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Isabella Mey

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Beschreibung

Vierter Band des gefühlvollen Fantasy-Liebesromans
Sowohl für Inea als auch für den Schattenlord tritt eine Katastrophe ein. Zwar kommt Inea dem Rätsel um die Rothaarigen auf die Spur, dennoch spitzt sich die Situation immer weiter zu.

Leseprobe
Es zerreißt mich schier, die Feuermagierin wiederzusehen! Meine Eingeweide ziehen sich schmerzhaft zusammen. Mein blutendes Herz drängt mich, sie in die Arme zu schließen, sie mit Küssen und Liebkosungen zu überschütten, doch das ist mir unmöglich, zu unerträglich erscheint es mir, dass sie mich in dieser misslichen Lage vorfindet. Und was erwartet Inea nun von mir? Dass ich sie, den Rat, Atlatica und vielleicht sogar die ganze Welt in diesem Zustand rette? Erkennt sie denn nicht, dass ich nicht mehr bin als ein Schatten meiner selbst?

Flammentanz
Band I - Funken
Band II - Flammen
Band III - Feuer
Band IV - Brand
Band V - Glut

Romantasy mit einem Hauch Erotik, ab 16 Jahren

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Inhaltsverzeichnis

Erwachen

Der Morgen danach

Ignada Ferrok

Torin

Auftritt

Am Abend danach

Eppstein Burg

Liebe

Farce

Kommissura

Das Geheimnis

Flucht

Eden

Sphäre der Weisheit

Splittersuche

Inferior

Verbündete

Inferior der Männer

Ramón

Entführt

Das goldene Tor

Brichna

Flashback

Ruine

Paradies

Verfolgt

Danksagung

Ode an meine Testleser

Glossar

Impressum

FLAMMENTANZ

Brand

Isabella Mey

Teil IV

Manchmal muss man sich erst durch die Hölle quälen,

um den Himmel zu erkennen.

Erwachen

Inea, Freitagmorgen, auf SkoʼFalkum

Etwas kitzelt mich auf der Nase. Noch im Halbschlaf fahre ich mir ins Gesicht. Meine Finger berühren warmes Fell, umgeben von vielen dünnen Beinen. Schlagartig bin ich hellwach, schleudere dieses Vieh fort und schieße mit pochendem Herzen in die Höhe. Panisch huschen meine Pupillen kreuz und quer, scannen Steinboden und Möbel ab.

Was war das eben auf meiner Nase? Und wo ist es hin?

Die Sonne wirft helle Strahlen durchs Fenster. Plötzlich nehme ich ein Schimmern wahr, das gut zwei Zentimeter über dem Boden schwebt. Gerade, als ich versuche, es genauer zu betrachten, bewegt es sich. Mit weit aufgerissenen Augen erfasse ich die Umrisse eines transparenten Tieres, dessen Oberfläche wie ein Wassertropfen im Sonnenlicht schillert. Es hat die Größe und Form einer Zwergmaus, zumindest wenn man die acht dünnen Beine ausblendet, und sich einen Schwanz dazu malt. Mit der Gewandtheit einer Spinne tippelt das rätselhafte Tier jetzt auf die Tür zu und kriecht unter dem Spalt hindurch nach draußen.

Ich lasse mich aufs Kissen zurücksinken und seufze. An die unheimliche Fauna Atlaticas werde ich mich sicher niemals gewöhnen können. Was das eben war, muss ich nachher Markus fragen, oder Torin.

Wo ist er überhaupt?

Außer mir liegt niemand in diesem Bett. Wehmütig denke ich daran, wie schön es gewesen ist, mit dem Schattenmagier einzuschlafen. Die Erinnerung hinterlässt eine schmerzhafte Leere. Zu gerne wäre ich auch mit ihm aufgewacht und hätte da weitergemacht, wo wir aufgehört haben.

Seufzend strecke ich mich. Dann erledige ich meine Morgentoilette im Schuppenbad und kleide mich in Jeans und Shirt. Danach begebe ich mich zum Speisesaal, in der Hoffnung, andere Burggäste vorzufinden, insbesondere den, der immer mit diesem schwarzen Umhang herumläuft. Im Speisesaal treffe ich tatsächlich auf einen Schattenmagier, allerdings nicht auf den, nachdem ich mich sehne. Markus hat die Frühstückszubereitung übernommen und auf dem Tisch stapelt sich etwas, das ich sogar kenne.

»Mmm, lecker, Tschaktus!«, rufe ich begeistert und nehme am Tisch Platz. Markus sitzt bereits dort und gießt sich etwas von dem Gelina-Saft in seinen Krug.

»Das sind Kameitschas, Inea«, korrigiert er mich.

»Frag mal Ramón! Der nennt sie Tschaktus«, widerspreche ich frech grinsend.

»Hm, also kennst du sie! Wenn sie dir auch noch schmecken, musst du schon mindestens fünf davon gegessen haben«, folgert er.

»Mehr als zehn waren es auf jeden Fall. Aber sag mal, da war so ein komisches Tier in meinem Zimmer …«

Um mir lange Erklärungen zu sparen, sende ich Markus in Gedanken ein Bild davon.

»Ach, die hast du erst jetzt entdeckt? Auf der Burg wimmelt es nur so davon. Das war eine simple Schmaus. Diese fast unsichtbaren kleinen Helfer fressen Staub, Abfall und alles, was man mühsam wegputzen müsste, wenn es die Schmäuse nicht gäbe. Sie gehören zu den wenigen äußerst nützlichen magischen Mutationen Atlaticas.«

»Oh, wenn ich es mir recht überlege, könnte ich zu Hause auch ein paar davon gebrauchen.«

Schließlich hat mich das transparente Tier mit der schillernden Oberfläche zwar erschreckt, aber gruselig sah es nicht aus. Markus grinst mal wieder breit.

»Tja, nur leider kannst du keines mit hinübernehmen. Alle auf Atlatica geborenen oder entstandenen Lebewesen haben eine magische Markierung, die ein Passieren der Tore verhindert. Das betrifft auch die Menschen, nur Magier sind ausgenommen.«

»Oh, das heißt, nichtmagische Personen können Atlatica niemals verlassen?«

»Nein, aber vielleicht ist das besser so. Die Menschen hier würden sich in der anderen Welt überhaupt nicht zurechtfinden.«

»Hm, trotzdem fühlt es sich nicht richtig an. Wissen die Einwohner Atlaticas denn überhaupt, dass es noch eine andere Welt gibt?«

»Man spricht nicht viel darüber und ich denke, einige ahnen es, sehr wenige wissen es, aber die Mehrheit will sich gar nicht damit beschäftigen.«

Ich muss wieder an die Schmaus denken und auch an die Arachneen und den Skiknok. All diese Tiere erinnern mich an Spinnen.

»Gibt es eigentlich noch mehr achtbeinige Monsterzüchtungen auf Atlatica?«

»Oh ja, da hast du einen interessanten Punkt getroffen. Es war einmal ein sehr begabter Inkanta namens Atrios. Er lebte vor langer Zeit auf Atlatica und war vernarrt in Vogelspinnen. Seine größte Leidenschaft bestand darin, die fantasievollsten magischen Zuchtexemplare hervorzubringen. Großteils entstanden auf diese Weise harmlose, bunt glitzernde Schmucktiere aller denkbaren Farb- und Formvariationen. Manche blinken sogar, versprühen blumige Düfte oder zirpen melodisch. Durch ihre Auffälligkeit werden sie aber leicht zur Beute für Räuber und um selbst zu jagen, sind sie zu schlecht getarnt. Daher wirst du diese scheuen Glitzertiere in der Natur nur selten antreffen. Ein paar verrückte Sammler halten sie in Terrarien. Die nützlichen Schmäuse gehörten ebenfalls zu Atriosʼ Errungenschaften. Leider züchtete er auch wahre Monster heran, wie zum Beispiel die Vorläufer der Skiknoks, die Arachneen und eine große, giftschleimspuckende Art namens Smego. Zum Glück wurden die Smegos so gut wie ausgerottet.«

»Das hattet ihr irrtümlich auch von den Skiknoks angenommen«, erwidere ich. Mit Grauen erinnere ich mich an das schwarze Ekeltier in meinen Haaren.

»Deshalb sagte ich ja auch vorsichtshalber ›so gut wie ausgerottet‹. Wer kann schon wissen, in welchem Kellerloch sich noch welche versteckt halten.«

Das Thema möchte ich jetzt doch nicht weiter vertiefen.

»Ist eigentlich sonst noch jemand außer mir wach?«

Markus wackelt mit seinen Augenbrauen.

»Falls du von einem gewissen Schattenlord sprichst – tja, der ist schon auf den Beinen und wechselt gerade seinem Brüderchen die Windeln. Bestimmt kommt er gleich vorbei und gibt dir den versprochenen Guten-Morgen-Kuss!«

Schön wärʼs!, denke ich zweifelnd, da ich die Chancen dafür aber eher gering einschätze.

»Und was ist mit den anderen?«

»Deine Freundin ist schon wach. Sie kommt sicher bald herunter!«

Seine Stimme klingt plötzlich belegt.

»Ist etwas passiert mit Beata?«, hake ich nach.

»Äh, ja, … äh, ich erzähle es dir später!«, macht er und nimmt dann einen großen Schluck seines Saftes.

So ausweichend kenne ich Markus gar nicht.

»Jetzt würde ich auch gerne Gedanken lesen können!«, murmele ich. Da ich ihn aber nicht mit Fragen bedrängen möchte, wechsele ich das Thema. »Meinst du, es macht Sinn, mit dem Essen auf die anderen zu warten?«

»Ach was, leg einfach los, wenn du hungrig bist!«

Ich nehme mir eine der Kameitschas und ziehe andächtig die Schale ab. Da trudelt Beata gefolgt von Maja, Malinda und Simeo in den Speisesaal. Maja und Beata grüßen mich herzlich und nehmen die Plätze rechts und links von mir ein. Malinda und Simeo lassen sich neben Markus nieder.

