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SchneeFlockenBlüten
Maja ignorierte die misstrauischen Blicke auf ihre Kleidung, ließ sich einfach treiben, fort vom Kai und den anderen, die sie weder verstanden noch mochten. Plötzlich hielt sie vor einer engen, düsteren Gasse inne. Ein modriger Geruch stieg in ihr auf, eigentlich kein Ort zum Verweilen und doch zog es Maja magisch dort hinein. Hinter den zerbrochenen Fenstern und halb kaputten Holztüren schien niemand mehr zu wohnen. Das wunderte Maja wenig, denn auf die Gasse hatte man ein großes Haus draufgesetzt, sodass kaum Tageslicht das brüchige Pflaster erreichte. Lediglich eine Laterne spendete gelbes Licht. Dicke grüne Käfer hielten dies wohl irrtümlich für die Farella, denn sie donnerten surrend immer wieder dagegen, prallten ab und umkreisten die Laterne, um erneut dagegen zu stoßen. Dieses Bild nahm Maja auf eine seltsame Weise gefangen, als sich plötzlich von hinten eine kräftige Pranke auf ihren Mund legte, wobei sie der Unbekannte gleichzeitig gegen seinen sich muskulös anfühlenden Leib presste...
Bunte All Age Fantasy, angereichert mit Magie und gewürzt mit Romantik, empfohlen ab zwölf Jahren.
Fabolon
Band I – FarbelFarben
Band II – Goldenes Glück
Band III – StaubNebelNacht
Band IV – RostRoter Rubin
Band V – SchneeFlockenBlüten
Band VI – BlauVioletter Engel
In der gleichen Welt:
Romantasy
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Band I – Die Magie der Glanzlichter
Band II – Die Magie der Goldwinde
Band III – Die Magie der Lichtkristalle (Finale)
Flammentanz
Band I – Funken
Band II – Flammen
Band III – Feuer
Band IV – Brand
Band V – Glut (Finale)
Nacht der Lichter
Band I – Leiser Strom
Band II – Novisapiens
Band III – Gewittermacht
WandelTräume
Ein außergewöhnliches Jugendbuch
Seelenfeuer
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
FABOLON
SchneeFlockenBlüten
Isabella Mey
Band V
Erde, Frankfurt, Freitag, 11. Januar
Die Morgendämmerung tauchte das Zimmer in schummriges Licht, als Richard erwachte. Nach den vielen Abenteuern auf Fabolon konnte er kaum noch unterscheiden, was sich mehr nach einem Traum anfühlte: Das, was er monatelang auf dem fremden Planeten erlebt hatte, Helen, die noch immer neben ihm im Bett schlief, das ungeheuerliche Geständnis, welches sie ihm gemacht hatte oder die bunten Farbelwesen, die ihm gerade noch in seinen Träumen in den Allerwertesten gepikt hatten.
Ihr Geständnis wirkte noch immer so unwirklich auf Richard, dass er Schwierigkeiten hatte, es der Realität zuzuordnen. Der Rektor versuchte, sich Helen vorzustellen, wie sie aufreizend am Straßenrand stehend einem Autofahrer zuwinkte, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen, dieses Bild mit der Frau neben ihm zu vereinen. Entweder hatte er sich unter den »Leichten Mädchen« etwas völlig Falsches vorgestellt, oder Helen hatte sich stark verändert. Tatsächlich zog sie sich nie besonders aufreizend an, trug im Sommer fast ausschließlich lange Kleider und ging mit Makeup und Schminke recht sparsam um, wenn sie nicht ganz darauf verzichtete. Das hatte Richard schon immer gut gefallen, doch mit der neuen Erkenntnis betrachtete er es nun unter einem ganz anderen Gesichtspunkt: Wahrscheinlich wollte sie auf keinen Fall eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit herstellen und auch sonst bei niemandem einen derartigen Eindruck erwecken.
Helen ruhte seitlich mit dem Rücken zu ihm, sodass er nur ihren blonden Schopf erkennen konnte. Sachte richtete er sich auf, stützte die Wange mit der Hand seines angewinkelten Arms. So erhaschte er einen besseren Blick auf ihr Gesicht: Leicht verschwitzt schlängelten sich die blonden Haarsträhnen über ihre geröteten Wangen.
Auf einmal wurde ihm schrecklich heiß in seinem braunen Schlafanzug und zusammen mit ihr im Federbett. Tief durchatmend schlug er die Decke zur Seite. Besser er erhob sich, um schon mal das Frühstück vorzubereiten. Schließlich war heute ein Schultag, daher war Eile geboten.
Noch während er das Zimmer verließ, schrillte der uralte Wecker auf dem Nachttisch und schreckte Helen aus dem Schlaf. Gerne hätte Richard ihr dieses jähe Erwachen erspart, doch auch die Lehrerin mochte sicher nicht zu spät in der Schule erscheinen.
»Richard?« Er hörte, wie sie sich schlaftrunken reckte und lugte noch einmal zurück ins Zimmer.
»Guten Morgen«, wünschte er so unbefangen, wie irgend möglich.
Helen schob ihre Beine aus der Decke, während sie ihn mit flehendem Blick musterte.
Wie ist es möglich, dass diese Augen so unbedarft und unschuldig dreinblicken, nachdem sie derartige Abgründe erblickt haben?
Diese Frage wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen.
»Wa-was ich dir gestern erzählt habe …« Sie schluckte heftig und senkte den Blick zu ihren nackten Zehen. »Ich-ich schäme mich so dafür …«
»Gräme dich nicht weiter …«, winkte er ab.
»Du-du behältst das doch für dich …?«
»Also, Helen, …« Beleidigt schnappte er nach Luft. »… selbstverständlich werde ich dein Geheimnis wahren. Von mir wird keine Sterbensseele etwas davon erfahren.«
»Jaja, ich weiß natürlich, dass ich dir da vollends vertrauen kann. Ich fühle mich nur plötzlich so verwundbar, so furchtbar verletzlich, weil du nun mein dunkelstes Geheimnis kennst.« Sie atmete langsam tief durch und bedachte ihn abermals mit diesem flehenden Blick.
»Das verstehe ich nur zu gut, doch sei unbesorgt, niemals werde ich diese Informationen weitergeben oder gegen dich verwenden.« Er trat auf sie zu, um sich neben ihr aufs Bett zu setzen. Helen schmiegte sich an ihn, lehnte ihre heiße Wange an seine Schulter.
»Du bist so gut zu mir, Richard. Ich weiß gar nicht, womit ich das verdient habe …«, schniefte sie gerührt und schob einen Arm um seine Hüfte.
Sein Herz donnerte ihm bis zum Hals. Ihr so nah zu sein, war mehr als er je zu hoffen gewagt hatte. Es bedeutete einen Himmel voller Geigen und doch nagte da der kleine Teufel in seinem Hinterkopf, der ihn immer wieder darauf aufmerksam machte, dass sie nicht das unschuldige Lämmchen war, für das er sie immer gehalten hatte.
Hat das wirklich eine Bedeutung?
Diese Frage konnte er sich einfach nicht endgültig beantworten. Was er aber deutlich fühlte, war das Herz, das ungestüm in seiner Brust flatterte. Er liebte dieses Wesen viel zu sehr, um sich ihr zu entziehen, doch gleichzeitig schlichen sich ungebetene Szenen in seinen Geist, von einer Zeit, als seine geliebte Helen eben nicht die Seine war …
Abrupt erhob er sich, wobei er sich aus ihrer Umarmung löste.
»Wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir noch zu spät zur Schule.«
Richard wagte nicht, ihr enttäuschtes Gesicht anzusehen, stattdessen räusperte er den Frosch aus seiner Kehle fort.
»Ähm, ja, du hast Recht. Es wird Zeit für die Schule …«, erwiderte sie mit belegter Stimme.
Im Türrahmen angekommen warf er einen Blick zurück. »Tee oder Kaffee?«
»Heute nehme ich einen starken Kaffee, wenns recht ist.« Ihre Augen schimmerten feucht, obgleich die Stimme gefasst klang.
Zu gerne hätte er Helen getröstet, aber gerade konnte er es nicht. Richard musste sich eingestehen, dass er noch längst nicht das Ausmaß dessen erfasste, was diese neue Information in ihm ausgelöst hatte. Wie gerne hätte er einfach darüber hinweggesehen und dem keinerlei Bedeutung beigemessen, doch es ließ sich einfach nicht leugnen: Ihre Vergangenheit war ein Teil von ihr und er musste erst noch lernen, ihn zu akzeptieren. Und schon jetzt sah es sehr danach aus, als könnte er ihr diesbezüglich nichts vormachen, worauf sie verständlicherweise verletzt reagierte.
* * *
Tagträume und Grübeleien hielten Maja an diesem Abend noch lange wach. Und der kurze Schlaf, in den sie spät nachts schließlich versank, endete bereits in den frühen Morgenstunden. Auch wenn ihr der Verstand klarmachte, dass sie sich Dario aus dem Kopf schlagen musste, spürte sie noch immer seinen Kuss auf ihren Lippen und den feuchten Sand zwischen ihren Zehen.
Eigentlich war es Felix gegenüber unfair, dass sie fortwährend von einem anderen schwärmte und nicht zum ersten Mal hatte sie ihn sogar geküsst. Doch allein bei der Vorstellung, Felix die Sache zu beichten, wurde ihr elend ums Herz.
Bestimmt macht er dann sofort Schluss. So zickig und eifersüchtig, wie ich mich in der letzten Zeit verhalten habe, wartet er bestimmt nur darauf, dass ich ihm einen solchen Grund liefere …
Ach, dann sei doch froh! Um den ist’s doch nicht schade … meldete sich Kiro nach langer Zeit mal wieder.
Ach so? Gibt’s dich auch noch? Ich dachte schon, du hast deine Sprache verloren.
Neee, ich habe schon immer wieder geredet, aber inzwischen mache ich das so geschickt, dass du es für deine eigenen Gedanken hältst.
Dieses Geständnis versetzte Maja einen Schock und sofort ging sie fieberhaft alle kritischen Selbstgespräche durch, die womöglich gar nicht ihr eigenes Produkt gewesen waren.
Meine Eifersuchtsanfälle? Hast du mich etwa dazu gebracht, du blöde Echse?, fauchte sie zornig.
Ha! Mach dir bloß keine Hoffnungen, dass du das auf mich abwälzen könntest. Das warst du schon selbst. Nein, es sind die unscheinbaren Gedanken, die ich dir einflöße, erst mal nur zum Test, aber irgendwann wirst du nicht mehr unterscheiden können, was du bist und was ich …
Dieses fiese Geblubber konnte Maja nicht länger mitanhören. Aufgebracht fuhr sie hoch.
Ich glaube dir kein Wort. Du würdest mir von diesen Plänen gar nichts verraten, wenn du ernsthaft planen solltest, mich damit zu steuern. Folglich willst du mir einfach nur Angst einjagen.
Na, wenn du da so sicher bist, kannst du dich ja gemütlich wieder ins Bettchen legen und weiterschlafen, kicherte Kiro hämisch.
Tatsächlich ließ sich Maja zurück ins Kissen fallen, doch von Entspannung konnte keine Rede sein. In ihrem Hirn arbeitete es fieberhaft. Keinesfalls sollte sie diese Echse unterschätzen. Hatte sie zu Beginn noch recht kindlich naiv gewirkt, wurde sie jetzt zunehmend hinterhältiger und gewitzter. Und wenn man bedachte, dass sie außerdem die Macht besaß, sie zwischen den Welten hin und her zu teleportieren, wäre es ziemlich dumm, sich mit ihr zu streiten.
Du bist ein Echsentattoo auf meiner Haut, da sollten wir doch besser am selben Strang ziehen, findest du nicht?, nahm Maja erneut das Gedankengespräch auf.
Strang! Stränge kann ich nicht ausstehen und solange du die Macht deiner schwarzen Magie nicht ausleben willst, hast du auch kein Recht auf die Unterstützung der schwarzen Echse. So einfach ist das.
Klar und wie stellst du dir das dann vor? Ich lasse mal hier mal da ein paar Menschen erstarren, wie ich gerade Lust habe?
Ja, warum nicht? Ich verstehe gar nicht, wo dein Problem ist.
Du hast scheinbar überhaupt kein Gewissen. Tun dir die erstarrten Menschen denn nicht leid?
Nein, warum denn? Und so ein Gewissen scheint ja doch ziemlich hinderlich zu sein.
Maja schüttelte den Kopf. Wie sollte sie ihrer Echse etwas beibringen, wofür diese offenbar überhaupt kein Gefühl hatte?
Und was, wenn die Magie richtig stark wird? Dann bringe ich damit vielleicht sogar Menschen um.
Na und? Um die ist es nicht schade. Außerdem würde dir versehentlich nichts passieren, wenn du die Magie beherrschen könntest und das kannst du nur, wenn du damit übst.
Zumindest beim letzten Punkt war etwas Wahres dran. Aber die Gefahr, jemanden bei diesen Übungen versehentlich zu töten, konnte Maja natürlich nicht so leicht abtun wie Kiro.
Gibt es denn überhaupt jemand, der dir etwas bedeutet oder sind dir alle Lebewesen egal?
Ein leeres Schweigen hüllte ihren Geist ein.
Was wäre, wenn ich sterben würde?, hakte sie nach.
Obwohl Kiro weiterhin stumm blieb, konnte sie nun doch ein Unbehagen bei ihm wahrnehmen.
Na, immerhin.
* * *
Ein Blockflötenkonzert von Telemann riss Lisa jäh aus dem Schlaf. Mechanisch patschte sie mit der Hand auf ihren Radiowecker, um die Musik abzustellen, wobei sie blinzelnd die grün leuchtenden Ziffern registrierte.
Ich bin wieder zu Hause in meinem Zimmer?
Schlaftrunken richtete sich Lisa auf. Sie musste den Weltensprung vom Bett in der Jakeiter-Burg in ihres auf der Erde komplett verschlafen haben.
»Wieder auf der Erde«, wiederholte sie das Offensichtliche noch einmal laut, um diese neue Situation sacken zu lassen.
Hier gibt es keinen Feuerdrachen Rubin, keine Jakeiter, keinen Nio und keine Farbelwesen.
