Bis zur bitteren Neige - Johannes Mario Simmel - E-Book

Bis zur bitteren Neige E-Book

Johannes Mario Simmel

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Beschreibung

Ein packender Roman über einen gefallenen Kinderstar, der verzweifelt um sein Comeback kämpft und dabei in einen Strudel aus Alkohol, Schuld und Betrug gerät. Peter Jordan war einst der gefeierte Kinderstar Hollywoods, doch inzwischen ist er in Vergessenheit geraten. Dem Alkohol verfallen und von persönlichen Schulden erdrückt, setzt er alles daran, auf die Leinwand zurückzukehren. In seiner Verzweiflung ist er dabei nicht wählerisch in seinen Mitteln. Doch um nicht nur beruflich, sondern auch menschlich ein Comeback zu schaffen, muss sich Peter Jordan seiner Vergangenheit stellen und den steinigen Weg der Buße gehen. In Bis zur bitteren Neige erzählt Johannes Mario Simmel einfühlsam die Geschichte eines Mannes, der in die Tiefe stürzt und um seine Erlösung ringt. Ein Roman über die Abgründe der Sucht, die Macht der Vergangenheit und die Kraft der Liebe.

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Seitenzahl: 946

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Johannes Mario Simmel

Bis zur bitteren Neige

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungDas erste Tonband1. Kapitel9. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. KapitelDas zweite Tonband1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelDas dritte Tonband1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel90. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. KapitelDas vierte Tonband1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelDas fünfte Tonband1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelDas sechste Tonband1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelDas siebente Tonband1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelDas achte Tonband1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelDas neunte Tonband1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel

Ich fürchte, alles Poetische ist ein bißchen verlogen

PAOLO LEVI in »Der Weg ist dunkel«

[home]

Das erste Tonband

1

Ich erinnere mich noch genau an den Augenblick, in dem ich zum erstenmal starb. Ich bin danach noch ein paarmal gestorben, aber Ort und Datum jenes ersten Males werden eingebrannt in meinem Gedächtnis bleiben, solange ich lebe: Hamburg, 27. Oktober 1959.

Ein schwerer Sturm raste an diesem Morgen über die Stadt, und während ich an ihn denke, glaube ich wieder sein Toben zu vernehmen, sein Pfeifen, Stöhnen, Ächzen in Kaminen, sein Rütteln an Dachziegeln und Blechen, an Schildern, Fensterläden, Gittern, Jalousien. Dieser Orkan fand seinen Weg in meine wirren Träume, ich hörte ihn und fühlte ihn, ehe mich noch das Schrillen des Telefons aus dem Schlaf riß.

Der Apparat stand neben dem Bett. Ich knipste die Nachttischlampe an, denn die Vorhänge waren zugezogen. Mein Kopf schmerzte, ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund, und mir war übel, als ich mich aufsetzte. Neben dem Telefon sah ich Zigaretten, einen Aschenbecher, ein Glas, halb angefüllt mit schalem Whisky, ein Röhrchen Schlaftabletten, das kleine Kreuz aus Gold und meine Armbanduhr. Es war drei Minuten nach acht.

Die Tür zum Bad stand offen. Durch die Milchglasscheibe hinter der Wanne kam bleiernes, scheußliches Frühlicht ins Schlafzimmer gekrochen und mischte sich über dem Bett mit dem scheußlichen, kraftlos gelben Licht der Nachttischlampe.

Ich hob den Hörer ab und roch dabei den Whisky, und Ekel schüttelte mich, oben in der Kehle.

»Hier ist die Zentrale. Guten Morgen, Mister Jordan. Ich fürchte, ich habe Sie geweckt.«

»Ja.«

»Das tut mir leid. Ich fragte bei allen Kolleginnen nach. Es liegt kein Auftrag vor, Sie nicht zu stören.«

»Vergessen.« Ich war noch zu verschlafen, um ganze Sätze zu bilden. Jetzt roch ich auch die Zigarettenstummel; etwas Whisky war in den Aschenbecher geraten, sie lagen darin, vollgesogen, aufgeplatzt, braun, gelb und schwarz.

»Hier ist ein Transatlantikgespräch für Sie, aus Kalifornien, Pacific Palisades. Übernehmen Sie die Gebühren?«

»Was für Gebühren?«

»Es ist ein R-Gespräch. Am Apparat ist Shirley Bromfield.«

»Meine Tochter?«

»Nein, Miss Shirley Bromfield.«

»Das ist meine Tochter. Meine Stieftochter.« Was ging das die Zentrale an? Ich mußte endlich munter werden. »Geben Sie mir das Gespräch.«

»Sie übernehmen also die Gebühren?«

»Ja doch!«

»Bleiben Sie am Apparat.«

Ich vernahm ein Klicken, dann knisterte und knatterte es in der offenen Verbindung, und von beiden Seiten des Atlantik hörte ich Worte, Sätze, verweht, verworren.

»New York … calling relais New York …«

»Can you get me Pacific Palisades now? Extension Crestview 5 22 23. Hamburg has accepted …«

Hinter den honigfarbenen Damastvorhängen, die eine ganze Wand des Schlafzimmers verdeckten, stand ein Fensterflügel offen. Ich sah, wie der schwere Stoff sich blähte und hob, ich fühlte die Eisluft des Sturms und hörte sein Donnern, Sausen und Winseln. Es zog. Im Bad standen die Lüftungsklappen offen.

»Hallo, relais New York …«

»Just a second, Hamburg, just a second …«

Auf dem Teppich vor dem Bett lagen deutsche und amerikanische Zeitungen, zerblättert und zerlesen. Die Titelseite eines Filmmagazins zeigte mein Gesicht. Ich trug ein blaues, offenes Sporthemd. Das Foto hatte noch Joe Schwartz, Standfotograf in Hollywood, gemacht. Ich sah darauf aus wie höchstens dreißig, sieben Jahre jünger als ich war. In meinen kurzgeschrittenen schwarzen Haaren gab es schon viele weiße, doch die hatten sie gefärbt, die Fältchen um die blauen Augen weggeschminkt. Nur die gesunde Farbe war nicht Pancake, sie war echt. Wochenlang hatte ich mich von der Sonne bräunen lassen, bevor ich nach Europa kam. Schmaler Schädel, hohe Stirn, kräftige Kiefer, schöne Zähne (lauter Jackets): So zeigte ich lachend Draufgängertum, Entschlossenheit und Zuversicht auf diesem Foto. Ich zeigte lauter Eigenschaften, die ich nicht besaß, nie weniger besessen hatte.

Nach zwanzig Jahren:

Peter Jordan, Amerikas unvergessener Kinderstar, filmt wieder

Zugluft ließ den Papierberg zittern, atmen, spukhaft leben. Die Vermittlung meldete sich: »Can you hear me, Hamburg? Here comes Pacific Palisades now.«

Klick, machte es noch einmal. Dann hörte ich ihre Stimme, so laut, so nah, so klar, daß ich zusammenfuhr: »Peter?« Es klang, als wäre sie im Zimmer. Ich sprach nun englisch:

»Shirley! Ist etwas geschehen?«

»Ja …« Ihre hohe Kinderstimme bebte, als unterdrücke sie ein Schluchzen.

»Etwas mit Mammy?«

»Nein. Wieso mit Mammy?«

»Was heißt wieso? Wo bist du überhaupt?«

»Zu Hause.« Sie war neunzehn Jahre alt, ihre Stimme aber jünger, sehr viel jünger. über ein Weltmeer, einen Kontinent hinweg hörte ich sie atmen, krampfhaft, voller Furcht und viel zu schnell.

»Shirley!«

Ein Stöhnen.

»Sag mir jetzt augenblicklich, was passiert ist!«

Sie sagte es mir augenblicklich, mit ihrer hohen Stimme, die so viel jünger war als sie.

»Paddy, ich bekomme ein Kind.«

9

Paddy.

Sie hatte mich Paddy genannt – zum ersten Male seit langer Zeit. Mit vier Jahren lernte sie mich kennen und brachte mir spontan wohl ebensolchen Haß entgegen wie dem Teufel, den der Priester ihr und anderen kleinen Mädchen in apokalyptischen Gestalten präsentierte: da war sie nur unter Gefahr von Strafen zu bewegen, mich trotzig, mit fortgewandtem Kopf und durch die Zähne ›Onkel Peter‹ zu nennen. Ihrer Mutter drohte sie damals immer wieder: »Mein Dad ist tot, aber ich werde ihn immer weiter liebhaben, nur ihn! Wenn du diesen Onkel Peter heiratest, verzeihe ich dir das nie.«

Als wir heirateten, war sie sechs, und tonlos vor Haß fanden wir die Stimme, mit der sie nach der Trauung zu mir sagte: »Du bist nicht mein Vater. Dad nenne ich dich niemals, und wenn ihr mich totschlagt dafür. Auch Daddy nicht. Mammy zuliebe will ich Paddy zu dir sagen, P von Peter.« Mit dreizehn schwelte dann ihr Haß nur noch, anstatt zu lodern. Mit dreizehn fand sie achselzuckend: »Paddy klingt so kindisch.« Und fortan war ich für sie ›Peter‹ – sechs Jahre lang, bis heute.

Mir war der Hörer aus der schweißnassen Hand geglitten, er lag auf meinen Knien. Die Membran quakte: »Paddy … verstehst du mich?«

Ich hielt den Hörer jetzt mit beiden Händen fest und roch wieder den Whisky und die nassen Stummel. Das Bett begann ein wenig unter mir zu schwanken.