»Macht ihr hier auch Kommitán?«, will Malinda wissen.

Dabei greift sie unbekümmert zu der Wölbung zwischen Markus Beinen, was ihn erschrocken zusammenfahren lässt.

»Kommi-was?«, bringt der Schattenmagier heiser hervor. Er nimmt Malindas Hand und legt sie in ihren eigenen Schoß zurück. Nichtsdestotrotz schenkt sie ihm ein aufreizendes Lächeln.

Maja und ich müssen gickeln, während Beata große Augen macht. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass eine Frau den großen Charmeur mal in Verlegenheit bringen könnte.

»Sie will wissen, ob wir hier auch Sex haben! In Aurigon war das nämlich an der Tagesordnung«, kläre ich ihn auf.

Markus räuspert sich, bringt aber kein Wort heraus. Stattdessen schenkt er Beata ein unsicheres Grinsen. Besser, ich nehme die Sache selbst in die Hand, bevor es noch zu Missverständnissen kommt. Außerdem wird mir gerade heiß und kalt bei der Vorstellung, wie Malinda versucht, Torin zu bezirzen. Dabei habe ich ihn auch noch selbst dazu überredet, sie bei sich aufzunehmen.

»Malinda, es ist so: Bei uns sind diese Dinge etwas komplizierter. Kommitán macht man meistens nur mit einem einzigen Partner, den man sich dafür ausgesucht hat. Es gibt zwar auch Menschen, die das anders handhaben, aber ich fürchte, hier auf der Burg wirst du dich mit Kommitán zurückhalten müssen.«

»Ah, Malinda verstehen!«, antwortet sie. Zum Glück scheint sie nicht weiter bekümmert darüber, denn sie beginnt nun, freudig lächelnd eine Kameitscha zu schälen.

Beata hat es inzwischen geschafft, die dritte dieser Früchte herunterzuwürgen und so langsam setzt auch bei ihr der versprochene Genuss ein.

»Wo ist Onkel Torin?«, will der Kleine wissen. »Darf ich nachher nochmal mit Leo spielen?«

»Bestimmt!«, antworte ich, als der Schattenlord und Ramón in diesem Moment den Saal betreten. Torins Anblick lässt mein Herz sofort höherschlagen. Sein Blick trifft mich bis ins Mark und lässt mich nicht mehr los, während er durch den Raum geht, um sich dann neben Maja niederzulassen. Schweigend greift er sich eine Kameitscha und zieht die Schale ab. Unfähig unseren Blickkontakt zu unterbrechen, starre ich ihn an, während mein Herz schier zu brennen beginnt. Die Entfernung zu ihm erscheint mir viel zu groß.

»Onkel Torin, darf ich mit Leo spielen?«, fragt Simeo im Hintergrund meines Bewusstseins. Aber statt zu antworten, brennt sich Torins Blick in mich hinein.

Markusʼ Lachen bringt den Schattenlord jetzt jedoch dazu, seinen Freund mit einem missbilligenden Stirnrunzeln zu strafen.

»Onkel Torin, darf ich mit Leo spielen?«, wiederholt Simeo und zupft dabei erwartungsvoll am Umhang des Schattenlords.

»Findest du den Weg alleine?«, wendet sich dieser an den Jungen.

»Ja klar, ich bin doch schon groß«, antwortet Simeo freudestrahlend und saust gleich darauf aus dem Saal.

Seine Mutter blickt ihm fröhlich lächelnd hinterher. Noch gestern beim Abendessen hat ihr Torin angeboten, dass sie mit ihrem Sohn auf SkoʼFalkum wohnen darf, wofür sie ihn mit Dankbarkeitsbekundungen überschüttete. Danach hat sie allerdings einige Veränderungen vorgeschlagen – Pflanzen, frische Bettwäsche, neue Möbel und dergleichen mehr. Nach der idyllischen Tempelanlage fehlt ihr dieses Ambiente verständlicherweise. Mir selbst gefielen ihre Ideen recht gut, der Lord über die Schatten wirkte dagegen ziemlich blass um die Nase. Dennoch äußerte er sich nicht weiter dazu, sondern drückte Malinda einen Beutel mit atlaticanischem Geld in die Hand, damit sie während seiner Abwesenheit Lebensmittel und Sonstiges bei den fahrenden Händlern erstehen kann.

Grau und Blass

Es handelt sich um zwei Personen, deren Identität durch die Pseudonyme ›Grau‹ und ›Blass‹ verschleiert wird

Grau verzieht grimmig das Gesicht. Er kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft der verfluchte Schattenlord seinen Anschlägen entgangen ist.

Dieser Dämon wird entweder von unverschämtem Glück verfolgt oder es ist eine Form von Magie im Spiel, die Grau nicht durchschaut – ein unsichtbarer Helfer oder gar ein mächtiger Schutzzauber. Der Lord muss verschwinden, schon allein deshalb, weil er zu intensiv mit der Feuermagierin verbunden ist. Auch in dieser Sache ist Grau noch nicht allzu weit gekommen. Er muss Blass stärker unter Druck setzen, diese Inea für sich zu gewinnen.

Wann kommt er denn endlich? Blass wird es noch bereuen, seinen Meister warten zu lassen.

»Sie wollten mit mir sprechen?«

Grau fährt erschrocken zusammen, als Blass im Dämmerlicht des Höhlenzimmers auftaucht. Die Ortung des Magiers war noch nie besonders gut gewesen und diese Seele strahlt so gut wie überhaupt keine spezifische Energie aus.

»Du solltest dir merken, dass man seinen Herrn nicht warten lässt!«, herrscht er Blass an.

»Ja, ich weiß! Es tut mir leid, der Verkehr …«

»Zur Hölle mit dem Verkehr! Mich interessieren keine Rechtfertigungen. Also, wie weit bist du mit dieser Inea DʼOrayla? Vertraut sie dir?«

»Natürlich vertraut sie mir! Ich bin mir sicher, dass sie keinerlei Verdacht schöpft!«

»Und hegt sie auch Sympathien für dich? Würde sie dir helfen, wenn du in Not gerätst?«

»Ich denke, das würde sie sogar tun, selbst wenn sie keine besonderen Sympathien für mich hegen würde.«

»Ach ja?«

»Ja, sie ist so ein Typ. Viel Zeit ist mir nicht geblieben, diese Freundschaft zu vertiefen, aber ich denke schon, dass sie mich mag.«

»Arbeite daran, dass sich euer Verhältnis weiter verbessert!«, gebietet Grau streng.

»Und dann? Wenn die Transformation vollzogen ist, was geschieht dann mit ihr?«

»Das hat dich nicht zu interessieren!«

»Sie werden sie doch nicht töten?«, hakt Blass verunsichert nach.

»Sobald ich meine Pläne verwirklicht habe, stellt sie ohnehin keine Gefahr mehr dar. Inea wird nur eine von vielen Untergebenen sein, daher ist es unerheblich, ob sie lebt oder nicht. Aber wenn dir so viel an deiner Freundin liegt, kannst du sie behalten.«

Der Morgen danach

Torin, Freitagmorgen, einige Zeit vorher

Morgengrauen taucht das Burgzimmer ins Zwielicht, als ich die Lider öffne. Ich bemerke den Arm, der über meiner Brust liegt. Ineas sinnlicher Duft verleitet mich unwillkürlich dazu, tief einzuatmen. Verwundert stelle ich fest, dass ich durchgeschlafen habe und mich erholt fühle, wie seit Urzeiten nicht mehr. Ich bleibe bewegungslos liegen, inhaliere den Moment der innigen Stille, der sich zwischen die Feuermagierin und mich gelegt hat. Die Gefühle, die ich beschlossen habe, nicht mehr zu bekämpfen, strömen durch mich hindurch, wie ein reißender Fluss und lähmen mich durch ihre Intensität, lassen aber keine Handlung zu.

Ich blicke in das schlafende Gesicht der Frau an meiner Seite. Der friedlich sanfte Ausdruck darin entfacht eine neue Flamme zugetaner Emotionen. Mit den Augen fahre ich sanft über ihre Wange, um auf den vollen Lippen hängenzubleiben, die leicht geöffnet meinen zärtlichen Kuss begehren. Schon der Gedanke daran lockt ein Prickeln auf meinen Lippen hervor. Mein Atem geht schwer und ich muss mich von diesem Anblick lösen – zu verlockend ruft ihre Nähe nach Zärtlichkeiten, die mich nur noch tiefer hinabstürzen würden in einen Strudel, in dem ich mich endgültig zu verlieren drohe.

Ich schließe die Augen, presse den Kopf fest in das Kissen und warte auf ein Abflauen meiner inneren Wallungen. Meine Konzentration in die Leere richtend, atme ich mehrmals tief durch, dann erhebe ich mich und verlasse Ineas Zimmer, ohne mich noch einmal nach ihr umzusehen. Auch diese Form des Umgangs verlangt einiges von mir ab, doch immerhin zerreißt es mich nicht mehr in der Art und Weise, wie der bisherige Kampf gegen die übermächtigen Gefühle.

Ich suche Markusʼ Gemach auf und treffe ihn wider Erwarten ohne diese Beata im Bett an. Augenscheinlich haben seine Annäherungsversuche nicht wie gewünscht gefruchtet.

»Hey Torin! Früh auf den Füßen, wie immer?«, grüßt er mich missmutig und streckt sich dabei ausgiebig im Bett. »Wie wäre es das nächste Mal mit Anklopfen? Schließlich könnte es doch sein, dass ich gerade beschäftigt bin!«

»Das hätte ich gehört, außerdem habe ich geklopft«, erwidere ich gleichmütig.