Auf der Bettkante sitzend, bemühte sich Lisa, all die Dinge, die sie während der letzten Monate beschäftigt hatten, in der hintersten Ecke ihres Geistes zu verstauen. Stattdessen traten an deren Stelle andere Themen hervor: Julio, der neue Freund ihrer Mutter und Tim, den sie nun schon mehr als einmal geküsst hatte. Aber im Moment wollte Lisa an keinen von beiden denken. Auch wenn sie Tim sehr mochte, stand ihr nach den Fabolon-Erlebnissen nicht der Sinn nach einer Beziehung. Und der Gedanke an Julio verursachte eher Brechreiz als gute Gefühle. Am liebsten hätte sich Lisa wieder in ihrem Bett verkrochen, doch der Wecker hatte ja nicht zufällig geläutet.
»Welchen Tag haben wir heute überhaupt?«
Seufzend erhob sie sich und knipste das Licht an, um den Kalender zu studieren: Freitag, 11. Januar – ein ganz normaler Schultag also.
Gähnend öffnete sie ihre Zimmertür in dem Moment, als Julio, bekleidet mit einer knackig engen Boxershorts, durch den Flur aufs Bad zutrabte.
»Hola chica!«, grüßte er gut gelaunt, während Lisa ihre Tür schon wieder zuknallte und sich mit dem Rücken dagegenstemmte.
Nein, damit würde sie sich sicher nie anfreunden können, dass dieser Typ hier halbnackt durch die Gegend lief.
Sie atmete tief durch, was jedoch eine heiße Flamme aus Mund und Nase züngeln ließ. Vor lauter Schreck erbrach sie sich in einem Husten, der das Problem jedoch noch verschlimmerte und den Teppich in Brand setzte. Geistesgegenwärtig sprang Lisa zu ihrem Bett und schwang ihre Zudecke über die lodernden Flammen. Damit hatte sie das Feuer zwar erstickt, doch nun qualmte und stank es fürchterlich.
»Mist! Mist! Mist!«, schimpfte Lisa. Sie eilte zum Fenster, um frische Luft hereinzulassen.
Nachdem sie auf Fabolon Fuega, das rote Farbelwesen berührt hatte, hatte Lisa genau wie Richard die Fähigkeit erhalten, Feuer zu speien. Allerdings war es ihr auf Fabolon nicht passiert, dass sich die Gabe unkontrolliert entlud. Wahrscheinlich lag es aber auch daran, dass es dort keinen Julio gab, über den sie sich aufregen konnte.
Als sich der Qualm etwas gelegt hatte, hob Lisa ihre Decke an, um das Desaster zu begutachten: Den Teppich zierte eine schwarze, kreisförmige Kruste, außerdem stank es bestialisch. Das würde man nicht so leicht ausbessern können, daher sah sich Lisa nach etwas um, um den Schandfleck zu verdecken und landete bei ihrem Flokati. Kurzerhand zog sie den kleinen flauschigen Teppich über die schwarze Verkrustung, die der Brand hinterlassen hatte. Die Zudecke hatte ebenfalls gelitten: In der rußigen Schicht klebten schwarze, harte Krümel der Brandreste. Der Bezug musste auf jeden Fall gewechselt werden.
Als das schließlich getan war, sah es schon wieder ganz ordentlich in ihrem Zimmer aus. Nur der Brandgeruch hielt sich trotz des offenen Fensters hartnäckig.
Oh, verflixt, was für ein Morgen …
Lisa ließ sich entkräftet auf ihrem Bett nieder, als ihr Blick den Radiowecker streifte.
Mist! Schon so spät …
Nachdem sie sich eilig angezogen hatte, rannte sie die Treppe hinunter – im Bad rauschte noch immer die Dusche. Sie nahm sich einen Apfel und eine Banane als Wegzehrung aus der Obstschale vom Wohnzimmertisch, als Mama aus der Küche lugte. »Guten Morgen, mein Schatz! Magst du nicht mit uns frühstücken?«
»Nein«, antwortete Lisa auf dem Weg Richtung Eingangstür.
»Jetzt warte doch mal! Ich bekomme dich ja kaum noch zu Gesicht …«
»Dieser Julio läuft hier halbnackt vor meinem Zimmer herum!«, brach es aus Lisa heraus, doch dann hielt sie erschrocken inne und versiegelte Lippen und Nasenlöcher mit den Händen, denn sie spürte förmlich, wie sich ein neuer Feuerschwall ankündigte.
»Was hast du? Ich finde es wirklich gut, wenn du sagst, was dir auf dem Herzen liegt, das muss dir nicht peinlich sein«, missverstand ihre Mutter die Geste. »Ich verstehe ja, wenn dir so was unangenehm ist. Dann werde ich Julio eben bitten, dass er sich nur noch angezogen durch den Flur bewegt.«
»Hm, ja«, brummte Lisa, wobei sie vorsichtig durch die Nase zu atmen begann.
Gerne hätte sie ihrer Mutter noch mehr um die Ohren geworfen, was ihr alles an Julio nicht passte, aber zum einen hatte sie es eilig, in die Schule zu kommen, zum anderen fürchtete sie sich vor erneuten Stichflammen.
»Cara mia! Wo ist die Handtuch?«, rief Julio von oben, was Lisa zum Anlass nahm, ihre Jacke vom Haken zu reißen und mit der Schultasche im Schlepptau nach draußen zu verschwinden.
»Viel Spaß in der Schule!«, rief ihre Mama noch nach.
»Danke. Tschüss«, grummelte Lisa, aber da war die Haustür sowieso schon ins Schloss gefallen.
* * *
Gedankenverloren schlenderte Felix inmitten eines Schülerstroms auf dem Gehweg entlang, als er Maja unvermittelt einige Meter vor ihm erspähte. Doch statt zu ihr aufzuschließen, duckte er sich unwillkürlich und ließ sich ein wenig zurückfallen.
Seine launische Freundin hatte ihn in der letzten Zeit mit ihren Eifersuchtsattacken dermaßen drangsaliert, dass es ihn eher von ihr fortzog als zu ihr hin. So sollte das natürlich nicht sein, wenn man sich liebte.
Konsequenterweise müsste ich mich eigentlich von ihr trennen …
Und gleichzeitig schockierte ihn sein eigenes Verhalten.
Das geht gar nicht!, schalt er sich selbst.
Schließlich war ihm klar, wie sehr Maja unter der Wirkung ihrer schwarzen Magie zu leiden hatte und als ihr Freund sollte er ihr beistehen, statt sich von ihr zu distanzieren. Wenn er sich die Sache umgekehrt vorstellte, dass seine Echse die dunkle Magie erhalten hätte … Dieser ständige Kampf mit den inneren Dämonen, eine fiese Echse, die einen zu manipulieren versuchte, Freunde und Fremde, die sich von einem abwandten – nein das wäre absolut kein Vergnügen.
Ich muss zu ihr stehen und sie unterstützen.
»Da ist er! Komm, trau dich!« Die Worte seiner Schwester rissen Felix aus der Versenkung. Eine rot gelockte Freundin im Schlepptau steuerte Lilli geradewegs auf ihn zu, noch bevor er den Eingang zum Schulgebäude erreicht hatte.
»Jetzt warte doch mal, Felix! Ich will dir jemanden vorstellen.« Lilli gab ihrer Freundin einen Schubs, sodass diese ihm direkt vor die Füße stolperte. Felix stoppte abrupt und stemmte sich dabei gegen die nachrückenden Schüler, um nicht mit ihr zusammenzustoßen. Dabei stieß er ein vorwurfsvolles »Hey!« aus.