»Shirley … wenn dich jemand hört!«

»Es hört mich keiner.«

»Wo ist Mammy?«

»Im Theater. Mit den Bakers. Ich habe auch ein R-Gespräch verlangt. Damit sie es nicht auf der Rechnung findet.« Das Bett schwankte jetzt stärker, ich bekam zu wenig Luft.

»Wieso im Theater? Wie spät ist es denn bei euch?«

»Elf Uhr vorbei.«

»Wo sind die Angestellten?«

»Ich spreche aus deinem Bungalow.« Mein Bungalow lag abseits des Haupthauses, er hatte einen eigenen Telefonanschluß. »Niemand kann mithören.« Und im Hotel hier? In der Telefonzentrale? »Paddy, hast du mich verstanden? Ich bin –«

»Sag es nicht!« Allmächtiger Gott. Wenn meine Frau nun heimkehrte und ihre Tochter suchte. Wenn jemand lauschte vor dem Bungalow. Ich stammelte: »Das gibt es nicht. Das kann nicht sein.«

»Ich war heute nachmittag beim Arzt.«

»Der Arzt hat sich geirrt.«

»Ich war schon zweimal da. Heute und vor vierzehn Tagen.«

»Vor vierzehn Tagen war ich noch zu Hause. Warum hast du da nicht mit mir gesprochen?«

»Ich … wollte dich nicht aufregen …« Die Kinderstimme bebte. »Ich habe gedacht, es hat sich nur verschoben … du warst so fürchterlich nervös mit deinem Film …«

»Was ist das für ein Arzt?«

»Seine Adresse gab mir eine Freundin. Er wohnt in Los Angeles. Ich war sehr vorsichtig. Ich habe immer nur Taxis genommen. Er weiß nicht, wie ich wirklich heiße.«

»Und?«

»Er hat zwei Teste gemacht. Mit Mäusen. Und Getreidekörnern.«

»Und?«

»Es steht ganz fest. Es ist ganz sicher. Zweiter Monat.« Plötzlich schrie sie: »Ich weiß, was du jetzt denkst. Aber ich will es haben!«

»Schrei nicht!«

»Du mußt sofort mit Mammy reden … jetzt ist Schluß …«

»Shirley, hör auf!«

»… ich gebe es nicht her! Eher bringe ich mich um! Es ist ein Teil von –«

Um sie zu übertönen, schrie ich: »Halt den Mund!«

Sie schwieg. Ich hörte, wie sie keuchte.

»Hast du denn den Verstand verloren? Willst du denn, daß es eine Katastrophe gibt?« Dieses Gespräch war reiner Selbstmord. Mit fünf Groschen Verstand konnte mich jedes Mädchen aus der Telefonzentrale nun erpressen, wenn es die letzten Sätze mitbekommen hatte. Ich sagte heiser: »Verzeih, daß ich dich anschrie.« Sie schluchzte. »Weine nicht.« Das Schluchzen wurde stärker. »Hör auf zu weinen. Bitte. Du mußt aufhören. Shirley!« Aber sie schluchzte weiter. Ich wollte sie trösten, zärtliche Worte flüstern, mich überstürzen in Beteuerungen meiner Liebe, aber das alles durfte ich nicht tun. Ich mußte nur der kalten, nüchternen Vernunft nach denken, wenn ich uns beide noch erretten wollte aus diesem Stromwirbel des Unheils. Zwingen mußte ich mich, zornig und brutal zu sein, ohne Gefühl: »Du wirst nur tun, was ich dir sage. Hast du verstanden?«

»Aber Mammy –«

»Sie darf nichts merken. Wenn sie etwas merkt, sind wir verloren.«

»Ich halte das nicht mehr aus … Paddy, ich kann sie nicht mehr ansehen … nicht mehr mit ihr sprechen …«

Ich hörte Shirleys Stimme, die geliebte Stimme: so rein, so schmerzlich, wie ich sie in der Erinnerung bewahrte aus all unseren Umarmungen, aus allen jenen Nächten, wenn nach dem Rausch Verzweiflung in uns aufgestiegen war und Schuld. Ich war älter. Ich war klüger. Wenn ich jetzt nicht die Nerven behielt, waren wir verloren, beide. So zwang ich mich erneut zu Kälte, Härte, Grausamkeit: »Dies ist eine Telefonverbindung. Wir dürfen nichts riskieren. Leg auf. Ich schreibe dir. Heute noch. Luftpost, expreß. Hauptpostlagernd. Pacific Palisades. Wie immer.«

»Und … und …?«

»Alles wird in dem Brief stehen. Ich habe Freunde in Los Angeles. Sie werden helfen.«

»Ich lasse mir nicht helfen!«

»Du tust, was ich dir schreibe. In unserer … in dieser Situation mußt du es tun. Verstehst du nicht?«

Ein Schweigen. Dann kam über die Wüsten, Gebirge und Wälder der Neuen Welt, über die dunkle Tiefe einem Ozeans das Flüstern eines Kindes an mein Ohr und krampfte mein Herz zusammen: »Ich … verstehe …«

»Gut.« Kalt. Erbarmungslos und kalt mußte ich bleiben, wenn ich uns jetzt noch helfen wollte, bewahren wollte vor dem Untergang in Schmutz, Skandal und Schande.

»Darf ich … darf ich zu Father Horace gehen?« Das war ihr Priester. Als gläubige Katholikin hatte Shirleys Mutter sie erzogen. Nun litt sie darunter. Seit es geschehen war, ließ ich sie nicht mehr beichten. Sie beugte sich, weil sie mich liebte, aber ich bin sicher, daß sie die dunklen Prophezeiungen und Strafen, die ihre Religion für Sünder so wie uns verhieß, verfolgten bis in ihre schweren, qualerfüllten Träume.

»Du gehst nicht hin! Auf keinen Fall!«

»Aber ich muß! Ich muß es sagen, Paddy!«

»Nein!«

»Ich bin verflucht … es wird mir nie vergeben, wenn ich nicht –«

»Ich will das nicht mehr hören! Kein Wort, verstehst du mich, kein Wort darfst du zu einem Menschen sagen!«

Schweigen.

»Wiederhole!«

»Kein Wort … kein Wort …«

»Zu Father Horace nicht, zu deiner Freundin nicht, zu niemandem.«

Dann kam die Stimme, die verlorene Kinderstimme an mein Ohr, stockend, voll Tränen: »Ich mache, was du sagst … nur, was du sagst … verzeih mir, daß ich dir das antue …«

Der Schweiß rann über meinen Körper. Und ich? Was hatte ich ihr angetan?

»Mein armes Kleines …« Mein armes Kleines – das durfte doch ein Vater noch zu seiner Tochter sagen – oder, Zentrale?

»Du mußt jetzt nur vernünftig sein …« Das durfte doch ein Vater noch von seiner Tochter fordern – oder, meine Damen in den Fernämtern von Hamburg und Pacific Palisades, vom Relais-Board New York?

»Paddy, ich liebe dich!«

I love you, hatte sie gesagt. Durfte das eine verstörte Tochter wohl zu ihrem Vater sagen? Englisch klang es anders, englisch durfte sie es wohl.

»Wir müssen Schluß machen.«

»Ich liebe dich. Ich habe nur dich. Ich bin hier ganz allein.«

»Alles wird gut werden.«

»Häng noch nicht ein! Sag es mir auch, oh, bitte, sag es!«

Auf und nieder, nieder und auf schwankte das Bett mit mir.

»Gute Nacht, Shirley.«

»Sag es mir! Bitte! Dann habe ich nicht so furchtbar Angst!«

Ich sagte es.

»I love you, Shirley. I love you with all my heart.«

Englisch klang es anders. Englisch durfte ein Vater das zu seiner Tochter sagen, ihr Damen in Pacific Palisades, New York und Hamburg.

Ich liebe dich, Shirley, ich liebe dich mit meinem ganzen Herzen, sagte ich zu meiner Stieftochter, die ein Kind von mir erwartete.

3

Dreizehn Jahre lang war ich verheiratet. Zehn Jahre älter als ich war meine Frau, und also nicht mehr jung. Mit ihrer Tochter betrog ich sie: mit ihrer Tochter, die meiner Erziehung, Ausbildung, Aufsicht und Betreuung anvertraut war. Verlassen wollte ich meine Frau, für immer von ihr fortgehen dieses Mädchens wegen, ihrer Tochter, meiner Stieftochter.

Ein Mensch, der solches tut, der solches will, muß Abscheu und Erbitterung erregen bei seiner Umwelt. Wäre dies bloß ein Roman und nicht vor allem ein klinischer Bericht, hauptsächlich für zwei ganz bestimmte Menschen angelegt, er stellte ein gefährliches Unterfangen dar. Der Held eines Romans, heißt es, muß stets sympathisch sein. Die Leser müssen sich in ihn verlieben können. In eine Gestalt, der meinen gleich, könnte sich kein Leser (und erst recht keine Leserin, also selbst Gattin, Mutter, junges Mädchen) verlieben. Ich wäre sozusagen das Gegenstück des üblichen Romanmittelpunkts, der Anti-Held wäre ich wohl.