»Ja, aber wenn man anklopft, sollte man auf das Zauberwort Herein warten, bevor man eintritt.«

Markus schält sich aus dem Bett und streckt sich nochmals. Ich lasse mich im Sessel nieder.

»Ich muss mit dir sprechen!«, antworte ich, ohne auf seinen Einwand einzugehen.

»Wirklich? Und ich dachte, du hattest vor, mir ein Kasperle-Theater-Stück vorzuspielen! Da bin ich jetzt aber wirklich enttäuscht! Ich hatte mich schon so sehr darauf gefreut!«, feixt mein Freund nicht ohne Ironie.

»Markus, es geht um Folgendes: Diese Beata weiß zu viel von uns und jetzt hast du sie auch noch hierhergebracht. Mir ist schon klar, dass dir viel an ihr liegt, aber neben Inea werden es immer mehr Menschen, die in die Geheimnisse der magischen Welt eingeweiht sind, ohne dass sie die Kommissura erhalten. Das geht einfach nicht. Es ist schon gefährlich genug, dass wir Inea vor dem Rat geheim halten. Wenn jetzt auch noch diese Beata unser Wissen teilt und mit ihr vielleicht noch weitere Personen aus ihrer Wohngemeinschaft, könnte dies in einem Desaster enden.«

Markus zieht sich an, indem er auf einem Bein hüpfend nacheinander in seine Hosenbeine hineinschlüpft.

»Das ist sicher wahr, aber ich bin es nicht gewesen, der Beata von uns erzählt hat, sondern Inea. Da macht es auch nicht mehr viel Unterschied, ob wir sie hierherbringen, oder?«

»Dennoch wäre es sicherer, ihr die Kommissura zu verpassen und beiden Frauen noch einmal deutlich zu machen, dass sie unsere Geheimnisse unter keinen Umständen an Dritte weitergeben dürfen!«

»Klar, das können wir schon tun, aber äh, wie soll ich denn begründen, dass Beata in unsere Geheimnisse eingeweiht wurde? Du weißt doch selbst, dass das nur bei einer erwählten Gefährtin möglich ist.«

»Spricht etwas dagegen?«

»Na ja, ich könnte es mir schon vorstellen mit ihr, aber sie hält mich noch immer auf Abstand …«

Der zerknirschte Ausdruck in seinem Gesicht zeigt mir, dass mein Freund ein echtes Problem damit zu haben scheint. Inzwischen steht er vollständig bekleidet vor mir.

»Wir sollten sie aufsuchen und mit ihr reden«, schlage ich vor.

»Ob das eine gute Idee ist … Außerdem schläft sie sicherlich noch.«

»Wir warten eine halbe Stunde. So lange können wir besprechen, wie es mit Ramón und Rahl weitergeht. Immerhin haben wir das Problem mit den unregistrierten Umbro lösen können und auch Maja befindet sich in Sicherheit. Diese Informationen müssen so schnell wie möglich an die Ratsmitglieder weitergegeben werden. Auch die beiden Umbro benötigen dann eine Kommissura. Es wird nötig sein, hierzu eine weitere Sitzung einzuberufen.«

»Ach, wieder eine von diesen Sitzungen …«, seufzt Markus wenig begeistert. »Was ist eigentlich mit dem kleinen Jungen, Simeo? Der muss doch auch registriert werden.«

»Du vergisst, dass wir vor zwei Jahren eine Gesetzesänderung beschlossen haben. Es reicht aus, wenn Kinder ab dem siebten Lebensjahr registriert werden. Davor ist ihre Magie ohnehin nicht besonders stark ausgeprägt. Lediglich von Simeos Existenz müssen wir den Rat unterrichten.«

* * *

Markus klopft an die Tür zu Beatas Zimmer, aber drinnen bleibt alles still.

»Ich hab es ja geahnt: Sie schläft sicher noch!«, murrt mein Freund. Er tritt unruhig von einem auf das andere Bein. »Lass uns wieder gehen!«

In diesem Moment nehme ich ein entferntes Schluchzen wahr. Gefolgt von Markus wende ich mich in die entsprechende Richtung. Wir treffen Beata in der Säulenhalle an. Die Front dieses Saals öffnet sich zum Landesinneren hin. Den Fenstern hier fehlt die Verglasung, sodass der Wind durchzieht, dafür hat man freie Sicht auf die Wildnis Atlaticas. Ineas Freundin lehnt sich über den Fenstersims und blickt gedankenversunken über die Landschaft.

»Da bist du ja! Wir dachten schon, du schläfst noch!«, grüßt Markus die junge Frau.

Sie fährt erschrocken herum. Rote Augen und glitzernde Rinnsale auf ihren Wangen zeugen von ihrem Kummer. Unfähig, adäquat auf die Emotionen dieser Frau zu reagieren, verharre ich unentschlossen im Türbogen.

»Hey, hast du geweint?«, fragt Markus das Offensichtliche, was in meinen Augen auch nicht gerade einer angemessenen Reaktion entspricht. Hastig wischt sie sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht, als mein Freund auf sie zutritt und ihr den Arm um die Schulter legt. Sie windet sich jedoch darunter hervor und weicht beiseite, was Markus wiederum geknickt zurücktreten lässt.

»Was wollt ihr?«, fragt die junge Frau ausdruckslos, kneift jedoch die Brauen zusammen.

»Es gibt ein Problem, aber wenn wir dich jetzt lieber alleine lassen sollen …«, beginnt Markus.

»Nein, es geht schon! Was für ein Problem?«, will sie wissen und klingt dabei schon wieder sehr gefasst.

»Jeder, der in die Geheimnisse der magischen Welt eingeweiht wurde, muss die Kommissura akzeptieren!«, erkläre ich knapp.

»Kommissura? Ist das nicht so ein magisches Tattoo?«

»Genau! Dieses Tattoo stellt sicher, dass du nicht unkontrolliert Geheimnisse weitererzählst«, erläutert Markus.

»Aha! Und wie soll ein Tattoo so etwas kontrollieren?«

»Dahinter steckt ein sehr komplizierter Zauber, um ehrlich zu sein, weiß ich selbst nicht genau, wie die Kommissura das fertigbringt«, gibt Markus zu, »aber das System ist schon seit hunderten von Jahren erprobt und hat immer gut funktioniert.«

»Und wenn mir mal was aus Versehen rausrutscht, was passiert dann mit mir?«, hakt Beata weiter kritisch nach.

»Das kommt ganz darauf an. Du hast eine Art Kontingent an Strafpunkten. Wenn du etwas verrätst, ist die Wirkung auf deine Zuhörer entscheidend. Je mehr Menschen involviert sind, je aufmerksamer diese lauschen und je brisanter die Informationen, desto mehr Strafpunkte sammeln sich in der Kommissura – vergleichbar den Punkten in Flensburg. Während bei bis zu etwa fünf Strafpunkten noch nichts passiert, kannst du, je nachdem, was du gemacht hast, auch für längere Zeit nach Inferior verbannt werden.«

»Inferior? Ist das diese Gefängnisinsel für Magier?«

Ihre Augen weiten sich zwar, doch in Anbetracht der drastischen Konsequenzen nimmt sie diese Information erstaunlich gelassen hin.

»Ja, genau. Bei leichteren Vergehen kommt es nicht zu einer Verhandlung vor dem Rat, sonst hätte dieser zu viel zu tun. In solchen Fällen wirst du automatisch auf die Gefängnisinsel teleportiert, sobald du alleine bist und nicht beobachtet wirst. Nach Ablauf der Verbannungszeit erscheinst du dann wieder genau dort, wo du verschwunden warst, aber auch nur dann, wenn sich niemand in der Nähe befindet. Dein Verschwinden und Auftauchen soll ja keine Aufmerksamkeit erregen.«

»Das gefällt mir alles nicht. Was ist, wenn ich gerade etwas Wichtiges erledigen muss oder mit dem Auto unterwegs bin?«

»Man wird nur aus einem unbewegten Zustand heraus teleportiert und du kannst den Zeitpunkt beeinflussen, indem du den Hüter, der dich auf der Insel empfängt, um Aufschub bittest. Dann schickt er dich noch einmal vorläufig zurück, damit du deine Dinge regeln kannst.«

»Tatsächlich? Aber warum hat das Liliana nicht gemacht, als sie auf diese Gefängnisinsel musste?«

»Gut, ich gebe zu, es ist vom guten Willen des Hüters abhängig, ob er sich darauf einlässt oder nicht. Aber man kann verhandeln. Noch besser ist, du verrätst einfach keine Geheimnisse, dann brauchst du dich um solche Dinge nicht zu sorgen.«

Ich stehe noch immer im Torbogen, beteilige mich aber nicht an der Unterhaltung.

»Na dann, wenn es unbedingt sein muss, lasse ich mir diese Kommissura eben stechen«, lenkt Beata schließlich ein, wenn auch widerwillig. Noch ist aber nicht alles geklärt.

Markus räuspert sich.

»Äh, na ja, da gibt es noch etwas. Normalerweise dürfen nur die Personen eingeweiht werden, die als, äh, als Gefährte oder Gefährtin für einen Magier infrage kommen«, stammelt mein Freund sichtlich aufgeregt und nun fällt Beatas Mimik förmlich in sich zusammen.

»Wie bitte? Heißt dass, ich muss dich jetzt so was wie heiraten?«

Ihre Stimme klingt unnatürlich hoch und heiser zugleich – eine schrille Note schwingt mit.

