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Eine Frau liegt tot am Marnekanal. Ihr Seidenkleid und der teure Perlenschmuck passen nicht recht zur Umgebung: behäbige Kähne und Schlepper, windige Jachtbesitzer, der Geruch von Dieselöl. Maigret muss sich mit der Welt der Kanalschiffer erst vertraut machen. Wieso endete das glamouröse Leben Mary Lampsons hier auf so brutale Weise? Weiß ihr einsilbiger Ehemann mehr, als er verrät? Oder bekommt Maigret die entscheidenden Antworten von der Besatzung des alten Kahns mit Namen Providence? Maigrets 4. Fall spielt am Marnekanal im Nordosten Frankreichs, in der Nähe von Épernay.
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Seitenzahl: 166
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Der 4. Fall
Georges Simenon
Maigret und der Treidler der Providence
Roman
Aus dem Französischen von Rainer MoritzMit einem Nachwort von Rüdiger Safranski
Kampa
Aus den penibel rekonstruierten Fakten ergab sich nichts, abgesehen davon, dass die Entdeckung der zwei Treidler aus Dizy eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war.
Am Sonntag – es war der 4. April – hatte es um drei Uhr nachmittags in Strömen zu regnen begonnen.
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich im Hafen oberhalb der Schleuse 14, die die Marne mit dem Seitenkanal verbindet, zwei Motorkähne, die stromabwärts fuhren, ein Schiff, das gelöscht wurde, und ein Baggerschiff.
Kurz vor sieben, als die Abenddämmerung einsetzte, hatte sich ein Tankschiff, die Eco III, angekündigt und war in die Schleusenkammer eingefahren.
Der Schleusenwärter hatte übellaunig reagiert, weil er Verwandte zu Besuch hatte. Einen Augenblick später hatte er einen Treidelkahn abgewiesen, der gemächlich von seinen beiden Pferden gezogen wurde.
Als er wieder zu Hause war, sah er kurz darauf den Treidler eintreten, den er kannte.
»Kann ich passieren? Der Chef möchte morgen in Juvigny zu Bett gehen …«
»Wenn du willst. Aber du musst die Tore selber öffnen.«
Der Regen fiel immer dichter. Von seinem Fenster aus sah der Schleusenwärter die gedrungene Gestalt des Treidlers, der mit schwerem Schritt von einem Tor zum anderen ging, seine Tiere anziehen ließ und die Trossen an den Pollern festband.
Der Kahn erhob sich Stück für Stück über die Schleusenmauern. Nicht der Schiffer hielt das Ruder, sondern seine Frau, eine dicke Brüsselerin, die leuchtend blonde Haare und eine durchdringende Stimme hatte.
Um zwanzig nach sieben machte die Providence gegenüber dem Café de la Marine fest, hinter der Eco III. Die Pferde gingen zurück an Bord. Der Treidler und der Schiffer machten sich Richtung Café auf, wo schon andere Schiffer und zwei Lotsen aus Dizy waren.
Um acht Uhr, als es völlig dunkel war, legte unterhalb der Tore ein Schlepper mit vier Kähnen an. Dadurch stieg die Gästezahl im Café. Sechs Tische waren besetzt, über die hinweg man sich unterhielt. Die Eintretenden hinterließen Rinnsale und stampften mit ihren verschlammten Stiefeln auf.
Im Nebenraum, in dem eine Petroleumlampe brannte, erledigten die Frauen ihre Einkäufe.
Die Luft war drückend. Man diskutierte über einen Unfall, der an Schleuse 8 passiert war, und die Verspätung, die die stromaufwärts fahrenden Schiffe dadurch haben könnten.
Um neun holte die Schiffersfrau der Providence ihren Mann und den Treidler ab. Mit einem Abschiedsgruß in die Runde gingen sie davon.
Um zehn wurden auf den meisten Schiffen die Lichter gelöscht. Der Schleusenwärter begleitete seine Verwandten bis zur Landstraße nach Épernay, die zwei Kilometer von der Schleuse entfernt den Kanal überquerte.
Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Als er auf dem Rückweg am Café de la Marine vorbeiging, warf er einen Blick hinein und wurde von einem Lotsen gerufen.
»Komm, nimm einen Schluck. Bist ja ganz nass …«
Er trank einen Rum im Stehen. Zwei Treidler erhoben sich, schwer vom Rotwein und mit glänzenden Augen, gingen zum angrenzenden Stall und legten sich dicht bei ihren Pferden aufs Stroh.