Es steht zu fürchten, daß auch die beiden Fachleute, für die dieses Geständnis angefertigt wird, sich in der Folge oft mit Grausen von den Seiten wenden werden, die sie lesen. Indessen bitte ich sie, ihren Widerwillen zu bezähmen und in der Lektüre fortzufahren. Ich verspreche ihnen, Zug für Zug die Hintergründe jenes Dramas zu enthüllen, die tiefen Wurzeln der Tragödie bloßzulegen, deren fluchbeladener Akteur ich war. Vielleicht daß sie dann mehr Verständnis für mich haben werden. Verständnis sage ich, beileibe nicht Mitleid. Geduld also. Bezähmte Abscheu, bitte.

Nachdem ich den Hörer in die Gabel gelegt hatte, überfiel mich eine Art von Trance, eine gespenstische Gelassenheit. Gleich einem Schlafwandler stand ich auf, suchte unter dem raschelnden Zeitungsberg Pantoffeln hervor, zog den Morgenrock an, öffnete die schweren Vorhänge.

Durch den halben Fensterflügel traf mich der eiskalte Sturm. Ich sah die grünlichgraue Binnenalster, die kahlen, schwarzen Bäume, Straßen, glänzend naß noch vom Regen der vergangenen Nacht, die alte Lombardsbrücke und die neue. Ich sah nur wenige Menschen. Vorgebeugt kämpften sie gegen den Orkan. Von der Höhe des sechsten Stocks, aus der ich herabsah, wirkten sie so spielzeughaft und lächerlich klein wie die wenigen Autos. Auf dem sturmgepeitschten Wasser schlingerten ein paar weiße Dampfer. Die meisten lagen an den Molen vertäut. Unter den nassen Bohlen der verlassenen Landebrücken saßen Dutzende von Möwen, dicht aneinandergedrängt.

Über den Himmel jagten schwarze Wolken, braune, grüne, schmutziggraue. An den Ufern der Alster brannten alle Kandelaber, die Milchglaskugeln bildeten lange Schnüre leuchtender Perlen.

Der Paragraph 32, Absatz IV des ›Penal-Code For The State Of California‹ lautet: »Mit Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer einen seiner Erziehung, Ausbildung, Aufsicht oder Betreuung anvertrauten Menschen unter 21 Jahren zur Unzucht mißbraucht …«

Den Absatz IV des Paragraphen 327 kannte ich auswendig. Niemand soll glauben, daß ich anders als in fortwährendem Schrecken gelebt hätte seit jener Nacht, da es geschehen war, niemand soll leichthin mutmaßen, daß mir die Schwere des Verbrechens nicht bewußt war, welches ich begangen hatte – damals und danach immer wieder, immer wieder. Jedoch, was stellten Ethik und Moral und Schuld dar gegen die ärgste aller Pestilenzen, die fürchterlichste aller Seuchen und mörderischste der Plagen, welcher wir, vermessen wie wir waren, den Namen Liebe gaben?

Der Paragraph 327, Absatz IV des ›Penal Code For The State Of California‹ lautet …

Nicht nur aus Furcht allein kannte ich seinen Wortlaut. Es hatte eine Zeit gegeben, da wollte ich mich anzeigen und büßen, da wollte ich allem selbst ein Ende setzen. Die Zeit war nun vorüber. Ich war entschlossen, meine Liebe zu verteidigen, die einzige Liebe meines Lebens, die doch niemand entschuldigen, niemand verstehen konnte. Um ihretwillen, um sie zu behalten und zu bewahren, hatte ich mich auf das Abenteuer eingelassen, das es für mich nun hier, in Hamburg, zu bestehen galt.

I love you, Shirley, I love you with all my heart.

Ich schloß das Fenster, dessen Scheibe klirrte, dann ging ich (immer stärker ergriff ein Gefühl des Schwindels von mir Besitz) hinüber in den Salon des Appartements. Auch hier zog ich die Vorhänge zurück. Vor den tiefen Fenstern gab es einen Balkon. Im Windschatten seiner steinernen Balustrade erblickte ich eine tote Möwe. Zum Flug aufsteigend, mußte sie vom Sturm gegen die Hotelmauer geschleudert worden und dann auf den Balkon gefallen sein. Gebrochene Federn lagen wirr herum, der Brustkorb war geplatzt, blutiges Gekröse quoll heraus, und nur der Kopf hatte das Ende ohne Verletzung überstanden. Die scharfen, listigen Augen des Tieres standen offen und musterten mich heimtückisch, als ob auch sie den Paragraphen kennen würden.

Was war ein Paragraph? Wer machte ein Gesetz? Menschen, um Menschen vor Menschen zu schützen. Allein, was waren das für Menschen, die Gesetzemacher? Konnten sie sich hineindenken in alle Situationen, in die Menschen kamen? Auch in die schlimmsten, in die äußersten? Konnten sie trinken, die Gesetzemacher, aus jenem Kelch, aus welchem ich getrunken hatte?

Die toten Möwenaugen blickten mich an, als sagten sie: Lästerer, Lügner, Lump. Ich sah schnell fort.

Vorbei am Schreibtisch ging ich zum Kamin, auf welchem eine Fotografie Shirleys stand. Der Schreibtisch war vollgeräumt. Ich erblickte Münzen, Geldscheine, Rechnungen, die großen Bogen einer Filmkalkulation und auch ein Drehbuch, so beschriftet:

Peter Jordan in

Come Back

ein Film der Jorkos Productions

Mattglänzende Seidentapeten in breiten kardinalroten und goldenen Streifen hatte der Salon. Die zierlichen Barockmöbel waren mit jenem goldgetönten Damast überzogen, aus dem die Vorhänge bestanden. Den Fußboden verdeckte kardinalroter Velours, auf welchem eine einzige Chinabrücke lag. An den Wänden gab es Appliken aus Kristall und alte Stiche. Auf meinem Weg zu dem schon lange, lange erkalteten Kamin ging ich an einigen vorbei. Die Belagerung der Freien und Hansestadt Hamburg durch die Dänen im Jahre 1686 sah ich, Gotthold Ephraim Lessing vor dem neugegründeten Deutschen Nationaltheater, Napoleons Marschall Davout bei der Verteidigung der Nordlandfestung in den Freiheitskriegen. Nun war ich beim Kamin, nun stand ich dicht vor Shirleys Bild.

Es war eine Farbfotografie in einem Silberrahmen, sie zeigte nur den Kopf. Shirleys Haut war makellos, so glatt, so jung! Sie zeigte einen tiefen Goldton. Das leuchtend rotbraune Haar trug sie glatt; in einem breiten, offenen Pferdeschweif fiel es über ihre rechte Schulter. Die Nase war schmal, der Mund groß und zyklamenfarben geschminkt. Die grünen Augen lagen in violetten Höhlen unter dichten schwarzen Brauen. So kindlich ihre Stimme klang, so fraulich wirkte sie mit ihren neunzehn Jahren.

Neunzehn Jahre!

Ich war siebenunddreißig, doppelt so alt beinahe. Was ich getan, was ich zu tun noch vorhatte, war nicht allein Verbrechen in den Augen der Gesetzemacher, auch Wahnsinn mußte es wohl sein. Voller Bewunderung, gemischt mit Neid, sprachen die Freundinnen meiner Frau von Shirley.

»Eine so große Tochter hast du – und noch so unschuldig, so unberührt.«

»Ich habe sie beobachtet. Sie flirtet nie. Sie interessiert sich überhaupt nicht für die Männer.«

»Wie glücklich du doch sein kannst, Joan. Meine Ramona ist erst fünfzehn. Ich wage nicht zu sagen, was sie anstellt.«

»Mary ist mir mit siebzehn durchgebrannt, du weißt es ja. Verdorben ist die Jugend heute, frühreif, schlecht. Shirley erscheint mir wie ein Wunder. Das Große Los hast du mit ihr gezogen, Joan!«

Und meine Frau erwiderte dann wohl: »Wenn sie sich doch nur ein wenig besser mit meinem Mann verstehen würde. Sie liebt noch immer ihren Vater. Sie kann mir nicht verzeihen, daß ich wieder geheiratet habe …«

Vor Shirleys Bild stand ich nun reglos. Und lautlos sagte ich zu ihr: Dieses Kind darfst du nicht haben. Es ist das letzte Opfer, das ich noch verlangen muß von dir. Bald bin ich frei. Bald können alle wissen, daß wir einander lieben. Dann werden wir ein Kind haben, ein Kind der Liebe, ich verspreche es dir. Und in Frieden werden wir leben, du und ich.

»Nein«, hörte ich sie plötzlich sagen. Die hohe Stimme kam zu mir durch das Rasen des Sturms wie ein todtrauriges Seufzen von den Enden der Welt. In meiner benommenen Erregung, die nun wuchs und wuchs, hörte ich die Worte, die sie an jenem glutheißen Sommertag in meinem Bungalow gesprochen hatte, nackt, ausgelaugt von Leidenschaft und Schuld, in meinen nackten Armen: »Wir werden nie in Frieden leben, weil wir nichts tun, um diese Sünde zu beenden. Gott verzeiht das nicht.«

»Gott! Gott! Mußt du denn immer von ihm reden?«

»Du glaubst nicht an ihn, du hast es leicht.«

Das stimmte. Es mußte ziemlich schlimm sein an ihn zu glauben, nach allem, was ich mitbekam. Arme Shirley. Erbitterung erfaßte mich. »Wenn sich zwei Menschen lieben, vergibt er ihnen alles, das hast du gesagt!«

»Nicht, wenn sie nicht bereuen …«

»Shirley!«

»Gott wird uns nicht vergeben, denn er liebt uns nicht, er kann uns nicht mehr lieben …«

Wie war das also nun mit Shirleys Gott? Ich hörte ihre Stimme: »Paddy, ich bekomme ein Kind …«

Und dieses Kind durfte nicht leben.