»Niemand wird dazu gezwungen. Die Verbindung von Gefährten darf nur auf dem freien Willen beider Partner basieren«, erkläre ich, während Markusʼ Unruhe förmlich die Luft zerreißt. »Allerdings tendiere ich im Augenblick ohnehin dazu, auch Inea im Rat einzuführen, denn inzwischen sind es mit Maja, Rahl und Ramón zu viele Personen, die von ihrer Existenz wissen. Das Risiko ihrer Entdeckung wird damit einfach zu hoch. In diesem Fall ließe sich leicht begründen, dass du, Beata, als Ineas Freundin, unfreiwillige Zeugin ihrer magischen Fähigkeiten wurdest. Dafür kann niemand angeklagt werden.«

Die Sache um die Registrierung der Feuermagierin zerrt bereits viel zu lang an meinen Nerven. Es war ein fortwährendes Abwägen zwischen der Loyalität dem Rat gegenüber und Ineas Schutz. Die Kommissura würde Ineas Magie empfindlich dämpfen und ihr damit auch die Möglichkeit zur Selbstverteidigung nehmen. Allerdings ist auch klar, dass der Verräter bereits von ihrer Existenz weiß, somit haben wir mit dem sinnlosen Versuch, Inea vor ihm zu verbergen, nicht viel gewonnen. Durch Ineas Registrierung wäre dann das Problem von Beatas Wissen um unsere Welt gelöst, was letztendlich den Ausschlag gibt, mich zu dieser Entscheidung durchzuringen.

»Ja, stimmt, dann wäre auch die Gefährten-Sache vom Tisch!«, ergänzt Markus. Bedauern wie Erleichterung stehen ihm gleichermaßen ins Gesicht geschrieben.

»Schon gut, dann bekomme ich halt auch so ein Ding!«, brummt Beata emotionslos. »Wie geht das vor sich?«

Wir erklären ihr den Ablauf und die Wirkung des Tattoos. Dann verabschieden wir uns von Beata, die noch eine Weile alleine bleiben möchte.

»Mann, Torin, das hättest du mir auch eher sagen können, dass du beabsichtigst, Inea die Kommissura zu verpassen. Damit hättest du mir diese Peinlichkeit erspart!«, wirft mir Markus vor, kaum dass wir alleine sind.

»Ich war selbst hin- und hergerissen mit dieser Entscheidung. Erst Beatas abwehrende Reaktion, deine Gefährtin zu werden, gab letztendlich den Ausschlag.«

»Erinnere mich nicht schon wieder daran!«, knurrt mein Freund niedergeschlagen.

Wir suchen den Vorratsraum auf und decken uns mit Kameitschas und Krügen ein. Dann trennen sich unsere Wege. Während Markus Richtung Speisesaal marschiert, um das Frühstück zuzubereiten, begebe ich mich zu meinem Halbbruder Rahl, um dort nach dem Rechten zu sehen.

* * *

Rahl hockt auf dem Boden seiner Zelle und schleudert mir hasserfüllte Blicke entgegen. Ich schiebe ihm eine Schale Kameitschas und einen Krug mit Quellwasser durch die Gitterstäbe.

»Na Torin! Verschafft es dir jetzt die ersehnte Genugtuung, mich als deinen persönlichen Gefangenen zu halten?«

»Nein!«, erwidere ich kalt.

Mein Bruder und ich hatten uns noch nie nahegestanden, was jedoch ausschließlich dem Hass zugrunde liegt, den er mir stets entgegenbrachte.

»Du hast Unrecht begangen, das erfordert eine Strafe. Mit jedem anderen geschähe dasselbe.«

»Oh, der große, gerechte Torin! ›Lord der Schatten‹ nennen sie dich, ja?« Rahls Stimme trieft vor Spott. »Du hast diesen lächerlichen Rat gegründet, in dem du selbst den Vorsitz übernommen hast, nicht wahr? Du erhebst dich zum Autokraten über Atlatica, während ich über mein selbst erschaffenes Paradies herrschte. Wo, verflucht nochmal, liegt der Unterschied?«

»Wenn du den nicht zu erkennen in der Lage bist, ist auch jede Erläuterung nichts weiter als vergeudete Zeit.«

Ich wende mich zum Gehen, denn mir ist wohl bewusst, dass eine Unterhaltung mit Rahl zu nichts führt, als weiterem Zwiespalt. Doch mein Halbbruder fährt unbeirrt fort, mich zu attackieren.

»Du hast dich ja schon immer für etwas Besseres gehalten, genau wie auch unser Vater dem Irrglauben verfallen war, du wärst etwas Besonderes! Keine Ahnung, warum er dich vorgezogen hat. Derweil warst du so ein erbärmlich ängstliches Kind!«

»Schweig!«, rufe ich scharf, während ich blitzartig herumfahre. Rahl kennt meine wunden Punkte nur zu gut und ich kämpfe darum, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Nehef war ein grausamer Tyrann. Er quälte uns beide auf unterschiedliche Weise. Keine davon war besser oder schlechter als die andere und du hättest nicht mit mir tauschen wollen, dessen kannst du sicher sein.«

Rahl erhebt sich vom Boden und rückt ganz dicht an die massiven Gitterstäbe heran, sodass wir uns Auge in Auge gegenüberstehen und uns ein unerbittliches Blickduell liefern.

»Dich sah er als seinen Nachfolger an und trainierte dich, damit du zum mächtigsten Magier Atlaticas werden konntest! Und genau das bist du doch auch geworden, dank Nehef. Mich dagegen behandelte er wie nicht existent, dabei stehen meine Fähigkeiten den deinen um nichts nach! Findest du das gerecht?«

»Du hast mich oft genug für diese Rolle büßen lassen, die ich weder gewollt noch ausgesucht habe. Erachtest du das etwa als gerecht? Im Übrigen ist es bedeutend besser, von einem Tyrannen als nicht existent behandelt, als von ihm misshandelt zu werden.«

»Ach stell dich nicht so an! Vater war ein mächtiger Herrscher und er wollte dich ebenso mächtig und hart machen wie sich selbst. Wie habe ich dich dafür gehasst, dass eines Tages dir all diese Macht gehören würde, wo du doch nichts weiter warst als ein kleiner Hosenschisser, der sich hinter dem Rockzipfel seiner Mutter verkroch, wenn ein lächerliches Gewitter vom Himmel grollte. Du warst es nicht wert, hattest nicht die Größe um zu herrschen! Und dann die schwächliche Fixierung auf dieses eine Weib! Derweil hätte dir ein unüberschaubar großer Harem zu Füßen liegen können.«

Heiße Wut wallt durch meine Eingeweide. Zu tief sitzen die Verletzungen der Vergangenheit, zu viele Grausamkeiten hatte ich erleiden müssen, um bei seinen Worten gleichgültig zu bleiben. Meine Hände drängen darauf, Rahl die Gurgel umzudrehen. Mein Puls donnert in meinen Ohren. Dennoch verharre ich wie gelähmt. Allein meine Augen schleudern meinem Halbbruder das Gewitter entgegen, welches in meinem Inneren tobt.

Nein, ich werde Rahl keinesfalls die Genugtuung geben, jetzt die Beherrschung zu verlieren!

Ich atme einmal tief durch, dann drehe ich mich um, und verlasse endgültig den Saal.

Während ich durch die Gänge marschiere, kühlt sich mein Gemüt allmählich wieder ab. An einer Ecke wäre ich beinahe mit diesem abtrünnigen Umbro zusammengestoßen. Ich muss mir eingestehen, dass mich die Begegnung mit Rahl über alle Maßen emotional aufgewühlt hat, sonst wäre mir eine solche Unachtsamkeit niemals passiert.

Dieser Ramón kommt mir jedoch gerade recht. Da gibt es noch einiges, was geklärt werden muss.

»Hallo, Onkel Torin!«, grüßt er mich mit einem Schalk in den Augen, der mich an Markus erinnert.

Aber im Gegensatz zu meinem Freund ist mir dieser Umbro noch immer höchst suspekt, daran kann weder unsere Verwandtschaft noch Majas offensichtliche Sympathie etwas ändern.

»Dein Name ist Ramón?«

»Ja!«

»Inea hat mir bereits einiges über dich erzählt. Aber wie kommt es, dass du so plötzlich die Seiten gewechselt hast?«, frage ich kritisch.

»Mir war nie klar gewesen, was für ein Mensch dieser Rahl Sorbat ist, der sich mein Vater nennt. Von klein auf wurden mir seine Lehren als einzige Wahrheit verkauft, aber nach und nach kamen Zweifel auf. Zusammen mit meinen Brüdern unternahm ich dann einen Ausflug ins Morosum – wie Rahl die Welt außerhalb Aurigons nannte. Er verteufelte sie als einen Pfuhl des Bösen, doch das Bild, welches sich uns darstellte, war ein völlig anderes.

Das, was ich Maja angetan habe, tut mir unendlich leid, ich kannte es einfach nicht anders und befand mich in dem Irrglauben, nichts Schlechtes zu tun. Doch inzwischen weiß ich, was ich angerichtet habe und es bricht mir das Herz, weil sie mir sehr viel bedeutet. Wenn ich es ungeschehen machen könnte, würde ich alles dafür geben.«

Die ganze Zeit über sieht er mir fest in die Augen, sodass es mir schwerfällt, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Ramón erinnert mich mit seinem Los nur allzu sehr an mich selbst – lediglich die Philosophie und die Methoden unserer Väter waren von anderer Art, doch waren wir beide viel zu lange den Launen eines grausamen Herrschers ausgesetzt.

»Nun gut, wir werden sehen, ob du weiterhin zu deinem Wort stehst. Wenn du die Kommissura erhältst, wirst du deine Macht ohnehin nicht mehr missbrauchen können.«

»Ich weiß, aber ich sehe das als Chance. Maja braucht meine Magie dann nicht mehr zu fürchten und vielleicht kann sie mir eines Tages verzeihen.«

Es beeindruckt mich, dass er es offenbar ernst meint mit der Femia-Tia. Genau genommen ist es mir noch nicht untergekommen, dass ein erwachsener Magier dermaßen abgeklärt der Tatsache entgegensieht, seiner Macht beraubt zu werden.

