rautenmuster darauf.
»Wenn Sie wüssten, wie sehr ich mich freue, Sie zu sehen, Monsieur Maigret!«
Er reichte ihm die Hand, eine kleine weiße, scheinbar knochenlose Hand. In diesem großen, hohen Raum schien der Mann noch kleiner, als er in Wirklichkeit war. Klein und schmächtig, geradezu grotesk schwerelos.
Dabei war er nicht mager, sondern eher rundlich, insgesamt aber machte er einen schlaffen, konturlosen Eindruck.
»Kommen Sie bitte hier herüber. Wo möchten Sie sitzen?«
Er deutete auf einen braunen Ledersessel neben seinem Schreibtisch.
»Ich glaube, hier sitzen Sie am besten. Ich bin ein wenig schwerhörig.«
Sein Freund Bouvier hatte recht gehabt, es ließ sich kaum sagen, wie alt Parendon war. Das Gesicht, die blauen Augen hatten etwas Kindliches bewahrt. Er blickte den Kommissar mit einer Art Verzückung an.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich an Sie gedacht habe. Bei jedem Ihrer Fälle verschlinge ich die Zeitungen, damit mir ja nichts entgeht. Ich bin ganz versessen darauf zu lesen, was Sie tun.«
Maigret war peinlich berührt. An das öffentliche Interesse hatte er sich gewöhnt, die Begeisterung eines Mannes wie Parendon aber machte ihn verlegen.
»Ich tue das, was jedermann an meiner Stelle tun würde.«
»Jedermann ist doch ein Mythos. Im Gegensatz zum Strafgesetzbuch und den Richtern und Geschworenen. Der Geschworene, der tags zuvor noch ein Jedermann war, wird ein anderer, sobald er den Gerichtssaal betritt.«
Er trug einen dunkelgrauen Anzug. Der Schreibtisch, auf den er die Arme stützte, war viel zu groß für ihn. Aber er wirkte nicht lächerlich. Und die riesigen Augen hinter den dicken Brillengläsern schauten vielleicht doch nicht naiv.
In der Schule mochte er darunter gelitten haben, dass man ihn eine »halbe Portion« nannte, aber er hatte sich damit abgefunden und wirkte nun wie ein freundlicher Gnom mit überschäumendem Temperament.
»Darf ich Ihnen eine indiskrete Frage stellen? In welchem Alter haben Sie begonnen, die Menschen zu verstehen? Ich meine die Menschen, die man kriminell nennt.«
Maigret errötete und stammelte:
»Ich weiß nicht. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich sie verstehe.«
»O doch! Und sie spüren es. Das ist einer der Gründe, warum sie fast erleichtert sind, wenn sie ein Geständnis ablegen.«
»Bei meinen Kollegen ist es genauso.«
»Ich könnte Ihnen anhand einiger Fälle das Gegenteil beweisen, aber das würde Sie bloß langweilen. Sie haben Medizin studiert, nicht wahr?«
»Nur zwei Jahre.«
»Ich habe gelesen, dass Sie das Studium aufgeben mussten, als Ihr Vater starb, und dass Sie dann zur Polizei gegangen sind.«
Maigrets Lage wurde immer heikler, beinahe lächerlich. Er war hier, um Fragen zu stellen, und jetzt wurde er selbst befragt.
»Ich sehe in einem solchen Wechsel nicht die doppelte Berufung, sondern, dass sich dieselbe Persönlichkeit auch anders entfalten kann … Verzeihen Sie, ich habe mich förmlich auf Sie gestürzt. Ich war so ungeduldig. Als Sie geklingelt haben, hätte ich Ihnen am liebsten selbst die Tür aufgemacht. Aber das wäre meiner Frau nicht recht gewesen, sie legt großen Wert auf Umgangsformen.«
Seine Stimme war bei den letzten Worten sehr viel leiser geworden. Er deutete auf ein Gemälde, das einen fast lebensgroßen Richter in Hermelin zeigte, und flüsterte:
»Mein Schwiegervater.«
»Präsident Gassin de Beaulieu.«
»Sie kennen ihn?«
Parendon erschien ihm auf einmal so jung, dass er lieber gestand:
»Ich habe mich erkundigt.«
»Hat man Schlechtes über ihn gesagt?«
»Er soll ein bedeutender Richter gewesen sein.«
»Genau, ein bedeutender Richter! Kennen Sie die Werke von Henri Ey?«
»Sein Handbuch der Psychiatrie kenne ich oberflächlich.«
»Sengès? Levy-Valensi? Maxwell?«
Er deutete auf ein Regal, in dem Werke dieser Autoren standen. Allesamt Psychiater, die nichts mit Seerecht zu tun hatten. Maigret entdeckte andere Namen, die in den Schriften der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie zitiert wurden, und wieder andere, deren Werke er wirklich gelesen hatte: Lagache, Ruyssen, Genil-Perrin.
»Rauchen Sie nicht?«, fragte sein Gastgeber ihn plötzlich erstaunt. »Ich dachte, Sie hätten immer eine Pfeife im Mund.«
»Wenn Sie gestatten …«
»Was darf ich Ihnen anbieten? Mein Cognac ist nichts Besonderes, aber ich habe einen vierzig Jahre alten Armagnac.«
Er trippelte zu einem Bücherregal, in dem sich eine Hausbar mit rund zwanzig Flaschen und Gläsern verschiedener Größe befand.
»Aber bitte nur ganz wenig.«
»Meine Frau erlaubt mir nur zu besonderen Anlässen ein Schlückchen. Sie sagt, ich hätte eine schwache Leber. Ihrer Meinung nach ist alles an mir anfällig, ich hätte kein einziges gesundes Organ.«
Er wirkte amüsiert und sprach ohne Bitterkeit darüber.
»Auf Ihr Wohl! … Ich habe Ihnen diese indiskreten Fragen gestellt, weil mich der Artikel 64 des Strafgesetzbuches leidenschaftlich interessiert. Sie kennen ihn natürlich besser als ich.«
Tatsächlich kannte Maigret ihn auswendig. Er hatte immer und immer wieder darüber nachgedacht.