Verweht hörte ich Shirley jene Worte sprechen, die ich in unserem Telefongespräch verboten hatte: »Das ist Mord. Wenn ich das tue, bin ich ein Mörder.«

Ein Mörder, der an Gott glaubte und litt –lebte er denn nicht im Herzen des Christentums? Wer wußte besser Bescheid über die Sünde, wer ertrug größere Gewissensqualen als der Mörder, der ein frommer Christ war? Mußte Gott nicht ihm vor allen anderen vergeben?

Ich vermochte Shirleys Fotografie nicht länger anzusehen. Da ich den Kopf zur Seite wandte, sah ich Joan. Auch ihr Bild stand auf dem Kaminsims. Dazwischen lag ein Silberteller voller Briefe. Das Bild meiner Frau hatte ich notgedrungen aufgestellt. Es wäre Besuchern vielleicht seltsam vorgekommen, allein das Foto meiner Stieftochter zu sehen. Die Presseabteilung meines Studios verkaufte mich den Zeitungen als glücklichen Familienvater.

Siebenundvierzig Jahre alt war Joan: Zuerst liebte ich meine Mutter und danach eine Frau, die älter war als ich. Psychoanalytiker hatten dazu immer viel zu sagen gehabt.

Joans Figur war noch die eines jungen Mädchens. Sie hatte sich liften lassen, und die Haut ihres Gesichts sah straff aus, glatt und faltenlos – aber eben nur die Gesichtshaut, und ich wußte auch, daß es vom Liften kam. Es fiel mir immer wieder dann ein, wenn ich Shirleys Haut berührte.

Joans braunes Haar lag fest am Kopf, die Spitzen lugten in die Wangen, über der Stirn hob es sich in zwei weichen Wellen wie zu den Bügeln einer Krone. Sie war einmal sehr schön gewesen, das sah man heute noch. Sie war vermutlich noch begehrenswert – das merkte ich zuweilen auf Parties, wenn andere Männer sie betrachteten. Von der Fotografie her sah sie mich lachend an. Ich trat zur Seite. Die braunen Augen folgten. Das war mir noch nie aufgefallen. Einen Schritt weiter seitlich trat ich, und weiter folgten mir die Augen meiner Frau, lachend und arglos.

Arglos lachend?

Waren diese Augen arglos? War meine Frau ohne Verdacht? Wie, wenn sie längst schon alles wußte, nur wartete auf ihre Stunde, gewillt war, sich zu rächen für den Schmerz, den ich ihr angetan? Joans Augen lachten. Lachten sie mich aus?

»Wenn sie sich doch nur ein wenig besser mit meinem Mann verstehen würde …«

»So unschuldig, so unberührt …«

»Gott liebt uns nicht. Wie können wir da glücklich werden?«

Mein Blick begann im Raum umherzuirren. Shirleys Augen. Joans Augen. Gotthold Ephraim Lessing. Der Marschall Louis Nicolas Davout, Herzog von Auerstädt und Fürst von Eggmühl. Appliken. Fenster. Shirley. Joan. Die bösen Augen jener toten Möwe. Plötzlich drehte sich das alles gleich einem Karussell um mich, und dann schlug jene unsichtbare Riesenfaust in meine Magengrube ein.

Warnungslos, von einem Atemzug zum andern, brennend heiß und eisig kalt zugleich, schlug sie ein mit mörderischer Wucht. So furchtbar war der Schlag, den ich, erhielt, daß ich, zusammenklappend wie ein Taschenmesser, seitlich in einen Sessel stürzte, der vor dem Kamin stand. Nun war nur noch ein einziger Gedanke da in meinem Hirn, ein überwältigender, der mich panisch packte, schüttelte, zusammensacken ließ. Ich dachte, nein, ich wußte es: Ich starb.

4

Herzinfarkt.

Ich starb an einem Herzinfarkt. Oft hatte ich die Nacht durch wach gelegen, in Furcht vor einem Ende so wie diesem. Nun war es da, das Ende. Herzinfarkt.

Was ich jetzt noch empfand, das war mein Sterben, was sich da hochwühlte in meinem Leib, das war mein Tod. Denn nun begann sie in mir aufzusteigen, die fürchterliche Riesenfaust, empor, empor, dem Herzen zu.

»Arrr … arrr …« Von weit her konnte ich mich rasselnd stöhnen hören, ringen nach Luft, umsonst. Die beiden Hände preßte ich nun an den Leib, um diese Faust in meinem Körper anzuhalten auf ihrem todbringenden Weg nach oben.

Allein sie stieg.

Ich fühlte, wie sie stieg. Vor meinen Augen schwamm das Bild des Zimmers, wurde klar und unklar, wie auf der Milchglasscheibe einer Kamera, deren Optik hin und her gedreht wird. Meine Frau, Ephraim Lessing, Shirley sahen mich an, versanken, sahen mich an.

Die Faust in meinem Innern hatte nun das erste Rippenpaar erreicht. Und weiter stieg sie, ohne Eile, ohne Gnade. Unter sich ließ sie schon eine Teilleiche zurück mit abgestorbenen Organen: Füßen, Schenkeln, Hüften, Bauch. Vor sich her drängte sie auf immer engerem Raum zusammen, was es in meinem Körper da noch gab an tristem Leben, preßte sie zusammen Atem, Venen, Blut: Blut, welches nun rasend zu hämmern anhub in den Fingern, in den Schläfen, hinter meinen Ohren.

Einer Maschine ähnlich keuchte ich. Die Atemnot bog meinen Körper durch, riß ihn empor zu einer grauenvollen Brücke. Die Fersen bohrten sich in den Velours, die Schulterblätter in die Sessellehne.

»Ich … sterbe …«

So hörte ich mich lallen. Im gleichen Augenblick erreichte auch die Riesenfaust, die fürchterliche, die es gar nicht gab und die mich dennoch tötete, mein Herz. Damit schoß, gleich einer Springflut, Angst in mein Gehirn und lähmte es wie Gift.

Angst!

Angst so wie diese hatte ich noch nie gefühlt. Angst dieser Angst gleich hatte sich bisher all meiner Vorstellung entzogen.

Ich glaubte, Angst zu haben, als ein ganzes Filmstudio in Flammen aufging und ich eingeklemmt unter den Trümmern der Beleuchterbrücke lag. Für Angst hielt ich, was ich empfand, als ich mit fünfzehn Jahren zusah, wie meine arme Mutter sich minutenlang zu Tode würgte an dem Geschwür in ihrer Kehle. Am Tag D hatte mich in der Normandie deutsche Artillerie verschüttet. Vor Aachen bombardierten uns versehentlich die eigenen B-52, weil der Wind sich gedreht und die Rauchringe der Markierungsflugzeuge verweht hatte. Eine Düsenmaschine, mit welcher ich nach Mexiko flog, war durch ein Versagen der automatischen Steuerung im freien Fall zehntausend Meter tief gestürzt, bevor sie vom Piloten abgefangen werden konnte. In allen diesen Augenblicken war ich davon überzeugt gewesen, daß kein Mensch auf der Welt jemals mehr Angst empfunden haben konnte.

Angst?

Ich hatte überhaupt noch nicht gewußt, was Angst war. Nun wußte ich es. Nun blähte sie sich auf in mir, die richtige, die wahre Angst: lähmte meine Glieder, nahm mir das Sehvermögen, Hörvermögen, wuchs und wuchs, füllte mich, so wie man Ballons mit Gas füllt, daß sie größer werden, immer größer, ungeheuer groß.

Die Faust in mir öffnete sich. Mein Herz umschlossen ihre Finger, drückten zu. Ich schrie verzweifelt auf und gellend, aber gewiß hörte mich niemand; denn der Sturm raste ums Haus und übertönte alle Schreie.

Jetzt. Jetzt. Jetzt.

Jetzt kam der Tod.

Der Tod kam nicht. Noch kam er nicht.

Mein Herz frei gab die Riesenfaust, hinabzusinken fing sie an, ich konnte fühlen, wie sie sank: drittes Rippenpaar, zweites, erstes, Magengrube. Da blieb sie: hinterhältig, tückisch, ihrer Sache sicher.

Ich zitterte am ganzen Körper. Ich fühlte, wie mein Herz schlug, rasend schnell. Die Schläge spürte ich im Rücken, in den Zehenspitzen, in der Zunge.

Wann hieb sie wieder zu, die Faust? Wann kam sie wieder, diese Angst? Sie waren in mir, alle beide, grauenvolle Gäste. Noch lebte ich. Wie lange noch? Wer konnte es ertragen, solcherart auf seinen Tod zu warten? Niemand. Kein Mensch auf dieser Welt.

Ein Arzt.

Ich mußte einen Arzt haben.

Das hatte ich noch nicht gedacht, da hörte ich mich auch schon stöhnen: »Nein …«

Kein Arzt durfte mich sehen in diesem Zustand, was immer mit mir noch geschah. Kein Arzt. Nicht jetzt. Die grünen Augen Shirleys sahen mich an, hypnotisierten mich, beschworen mich.