Es gibt noch eine weitere Angelegenheit, die geklärt werden muss. Ich hole den blauen Kristall hervor und drehe ihn zwischen den Fingern.

»Zeige mir die Funktionsweise des Steins!«

»Das ist simpel. Man muss einen bekannten Ort des Morosum – ich meine – der anderen Welt, so genau wie möglich visualisieren und dann seine Magie in den Kristall hineinsenden. Es bildet sich eine blau leuchtende Kugel und alle Personen darin werden an den gewünschten Ort teleportiert. Man kann nur zwischen den Welten damit reisen, nicht aber innerhalb einer Welt. Zudem benötigt die Träne Urotans nach jeder Reise Zeit, um sich wieder mit Magie aufzuladen. Je höher die Frequenz der Nutzung, desto länger dauert die Aufladung.«

»Wie konnte Rahl in den Besitz eines derart machtvollen Kristalls gelangen?«

»Das weiß ich nicht. Uns erzählte er, die einzige Träne, die Urotan jemals vergossen hätte, wäre zu diesem magischen Stein kristallisiert. Immer, bevor er damit verschwand, erklärte er, er müsse im Morosum nach Auserwählten suchen, die es wert wären, vor dem Untergang gerettet zu werden. Einige der jungen Frauen waren begeistert vom Tempel und integrierten sich rasch in die Gemeinschaft. Diejenigen, die von Heimweh und Zweifeln geplagt wurden, sperrte man so lange in eine karge Zelle, bis sie ›geläutert‹ waren. Danach erschien ihnen der prachtvolle Tempel wie das erlösende Paradies.«

Unfassbar! Aber mein Bruder wollte schon immer im Zentrum stehen und verschaffte sich mit seiner Aurigon-Sekte auf narzisstische Weise Bewunderung, Respekt und einen Harem.

»Gut, dann werden wir die Funktion des Steins später testen.«

Inea

Nachdem wir den Kameitschaberg auf dem Tisch um mindestens die Hälfte dezimiert haben, meldet mein Magen ein unangenehmes Völlegefühl. Bei diesen Früchten läuft man stets Gefahr, sich zu überessen, sobald man einmal Geschmack daran gefunden hat.

»Nachher, wenn wir Inea und ihre Freundin zurückbringen, werden wir diesen blauen Kristall auf seine Funktionsweise testen«, erklärt Torin an Markus gewandt. Sein Blick wandert wieder zu mir, streift meine Lippen und ich kann das Verlangen in seinen Augen lodern sehen.

»Wann hast du vor, sie nach Hause zu bringen?«, will Markus wissen. Der Schattenlord antwortet nicht gleich. Als die Frage bis zu ihm durchdringt, räuspert er sich und antwortet dann mit belegter Stimme: »Gleich nach dem Essen.«

Ich verziehe missmutig das Gesicht. Gerne wäre ich noch hiergeblieben. Will er mich so rasch schon wieder loswerden? Meiner stummen Enttäuschung weicht der Schattenlord aus, indem er sich seinem Humpen widmet, den er mit Gelina-Saft füllt. Nach ein paar Schlucken und einer Schweigeminute erhebt sich Torin.

»Inea, Beata und Markus, ihr bildet einen Kreis um mich!«, bestimmt er.

Gepäck habe ich ja keines dabei und meine wenigen Habseligkeiten befinden sich in meinen Hosentaschen, daher habe ich keine passenden Argumente parat, die gegen eine sofortige Rückreise sprechen könnten. Torin hebt den Urotan-Tränenstein in die Höhe. Beata und Markus postieren sich neben ihm und ich nähere mich dem Schattenlord von vorne. Seine Augen fixieren mich, ohne dass seiner Mimik ein Ausdruck entgleitet.

Ramón, Maja und Malinda beobachten uns vom Tisch aus. Plötzlich hüllt uns eine große, blaue Sphäre ein. Wie beim letzten Mal verstummt alles um uns herum, wir schweben durch gleißend blaues Licht, bis sich einer nach dem anderen auflöst und auch ich plötzlich wieder festen Boden unter den Füßen spüre. Das erste Geräusch, das an meine Ohren dringt, ist ein erschrockenes Schreiduett. Beata, Markus, Torin und ich stehen in meinem WG-Zimmer. Aber wir sind nicht allein, die Zwillinge drängen sich vor meinem geöffneten Kleiderschrank zusammen und starren uns an, wie die Ausgeburt ihrer dunkelsten Fantasien.

»Hey, was treibt ihr beiden an meinem Kleiderschrank?«, schimpfe ich darauf los.

»I-I-Inea! W-Wo k-kommst du denn her?«, stottert Moritz.

»G-Ge-Genialer Trick! Wie habt ihr das gemacht?«, stammelt Max.

»Wusstet ihr nicht, dass man Zaubertricks nicht verraten darf?«, kommt mir Markus mit einer Antwort zuvor.

Damit ist meine Frage aber nicht geklärt.

»Ich will wissen, was ihr an meinem Kleiderschrank zu suchen habt?«

Ich stemme meine Hände in die Hüften und lege die Stirn in Falten. Dass sich die beiden heimlich hier hereinschleichen, geht nun wirklich zu weit.

»Äh, Ineachen, sei nicht böse. Du warst ja wie vom Erdboden verschluckt und da konnten wir dich nicht fragen. Aber wir benötigen ganz dringend ein Kleid für die Hexe!«, versucht mich Moritz zu beschwichtigen.

»Für die Hexe?«, wiederhole ich aufgebracht. »Was soll denn der Blödsinn nun wieder? Ich trage keine Hexenkleider! Und jetzt raus hier!«

Das lassen sich die beiden nicht zweimal sagen. Selten hatten sie es so eilig zu verschwinden. Unser plötzliches Erscheinen muss ein ziemlicher Schock für die Zwillinge gewesen sein.

»Verflucht! Es war ein Fehler, hier aufzutauchen!«, schimpft Torin.

»Ach, mach dir wegen der beiden Quatschköpfe nicht ins Hemd, Tori! Denen würde sowieso niemand glauben, wenn sie davon erzählten.«

»Das war ja noch krasser, als das andere Tor!«, staunt Beata fasziniert. Die jüngsten Diskussionen scheinen völlig an ihr abgeprallt zu sein. Sie blickt an ihrem Körper rauf und runter, wohl um zu prüfen, ob noch alles dran ist.

Da fällt mir etwas ein. Ich hole mein Smartphone aus der Hosentasche und betrachte das Display. Es funktioniert einwandfrei, allerdings meldet sich mein schlechtes Gewissen lautstark, als in diesem Moment gut ein Dutzend SMS und unbeantwortete Anrufe aufleuchten. Die meisten stammen von Liliana. Auch Bene und Lissi haben vergeblich versucht, mich zu erreichen. Rasch tippe ich meiner Tante eine Antwort, dass es mir gut geht und sie sich keine Sorgen zu machen braucht.

»Inea, sag bloß, über das Tor des blauen Kristalls kann man sogar Kunststoffe und moderne Technik transportieren!«, staunt Markus, wobei er dicht an mich heranrückt und mein Smartphone fasziniert mustert.

»Ja, sieht so aus!«, antworte ich nur mit halber Aufmerksamkeit und drücke auf Senden.

»Dieser Stein eröffnet ganz neue Möglichkeiten!«, bemerkt Torin beeindruckt. »Allerdings müssen wir überlegen, wie wir weiter damit verfahren. Genau wie die Amulettsplitter birgt er große Macht und damit auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr, sollte er in die falschen Hände geraten.«

»Behalte ihn doch einfach, Torin. Da ist er am sichersten aufgehoben. Ich würde diese Sache im Rat nicht extra an die große Glocke hängen, vor allem, weil wir ja noch immer nicht wissen, wer der Verräter ist, der dir nach dem Leben trachtet«, gibt Markus zu bedenken.

»Rahl, Ramón und Maja wissen davon. Ramón und Maja kann ich bitten, das Wissen um den Stein geheim zu halten, aber mein verfluchter Halbbruder wird eher sterben, als mir einen Gefallen zu tun.«

Ich habe mich gemeinsam mit Beata auf meiner Couch niedergelassen. Wir lauschen aufmerksam der Diskussion der beiden Schattenmagier, die vergessen zu haben scheinen, dass wir auch noch existieren.

»Dieser Rahl weiß doch gar nicht, dass du den Kristall jetzt besitzt. Zuletzt hat er mich damit gesehen!«, fällt mir ein.

»Das ist wahr! Damit macht es tatsächlich Sinn, seine Existenz geheim zu halten. Um sicherzugehen, löschst du bei allen Beteiligten die Erinnerung an den Stein, Markus!«, weist Torin seinen Freund an.

»Untersteht euch! An unseren Erinnerungen wird nicht rumgepfuscht!«, widerspreche ich sofort und rücke näher an meine Freundin heran, die ebenfalls grimmig dreinschaut.

»Dieser Ramón und du, Inea, ihr könnt euch abschotten, aber wenn jemand bei Beata, Maja oder dieser Frau mit dem Kind die Informationen darüber abruft, birgt das ein unkalkulierbares Risiko«, erklärt Markus. »Es tut auch nicht weh, Beata!«

Sie springt auf die Füße, hastet zur Tür hinaus und knallt diese hinter sich ins Schloss. Markus und ich seufzen gleichzeitig, wohl aber aus unterschiedlichen Motiven.

»Wir hätten es einfach durchführen sollen, ohne es vorher anzukündigen!«, rügt sich Torin selbstkritisch.

»Jeder macht mal Fehler, Tori, sogar große Schattenlords sind nicht davor gefeit!«, besänftigt ihn Markus, während er seinem Freund die Schulter tätschelt.

»Lass das Markus! Diese Angelegenheiten sind ernster als du glaubst, vor allem, weil wir noch ein weiteres Geheimnis teilen.«

Torin fixiert mich mit seinen dunklen Augen. Mir wird schummerig zumute.