Sie waren nicht stockbetrunken, doch sie hatten genug, um in einen tiefen Schlaf zu fallen.
Fünf Pferde standen im Stall, der nur von einer heruntergedrehten Sturmlampe erhellt war.
Um vier Uhr weckte einer der Treidler seinen Kumpan, und beide begannen ihre Tiere zu striegeln. Sie hörten die Pferde der Providence, die aus dem Kahn geholt und angeschirrt wurden.
Zur selben Zeit stand der Wirt des Cafés auf und zündete in seinem Zimmer im ersten Stock die Lampe an. Auch er hörte, wie sich die Providence in Bewegung setzte.
Um halb fünf begann der Dieselmotor des Tankers zu tuckern, aber er fuhr erst eine Viertelstunde später los, nachdem der Schiffer im gerade geöffneten Café einen Grog getrunken hatte.
Er war eben erst aufgebrochen, und die Eco III hatte die Brücke noch nicht erreicht, als die beiden Treidler ihre Entdeckung machten.
Der eine zog die Pferde auf den Treidelweg. Der andere wühlte im Stroh, um seine Peitsche zu finden, als seine Hand auf etwas Kaltes stieß.
Beunruhigt, weil er glaubte, ein menschliches Gesicht erkannt zu haben, griff er nach seiner Laterne und leuchtete den Leichnam an, der Dizy erschüttern und das Leben am Kanal durcheinanderbringen sollte.
Kommissar Maigret von der Ersten Mobilen Brigade war dabei, die Tatsachen zu rekapitulieren und einzuordnen.
Es war Montagabend. Schon am Morgen hatte die Staatsanwaltschaft von Épernay den Tatort besichtigt, und nachdem sich dort auch die Männer vom Erkennungsdienst und der Gerichtsmediziner eingefunden hatten, war die Tote ins Leichenschauhaus gebracht worden.
Es regnete immer noch, ein feiner, dichter und kalter Regen, der die ganze Nacht und den ganzen Tag nicht aufgehört hatte. Auf den Toren der Schleuse, wo ein Schiff kaum merklich gehoben wurde, sah man Männer hin und her gehen.
Vor einer Stunde war der Kommissar eingetroffen, und seither bemühte er sich, mit einer Welt vertraut zu werden, auf die er ganz plötzlich gestoßen war und von der er bei seiner Ankunft nur falsche oder verworrene Vorstellungen gehabt hatte.
Der Schleusenwärter hatte ihm gesagt:
»In diesem Abschnitt war fast nichts los, zwei Motorboote stromabwärts, eines aufwärts, das am Nachmittag durchgeschleust worden war, ein Baggerschiff und zwei Panamas. Und dann kam noch der Pott mit seinen vier Kähnen …«
Maigret lernte, dass ein Pott ein Schlepper und ein Panama ein Schiff war, das weder einen Motor noch Pferde an Bord hatte und das sich für eine bestimmte Strecke einen Treidler mit Tieren auslieh. Mehr sei an diesem Tag nicht los gewesen.
Bei seiner Ankunft in Dizy hatte er nur einen schmalen Kanal gesehen, drei Kilometer von Épernay entfernt, und ein unbedeutendes Dorf in der Nähe einer steinernen Brücke.
Er hatte durch Schlamm waten müssen, als er den Treidelpfad bis zur Schleuse gegangen war, die ihrerseits zwei Kilometer außerhalb von Dizy lag.
Dort hatte er das graue Steinhaus des Schleusenwärters gefunden, mit seiner Aufschrift: Bureau de Déclaration. Die Meldestelle.
Er hatte das Café de la Marine betreten, das einzige weitere Gebäude am Ort.
Zur Linken eine ärmliche Gaststube mit braunen Wachstüchern auf den Tischen und Wänden, die zur Hälfte in Braun und zur anderen in einem schmutzigen Gelb gestrichen waren. Es lag aber ein Geruch in der Luft, der ausreichte, um den Unterschied zu einem Lokal auf dem Land festzumachen. Es roch nach Pferdestall, Zaumzeug, Teer und Gemischtwaren, nach Petroleum und Diesel.
Über der Tür rechts hing eine kleine Klingel, und an den Scheiben klebten transparente Reklameschilder.
Der Raum dahinter war mit Waren vollgestopft: Regenjacken, Pantinen, Leinenkleidung, Kartoffelsäcke, Speiseölkanister und Zuckerkisten, Erbsen, Bohnen, anderes Gemüse und Steingut.