Alles war aus, wenn mich ein Arzt nun untersuchte, und unsere Liebe war verflucht, und meine Chance war vertan: die letzte Chance, die ich noch besaß, in Deutschland, hier, in dieser sturmgepeitschten Stadt.

Nein, Shirley, nein.

Kein Arzt.

5

Whisky.

Mit diesem Wort in meinem Hirn flackerte wieder Leben auf in mir. Würgende Gier nach Alkohol erfüllte mich. Ich brauchte Whisky! Den guten Scotch, gesegnet und gebenedeit, Erretter aus der Not. Ich konnte ihn schon riechen, schmecken, konnte fühlen, wie er mir durch die Kehle floß, rauchig und wundersam, wie er sie auflöste, die Mörderfaust, wie er sie zum Verschwinden brachte.

Whisky!

Wie aus Gelee waren meine Beine. Torkelnd erhob ich mich, schwankte vorbei an Joan und Shirley, napoleonschem Marschall, deutschem Dichter, zurück ins Schlafzimmer, wo immer noch das Kristallämpchen auf dem Nachttisch brannte, sinnlos, kraftlos. Whisky, ja.

Es war bloß Shirleys Anruf. Das Erschrecken. Zuviel Alkohol in der letzten Nacht. Der Sturm. Der frühe Morgen. Es war alles, nur der Tod war es nicht. Ich brauchte keinen Arzt. Ich bekam den Film. Ich konnte meine Rolle spielen. Ich würde meine Rolle spielen.

Der Schlüssel!

Ich hatte die Flügel des Kleiderschranks aufgerissen und schon die große Reisetasche aus schwarzem Leder gepackt, als ich erst an den Schlüssel dachte. Die Tasche hatte ein Schloß. Der Schlüssel war in meiner Smokingjacke.

Ich schleppte mich, immer noch verzweifelt schwach, zu dem Sessel, über den ich, als ich nächtens heimkam, unordentlich meine Kleider hingeworfen hatte. Die Hose fiel zu Boden, auch die Jacke. Ich mußte mich bücken. Heiß schoß das Blut in meinen Kopf. Der Schlüssel, verflucht, wo war er? Meine zitternden Hände verfingen sich im Stoff der Taschen, stülpten ihn um, leerten den Inhalt aus, Münzen, Rechnungen, Zigaretten. Dann hatte ich den kleinen Schlüssel. Ich stolperte zurück zur Tasche.

Es gab eine Zeit (sie war vorbei zum Glück), da sagten sie in Hollywood, daß ich versoffen wäre. Seit zwanzig Jahren, hieß es damals, würde ich trinken ohne Maß: seit ich erledigt war und keine Filme mehr bekam.

In den letzten beiden Jahren war dieses Geschwätz verstummt. Kein Mensch konnte mehr sagen, daß ich trank. Niemand hatte mich jemals betrunken gesehen, nicht einmal Joan, nicht einmal Shirley. In den beiden letzten Jahren hatte ich mehr denn je getrunken – aber heimlich, nur noch heimlich. Die Flaschen versteckte ich so gut, daß sie kein Mensch entdeckte. Ich weiß, daß Shirley und Joan mir mißtraut, daß sie gesucht hatten nach Whisky, jahrelang, weil sie einfach nicht glauben konnten an meine Abstinenz. Jetzt suchten sie nicht mehr. Jetzt dachten sie voll Stolz, daß ich mich selbst befreit hätte von diesem widerlichen Laster. So gut versteckte ich die Flaschen, so vorsichtig trank ich in letzter Zeit.

Wenn ich auf Reisen ging, nahm ich die schwarze Tasche mit. Ein Geschäft in Boston hatte sie mir angefertigt, nach meinem eigenen Entwurf. In den Seitenwänden gab es Fächer. In diese konnte man Whiskyflaschen stecken, Sodaflaschen. Die Fächer ließen sich verschließen. Da standen dann die Flaschen fest, konnten nicht gleiten, klirren, brechen. Auch einen großen Thermos gab es in der Tasche, in ihn füllte ich Eiswürfelchen. Wasser und Eis bekam man überall, wenn man nur einen Drink bestellte. So war ich also allerwegs versorgt: in Schlafwagen und Flugzeugen, im Auto, Motorboot, Hotel. So konnte ich heimlich trinken – mehr denn je. Ich hatte einen Grund, zu trinken, einen guten Grund. Besser: einen bösen. Es heißt natürlich, alle Säufer hätten ihre Gründe. Man sagt das so und lacht darüber. Wir werden sehen, ob noch jemand lacht, wenn ich am Ende bin mit meiner Beichte.

Die Tasche war für mich, was der Rettungsring für den Nichtschwimmer ist, die Nitroglyzerinkapsel für den Mann mit Angina pectoris. Sie war ein Teil von mir, und sie verließ mich nie. Allein verschlossen mußte ich sie immer halten, und besonders in Hotels. Die Angestellten kramten alles durch. Doch nicht bei mir. Nein, Peter Jordan trank nicht mehr.

Ich öffnete den Reißverschluß. Zwei leere Sodaflaschen fand ich, einen leeren Thermos, eine leere Whiskyflasche. In der Nacht hatte ich alles ausgetrunken, was noch da war.

6

Sofort spürte ich wiederum die Faust.

Da war sie, in der Magengrube, zitternd wie ein überlastetes Scheinwerferaggregat. Wenn ich keinen Whisky bekam, dann – whammmmm!!!

Ich sah das gezeichnete amerikanische Wort in dem gezeichneten Explosionsstern eines ›Comic-strips‹ vor mir. Superman zerschmetterte gerade eine Stadt mit seiner Faust.

Mit seiner Riesenfaust.

»Whammmmm!!!«

Ich fror, und meine Zähne schlugen aufeinander. Es kam mir vor, als würde der Sturm immer lauter, gräßlich laut. Das konnte niemand ertragen, diesen furchtbaren Sturm, diese furchtbare Faust, diese leere Flasche VAT 69.

Beim Bett stand noch ein Glas, halb voll.

Ich ließ die Tasche offen liegen und lief zum Bett, ja, laufen konnte ich, und dann trank ich den warmen, schalen Whiskyrest in einem Zug. Ich behielt ihn nur ein paar Sekunden. Gerade kam ich noch ins Badezimmer.

Keuchend stand ich jetzt vor dem Spiegel, spülte den Mund mit Vademecum, wollte die Stirn mit Eau de Cologne betupfen, ließ den Flakon fallen. Er zerbrach im Becken. Im Spiegel sah ich mich. Das schwarze Haar war so naß von Schweiß, daß es am Schädel klebte. Das Gesicht zeigte eine dunkle Zyklamenfarbe. Unter den Augen war es bräunlichviolett. Indessen ich mühsam Luft einsog, wurde es plötzlich leichenfahl, fleckig und pergamenten. Die Lippen blieben schwarz. Schweiß rann mir in die Augen, der Mund klaffte, blau war die Zunge. Die schlimmste Ausgeburt der Phantasie eines Mathias Grünewald unter den Alptraumwesen seines Isenheimer Altars konnte kein ärgeres Gesicht tragen als dieses, das da mir gehörte: mir, einstmals dem Sunny Boy der Neuen Welt, dem berühmtesten und gefeiertsten Filmkind aller Zeiten.

Peter Jordan, Amerikas unvergessener Kinderstar.

Nein, nun verband mich nichts mehr mit dem Strahlebold auf diesem Illustriertentitelbild, mit jenem heiteren Draufgänger und seinem Cheesecake-Lachen, seiner Playboy-Schönheit. Unmöglich, es sich vorzustellen: mit diesem Gesicht, das mir da entgegensah aus einem erschauernden Spiegel, hatten sie vor einem Vierteljahrhundert Millionen verdient, ungezählte Millionen!

Die Faust stieg. Erstes Rippenpaar. Zweites Rippenpaar. Hier hielt sie an, wartete.

Ich lief zurück in den Salon. Ich öffnete die Tür und drückte auf die Klingeltaste des Etagenkellners. Dann zog ich im Schlafzimmer wieder die Vorhänge zu. Er durfte nicht erkennen, wie ich aussah. Auch die Nachttischlampe löschte ich. Das Licht, das aus Salon und Badezimmer fiel, genügte. Ich zog die Decke hoch bis an den Hals. Da war er schon.

»Herein!«

Er trat in den Salon, lächelnd und jung, der bestens ausgebildete Angestellte eines Luxushotels. Bei der Tür blieb er stehen, sah mich nicht an, blickte ins Leere, sprach höflich und ohne Betonung: »Guten Morgen, Mister Jordan. Sie wünschen das Frühstück?«

Drittes Rippenpaar. Zweites Rippenpaar. Drittes Rippenpaar. Ich konnte nicht reden. Aber ich mußte reden. »Frühstück … ja …«

»Frühstück komplett?«

»Komplett …« Kein Arzt. Kein Arzt.

»Tee oder Kaffee?«

Zweites Rippenpaar. Drittes. Zweites.

»Kaf … kaffee …«

»Ein Fünf-Minuten-Ei?«

»Ja …« Keiner durfte wissen, daß ich krank war. Mein Geheimnis. Sonst bekam ich diesen Film nicht.