»Wir gedenken, dich und deine Freundin der Kommissura zu unterziehen, Inea!«, sagt er nun mit fester Stimme.

Ich glaube nicht recht gehört zu haben.

Das kann doch nicht wahr sein!

»Was? Ich will diese blöde Kommissura aber nicht!«, protestiere ich sofort. »Ich dachte, meine Existenz soll geheim bleiben!«

Vor lauter Empörung bin ich von der Couch aufgesprungen, stehe den Magiern nun gegenüber und stemme die Hände in die Hüften.

»Das ist sie ohnehin nicht mehr«, fährt Torin ruhig fort. »Sowohl der Verräter als auch viele Menschen in deinem Umfeld wurden Zeuge deiner Feuermagie, Inea. Wir können dich nicht aus allen Gedächtnissen herauslöschen. Bei Rahl und Ramón ist dies nicht einmal möglich, ohne deren Einverständnis. Und es wäre wider aller Gesetze, Maja als Ratsmitglied derart zu manipulieren. Dabei geht es ja nicht nur um einen kleinen Gegenstand wie den blauen Kristall. Niemand akzeptiert die Kommissura gerne, Inea, und ich werde versuchen, dich als meine Wächterin einzusetzen, damit du die Fähigkeit behältst, dich zu verteidigen, aber es ist gut möglich, dass der Rat dieser Entscheidung nicht zustimmt, da ich mit dir als meiner Wächterin große Macht in Händen hielte. Im Prinzip gilt das gleiche für den Kristall, es existiert jedoch kein Gesetz, das Ratsmitgliedern den Besitz eines Transportsteines verbietet.«

Ich seufze schwer. Auch wenn ich die Argumente verstehen kann, wehrt sich alles in mir gegen dieses magische Tattoo. Die beiden Magier senden mir mitfühlende Blicke, was meine Misere nicht im Geringsten zu mindern vermag.

»Na gut, wenn es sein muss! Ich hab wohl keine andere Wahl!«, lenke ich unglücklich ein.

Und eine Sache tröstet mich dann doch ein wenig: Wenn der Lord über die Schatten irgendwann in der fernen Zukunft von hundert Jahren dazu bereit sein sollte, mein Gefährte zu werden, könnte ich sogar Kinder mit ihm bekommen – wenn ich mit ihm über die Kommissura verbunden bin und meine fruchtbare Zeit dann noch nicht vorüber ist. Aber gleich verwerfe ich diesen Gedanken wieder. Bei all den Gefühlsverirrungen des Schattenlords sollte ich mir besser keine allzu großen Hoffnungen machen.

»Gut, dann kehre ich nach SkoʼFalkum zurück und regele zunächst die Angelegenheiten um Rahl und Ramón. In der darauffolgenden Sitzung werden wir dann Inea und Beata die Kommissura verpassen. Was ist mit dir, Markus?«

»Äh, ich bleibe noch eine Weile hier. Diese Zwillinge wollten etwas mit mir proben.«

»Du machst tatsächlich bei der Aufführung von Max und Moritz mit?«, frage ich verwundert.

»Ja, wenn der Ratsvorsitzende die nächste Versammlung nicht ausgerechnet auf morgen, 19:00 Uhr legt, bin ich dabei!«

Torin mustert ihn mit zusammengekniffenen Brauen, entgegnet aber nichts. Seine dunklen Augen streifen mich mit einem traurigen Funkeln, das tief in mich hineinsackt. Nicht mal ein simpler Blick dieses Menschen geht einfach so an mir vorüber. Alles, was mit Torin zu tun hat, wiegt so schwer, dass es zwischen Höhenflügen und Höllenqualen kaum eine Mitte gibt.

Torin wendet sich ab und holt Urotans Träne hervor.

»Noch ist der Stein nicht komplett aufgeladen«, erklärt er, während er den blau leuchtenden Kristall zwischen den Fingern wendet.

»Na dann bleibt dir ja noch Zeit für einen Abschiedskuss! Ich geh dann mal!«, verkündet Markus breit grinsend und verdünnisiert sich aus meinem Zimmer.

Ich bleibe mit Torin alleine zurück und verlagere mein Gewicht von einem auf das andere Bein. Sein Blick wandert über Urotans Träne hinweg zu mir. Das Pochen meines Herzens nimmt Fahrt auf. Es sieht für einen Moment so aus, als ob er tatsächlich abwägt, Markusʼ Vorschlag in die Tat umzusetzen. Der Schattenlord macht einen Schritt auf mich zu und hebt die freie linke Hand. Sie zittert leicht, als sie vorsichtig unter meine Haare zu meinem Nacken fährt. Gleichzeitig streichen Torins Blicke sehnsuchtsvoll über meine Lippen. Alles zieht mich zu ihm hin, die Spannung zwischen uns knistert magisch. Meine Lippen öffnen sich leicht, bereit die seinen zu empfangen. Ganz langsam nähert sich sein Gesicht. Ich atme schwer.

Da zuckt plötzlich ein blauer Blitz im Inneren des Kristalls. Unvermittelt tritt der Schattenlord zurück, die wundervolle Wärme seiner Hand verlässt meinen Nacken. Torin schließt die Augen und atmet tief durch. Dann hält er Urotans Träne in die Höhe.

»Es ist so weit! Die Magie hat sich regeneriert«, erklärt er, und es kommt mir vor, als versuche er, jegliches Gefühl aus seiner Stimme zu verbannen. Gleich wird er verschwinden und am liebsten würde ich ihn festhalten, mich ihm in die Arme werfen, doch ich beobachte bewegungslos, wie sich beim nächsten Herzschlag die leuchtende Sphäre um Torin schließt und er beim übernächsten Herzschlag zusammen mit dem blauen Licht verschwindet. Nun ist er fort und hinterlässt ein trauriges Gefühl der Leere in meinem Bauch.

Wie geht es jetzt weiter mit Torin?

Ich kauere mich mit angezogenen Beinen auf meine Couch und versinke in Tagträumen. Was ich auch versuche, die Sehnsucht nach diesem Mann lässt sich nicht abstellen. Ich verzehre mich nach seiner Nähe, seinen Küssen. Nie zuvor habe ich derart intensive Gefühle für jemanden empfunden und ich frage mich immer wieder, ob das echte Liebe ist, ober ob es sich nur um die Nachwirkungen des Zaubers dieser Hexe Leyla handelt.

Es vergeht eine unbestimmte Zeit, dann holt mich ein fröhliches Gelächter zurück in die Realität. Die Herumsitzerei hat mich träge und steif gemacht und ich muss mich erst einmal strecken, bevor ich aufstehen kann, um den Geräuschen zu folgen. Im Esszimmer hocken alle beisammen: Beata, Markus, Tina und die Zwillinge. Auf dem Tisch stehen verschiedene Soßen und Kleinigkeiten, Tortillas und Salate. Ich nehme auf dem vorletzten freien Stuhl Platz.

»Hey Inea, da bist du ja! Wir haben gerade darüber diskutiert, ob wir dich holen sollen!«, erklärt Max. »Ich war dagegen, weil es ja hätte sein können, dass du zu sehr beschäftigt bist mit diesem dunklen Typen!«

»Ich war dafür!«, meldet sich Moritz vorlaut, wobei er wie in der Schule eine Hand in die Höhe streckt »Schließlich verblasst selbst dieser Dunkeltyp im Vergleich zu unserem Festschmaus.«

»Nein Moritz, du warst nur deshalb dafür, weil du nachsehen wolltest, was Inea so treibt«, widerspricht Markus wie immer schelmisch grinsend.

»Wo ist denn dein Besuch? Isst er auch mit?«, fragt Tina und reckt ihren Kopf in Richtung Flur.

»Er musste schon wieder gehen«, erkläre ich, bestrebt, keinerlei Gemütsbewegungen durch diese Worte sickern zu lassen.

»Ha, sicherlich hat er wieder so einen Zaubertrick angewendet. Durch unsere Wohnungstür ist er nämlich nicht gegangen, das hätte ich gemerkt!«, feixt Max.

»Jungs, habt ihr nicht den Besen gesehen, den mein Freund immer mit sich herumträgt? Das macht er nur, um damit jederzeit aus dem Fenster fliegen zu können, wenn Inea ihm zu sehr auf die Nerven geht«, scherzt Markus.

Beata, die bisher schweigend Tortillas in sich hineingestopft hat, verdreht die Augen. Mit derartigen Blödeleien hat sie bisher nicht viel anfangen können. Wenigstens scheint Markus meine Freundin besänftigt zu haben, denn sie wirkt deutlich entspannter als noch vor Torins ›Abreise‹. Ob Markus ihre Erinnerung gelöscht hat? Mir ist nicht wohl bei diesem Gedanken. Ohne Einverständnis sollte niemand im Hirn eines andern herumpfuschen.

»Unsere Vorstellung morgen ist übrigens eine Pflichtveranstaltung für alle Anwesenden!«, erklärt Max.

»Morgen ist das schon?«, wundere ich mich.

»Sag mal Inea, bekommst du eigentlich gar nichts mehr mit? Seit Wochen reden wir von nichts anderem und schau mal da!«, Moritz deutet auf unser Schwarzes Brett – eine von Zetteln überfüllte Korkwand, die neben den Flügeltüren prangt. Ich weiß zunächst nicht, worauf er sich bezieht bei dem Durcheinander, bis mein Blick an einem bunten Plakat hängenbleibt. Darauf ist ein Lebkuchenhaus abgebildet, aus dessen Fenstern die frech grinsenden Köpfe der Zwillinge gucken. Ich nehme das Plakat ab und lese laut vor:

»Das Max-und-Moritz-Lebkuchenhaus

Sicherheitshinweise:

Betreten nicht vor sonntags 19 Uhr zulässig

Knabbern ausschließlich an den Hauptdarstellern erwünscht.