Das Gesicht des Mädchens glühte so intensiv rot, dass man die Haut kaum mehr von den Haaren unterscheiden konnte. Schuldbewusst schielte sie zu ihm auf, um sich gleich darauf mit heiserer Stimme an Lilli zu wenden: »Spinnst du?«
Rechts und links strömten Schüler an ihnen vorbei ins Gebäude hinein.
»Das ist Klara«, stellte Lilli vor, ohne auf die Vorwürfe einzugehen. »Sie hat auch eine Boa zu Hause und liebt Tiere, so wie du. Ich habe sie heute zu mir eingeladen. Bestimmt darf meine Freundin doch mal Aphrodite auf den Arm nehmen und …«
»Nein! Und jetzt geht mir aus dem Weg!«
Während sich Felix an den Mädchen vorbeidrängte, registrierte er noch, wie Klara merklich enttäuscht den Blick senkte. Im Grunde tat ihm sein ruppiges Verhalten leid, denn schließlich galt sein Ärger nicht ihr, sondern seiner vorlauten Schwester Lilli. Was fiel ihr aber auch ein, ihn mitten auf dem Schulweg mit einem fremden Mädchen zu überrumpeln. Es sah deutlich danach aus, als wollte sie ihre Freundin mit ihm verkuppeln und das, obwohl sie doch genau wusste, dass er mit einer anderen zusammen war.
Kaum betrat Felix das Gebäude, erspähte er Maja, die neben der Glasfront stehengeblieben war und zu ihm herüberschaute. Wahrscheinlich hatte sie den kleinen Zwischenfall von drinnen beobachtet. Felix, der Lilli und Klara noch förmlich in seinem Rücken spürte, steuerte Maja direkt an und zog sie in seine Arme.
»Hey … Wie geht’s?«, flüsterte er ihr ins Ohr, während er sie sanft hin- und herwiegte.
Unter Schütteln schmiegte sich Maja an ihn und doch schien sie seine Geste zu absorbieren, wie ein ausgetrockneter Schwamm.
»Geht schon … War alles viel in letzter Zeit«, wisperte sie. »Danke, dass du es mit mir aushältst.« Majas einst so fröhlicher Ausdruck war von einer Schwere gezeichnet, die auf ihrer Seele zu lasten schien.
»Gern geschehen.« Er fuhr ihr übers Haar, dann schob er sie an der gläsernen Front entlang, in einen Winkel, wo es etwas ruhiger zuging. Hier zog er sie abermals in die Arme und küsste sie zärtlich. Genau an dieser Stelle hatten sie auch bei ihrem allerersten Kuss gestanden. Die Erinnerung an die Gefühle damals, an die Leichtigkeit und das aufgeregte Kribbeln schwappten über ihn hinweg. Genüsslich schloss Felix die Lider, während er in längst vergangenen Szenen schwelgte. Maja erging es ähnlich, sie schob alles Störende beiseite und ließ sich einfach nur von den wiederauflebenden Gefühlen für Felix treiben. Wie gefangen in dieser Blase vergaßen die beiden fast, wo sie sich befanden. Die Flure leerten sich zusehends, doch erst, als der Gong läutete, fuhren die beiden auseinander.
»Die Stunde fängt an …«, bemerkte Felix grinsend und zog Maja mit sich fort, die Stufen hinauf.
»Ach, am liebsten würde ich noch mal ganz von vorne anfangen«, seufzte Maja. »Geht’s dir manchmal nicht genauso?«
»Du meinst, alles vergessen, was mit dunkler Magie und Fabolon zu tun hat?«
»Ja, am liebsten würde ich alles ausblenden, wenigstens so lange wir hier sind …«
»Ich kann dich gut verstehen. Wir könnten es versuchen …« Felix schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, was sich trotz ihrer aufeinandergepressten Lippen in Majas Augen widerspiegelte. Mittlerweile hatten sie das Klassenzimmer erreicht.
»Ach, da kommt ja noch jemand …« Frau Kassandra, die im Begriff war, die Tür zu schließen, erspähte gerade noch das Pärchen auf dem Gang und ließ die beiden ein.
Erde, Schule, Frankfurt, Freitag, 11. Januar
Für Lisa, Maja und Felix war der Alltag zurückgekehrt und es fühlte sich erstaunlich normal an, so als hätte es Fabolon nie gegeben. Mittlerweile hatten sich die Erdoni daran gewöhnt, die Welten zu wechseln und eine Art Automatismus entwickelt, die jeweils andere völlig auszublenden, als wäre man aus einem Traum erwacht. Nur die Magie und die Echsen-Tattoos bezeugten, dass es sich eben doch um Realität handelte.
Während Maja und Felix ihr Bestes gaben, dem Unterricht zu folgen, schweiften Lisas Gedanken mal wieder quer durch die Gegend:
Wie es Papa und Cecilie mit dem Baby wohl ergeht? Ich werde nach der Schule mal wieder anrufen. Wie soll ich es nur mit diesem Julio aushalten? Hoffentlich bekommt Mama bald genug von ihm.
Da wandte sich Tim am Tisch davor zu ihr um und blinzelte ihr mit beiden Augen zu. Lisa schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. Sie mochte ihn und wollte ihn einerseits nicht zurückweisen, andererseits war sie sich nicht ganz klar über ihre Gefühle. Nio war zwar auf mehreren Ebenen unerreichbar, doch hinderte das ihr Herz nicht daran, heftig zu klopfen, wenn sie nur an ihn dachte. Auf dieser Basis war es nicht einfach, sich auf etwas anderes einzulassen. Und da war sie schon wieder beim anderen essentiellen Thema angelangt, um das ihre Gedanken nun Kreise drehten: Nio und Tim.
Die Stunde plätscherte so dahin, als plötzlich jemand an der Tür klopfte. Die Sekretärin streckte den Kopf herein: »Ähm, Frau Kassandra, da ist ein wichtiger Anruf vom Marien-Hospital für Sie …«
Das Gesicht der Lehrerin erbleichte merklich, als sie mit zittriger Stimme fragte: »Was ist passiert?«
»Ich weiß es selbst nicht …« Die Sekretärin zuckte unglücklich mit den Schultern.
»Ich komme!« Eilig marschierte Fräulein Kassandra zur Tür, bevor sie sich nochmal umwandte: »Äh, macht solange die Aufgabe vier auf Seite 56.«
»Kommst du mit, Mäuschen spielen?«, wisperte Tim Felix zu.
»Okay, dann los!« Die beiden Jungs sprangen auf, liefen zur Tür und spähten auf den Flur hinaus.
In Felix’ Brust pochte es aufgeregt. Dies war zwar kein Vergleich zu den Abenteuern auf Fabolon, aber die Aktion, brachte wenigstens ein wenig Abwechslung in den schnöden Schulalltag. Kaum waren die beiden Frauen hinter der nächsten Ecke verschwunden, folgten die Jungs auf leisen Sohlen und sahen gerade noch, wie Frau Kassandra im Sekretariat verschwand. Eilig huschten Felix und Tim und zur Tür und pressten ihre Ohren gegen das weiß gestrichene Holz.