»Vielen Dank, Mister Jordan.«

Ich war jetzt so erregt, daß ich nach dem kleinen Kreuz aus Gold griff, welches auf dem Nachttisch lag. Ich drückte und drehte es zwischen den Fingern. An einem dünnen Kettchen hatte dieses Kreuz bis zu meinem Abflug aus Los Angeles zwischen Shirleys warmen, festen Brüsten gelegen. Im Augenblick des Abschieds (meine Frau stand fortgewandt und weinte) drückte mir Shirley das Amulett heimlich in die Hand, als ich schon durch die Sperre ging. Seither trug ich es nun mit mir herum, seither hatte ich es immer wieder in die Hand genommen, festgehalten, bei Verhandlungen, Produktionskonferenzen, bei der ersten Probeaufnahme. Es hatte mir stets Mut gegeben, dieses Kreuz aus Gold, obwohl es als Symbol für mich ohne Bedeutung war, obwohl ich nicht an Shirleys Gott glaubte. Aber ich empfand es wie ein Teil von ihr, dieses kleine Kreuz, es hatte so lange auf ihrem Körper gelegen, es war, als berührte ich ihre samtige, frische Haut, ihr junges, festes Fleisch, wenn ich das Kreuz berührte, und es gab mir Mut, auch jetzt.

»Warten Sie …« Er blieb stehen. Es war mir egal, was dieser Kellner dachte.

»Auf dem Schreibtisch liegen hundert Mark. Nehmen Sie das Geld, tun Sie mir einen Gefallen …«

»Gern, Mister Jordan.«

Der Sturm. Dieser Sturm machte mich wahnsinnig.

»Es kommt jetzt gleich …« Ich mußte abbrechen, denn die Faust stieß von unten an das Herz, und die Angst, die grauenhafte Angst von vorhin meldete sich wieder.

»Ist Ihnen nicht gut, Sir?«

»Habe … habe mich nur verschluckt …«

Da stand er im Licht und sah ins Nichts und lächelte geduldig. Da krümmte ich mich in der Dunkelheit und fühlte, wie der Tod nach mir griff, ja, der Tod. Und würgte diese Worte hervor: »Unser Aufnahmeleiter … kommt gleich zu mir. Ich habe ihm eine … Flasche Whisky versprochen … und vergessen, sie zu besorgen. Würden Sie …«

»Ich werde einen Pagen schicken.«

»Aber es … muß … gleich sein …«

»Gewiß.«

»Noch vor … dem … Frühstück …« Egal. Egal, was er auch dachte. Die Angst. Die Angst.

»Wird sofort erledigt. Soll es kanadischer Whisky sein oder Scotch?«

»Scotch …« Die Faust. Sie hatte jetzt das Herz erreicht. Sie öffnete sich. Gleich würde sie sich schließen.

»Eine besondere Marke, Mister Jordan?«

»Irgendein … Scotch.«

»Sollen wir die Flasche hübsch verpacken lassen?«

»Was?«

»Ich meine als Geschenk.«

»Nein … ja … egal … nur … gleich … heraufbringen …«

Er verneigte sich. War sein Lächeln jetzt ironisch? Egal. Egal. Er ging. Die Tür schloß sich. Synchron damit schloß sich die Riesenfaust. Es war zuviel gewesen.

Ich wurde jäh emporgerissen, fühlte, wie mein Schädel an die Wand schlug, und schrie zum zweitenmal auf. Dann stürzte ich seitlich aus dem Bett und riß das Telefon mit mir, den Aschenbecher und die kleine Lampe, das registrierte mein Gehirn noch.

In einen rotflammenden Nebel hinein sackte ich, jenem Düsenflugzeug gleich, in welchem ich 10000 Meter erdenwärts gerast war. Mit einem lächerlichen, unsinnigen Gefühl des Triumphes dachte ich, das winzig kleine Kreuz aus Gold in meiner Faust: Es ist kein Arzt an mich herangekommen, Shirley.

Und dann starb ich.

Ich erinnere mich noch genau an diesen Augenblick. Ich bin danach noch ein paarmal gestorben, aber Ort und Datum jenes ersten Males werden eingebrannt in mein Gedächtnis bleiben, solange ich lebe: Hamburg, 27. Oktober 1959.

7

Ich bin ein böser, lasterhafter Mensch. Die Geschichte meines Lebens, die ich hier berichte, wird darum böse sein und lasterhaft.

Ich erzähle sie zwei Menschen: meinem Arzt und meinem Richter. Mein Arzt muß die Wahrheit kennen, um mir zu helfen. Mein Richter muß die Wahrheit kennen, um mich zu verurteilen.

Heute ist Donnerstag, der 3. März 1960. 11 Uhr 11 zeigt meine Uhr. Es ist schon sehr warm in Rom. Tiefblau und wolkenlos erblicke ich den Himmel, wenn ich mich aus dem Fenster neige. Ich habe ein sehr gemütliches Zimmer. Im Gegensatz zu vielen anderen Zimmern des Hauses besitzt es keine Gitter vor den Fenstern, aber eine Klinke an der Tür. Professor Pontevivo sagt, er hätte Vertrauen zu mir.

Die italienische Polizei hat solches Vertrauen nicht. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, was ich alles zwischen jenem sturmgepeitschten Oktobermorgen zu Hamburg und diesem friedlichen Märzmorgen zu Rom getan habe. Die italienische Polizei hat dem nahe gelegenen Kommissariat in der Via Marco Aurelio den Auftrag gegeben, mich zu bewachen, nachdem das Deutsche Außenamt ein Auslieferungsbegehren an die italienischen Justizbehörden richtete. Weil ich jedoch so krank bin, wird man mich nicht ausliefern – vorläufig. Das hat Professor Pontevivo durchgesetzt. Er ist ein großer Arzt, man hört auf einen solchen Mann, wenn er sagt: »Ich lehne jede Verantwortung ab, sofern dieser Patient nicht in meiner Obhut bleibt.«

In dem schönen Park der Anstalt sehe ich einen Karabiniere auf und ab gehen. Heute morgen ist es der Schlanke mit den großen schwarzen Augen. Nach und nach kenne ich sie alle, die sich hier in einem Turnus von acht Stunden ablösen. Tag und Nacht. Sie sind jung, sie sind neugierig, sicherlich wissen sie, was ich getan habe. Darum starren sie alle immer wieder zu meinem Fenster empor. Und so kann ich mir ihre Gesichter einprägen.

In den Anlagen blühen weiße, cremefarbene und rosenrote Magnolien. Es glänzt ein Meer von gelben Forsythien. Kleine rosafarbene Mandelbäumchen säumen die Anfahrt. In den Wiesen sehe ich blauen und lachsfarbenen Krokus, Schneeglöckchen, Stiefmütterchen, weiße, schwarze, bunt gefleckte. In der vergangenen Nacht hat es ein wenig geregnet, sanft und still, und nun leuchten die frischen Blätter und Blattspitzen der Olivenbäume, Lorbeerbäume, Pinien, Palmen und Eukalyptussträucher – hellgrün, gelbgrün, dunkelgrün, saftig, gesund, voll Leben. Voll Leben ist dieser Park mit seiner hohen, stacheldrahtbewehrten Mauer, die ihn von allen Seiten einschließt und über die hinweg ich zwischen den Kronen alter Bäume am Viale Parco di Celio das vierte und oberste Stockwerk des nahen Kolosseums erblicke, mit seiner glatten Außenfläche, den flachen korinthischen Pflastern, welche die Wand senkrecht aufgliedern, und den Rechteckfenstern, durch die der Frühlingshimmel strahlt.

Gestern habe ich hier, in diesem Zimmer, begonnen, meine Geschichte zu erzählen, einem kleinen, silbernen Mikrofon. Vorgestern und vorvorgestern habe ich es versucht – umsonst. Schweiß trat auf meine Stirn, wenn das grüne magische Auge des Geräts aufleuchtete, wenn die Tonbandteller sich lautlos zu drehen begannen. Mein Herz schlug rasend, ich mußte mich sofort hinlegen und die Augen schließen, so schwindlig wurde mir.

In Panik dachte ich dann stets: Ich kann nicht mehr logisch berichten, ich kann keine vernünftigen Sätze mehr bilden. Ich bin verrückt. Meine Worte, wenn ich sie mir selbst abzwänge und auf diese glatten, schmalen Bänder spräche, sie würden nur das Gestammel eines Irren darstellen, unverständlich, ohne Sinn, denn mein Gehirn vermag die Worte eines Satzes nicht mehr nacheinander zu ordnen, nicht mehr sinnvoll zu verbinden miteinander.