Lachen nur während der Pointen gestattet (bitte achten Sie hierbei auf das Leuchtsignal).

Wurfgeschosse, wie Tomaten, sind nur in vollreifem Zustand zu verwenden.

Da Niesen, Husten, Rülpsen, Räuspern oder Gähnen synchron aufeinander abgestimmt werden müssen, halten Sie den Drang dazu bitte zurück, bis das entsprechende Hupsignal ertönt.

Wir bitten ferner, die Blase im Vorfeld gründlich zu leeren, damit die unkontrollierte Feuchtigkeitsabgabe während der Aufführung auf ein Minimum begrenzt bleibt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Saugfähigkeit der Stühle bislang nicht ausreichend getestet werden konnte.

Im Falle von unzüchtigem Zuschauerverhalten haften Männer für ihre Frauen. In vorab genehmigungspflichtigen Ausnahmefällen kann die Haftung auch in umgekehrter Richtung stattfinden.

Sollten Sie sich bei vollem Bewusstsein unseren Anforderungen gewachsen fühlen, sind Sie herzlich zu unserer Vorstellung eingeladen. Andernfalls schicken Sie uns bitte Ihre Nachbarin oder Zahnärztin.

Max und Moritz Sitake«

Ich schüttele grinsend den Kopf über so viel Unsinn.

»Da bin ich ja mal gespannt, wie viele Zuschauer sich das antun wollen!«, lache ich. »Wo sehe ich denn die Eintrittspreise und den Ort der Aufführung?«

»Da musst du schon im Kleingedruckten suchen!«

Max zeigt auf die dünne Fußzeile.

»Na, ob das so sinnvoll ist, diese wichtigen Daten dort unten zu verstecken?«, überlege ich zweifelnd.

»Inea, du hast keine Ahnung von gutem Marketing! Die Leute werden so heiß darauf sein, sich diese einmalige Aufführung anzusehen, dass sie wie verrückt das Plakat danach absuchen werden und es dabei gleich mehrmals lesen – genau das, was sie auch tun sollen. Und damit beschäftigen sie sich intensiv mit uns und werden eher das Zähneputzen vor dem Schlafengehen vergessen als unsere Vorstellung. Verstehst du?«

»Hm, ich bin wirklich gespannt, ob diese Theorie auch in der Praxis aufgeht!«

Um ehrlich zu sein, bezweifele ich das, aber ich möchte die Zwillinge nicht demotivieren.

»Du wirst noch staunen, Inea!«, prophezeit Moritz synchron mit Max.

Ich lege das Plakat beiseite und gönne mir etwas von den Tortillas mit Salsa, außerdem gegrilltes Gemüse. Unsere Unterhaltung schlägt in alle Richtungen aus und wie immer, wenn Markus und die Zwillinge aufeinandertreffen, gehen nicht wenige der Scherze auf meine Kosten.

Als es an der Tür klingelt, kommt mir diese Unterbrechung gerade recht, weil die Zwillinge damit begonnen haben, mein Liebesleben tiefenpsychologisch aufzurollen. Dabei ziehen sie ausgedachte Kindheitserlebnisse als mögliche Ursache für meine nymphomanischen Tendenzen heran. Ich springe eilig von meinem Platz auf und flüchte in den Flur. Da die Gegensprechanlage stumm bleibt, öffne ich die Wohnungstür. Leuchtend grüne Augen, in einem von feuerrotem Haar umrahmten Gesicht, funkeln mich an.

Himmel! Wer ist denn das nun wieder?

»Oh, Frau DʼOrayla, nehme ich an«, grüßt mich die fremde Frau. Ihre Stimme klingt unnatürlich hoch.

»Ja, was kann ich für Sie tun?«, antworte ich mit zusammengekniffenen Augenbrauen. Obwohl sie freundlich lächelt, ist mir diese Person nicht geheuer. Jedes einzelne Härchen scheint an der dafür bestimmten Position fixiert worden zu sein. Sie steht mir in einem hauchdünnen, grün schillernden Stück Stoff gegenüber, das der Bezeichnung ›Kleid‹ aufgrund der knappen Maße nicht gerecht wird. Durch die gut zehn Zentimeter hohen Stilettos überragt sie mich um genau diese Länge.

»Da wir uns als neue Nachbarn jetzt sicher noch öfter über den Weg laufen werden, möchte ich mich Ihnen gerne vorstellen! Feodora Westfahl!«

Sie reicht mir eine Hand mit langen, grün lackierten Nägeln. Ich schüttele sie zögerlich, während ich versuche, die Person hinter der Maske auszumachen.

»Inea DʼOrayla«, antworte ich überflüssigerweise, weil sie mich ja bereits mit meinem Namen angesprochen hat. »Das bedeutet, Sie ziehen hier ins Haus ein? Sucht sich Herr von Steinberg eine neue Bleibe oder wurde das Dachgeschoss inzwischen ausgebaut?«

»Nein, Schätzchen, ich bin mit Leon Friedrich liiert.«

Oh, das ging aber schnell!

Noch letzte Woche war er mit Tina Besset zusammen und jetzt hat er schon wieder eine Neue. In jedem Fall scheinen Rothaarige sein Ding zu sein, genau wie überhebliche Partnerinnen, die mich herablassend behandeln. Das ›Schätzchen‹ stößt mir noch immer übel auf. Da wird mir plötzlich bewusst, dass es im Esszimmer ungewöhnlich still geworden ist. Wahrscheinlich lauschen sie alle mal wieder, was gerade an der Tür passiert. Ich blicke flüchtig über die Schulter und entdecke Tina und die Zwillinge im Türrahmen. Leons Ex-Freundin sieht aus, als hätte sie gerade einen sauren Hering mit Spülwasser verschluckt, wird aber gleich von zwei Seiten tröstend in die Arme geschlossen. Ich drehe mich wieder um und sehe, wie Feodora Westfahls Blick noch immer auf der Szene hinter mir ruht. Für einen Wimpernschlag verrät ihre Mimik so etwas wie Schadenfreude, dann wandert ihr Blick wieder falsch lächelnd zu mir. Damit bestätigt dieser zweite Eindruck auch den ersten: Egal, wie scheinfreundlich sich diese Frau gibt, ich werde ihr weder Vertrauen schenken noch sie mögen.

»Gut, wenn wir das geklärt haben, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag!«, sage ich, im Begriff die Tür zuzuschieben.

Aber so schnell gedenkt sich die neue Nachbarin noch nicht zu verabschieden.

»Frau DʼOrayla, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir auch noch die anderen Bewohner dieser Gemeinschaft vorzustellen? Man weiß doch immer gerne, wer mit einem unter demselben Dach lebet!«, flötet sie zuckersüß.

Am liebsten hätte ich ihr trotzdem die Tür vor der Nase zugeknallt, aber das würde sich dermaßen unhöflich anfühlen, dass ich dies nicht über mich bringe. Erziehung und Gewohnheiten gehen manchmal eben tiefer als man möchte. Also bewahre ich die Tür davor, ins Schloss zu fallen und ziehe sie wieder auf.

»Da muss ich erst Rücksprache halten, ob die Herrschaften dieser Wohngemeinschaft gewillt sind, unsere neue Nachbarin kennenzulernen!«, erkläre ich und schleiche mich damit aus der Verantwortung.

Wenn Tinas Verfassung die Zwillinge bislang daran gehindert hatte, Feodora eingehender zu betrachten, so siegt jetzt doch die übermächtige Neugier. Sogar Markus und Beata treten in den Flur und begutachten Leon Friedrichs Neue.

»Oh, Tina die Zweite!«, flötet Moritz nicht besonders taktvoll Tina gegenüber, aber im Grunde trifft er den Nagel auf den Kopf.

»Der arme Leon kann seine Tina wohl nicht vergessen und hat sich deshalb eine Kopie erstellen lassen!«, ergänzt Max.

So bissig hätte ich das nicht ausgedrückt, aber Feodora verzieht keine Miene.

»Oh, Sie sind sicherlich die berühmten Sitake-Zwillinge! Ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Und das Plakat für Ihre Aufführung ist Ihnen absolut göttlich gelungen!«, schmalzt sie die beiden Jungs zu.

Die Verblüffung in deren Gesichtern finde wiederum ich göttlich.

»Äh, tatsächlich?«, stammelt Max mit weit aufgerissenen Augen.

»Bruder, siehst du nicht das ironische Funkeln in ihren Pupillen? Sie gehört ganz klar zur Kategorie Barbiepuppe – außen Plastik, innen hohl!«, erklärt Moritz, während er seinem Bruder den Ellenbogen in die Rippen stößt, um ihn in die Realität zurückzukatapultieren.

»Ja, und wen haben wir da noch?«, flötet Leon Friedrichs Neue, als habe sie die Spitze der Zwillinge überhaupt nicht mitbekommen.

Tina antwortet darauf mit einer Geste, die mal wieder so gar nicht zu ihrem alten Ich gepasst hätte: Sie streckt Feodora garstig die Zunge heraus und verzieht sich dann ins Wohnzimmer. Markus und Beata starren Feodora Westfahl aus sicherer Distanz wortlos an und folgen dann Tinas Beispiel, indem sie sich ebenfalls zurückziehen, allerdings ohne zuvor die Zunge zu entblößen.

Max und Moritz mustern unterdessen jeden Quadratzentimeter von Feodora akribisch, während sie darüber diskutieren, ob das grüne Kleid auch als Tank-Top durchgehen könnte. All das lässt Leons Neue völlig unbeeindruckt über sich ergehen. Stattdessen blitzt sie mich feurig an, als ich mich wieder zu ihr umdrehe.

»Ihnen gehört diese Wohnung?«

Ach nee, geht das jetzt schon wieder los?