Kunden waren nicht zu sehen. Im Stall stand nur ein Pferd, das der Wirt anschirrte, wenn er zum Markt wollte, ein schweres graues Tier, zutraulich wie ein Hund, das nicht festgebunden war und ab und zu im Hof zwischen den Hühnern herumtrottete.
Regen überall, ein Regen, der alles beherrschte. Die Leute, die gebückt vorübergingen, waren schwarz und glänzten vor Feuchtigkeit.
Hundert Meter entfernt befuhr eine kleine Lore eine Baustelle, und der Lokführer in der winzigen Lokomotive hatte einen Regenschirm aufgespannt, unter dem er fröstelnd mit hochgezogenen Schultern stand.
Ein Frachtkahn machte sich vom Ufer los, wurde mit einem Bootshaken zur Schleuse gebracht, die ein anderer Kahn gerade verließ.
Wie war die Frau hierhergekommen? Und warum? Diese Frage hatten sich die Polizei von Épernay, die Staatsanwaltschaft, die Ärzte und die Spezialisten vom Erkennungsdienst verblüfft gestellt, und auch Maigret wälzte sie wieder und wieder in seinem schweren Kopf.
Sie war erdrosselt worden, das stand fest. Der Tod war am Sonntagabend eingetreten, wahrscheinlich gegen halb elf.
Und die Leiche war kurz nach vier Uhr morgens im Pferdestall entdeckt worden.
An der Schleuse führte keine Straße vorbei. Wer nichts mit der Schifffahrt zu tun hatte, den zog nichts hierher. Der Treidelpfad war für Autos zu schmal. Und in jener Nacht hätte man durch Pfützen und knietiefen Schlamm waten müssen.
Allem Anschein nach aber gehörte die Frau zu einer Welt, in der man sich eher in Luxuskarossen und Schlafwagen als zu Fuß fortbewegte.
Sie trug nur ein cremefarbenes Seidenkleid und weiße Wildlederschuhe, die eher für den Strand als für die Stadt geeignet waren.
Das Kleid war zerknittert, aber vollkommen sauber. Nur die Spitze des linken Schuhs war noch feucht, als man die Leiche entdeckte.
»Achtunddreißig bis vierzig Jahre«, hatte der Arzt nach der Untersuchung festgestellt.
Ihre Ohrringe waren zwei echte Perlen im Wert von ungefähr fünfzehntausend Franc. Ihr Armband aus Gold und Platin war nach allerneuestem Chic gefertigt und eher elegant als wertvoll, trug aber den Schriftzug eines Juweliers an der Place Vendôme.
Sie hatte braune, gewellte Haare, die im Nacken und an den Schläfen ganz kurz geschnitten waren.
Ihr durch die Strangulation entstelltes Gesicht musste auffallend hübsch gewesen sein.
Eine Frau von sprühend lebhaftem Wesen, keine Frage.
Ihre manikürten, lackierten Fingernägel waren schmutzig.
Man hatte keine Handtasche bei ihr gefunden. Die Polizeidienststellen in Épernay, Reims und Paris, die ein Foto bekommen hatten, versuchten seit dem Morgen vergeblich, ihre Identität festzustellen.
Und der Regen fiel ohne Unterlass auf eine abweisende Landschaft. Zur Linken und zur Rechten war der Horizont von Kreidehügeln mit weißen und schwarzen Streifen begrenzt, deren Weinstöcke zu dieser Jahreszeit wie Holzkreuze auf einem Soldatenfriedhof aussahen.
Der Schleusenwärter, der nur an der silbernen Borte seiner Schirmmütze zu erkennen war, drehte mit bedrückter Miene seine Runde um das Hafenbecken, in dem das Wasser jedes Mal aufzuwallen begann, wenn er die Schieber öffnete.
Jedem Schiffer erzählte er die Geschichte, wenn sich das Schiff hob oder senkte.
Manchmal gingen die beiden Männer, wenn die Frachtpapiere unterschrieben waren, schnellen Schritts ins Café de la Marine, leerten ein paar Gläser Rum oder einen Schoppen Weißwein.
Immer wieder reckte der Schleusenwärter sein Kinn in Richtung Maigret, der ziellos umherging und einen ratlosen Eindruck machen musste.
Und ratlos war er auch. Ein Fall, der in jeder Hinsicht ungewöhnlich war. Es gab nicht mal einen Zeugen, den man befragen konnte.