»Hallo, Helen Kassandra hier … Wie ist das passiert?«, japste sie. »Ein Autounfall? … Auf der Intensivstation … Ja, natürlich, ja, ich komme sofort.«
Offenbar war das Gespräch zu Ende, doch bevor die Jungs das Weite suchen konnten, drückte jemand die Tür schwungvoll auf, sodass Felix und Tim jäh zurückgestoßen wurden und auf dem Hintern landeten. Mit ungewohnt finsterer Miene starrte die Lehrerin auf ihre Schüler herab. »Was macht ihr denn hier?«, fuhr sie die Jungs harsch an. »Ab! Zurück in die Klasse!«
Damit rannte sie auch schon davon, eilte in halsbrecherischem Tempo die Treppe hinunter.
Felix rappelte sich auf. »Wer hatte einen Autounfall?«
»Werden wir schon noch in Erfahrung bringen …«, murmelte Tim.
Die beiden trotteten zurück ins Klassenzimmer, wo die anderen Schüler natürlich genau wissen wollten, was Tim und Felix herausgefunden hatten.
»Vielleicht ist es dieser Kai, der sie in der Schule belästigt hat …«, mutmaßte Phoebe.
»Hoffentlich nicht Richard …«, murmelte Felix. Er hätte es ja nie für möglich gehalten, doch nach all den gemeinsamen Erlebnissen war ihm der Schulrektor doch sehr ans Herz gewachsen.
»Wer ist denn Richard?«, wollte Tim wissen.
»Ach, ich meine unseren Schulrektor, Herr Mayer. Habt ihr’s noch nicht gemerkt, der schwärmt doch für die Kassandra.«
»Echt? Ist ja voll süß …« Phoebe verteilte Küsschen in der Luft. »Deswegen hat dieser Kai damals so eifersüchtig reagiert, als er ihr sogar bis in die Schule gefolgt ist. Und ich dachte, da wäre nichts dran und der steigert sich nur in was rein.«
»Neee, ich glaube, die beiden sind sogar ein Paar. Hab sie mal in der Fußgängerzone zusammen gesehen, Arm in Arm«, erklärte Isa. »Ich dachte schon, ich hätte mich verguckt, aber wenn ihr das jetzt so sagt …«
»Ist ja der Hammer!«, rief Phoebe aus. »Ach, hoffentlich gibt’s bald eine große Hochzeitsfeier in der Schule. Das wäre so genial … Stellt euch das mal vor: Wir basteln lauter weiße Girlanden und schmücken damit alle Flure. Und jeder kauft rote Rosen, die wir an die Wände kleben und …«
»Kann es sein, dass du ein bisschen übertreibst? Also mich würdest du mit so was eher verjagen«, meinte Felix kopfschüttelnd.
»Bei dir müsste es wohl eine Schlangen- und Spinnen-Deko sein. Mit so was könntest du bei mir aber auch nicht punkten«, entgegnete Phoebe.
»Na, damit ist ja schon mal klar, dass aus euch beiden kein Paar werden wird«, erklärte Maja zufrieden und schmiegte sich an Felix.
»Aber wie sieht es mit uns aus?«, flüsterte Tim in Lisas Ohr. Er hatte sich von hinten an ihren Stuhl herangeschlichen und streichelte mit einem Finger über ihre Wange. Unwillkürlich schoss heißes Blut in ihr Gesicht, vor allem, weil sie auf einmal ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt war.
»Ja, äh … vielleicht …«, stammelte sie, worauf Tim seine Hand wieder zurückzog.
»Hey, wollen wir eine Papierfliegerschlacht starten? Jungs gegen Mädels?«, rief er in die Klasse hinein, doch Lisa ahnte, dass er damit ihre kleine Zurückweisung überspielen wollte. Sie hatte ihn nicht kränken wollen, war ihm aber gleichzeitig dankbar, dass er mit seiner Aktion von ihr ablenkte und sie wieder im allgemeinen Getümmel abtauchen konnte.
Die Schlacht endete unentschieden mit dem Gong zur Pause. Dementsprechend verwüstet sah das Klassenzimmer aus, als es die Schüler verließen.
»Alles okay mit dir?«, erkundigte sich Tim auf dem Flur, während er zu Lisa aufschloss.
»Ähm, na ja …« Er hatte es verdient, dass sie ehrlich mit ihm war und dennoch fiel es ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. »Ich bin mir unsicher über meine Gefühle«, stammelte sie schließlich.
»Verstehe. Kein Problem, nimm dir die Zeit, die du brauchst.« Er schenkte ihr ein Lächeln. Lisa konnte jedoch erkennen, dass es eine traurige Note annahm, noch während er sich wegdrehte. Mit einem »See you!« hob er den Arm zum Abschied und marschierte schnellen Schrittes davon.
Unglücklich schlenderte Lisa langsam dem Ausgang zum Pausenhof entgegen, als sie eine bekannte Stimme hinter ihr aufhorchen ließ: »Weißt du was Neues von Rick?« Ohne sich umzudrehen, wusste sie, dass die Stimme Diego Jueves gehörte, einer von Ricks Freunden. Ohne sich
»Kein’ blassen Schimmer, wo der abgeblieben ist. Vielleicht haben sie ihn ja in ein Heim gesteckt, nachdem er ständig die Schule schwänzt.«
»Warst du mal bei ihm zu Hause?«
»Da macht keiner die Tür auf.«
»Echt krass. Wo der wohl versumpft ist?«
Lisa trat auf den Schulhof hinaus und begann sofort zu frösteln. In einigen Ecken lagen nur noch schmutzige Reste einstiger Schneehaufen, doch war es noch immer so kalt, dass ihr Atem in kleinen Nebelwölkchen kondensierte. Aus der Jackentasche zog sie eine dicke Wollmütze heraus und stülpte sie sich über den Kopf. Halbherzig kaute sie an ihrem Apfel, um den Butzen danach im Mülleimer zu versenken. Im Normalfall würde man diesem Vorgang keinerlei Beachtung schenken, doch da steckte eine Zeitung im Abfall, die Lisas Aufmerksamkeit fesselte:
Das Foto zeigt doch eindeutig Julio, oder nicht?
Mit spitzen Fingern zog Lisa das Blatt heraus, das den Resten nach zu urteilen, einmal zum Einwickeln von Blumenzwiebeln gedient hatte. Soweit sich das noch erkennen ließ, titelte der Artikel mit: Ein neuer Stern am Schokoladenhimmel!
Mit seinem Startup landete der erfolgreiche Unternehmer Julio Ernesto Verano einen Volltreffer. Exotische Sorten und ein gut durchdachtes Konzept katapultierten den Jungunternehmer innerhalb von nur drei Jahren an den Gipfel seiner Träume. Während der smarte Inhaber und Leiter der Firma über sein Privatleben Stillschweigen wahrt, plaudert er nur allzu gerne über den Herstellungsprozess und die Gewinne, die er damit einfahren konnte. Doch sollten die Schattenseiten nicht unerwähnt bleiben: Produziert wird in Mittelamerika, also direkt in den Erzeugerländern für Kakao. Durch die Niedriglöhne wird der Profit maximiert und die fertige Schokolade kann hierzulande günstig angeboten werden, allerdings gehen unserer Wirtschaft wichtige Arbeitsplätze verloren und die Hygiene-Standards in den Drittweltländern können nun mal nicht mit unseren mithalten …
An dieser Stelle riss der Artikel ab, weil die andere Hälfte des Blattes fehlte.