Immer wieder in den letzten beiden Tagen sagte ich zu Professor Pontevivo: »Geben Sie mich auf. Ich bin unheilbar. Mein Verstand ist zerstört.«

Darauf antwortete er so: »Als Sie aus Ihrer Schlafkur erwachten, wollten Sie mir aus freien Stücken sogleich alles erzählen, was geschehen ist. Aber Ihre Worte jagten einander allzusehr, Sie überschwemmten mich mit Ihrer Redeflut. Es war Ihnen nicht möglich, Ihre Gedanken so schnell zu formulieren, wie die Worte Ihren Mund verließen, und darum war es mir nicht möglich, sie zu verstehen.«

»Das zeigt, daß ich wahnsinnig bin.«

»Das zeigt, daß Sie sich noch in einem Ausnahmezustand befinden. Sie haben sehr viel Megaphen bekommen. Ich versichere Ihnen, daß sich noch kein Patient nach einer solchen Behandlung anders betragen hat als Sie. Wer hat den Vorschlag gemacht, die Geschichte Ihrer letzten Monate einem Tonbandgerät anzuvertrauen?«

»Ich.«

»Und warum haben Sie das getan?«

»Weil ich glaubte, daß ich über all das Furchtbare eher noch zu einer Maschine sprechen könnte als zu einem Menschen.«

»Nicht darum kamen Sie auf die Idee.«

»Weshalb also?«

»Eben weil Sie nicht verrückt sind. Sie fühlen, daß Ihr überreiztes Gehirn Zeit braucht, alle Gedanken, die es ausspeit, nun zu ordnen. Sie sagen selbst, ein Gesprächspartner erregt Sie zu sehr. So haben Sie die Möglichkeit zu einem Monolog gewählt. Dieses Tonbandgerät wird für Sie so etwas wie das Ohr eines verschwiegenen Priesters bei der Beichte sein.«

Das weckte sofort wieder die Erinnerung. Shirley. Father Horace. Der Katastrophenabend. Heftig antwortete ich darum: »Ich will hier keine Beichte ablegen für einen Priester.«

»Aber doch so etwas wie eine Beichte«, sagte er. »Und sind wir nicht zumindest halbe Priester, wir Ärzte und wir Richter?«

Ich dachte: O Gott, läßt Du mich also nie allein, läßt Du mir niemals meinen Frieden?

Zu dem Professor sagte ich verstört: »Ich habe Angst, auch vor dem Tonband. Es ist zu grauenhaft, was ich zu sagen habe.«

Darauf erwiderte er: »Um Ihre Angst zu lindern, könnte ich Ihnen – Ihre Zustimmung vorausgesetzt – ein wenig Evipan verabreichen, so viel nur, daß seine Wirkung unterschwellig bleibt und Sie nicht müde macht.«

»Was geschieht dann?«

»Sie werden in eine ganz leichte Form der Narko-Hypnose versetzt, in der Sie hemmungslos und mühelos erzählen. Sie stehen dabei dauernd unter meiner Kontrolle. Sie dürfen nie länger als zwei Stunden sprechen. Es kann nichts passieren. Aber ich brauche trotzdem Ihre Einwilligung.«

Ich habe sie gegeben.

Auch heute nach dem Frühstück bekam ich eine Injektion. Sie wirkt. Ich fühle mich ruhig, voller Frieden, ohne –

Ohne Angst, wollte ich sagen. Aber ich unterbrach mich, denn im Tiefflug raste eben eine Formation von Düsenjägern über unseren Park. Ihr Dröhnen hätte jedes Wort getötet. So unterbrach ich mich.

Ohne Angst.

Es erscheint mir typisch, daß ich gerade an dieser Stelle unterbrochen wurde und gerade durch die überschallschnellen Reiter der modernen Apokalypse, die Symbole für jene weltweite Angst, in der wohl alle, alle Menschen heute leben. Wenn das Wetter schön ist, brausen den ganzen Tag Düsenjäger über Rom hinweg. Wenn das Wetter schön war in Hamburg oder in Pacific Palisades, erschütterte auch dort ihr Toben die Luft von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang.

Typisch erscheint es mir, sage ich, denn was ich hier zu erzählen mich anschicke, wird eine Geschichte der Angst werden, und nicht nur der meinen. Jene Düsenjäger eben bilden die passende Ouvertüre.

Die letzten Monate waren für mich ein Inferno der Angst.

Professor Pontevivo hat mir die Angst genommen. Professor Pontevivo ist ein großer Mann. Vielleicht klingt es ihm sogar, mich noch einmal gesund zu machen.

Aber dazu muß ich die Wahrheit bekennen, sagt er.

Im Stockwerk unter mir liegt das Musikzimmer der Anstalt. Der rauschgiftsüchtige Franzose spielt Klavier, leise kann ich ihn hören. Er ist noch sehr jung und schon zum fünftenmal hier. Ein hoffnungsloser Fall. Gewiß wird er bald sterben oder verrückt werden.

Als er eingeliefert wurde, erzählte mir Professor Pontevivo, stand dieser junge Komponist mitten in der Arbeit an einem Klavierkonzert. Wenn man ihm nun überhaupt kein Rauschgift gibt, kann er nicht weiterkomponieren. Die größten Musiker der Welt haben Professor Pontevivo angefleht, diesem kranken Menschen die Weiterarbeit an seinem Konzert zu ermöglichen.

Man erzählt sich, er bekäme nun jeden Tag ein wenig Dolantin, gerade genug, um seinem genialen Gehirn, dieser Hoffnung und Freude der internationalen Musikwelt Wohlklang und Unsterblichkeit zu entlocken. Unsterblichkeit aus Fäulnis, halbem Wahnsinn, halbem Tod.

Der junge Mann arbeitet wie ich, am Vormittag, am Nachmittag. Ich muß an das »Konzert in F« von Gershwin denken, wenn leise und gedämpft sein Spiel zu mir dringt, wenn ich sie höre, seine Melodien. Es ist natürlich eine völlig andere Komposition, die da entsteht, so wie es auch ganz sicher nichts zu tun hat miteinander, daß man diesem jungen Mann ein bißchen Dolantin gibt und mir ein bißchen Evipan. Denn er schafft etwas Schönes, und wenn er stirbt oder den Verstand verliert, wird etwas Schönes übrigbleiben. Ich schaffe etwas Häßliches. Wenn ich verrückt werde, wenn ich hier sterbe, wird etwas Häßliches übrigbleiben: die Wahrheit. Eines haben wir indessen gemeinsam: Wir müssen beide fleißig sein. Von unserer kleinen Menge Zeit dürfen wir nichts vergeuden. Wir müssen fertig werden, er und ich. Denn das Schöne und das Häßliche, fragmentarisch, das Gute und das Böse, unvollendet, können niemandem zur Freude sein und niemandem zur Lehre.

So hebe ich meine Augen und blicke hinaus in den blühenden Park, den schönsten, den ich je sah, und sehe das zweitausendjährige Kolosseum, den ewigen Himmel über der Ewigen Stadt, blühende Bäume, blühende Blumen, Frühling, Sonnenschein und den Polizisten, der mich bewacht.

In den Monaten, die hinter mir liegen, habe ich alle moralischen Grenzen überschritten, die ein menschliches Wesen zu überschreiten vermag. Kein Verbrecher kann Ärgeres geplant, gedacht, gefühlt oder getan haben als ich. Nichts von dem, was ich tat, läßt sich rückgängig machen. Die Toten bleiben tot, die Taten bleiben getan. Ich kann nur noch die Wahrheit berichten. Und das will ich tun. Ich schwöre es im Gedanken an Shirley, den einzigen Menschen, den ich liebte.

Das kleine goldene Kreuz, das sie mir schenkte auf dem Flughafen von Los Angeles, liegt in meiner Hand, heiß und lebendig. Es ist das Blut in meinem Körper, welches gegen das Metall pocht, doch man könnte meinen, es pochte selber, dieses Kreuz aus Gold, das mich begleitet hat auf meiner langen Reise durch Verbrechen, Finsternis und Unheil.

An Shirley, an unsere verlorene Liebe denke ich.

Bei dieser unserer Liebe schwöre ich, daß ich die Wahrheit, die ganze Wahrheit sagen, daß ich nichts hinzufügen und nichts verschweigen werde, so wahr Shirley mir helfe. Und so fahre ich denn fort in meinem Bericht dessen, was in Hamburg geschah am Morgen des 27. Oktober 1959.

8

Ich trank Whisky, wundervollen kühlen Whisky.

Ich konnte ihn riechen: den würzigen Duft, welcher jener der einsamen, hohen Wälder war. Ich konnte ihn fühlen: den herben, rauchigen Geschmack, welchen ihm die reißenden, kristallklaren Gebirgsbäche gegeben hatten und die uralten, schwarzen Holzfässer im Dunkel der Keller. In meiner Kehle brannte er, ölig und schwer, und meinen Körper wärmte er.

Ich stürzte, würgte ihn hinunter, diesen Whisky, saugte, pumpte, preßte ihn hinein in mich gleich einem Menschen, der Wasser schlingt statt Luft, wenn er ertrinkt. Und gleich einem Ertrinkenden, der mit letzter Kraft noch einmal die Oberfläche des Meeres erreicht, kehrte ich aus meiner Ohnmacht zurück in das Leben.

Zuerst waren da noch kreisende Feuerräder und flammende Sternschnuppen vor meinen Augen und ein hohes, immer schriller werdendes Sirren in meinen Ohren. Dann wurde das Flammenmeer grau, und das Sirren verwandelte sich in das Toben des Sturms. Ich hob die Lider, die so schwer waren, als hingen Bleigewichte daran.

Ich lag wieder im Bett, ordentlich zugedeckt. Vor mir saß eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, und hielt mir ein Glas, halb angefüllt mit Whisky, an die Lippen und goß die Flüssigkeit in meinen Mund, daß sie auf meinen Hals rann, auf das Kissen, daß ich mich verschluckte und, nahe dem Ersticken, nun nach Atem rang.

»Na also«, sagte die fremde Frau.

Ich bewegte schnell den Kopf. Die Vorhänge waren wieder aufgezogen, ich sah den düsteren Himmel und die schwarzen, jagenden Wolken. Das Telefon, die kleine Lampe und der Aschenbecher standen wieder auf dem Nachttisch. Der Aschenbecher war jetzt sauber. Daneben stand eine fast volle Flasche ›Johnnie Walker‹.