Denn nach der Vernehmung des Schleusenwärters hatte die Staatsanwaltschaft den Verantwortlichen vom Brücken- und Straßenbauamt konsultiert und entschieden, alle Schiffe weiterfahren zu lassen.
Die beiden Treidler waren gegen Mittag als Letzte aufgebrochen, jeder ein Panama eskortierend.
Da es alle drei oder vier Kilometer eine Schleuse gab und die Schleusen telefonisch miteinander verbunden waren, konnte man jederzeit in Erfahrung bringen, wo sich die jeweiligen Schiffe befanden, und ihre Weiterfahrt blockieren.
Zudem hatte ein Kriminalkommissar aus Épernay alle möglichen Leute befragt, und Maigret standen die Protokolle dieser Verhöre zur Verfügung, aus denen jedoch bloß hervorging, dass das Geschehene höchst unwahrscheinlich war.
Alle, die sich am Abend zuvor im Café de la Marine aufgehalten hatten, waren bekannt, sei es dem Wirt oder dem Schleusenwärter, die meisten sogar beiden.
Die Treidler übernachteten mindestens einmal in der Woche in dem Pferdestall – und immer in ähnlich angetrunkenem Zustand.
»Verstehen Sie? An jeder Schleuse nimmt man ein Glas … Fast alle Schleusenwärter schenken Getränke aus.«
Der Tanker, der am Sonntagnachmittag angekommen und am Montagmorgen weitergefahren war, transportierte Benzin und gehörte einer großen Firma in Le Havre.
Was die Providence anging, deren Kapitän zugleich der Besitzer war, so passierte sie zwanzigmal im Jahr, mit ihren beiden Pferden und ihrem alten Treidler. Und mit den anderen verhielt es sich genauso.
Maigret war missmutig. Hundertmal ging er in den Stall, dann ins Café oder in den Laden.
Man sah ihn bis zu der steinernen Brücke gehen, wobei er seine Schritte zu zählen oder irgendetwas im Schlamm zu suchen schien. Mürrisch und vor Wasser triefend beobachtete er zehn Schleusenvorgänge.
Man fragte sich, was er vorhatte, aber das wusste er selbst nicht. Ehrlich gesagt versuchte er nicht einmal, Indizien im eigentlichen Sinn zu finden, sondern vielmehr die Umgebung in sich aufzunehmen, dieses Leben am Kanal zu begreifen, das so verschieden war von dem, das er kannte.
Er hatte sich versichert, dass man ihm ein Fahrrad ausleihen würde, wenn er eines der Schiffe erreichen wollte.
Der Schleusenwärter hatte ihm den Amtlichen Binnenschifffahrtsführer gegeben, in dem unbekannte Orte wie Dizy eine unerwartete Bedeutung erlangten, aus topographischen Gründen oder wegen einer Verbindung, einer Kreuzung, eines Krans oder sogar wegen einer Meldestelle.
In Gedanken versuchte er den Kähnen und Treidlern zu folgen:
Ay – Hafen – Schleuse 13
Mareil-sur-Ay – Werft – Hafen – Wendebecken – Schleuse 12 – Abschnitt 74, 36 …
Dann Bisseuil, Tours-sur-Marne, Condé, Aigny …
Ganz am Ende des Kanals jenseits der Hochebene von Langres, die die Schiffe Schleuse für Schleuse erklommen und auf der Rückseite wieder hinunterfuhren, die Saône, Chalon, Mâcon, Lyon …
Was hatte die Frau hier nur gewollt?
In einem Pferdestall mit ihren Perlohrringen, ihrem modischen Armband und ihren weißen Wildlederschuhen!
Sie musste lebend angekommen sein, da das Verbrechen nach zehn Uhr abends begangen worden war.
Aber wie? Und warum? Niemand hatte etwas gehört. Sie hatte nicht geschrien. Die beiden Treidler waren nicht aufgewacht!
Wenn die Peitsche nicht verloren gegangen wäre, hätte man die Leiche wohl erst zwei Wochen oder einen Monat später gefunden, zufällig, beim Wenden des Strohs. Andere Treidler hätten neben dieser Frauenleiche geschnarcht.
Trotz des kalten Regens war die Atmosphäre immer noch irgendwie drückend, unerbittlich. Und das Leben schleppte sich dahin.
Füße in Stiefeln oder Pantinen schlurften über die Schleusenmauern und den Treidelweg entlang. Klitschnasse Pferde warteten darauf, dass das Becken volllief, um wieder anzuziehen, sich in wachsender Anstrengung zu strecken, die Hinterbeine in den Boden gerammt.