Komisch, erst wird er so hoch gelobt, dann wird es zunehmend negativ …
Stirnrunzelnd begutachtete Lisa das Foto: Neben Julio stand eine lebensgroße, vollbusige Frau aus reiner Schokolade. Er hatte einen Arm um ihre Hüfte geschlungen, wobei er ein gönnerisches Lächeln aufsetzte – genau die Art von Lächeln, die Lisa nicht leiden konnte: selbstgefällig und anzüglich.
Mit einem unbestimmten Groll im Bauch atmete sie tief durch und da geschah es ohne Vorwarnung: Flammen züngelten aus Mund und Nase und setzten den Zeitungsfetzen in Brand. Erschrocken ließ ihn Lisa fallen. Er segelte in den Abfalleimer hinein, wo sofort weiterer Müll Feuer fing. Schockiert hielt Lisa den Atem an und wich zurück.
»Lisa!« Ausgerechnet der unbeliebteste Lehrer der Schule, Herr Kahl, steuerte direkt auf sie zu. »Was ist passiert? Zündelst du etwa mit Schuleigentum?«
Doch statt auf ihn zu reagieren, richtete Lisa den Blick zu Boden und konzentrierte sich darauf, ihre Flammen unter Kontrolle zu halten.
»Sie wars! Ich habe es genau gesehen!«, rief plötzlich Diego und deutete direkt auf Lisa. »Sie hat die Zeitung angezündet und in den Müll geworfen!«
Das war die späte Rache dafür, dass sich Florian, Diego und Rick vor ein paar Monaten beim Rektor selbst stellen mussten, auch wenn Lisa dafür eigentlich nichts konnte. Aber irgendjemandem musste man ja die Schuld geben.
Doch sie war selbst viel zu geschockt, um darauf zu reagieren. Da eilte auch schon ein anderer Lehrer, bewaffnet mit einem Feuerlöscher herbei. Es war der Sportlehrer Jannis Ziegler.
»Achtung! Aus dem Weg!«, rief er, zog die Sicherung heraus, schnappte sich den Schlauch und zielte auf den brennenden und qualmenden Mülleimer.
»Zurück!«, schrie Kahl in die Menge der Schüler, die sich zunehmend um das Geschehen drängten. »Weicht alle zurück!«
»Hey, alles okay?« Auch Felix und Maja waren herzugekommen und drängten sich neben Lisa. Im Gegensatz zu den anderen ahnten die beiden, was passiert war.
Unterdessen brachte der Sportlehrer den Brandherd mit dem Schaum aus dem Feuerlöscher zum Erliegen. Jannis war der einzige Lehrer, der sich mit seinen Schülern zu duzen pflegte und sich nicht zu schade war, mit ihnen auf dem Pausenhof Fußball zu spielen.
»Das gibt einen Verweis!« Herr Kahls tadelnder Blick traf Lisa.
»Äh, ich denke, man sollte besser den Schulrektor über den Vorfall informieren«, warf Felix ein. »Zumindest falls er in der Verfassung sein sollte …«
»Du hast Recht«, stimmte Herr Ziegler zu. »Bringen wir Lisa zum Rektor. Er soll über den Fall entscheiden.«
Düster murrend willigte Kahl ein, während der Sportlehrer Lisa schon ins Gebäude geleitete.
Jannis Ziegler pochte an die Tür des Rektorats.
»Herein!«, hörten sie die Stimme des Schulleiters.
Also kann es Herr Mayer schon mal nicht gewesen sein, der einen Autounfall hatte, dachte Lisa erleichtert.
Der Sportlehrer öffnete die Tür. »Richard, entschuldige die Störung. Es gab einen Vorfall im Pausenhof.«
Der Schulrektor schaute über den Rand der Brillengläser von seinen Papieren auf. Er musterte Lisa und rückte dann die Brille zurecht.
»Worum handelt es sich?«
»Lisa soll einen Mülleimer in Brand gesteckt haben.«
Richard räusperte sich abermals. »Nun ja, danke. Ich werde mich der Schülerin annehmen.« Mit einer wegwerfenden Bewegung signalisierte er dem Sportlehrer, sich zu entfernen.
Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, hob Lisa zur Erklärung an: »Es war die rote Magie. Sie setzt sich unkontrolliert frei, wenn ich mich aufrege.«
»Die Vermutung lag mir bereits nahe, doch nun, nimm erst einmal Platz.« Richard deutete zum Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite seines Schreibtischs. Tief durchatmend ließ sich Lisa darauf nieder.
Wenn jemand ihr Problem verstehen konnte, dann der Schulrektor, schließlich hatte er zu Beginn selbst mit der Kontrolle seines Feuers zu kämpfen gehabt.
»Nun, mir ist wohl bewusst, dass du dieses Feuer nicht willentlich entfacht hast, dennoch liegt es in meiner Pflicht, die notwendigen Konsequenzen zu treffen.«
Lisa runzelte die Stirn. »Welche Konsequenzen?«, erkundigte sie sich bange.
»Fünf Stunden Nachsitzen.«
»Was? Aber …«
»Es ist unabdingbar, dass du lernst, dein Feuer zu kontrollieren, daher werde ich dir privaten Unterricht erteilen. Passt es dir heute Nachmittag?«
»Ähm, ja.« Lisa nickte.
»Für gewöhnlich treffe ich mich nicht mit Schülern in meinem Haus, doch in diesem Fall schlage ich vor, wir wählen als Übungsort den Werkraum meines Kellers. Er verfügt über ein Waschbecken und feuerfeste Kacheln. In öffentlichen Gebäuden würde das Üben zu viel Aufsehen erregen. Bist du damit einverstanden?«
»Ja.« Lisa nickte zustimmend, auch wenn ihr bei der Vorstellung ein wenig seltsam zu Mute war, alleine mit ihrem Schulrektor in seinem Keller die Feuerkontrolle zu üben.
Auf ihren Fabolon-Reisen hatte sie zwar nicht allzu viel mit ihm gesprochen, aber dennoch hatten die gemeinsamen Abenteuer eine gewisse Vertrautheit geschaffen. Auch wenn der ältere Herr etwas antiquiert wirkte, war er eine wesentlich angenehmere Gesellschaft als Julio. Sicher hatte Richard so einige Macken, dennoch hielt sie ihn für aufrichtig und ehrlich. Wenn sie nur daran dachte, wie er ins Meer gesprungen war, um seinen kleinen Drachen zu retten, wurde ihr ganz warm ums Herz.
Richard konnte man vertrauen, da war sich Lisa sicher.
»Nun, dann treffen wir uns heute Nachmittag um 15 Uhr in der Wilhemstraße 16. Weißt du, wo das ist?«
»Nein, aber ich schaue einfach im Internet nach.«
»Ich brauche hoffentlich nicht betonen, dass du meine Adresse und alle persönlichen Dinge, die du dort siehst, vertraulich behandelst.«
»Nein … Äh, ich meine, ich werde natürlich niemandem etwas erzählen.«
»Nun denn, bis heute Nachmittag. Du kannst gehen.«
Noch war kein Lehrer anwesend, als Lisa in die Klasse zurückkehrte.
Felix und Maja nahmen sie sofort beiseite. »Und, was hat er gesagt?«, erkundigten sie sich neugierig.