»Trinken Sie noch«, sagte die Frau. Da ich den Kopf nach rechts wandte, schlug das Glas gegen meine Zähne. Der Morgenmantel hing auf einem Bügel, meine Pantoffeln standen darunter. Die Zeitungen und Magazine steckten nun, gefaltet, in einem geschnitzten Fächerständer. Über Schlagzeilen flog mein Blick.

U. S. STAND FIRM: ATTACK ON BERLIN MEANS WORLD WAR III, SAYS EISENHOWER. NEUES SOWJETISCHES WELTRAUMSCHIFF RAST UM DIE ERDE.

Wer hatte hier Ordnung gemacht, mich ins Bett gelegt, die schwarze Tasche auf den Koffertisch gestellt, davor die leere Whiskyflasche, leere Sodaflasche und den Thermos? Ich schwitzte wieder. Das Herz klopfte hämmernd. In meinem Magen zitterte und pochte etwas Großes, Unheimliches.

Die Faust!

Ich wollte diese Frau fragen, wer sie war, doch nur ein heiseres Krächzen kam aus meiner Kehle. Statt dessen sprach sie. Ihre Stimme klang melodisch, tief. Sie redete besonders reines Hochdeutsch: »Ich bin Doktor Natascha Petrowna.«

»Ärztin?«

»Ja, Mister Jordan.« Sie trug ein grünes, eng sitzendes Kostüm und grüne Schuhe mit hohen Absätzen. Ihr Haar war bläulich-schwarz, in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem Knoten zusammengenommen. Es lag und ließ die kleinen Ohren frei.

Sie wollte meinen Puls fühlen. Ihre Finger waren weiß und schmal und kühl. Die Nägel trugen eine Schicht von farblosem Lack. Mit einem Ruck zog ich mein Handgelenk zurück. Die jähe Bewegung war nicht gut für mich. Mir wurde schwindlig.

»Bleiben Sie ruhig.« Sie hatte eine hohe Stirn und den typischen Gesichtsschnitt der Slawen, mit schrägen Augen und vorspringenden Backenknochen. Der breite Mund war dunkelrot geschminkt. Die Brauen waren dicht. Ihre Pupillen lagen schwarz und leuchtend hinter einer großen Brille. »Dem Pagen, der den Whisky brachte, gab ich fünf Mark.«

»Dem … Pagen …?«

»Trinkgeld. Das Frühstück ließ ich zurückgehen. Ich hoffe, es ist Ihnen recht.«

»Frühstück …?« Ich kam nur mühsam zu mir.

»Sie haben es doch wohl nur bestellt, um bei der Gelegenheit Whisky zu verlangen.«

Dieser Ton erbitterte mich. Sie war so selbstsicher und stark, gesund und überlegen.

»Wie kommen Sie hier herein?«

»Man rief mich. Ich war zum Glück gerade im Hotel. Eine Dame aus Ceylon ist an Grippe erkrankt und –«

»Wer rief Sie?«

»Einer der Empfangschefs. Als Sie aus dem Bett stürzten, rissen Sie den Apparat mit sich. In der Telefonzentrale leuchtete Ihr Anschluß auf, aber es meldete sich niemand. Da schickte man einen Hausdiener herauf.«

»Wer hat mich ins Bett gelegt?«

»Der Empfangschef, der Hausdiener und ich.«

»Gehen Sie weg.«

»Wie meinen Sie?«

»Sie sollen gehen. Ich will nicht untersucht werden.«

Ich habe Natascha Petrowna niemals fassungslos gesehen. Bei allem, was geschah, was wir an Entsetzlichem erlebten miteinander, verlor sie nie die Haltung. Nur eine einzige Bewegung verriet sie, wenn sie sich sehr beherrschen mußte: dann legte sie die schmalen, weißen Hände an die breiten Bügel der modernen, schwarzen Brille und schob sie leicht zurecht. Das war alles. Das tat sie auch jetzt.

»Mister Jordan, seien Sie vernünftig.«

»Lassen Sie mich zufrieden.«

Darauf antwortete sie nicht, sondern öffnete einen kleinen Koffer und entnahm ihm ein Stethoskop. Alles, was sie unternahm, tat sie überlegt und voller Würde. Die breiten Backenknochen gaben ihrem Gesicht im Verein mit dem nach außen gezogenen Brillenrahmen etwas Katzenhaftes. Natascha besaß das klare Gesicht eines Menschen, dessen Beruf es ist, zu prüfen, anzuzweifeln und Verantwortung zu tragen. Ein begehrendes, leidenschaftliches Gesicht war das, leidenschaftlich begehrend nach Wissen und Wahrheit. Ernst, ohne Erregung oder Zorn, sahen mich die schräggeschnittenen schwarzen Augen mit den langen Wimpern an.

Heute, in Rom, an diesem sonnigen Tag im März, vermag ich Natascha Petrowna so zu beschreiben. Heute; nachdem die Katastrophe sich ereignet hat, vermag ich es dem lautlos gleitenden Tonband anzuvertrauen: ich habe nie ein schöneres Gesicht gesehen als das Nataschas, und nie ein gütigeres. Damals jedoch, an jenem Morgen im Oktober, war ich blind für Schönheit, taub für Güte.

»Sie können mich nicht gegen meinen Willen untersuchen – oder?«

»Nein, aber –«

»Dann verschwinden Sie!«

Sie sah mich schweigend an. Sie war höchstens 35 Jahre alt.

»Ich bin ein Gast dieses Hotels. Gehen Sie jetzt, oder muß ich Sie hinauswerfen lassen?«

»Ihr Verhalten beweist, wie dringend Sie ärztliche Hilfe benötigen. Ich werde einen der Direktoren heraufrufen.« Sie griff nach dem Telefonhörer.

Ich hielt ihre Hand fest.

»Warum?«

»Ich brauche einen Zeugen. Sie werden so freundlich sein, vor ihm zu wiederholen, daß Sie die Untersuchung ablehnen.«

»Wozu?«

»Wenn Ihnen etwas zustößt, muß ich mich verantworten. Ich weiß nicht, was Sie tun werden, wenn ich Sie jetzt allein lasse.« Mir wurde brennend heiß, als ich sah, wie sie die Whiskyflasche auf dem Nachttisch musterte, die leeren Flaschen auf dem Koffertisch, die schwarze Tasche und den großen Thermos. Der Empfangsdirektor hatte das alles auch gesehen und ebenso der Hausdiener: mein schmutziges, so lang gehütetes Geheimnis. Jetzt wollte sie einen Zeugen rufen. Mehr Menschen würden kommen, wenn ich mich nicht untersuchen ließ. Einer erzählte es dem andern. Bald wußte es das ganze Haus. Wie viele Angestellte würden wie viele Zeitungen anrufen? Die Klatschkolumnisten hatten ihre Leute überall, sie zahlten gut für solche Nachrichten. PETER JORDAN BRICHT ZUSAMMEN: WHISKY! PETER JORDAN AUS DEM HOTEL GEWIESEN. SKANDAL UM PETER JORDAN. Ich sah die Überschriften. Der Schweiß rann über meine Stirn und meine Hände. Ich merkte, daß ich immer noch das kleine Kreuz umklammert hielt. Falsch. Falsch. Oh, Shirley, Shirley, alles, was ich tat, war falsch!

»Lassen Sie mich telefonieren, Mister Jordan.«

»Nein.«

»Ihr Betragen ist kindisch. Dann muß ich eben in die Halle gehen.« Sie war so kühl, so sachlich, so unendlich überlegen. Und doch hatte ich, daran entsinne ich mich genau, schon bei unserer ersten Begegnung das Gefühl, daß diese Frau sich nur unter steter Aufbietung letzter Kräfte so vollendet beherrschte. Alle Menschen, denen wir begegnen, haben ihre Schicksale, die ihr Verhalten beeinflussen, daran denken wir zu wenig. Wir erwarten, daß sie so reagieren, wie wir reagieren würden an ihrer Stelle, und darum können wir sie nicht verstehen, nicht begreifen in den allermeisten Fällen. Natascha trug an einer schweren Bürde, heute weiß ich es. Leid und Unglück hatten sie erzogen, stets für andere zu denken, hatten sie gelehrt, kühl zu sein, sachlich und unendlich überlegen.

»Warten Sie … warten Sie …«, stammelte ich. Da wurde es auf einmal dunkel, Nacht am Vormittag. Mein Blick irrte zum Fenster. über die Alster kam eine schwarze Sturmwand auf mich zugesegelt, als hätte sie es abgesehen auf mich allein. Im nächsten Augenblick traf der erste Schlag einer herabstürzenden Sintflut die Scheiben, die sich mit einem öligen Wasserfilm überzogen. Man sah nichts mehr. Rasend trommelten die Tropfen.

»Was wollen Sie also, Mister Jordan?«

»Ich … ich muß Ihnen das erklären … ich bin Schauspieler …« Aber ich konnte nicht weitersprechen. Die Faust stieß gegen meine Magenwand. Die Angst kam wieder. Gleich einem Lift, dessen Seile abgerissen sind, raste meine Stimmung hinab ins Bodenlose. Der Sturm tobte. Im Hof des Hotels flog ein Fenster zu, ich hörte Glas splittern. Dann klirrten Scherben in der Tiefe. Aus. Aus. Alles war aus.

»Paddy, ich bekomme ein Kind …«