Es dämmerte, wie am Tag zuvor. Schon hielten die Kähne an, wurden für die Nacht festgemacht, während sich die fröstelnden Schiffer gruppenweise ins Café begaben.
Maigret warf einen Blick in das Zimmer, das man für ihn hergerichtet hatte, neben dem des Wirts. Zehn Minuten blieb er dort, um die Schuhe zu wechseln und seine Pfeife zu reinigen.
Genau als er herunterkam, fuhr eine Yacht, die von einem Matrosen in Regenhaut gesteuert wurde, langsam am Ufer entlang, setzte zurück und hielt, ohne anzustoßen, zwischen zwei Pollern an.
Der Matrose führte alle diese Manöver allein aus. Etwas später kamen zwei Männer aus der Kabine, sahen sich gelangweilt um und gingen schließlich Richtung Café de la Marine.
Auch sie hatten Regenhäute übergeworfen. Als sie sie aber auszogen, sah man ihre über der Brust geöffneten Flanellhemden und ihre weißen Hosen.
Die Schiffer musterten sie, ohne dass sich die Neuankömmlinge den geringsten Zwang angetan hätten. Im Gegenteil! Die Szenerie schien ihnen vertraut.
Einer der beiden war groß, dick und graumeliert, mit einem ziegelroten Teint und hervorspringenden Augen. Sein düsterer Blick glitt über die Menschen und die Dinge, als würde er sie nicht sehen.
Er lehnte sich in seinem Korbstuhl zurück, legte die Füße auf einen zweiten Stuhl und schnipste nach dem Wirt.
Sein Begleiter, der etwa fünfundzwanzig sein musste, sprach englisch mit ihm, und zwar so lässig, dass es schon snobistisch wirkte.
Er war es, der ohne Akzent fragte:
»Haben Sie Champagnerwein? Nicht perlend?«
»Ja, hab ich …«
»Bringen Sie eine Flasche.«
Sie rauchten türkische Zigaretten mit Papierspitzen.
Das Gespräch unter den Schiffern, das für einen Augenblick verstummt war, kam langsam wieder in Gang.
Kurz nachdem der Wirt den Wein serviert hatte, trat der Matrose ein, ebenfalls in weißer Hose und einem Seemannspullover mit blauen Streifen.
»Hier, Wladimir …«
Der Dickere gähnte. Offenbar war er sehr gelangweilt. Er leerte sein Glas und verzog das Gesicht, nur mäßig angetan.
»Noch eine Flasche!«, flüsterte er dem Jüngeren zu.
Und dieser wiederholte laut, als wäre er es gewohnt, Anweisungen auf diese Weise zu übermitteln:
»Eine Flasche! Vom Gleichen!«
Maigret kam aus seiner Ecke, wo er hinter einem Bierkrug gesessen hatte.
»Entschuldigung, meine Herren, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
Der Ältere zeigte auf seinen Begleiter, was bedeutete: Wenden Sie sich an ihn.
Er zeigte weder Überraschung noch Interesse. Der Matrose schenkte sich ein und schnitt das Ende einer Zigarre ab.
»Sind Sie über die Marne gekommen?«
»Über die Marne, klar.«
»Haben Sie letzte Nacht weit von hier gelegen?«
Der Dickere drehte den Kopf und sagte auf Englisch:
»Sag ihm, dass ihn das nichts angeht!«
Maigret tat so, als hätte er nicht verstanden, und zog, ohne ein Wort zu sagen, aus seiner Brieftasche das Foto der Leiche und legte es auf das braune Wachstuch.
Die Schiffer, die am Tresen saßen oder standen, verfolgten die Szene mit den Augen.
Der Mann von der Yacht bewegte kaum den Kopf, um das Bild zu betrachten. Dann sah er Maigret prüfend an und seufzte.
»Polizei?«
Er sprach mit starkem englischen Akzent und müder Stimme.
»Kriminalpolizei! Letzte Nacht wurde ein Mord begangen. Das Opfer konnte noch nicht identifiziert werden.«
»Wo ist sie?«, fragte der andere, indem er aufstand und auf das Bild zeigte.
»Im Leichenschauhaus von Épernay. Kennen Sie sie?«
Das Gesicht des Engländers war undurchdringlich, aber Maigret bemerkte, dass sich sein massiger Hals wie bei einem Schlaganfall violett gefärbt hatte.