»Ich muss fünf Stunden nachsitzen«, antwortete sie laut, doch flüsternd setzte sie hinzu: »Er bringt mir bei sich zu Hause die Kontrolle des Feuers bei.«
»Cool!«, fand Felix.
»Ich weiß ja nicht, was an fünf Stunden Nachsitzen so cool sein soll«, wunderte sich Tim, der ebenfalls hinzukam. »Bist du jetzt eigentlich unter die Bad-Girls gegangen, oder wieso hast du den Abfalleimer angezündet?«
»Es war ein Versehen.«
»Das musst du mir mal erklären, wie sowas aus Versehen passieren kann«, hakte Phoebe neugierig nach.
»Na ja, äh … Mir war kalt und da habe ich ein Streichholz angezündet, um die Hände zu wärmen. Aber es ist zu schnell abgebrannt, da habe ich es hastig weggeworfen …«, versuchte Lisa, sich herauszureden. Ihr feuerrotes Gesicht und das Stammeln ließen die Geschichte jedoch nicht sonderlich glaubwürdig klingen. Bevor jemand jedoch Einwände bringen konnte, kam die Erlösung in Form der Musiklehrerin, die in diesem Moment die Klasse betrat.
* * *
Am späten Nachmittag stand Lisa vor der Wilhemstraße 16, ein mit roten Ziegeln verklinkertes Haus. Die Ecken zierten große orange Ziegel, genau wie die Fenster- und Türrahmen. Es gab keinen Vorgarten, die Vorderfront grenzte direkt an den Gehweg und auch die Häuser rechts und links schlossen dicht an. Wenn zum Haus ein Garten oder Hof gehörte, dann musste er hinter dem Gebäude liegen.
Mit klopfendem Herzen drückte Lisa auf den Klingelknopf, neben dem ein schon ziemlich vergilbtes Schild mit dem Namen »Mayer« in Blockbuchstaben hinter der metallenen Einfassung durchschien. Das »Dingedong« erklang ungewöhnlich laut im Inneren und es dauerte nicht lange, bis der Rektor die Tür öffnete.
»Nun, da bist du ja endlich«, grüßte er mit gerunzelter Stirn. »Pünktlichkeit ist keine Zier, vielmehr eine Manier«, erklärte er mit gerunzelter Stirn. »Du bist fünf Minuten zu spät.«
Höflichkeit ist aber auch eine Manier, dachte Lisa bei sich. Er könnte mich ruhig etwas freundlicher grüßen.
Das war einer dieser Momente, in denen sie sich Felix’ Mut wünschte, dem Rektor auch mal laut zu kontern.
»Ich bin zwei Mal falsch abgebogen, bis ich die richtige Straße gefunden habe«, entschuldigte sie sich stattdessen, was Herrn Dr. Mayer jedoch nicht weiter zu interessieren schien.
Richard ließ seine Schülerin ein und half ihr, die Jacke abzulegen, welche er dann auf einen Bügel in die Garderobe hängte.
»Hier entlang!« Er schaltete das Licht im Treppenhaus ein, welches direkt an den Eingangsbereich anschloss, und bedeutete Lisa, die steinernen Stufen hinabzusteigen.
Sie passierten einen Raum zu ihrer Rechten, in welchem Lisa einen Blick auf Richards Leidenschaft erhaschen konnte: eine gigantische Eisenbahnlandschaft mit Brücken, Kirchen, Tunnel, sogar einem See, in dem echtes Wasser glitzerte, und Schienen, die über mehreren Ebenen an der Wand entlangführten. Die Landschaft stand auf Tischen und füllte das gesamte Zimmer aus, wobei die einzelnen Bereiche für Betrachter über Brücken und Tunnels zu erreichen waren. Die mit einer täuschend echt wirkenden Landschaft bemalten Kellerwände vervollständigten die Illusion.
Eigentlich schade, dass das hier im Keller versauert. Wäre sie öffentlich zugänglich, hätten bestimmt viele Kinder Spaß daran, dachte Lisa bei sich.
»Es handelt sich um mein Lebenswerk.« Die Stimme des Rektors klang plötzlich viel weicher. »Nach dem Üben der Feuerkontrolle kann ich sie dir vorführen, wenn du möchtest.«
»Ja, gerne.«
»Komm mit in den Werkraum.«
Sie betraten einen weiß gekachelten Kellerraum. Eine Werkbank, ein Stuhl aus Metall und einige verschlossene Metallschränke standen darin. Außerdem gab es ein großes viereckiges Waschbecken. Die rußschwarzen Fugen zwischen den Kacheln deuteten auf vergangene Feuerexperimente des Rektors hin. Herr Mayer steckte den Stopfen in den Abfluss und drehte das Wasser auf. Dann öffnete er einen der Schränke und nahm einige Korken heraus, auf denen mit einer Nadel kleine Papierfähnchen befestigt waren.
Was will er denn damit?, wunderte sich Lisa, während sie neben dem Waschbecken gespannt darauf wartete, was der Lehrer mit ihr vorhatte.
Herr Mayer drehte den Hahn zu und setzte einen der Korken ins Wasser. »So, nun versuche, das Fähnchen in Brand zu setzen, aber ohne, dass sonst noch etwas verkohlt wird.«
Lisa fühlte sich wie in einer mündlichen Prüfung.
Was, wenn es schief geht und ich den ganzen Raum abfackele?
Zugegeben gab es hier drin, außer ihrer Kleidung nichts Brennbares in Sichtweite, dennoch brachte sie ihre Versagensängste kaum unter Kontrolle und so kam es, dass überhaupt kein Feuer aus ihrem Mund entwich, als sie den Korken anpustete. Das Fähnchen wackelte fröhlich hin und her, aber ohne das geringste Flämmchen.
Kein Feuer ist ja noch schlimmer, als zu viel! Am Ende bin ich ganz umsonst hergekommen …
Lisa konnte ihn nicht sehen, doch an den Geräuschen im Hintergrund erkannte sie, dass sich Richard auf dem Stuhl niedergelassen hatte.
»Worüber hast du dich aufgeregt, als du den Mülleimer angezündet hast?«, erkundigte sich der Rektor.
Soll ich das tatsächlich meinem Lehrer anvertrauen?
Im Grunde wären sie damit quitt, schließlich erhielt Lisa hier auch einen kleinen Einblick in das Leben des Rektors, da könnte sie vielleicht auch ein bisschen aus ihrem erzählen, oder?
»Ü-über Julio«, brachte sie tief durchatmend hervor.
»Handelt es sich um einen Schüler?«
Lisa wandte sich zum Rektor um. »Nein, nein. Er ist der neue Freund meiner Mutter. Ich mag ihn nicht besonders. Er hat eine eigene Schokoladenfabrik und bringt Mama dauernd teure Geschenke«, sprudelte es plötzlich aus Lisa hervor. »Das wäre ja noch nicht schlimm, aber seit er bei uns ist, trinkt meine Mutter viel mehr Alkohol und er läuft in Unterwäsche durch die Wohnung. Ach und, ich kann es nicht richtig erklären, er hat einfach eine schleimig-komische Art …«
Plötzlich spürte Lisa, wie sich Hitze in ihrer Kehle sammelte. Rasch wandte sie sich dem Korken zu und spuckte eine Flamme auf die Fahne, sodass der Korken wie eine Kerze brannte.