»Ja, genau, aber sie ist unverkäuflich!«

»Darauf wollte ich gar nicht hinaus, Frau DʼOrayla«, zwitschert Feodora erstaunt.

»Dann ist ja gut! Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe noch etwas zu erledigen! Auf Wiedersehen!«, sage ich ohne Luft zu holen und schließe rasch die Tür, bevor sie mich in weitere Gespräche verwickeln kann.

Dann erst atme ich geräuschvoll aus.

»Ob sie morgen auch zu unserer Vorstellung kommen wird?«, überlegt Max.

»Die Frage ist doch eher, ob wir ihr Eintritt gewähren«, erwidert sein Bruder.

»Ein-Tritt gegen ihr Schienbein gewähren wir ihr auf jeden Fall«, kontert Moritz.

»Lasst gut sein, Jungs, irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sie kommen wird. Sie wollte sich wahrscheinlich nur einschleimen, warum auch immer.«

Die Zwillinge und ich kehren ins Esszimmer zurück, um gemeinsam den Tisch abzuräumen. Nach getanem Abwasch finde ich Beata und Markus nebeneinandersitzend auf der Wohnzimmercouch vor. Die beiden sind in ein Gespräch vertieft, das ich nicht stören möchte, insbesondere weil ich die Worte ›Baby‹ und ›Chris‹ heraushöre. Noch haben sie mich nicht bemerkt und da auch von Tina nichts zu sehen ist, verkrümele ich mich in mein Zimmer. Aber auch hier bin ich nicht allein, denn Flocke taucht plötzlich auf und macht sich ein Spiel daraus, die flauschigen Hausschuhe an meinen Füßen zu fangen, als wären es Mäuse. Ich ziehe sie lachend in die Höhe, um den kleinen Krallen zu entkommen und flüchte mich dann auf meine Couch. Von hier aus werfe ich die Hausschuhe dem Kätzchen zu, damit Flocke sie als Spielbälle benutzten kann.

Meine Gedanken wandern zu der neuen Nachbarin. Ein dumpfes Gefühl in meiner Magengrube lässt mich erahnen, dass mit ihr mindestens so viele Probleme auf mich zukommen werden, wie mit Tina Besset vor ihrer Verwandlung. Ob auch sie verschwinden wird und dann geläutert zurückkehrt? Die ganze Geschichte ist mir noch immer unheimlich.

Maja

Der Wind frischt auf und zerzaust ihr kurz geschnittenes Haar. Maja liebt diesen Ort auf dem Balkon hoch über dem Meer. Man fühlt sich verbunden mit den Naturgewalten und gleichzeitig erhaben beim Anblick über die Weite des Ozeans.

Ein tiefer Seufzer entfährt ihr, die Grübeleien über Ramón beschweren ihr Herz. Er wird verurteilt werden, da ist sich Maja sicher. Dann wird sie ihn für lange Zeit nicht mehr sehen können. Dies löst äußerst zwiespältige Gefühle in ihr aus. Einerseits bedeutet der Abstand ein Stück Freiheit und Unabhängigkeit – sie muss sich nicht länger damit auseinandersetzen, wie sie ihm gegenübertreten soll oder innere Kämpfe mit sich ausfechten, wie weit sie ihm nachgibt – auf der anderen Seite versetzt es ihr einen schmerzhaften Stich, ihn in weiter Ferne zu wissen. Die Vorstellung, er könnte für viele Jahre verbannt werden, verursacht gar eine beklemmende Enge in ihrer Brust. Sie kann das wohlige Gefühl einfach nicht vergessen, das ihr seine Nähe gibt, selbst wenn sie sich immer wieder dagegen zur Wehr zu setzen versucht. Diese sehnsuchtsvollen Augen, mit denen er sich in ihren verliert, die sanften Berührungen, die darauf bedacht sind, ihr keinesfalls zu nahe zu treten – so widersinnig es auch erscheinen mag, aber in seiner Gegenwart fühlt sie sich beschützt und behütet, da mag ihr klarer Verstand noch so heftig dagegen rebellieren.

»Maja!«, flüstert Ramóns Stimme zärtlich.

Es klingt so fern und sanft im Rauschen des Windes, dass sie schon glaubt, es sich eingebildet zu haben, aber ein warmer Atemhauch streift ihre Wange und eine Hand legt sich zaghaft auf ihre Schulter. Sie wagt nicht, ihn anzusehen, in der Furcht, ihre Gefühle nicht mehr im Zaum halten zu können. So schließt sie die Augen, lauscht den Wogen des Meeres, den Schreien der Möwen und dem Wind.

Aber macht es wirklich Sinn, diese letzten Stunden mit inneren Kämpfen zu vergeuden? Nur ein einziges Mal vor einem Abschied, der vielleicht sogar für immer währt, sollte sie vielleicht herausfinden, wie es sein könnte, wenn es diesen inneren Krieg nicht gäbe, so als ob sie Ramón erst hier auf der Burg kennengelernt hätte … Er wird für lange Zeit verschwinden, vielleicht für viele Jahre … Was wäre, wenn sie diesen letzten Moment nutzen, seine Nähe auskosten würde, ohne Reue?

Ganz langsam wendet sie sich zu ihm um, sieht ihn an und forscht in seinen dunklen Augen nach einer Antwort auf diese stumme Frage. Die tiefe Zuneigung, die sie darin findet, lässt Maja erzittern. Er rührt sich nicht von der Stelle, wahrt ausreichend Abstand, damit sie sich nicht bedrängt fühlt. Die Gewissheit, dass er sich ihr nicht von sich aus nähern würde, verleiht ihr wohltuende Sicherheit. Dieses schöne, männliche Gesicht ist nur seine attraktive Fassade, denn in diesen dunklen Augen spiegelt sich ein weit kostbarerer Schatz. Obwohl sie spürt, dass keine Zauberei im Spiel ist, fühlt sie sich magisch angezogen von Ramón.

Nur ein einziges Mal … flüstert eine verführerische Stimme in ihrem Kopf.

Maja tritt zitternd auf den Schattenmagier zu, schlingt ihre Arme um ihn und küsst ihn kaum spürbar auf die Lippen. Er versteift sich vor Überraschung. Doch dann schließt er die Lider und erwidert diesen Kuss vorsichtig und unter schweren Atemzügen. Ramón gibt ihr das Gefühl, nie etwas Besseres, Sinnlicheres gekostet zu haben und zieht sie damit in seinen Sog. Einen Herzschlag lang wäre sie sogar bereit gewesen, in diesem Strudel zu ertrinken.

Ramón

Majas Lippen liegen sanft auf den seinen. Ramón schließt die Augen im Wunsch, nichts anderes mehr wahrzunehmen, als die Wärme ihres Körpers, keine Gerüche mehr zu inhalieren, als den ihrer Haut.

Ich kann es nicht glauben! Die Frau, die mein Herz zum Brennen bringt, küsst mich von sich aus, ohne jegliche Magie.

Das Herz donnert in seiner Brust. Doch dann geschieht etwas, das sich seiner Kontrolle entzieht. Majas Nähe und dieser himmlische Kuss überfluten Ramón mit so viel sinnlichen Reizen, dass sich die intensiven Gefühle ein Ventil in seiner Magie zu suchen drohen. Doch das darf er ihr keinesfalls antun, niemals wieder und schon gar nicht jetzt, wo sie ihm so viel Zuneigung und Vertrauen schenkt. Energisch schiebt er die Hellmagierin von sich, stützt sich schwer atmend auf die steinerne Brüstung des Balkons.

»Ich-ich kann es nicht kontrollieren, Maja!«, keucht Ramón mühsam. »Deine magische Ausstrahlung … deine Nähe, dieser Kuss … ich will es nicht, verstehst du, aber meine Magie verselbständigt sich … und … aaah!«

In diesem Moment geschieht es. Der Kampf gegen die Emotionen haben Ramón geschwächt und die Verwirrung seiner Gefühle das Gleichgewicht zum Kippen gebracht. Ein starker sexueller Impuls verlässt ihn und springt auf Maja über, die nun heftig keuchend ausgerechnet an ihm Halt sucht, ihn seitlich umschlingt.

»Ramón!«, haucht sie so sehnsuchtsvoll, dass er nicht zu erkennen vermag, ob die Ursache dafür lediglich in seiner Magie liegt, sie ihn aber in Wahrheit verteufelt.

Entsetzen, Angst, Lust, Schuldgefühle, Liebe, Schmerz, all das mischt sich und verschärft die unkontrollierten Wallungen seiner Magie. Er versucht, sich von Maja loszureißen, während sich ein weiterer Impuls zusammenbraut. Doch statt von Ramón abzulassen, drängt Maja sich vor ihn, schmiegt ihre Mitte genau an die Stelle seines Körpers, die beinahe zu bersten droht, ihn schier in den Wahnsinn treibt, die Härte, die ihn unerträglich zur Erfüllung drängt. Der nächste Impuls sexueller Magie reißt ihn selbst gleichermaßen in den Abgrund wie die Hellmagierin. Unwillkürlich erwidert er ihren Druck, schiebt ihr seine Lenden entgegen, in dem sinnlosen Versuch, durch den Stoff bis zu ihrem Inneren vorzudringen. Sich letztendlich dem anderen hinzugeben, erscheint unvermeidlich. Es gibt kein Entrinnen.

Nein! Nein! Nein! Nicht so! Ich lasse nicht zu, dass es geschieht, ganz gleich, wie wild sie mich überfällt! Es darf nicht mehr von Magie beeinflusst sein, nicht bei Maja!

Trotz höchster Erregung reißt sich Ramón grob aus ihrer Umklammerung und stürzt vom Balkon, flüchtet ins Innere der Burg. Er stürmt keuchend die Gänge entlang, kämpft gegen die überschwappenden Wellen seiner Magie.

Maja

Maja beugt sich schwer atmend übers Geländer und schließt die Augen.