Er setzte seine weiße Mütze auf seinen fast kahlen Schädel und murmelte, zuerst auf Englisch, an seinen Begleiter gewandt:
»Noch mehr Schwierigkeiten!«
Dann schließlich erklärte er, während er einen Zug von seiner Zigarette nahm und sich nicht um die neugierigen Blicke der Schiffer kümmerte:
»Das ist meine Frau!«
Man hörte plötzlich klarer, wie der Regen auf die Scheiben prasselte und die Kurbeln der Schleuse knirschten. Die Stille hielt einige Sekunden an, eine absolute Stille, als gäbe es kein Leben mehr.
»Du zahlst, Willy.«
Der Engländer warf sich seine Regenhaut über, ohne in die Ärmel zu schlüpfen, und raunte Maigret zu:
»Kommen Sie mit aufs Schiff.«
Der Matrose, den er Wladimir genannt hatte, trank zuerst die Flasche Wein aus und ging dann, wie er gekommen war, zusammen mit Willy.
Das Erste, was der Kommissar sah, als er an Bord kam, war eine Frau im Morgenmantel, die mit nackten Füßen und gelöstem Haar auf einer dunkelroten Samtliege schlummerte.
Der Engländer tippte ihr auf die Schulter und sagte dann, ebenso gelassen wie zuvor, aber nicht im Geringsten um Höflichkeit bemüht:
»Geh nach draußen.«
Dann wartete er, ließ den Blick über den Klapptisch schweifen, auf dem eine Flasche Whisky, ein halbes Dutzend schmutziger Gläser und ein Aschenbecher standen, der von Kippen überquoll.
Schließlich goss er sich mechanisch etwas zu trinken ein und reichte Maigret die Flasche mit einer Geste, die bedeutete: Wenn Sie auch was wollen …
Ein Kahn fuhr knapp an den Bullaugen vorbei, und fünfzig Meter entfernt hielt der Treidler seine Pferde an, deren Glöckchen man bimmeln hörte.
Maigret hatte ungefähr die gleiche Statur wie der Engländer. Am Quai des Orfèvres galt seine Gelassenheit als legendär. Diesmal jedoch machte ihn die Ruhe seines Gesprächspartners ungeduldig.
Und diese Ruhe schien an Bord das Losungswort zu sein. Vom Matrosen Wladimir bis zu der Frau, die soeben aus dem Schlaf gerissen worden war, machten alle den gleichen teilnahmslosen oder abgestumpften Eindruck. Den von Leuten, die man morgens aus dem Bett zog, nachdem sie sich einen heftigen Rausch angetrunken hatten.
Eine Kleinigkeit unter Hunderten. Während die Frau aufstand und nach einer Schachtel Zigaretten suchte, entdeckte sie das Foto, das der Engländer auf den Tisch gelegt hatte und das auf dem kurzen Weg vom Café zur Yacht nass geworden war.
»Mary?«, fragte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme.
»Yes, Mary!«
Mehr nicht. Sie ging hinaus durch eine Tür, die sich nach vorn öffnete und zum Waschraum führen musste.
Willy kam auf die Brücke, kniete sich vor die Luke. Der Salon war sehr klein. Die lackierten Mahagoniwände waren dünn, und von vorne war alles zu hören, denn der Yachtbesitzer sah zuerst in diese Richtung und dann mit gerunzelter Stirn zu dem jungen Mann, dem er ungeduldig zurief:
»Los, komm rein!«
Und abrupt zu Maigret:
»Sir Walter Lampson, Oberst der indischen Armee im Ruhestand!«
Während er sich vorstellte, salutierte er kurz und deutete mit einer Geste auf die Bank.
»Und der Herr …«, fragte der Kommissar und drehte sich Willy zu.
»Ein Freund, Willy Marco.«
»Spanier?«
Der Oberst zuckte mit den Schultern. Maigret taxierte das offensichtlich jüdische Gesicht des jungen Mannes.
»Griechisch väterlicherseits, ungarisch mütterlicherseits.«
»Ich sehe mich gezwungen, Ihnen einige Fragen zu stellen, Sir.«
Willy hatte sich unbefangen auf die Rückenlehne eines Stuhls gesetzt und schaukelte, eine Zigarette rauchend, hin und her.
»Ich höre.«
Doch als Maigret zum Sprechen ansetzte, sagte der Yachtbesitzer:
»Wer hat das getan? Weiß man das schon?«
Er meinte den Täter.