Richard erhob sich und begutachtete das Ergebnis über die Ränder seiner Brille hinweg.
»Erstaunlich … Ich habe viele Wochen damit zugebracht, bis ich das Feuer so zielgenau zu lenken vermochte.« Er kratzte sich am Kopf.
»Aber ich kann es nicht kontrollieren. Es kommt, wann es will.«
»Das Feuer taucht unvermittelt auf, sobald du dich über den Freund deiner Mutter erzürnst?«
»Ja, eigentlich nur dann.«
»Nun, in diesem Falle wäre mein Vorschlag, diese Gefühle zu produzieren, um sie dann in die rote Magie hineinfließen zu lassen.«
Der Rektor erklärte Lisa, wie er es hinbekommen hatte, die Gefühle von der Magie zu entkoppeln, dann hockte er sich wieder auf den Stuhl und begutachtete die Fortschritte seiner Schülerin.
Plötzlich klingelte es an der Tür.
»Übe so lange weiter. Ich werde gleich wieder zurückkehren.« Richard erhob sich und verließ den Werkraum.
Lisa stellte sich zum gefühlt hundertsten Mal Julios anzügliches Grinsen vor und versuchte, die aufsteigende Wut herauszuatmen, ohne sie in die Magie fließen zu lassen. Es erschien ihr beinahe wie ein Ding der Unmöglichkeit und gelang nur unter größtmöglicher Konzentration. Um diese war es aber sofort geschehen, als sie von oben Stimmen vernahm. Der Hall im Treppenhaus sowie der Kellerflur schienen die Geräusche so zu verstärken, dass Lisa jedes Wort verstehen konnte:
»Oh, Helen, weshalb klingelst du? Hast du den Schlüssel verloren?«, wunderte sich Richard.
»Nein, es ist so, ich muss dir etwas sagen …«, hauchte sie verunsichert.
»Nun, es kam mir bereits zu Ohren, dass jemand in deiner Verwandtschaft einen Autounfall erlitten hat. Ich hoffe, es ist nichts Ernsthaftes?«
»Richard, es handelt sich nicht um irgendeinen Verwandten«, rief sie völlig aufgelöst. »Kai hatte einen Unfall und er liegt mit schweren Verletzungen auf der Intensivstation. Sein Überleben steht auf der Kippe und wenn er durchkommen sollte, wird er womöglich ein Pflegefall bleiben.« Sie brach hörbar in Tränen aus und Lisa sah förmlich vor ihrem geistigen Auge, wie Richard die zitternde Lehrerin tröstend in die Arme zog.
»Das tut mir sehr leid. Was willst du jetzt tun?«, fragte er erstickt, sodass es Lisa mehr erahnen als verstehen konnte.
»Mir tut es auch leid, Richard. Du warst immer so gut zu mir. Aber bitte versteh mich! Ich kann Kai jetzt nicht alleine lassen. Er hat mich damals gerettet und es gibt sonst niemanden, der sich um ihn kümmert. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich ihn in dieser Lage im Stich lassen würde. Er braucht mich jetzt.«
»Selbstverständlich kann ich deine Beweggründe nachvollziehen. Das bedeutet, du möchtest wieder in seinem Haus wohnen?«, erkundigte sich Richard gefasst.
»Ja. Anders würde das nicht funktionieren. O Richard, einen so verständnisvollen, liebenswürdigen Mann wie dich habe ich doch auch gar nicht verdient«, schluchzte sie abermals.
»Natürlich verdienst du einen Mann, der dich auf Händen trägt, liebste Helen. Ich hoffe sehr für dich, dieser Kai weiß zu schätzen, was du für ihn tust und vergilt es dir in gleichem Maße.«
»Hm, ich su-suche noch schnell meine Sa-Sachen zusammen und hier ist dein Hau-Haustürschlüssel«, stammelte sie weinend.
»Ach, nein. Behalte ihn doch bitte. Du bist hier jederzeit willkommen, selbst wenn … Nun, wir bleiben Freunde«, versicherte ihr Richard, doch auch seine Stimme drohte zu brechen.
Dann folgten Geräusche, die danach klangen, als ob Helen Richard umarmte. Die keuchenden Münder deuteten auf leidenschaftliche Küsse hin.
Lisa fühlte sich zunehmend unwohl im Werkraum. Schließlich war sie unfreiwillige Zeugin äußerst privater Gespräche geworden und es schien ihr, als habe der Rektor aufgrund der aufwühlenden Nachrichten völlig vergessen, dass sie sich noch immer hier unten befand.
»Ich muss gehen«, keuchte Fräulein Kassandra schließlich. »Leb wohl, Richard!« Kurz darauf krachte die Haustür ins Schloss und es herrschte absolute Stille.
Lisa wartete auf Geräusche im Treppenhaus, doch nichts geschah. Sie wechselte ein paar Mal unruhig das Standbein, dann verließ sie den Werkraum und stieg die Treppe hinauf. Auch hier war niemand zu sehen.
»Äh, Herr Mayer?«, fragte sie zaghaft.
Ob ich mich einfach aus dem Haus stehlen soll?
Der Blick zur Haustür war verlockend, doch irgendwann würde sich der Rektor doch sicher wieder an sie erinnern und sich wundern, wo seine Schülerin so plötzlich abgeblieben war, deshalb ging sie stattdessen ins Wohnzimmer – ein großes Wohn-Esszimmer mit Kamin und für Lisas Geschmack zu dunkler Holzvertäfelung. Herr Mayer saß vorgebeugt auf einem Sessel, das Gesicht in den Händen vergraben, und schluchzte leise vor sich hin.
Sicher wäre es ihm unsäglich peinlich, wenn ich ihn so vorfinde, dachte Lisa bei sich und kehrte rasch in den Flur zurück. So tiefe Herzschmerzgefühle hätte sie ihrem steifen Rektor gar nicht zugetraut, aber wer weiß schon, was sich hinter der harten Schale eines Menschen alles verbirgt …
»Herr Mayer?«, rief Lisa und stieß geistesgegenwärtig den metallenen Schirmständer um, was einen Höllenlärm auf dem Steinboden verursachte. Das würde dem Lehrer Zeit geben, sich zu sammeln.
»Oh! Entschuldigung!«, sagte sie laut und stellte den Ständer langsam wieder auf. Dann stopfte sie die drei Regenschirme nacheinander in Zeitlupe wieder hinein und hoffte, der Rektor möge endlich auftauchen.
Tatsächlich stand Herr Mayer kurz darauf im Türrahmen. »Die Stunde Nachsitzen ist für heute beendet. Du kannst jetzt gehen«, erklärte er tonlos. »Freitag in einer Woche fahren wir fort. Und sei nächstes Mal pünktlich.«
»Natürlich. Auf Wiedersehen!«
Erde, Frankfurt, Freitag, 19. April
Die Zahlen verschwammen vor Majas Augen. Heute fiel es ihr besonders schwer, sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. Noch eine Stunde, dann begann Felix’ Geburtstagsparty. Er war zwar schon am 17. April achtzehn Jahre alt geworden, aber da es sich mittwochs nicht so gut feiern ließ wie freitags, wurde die Party nach hinten verlegt. Wenigstens hat Maja ihm den dicken Reptilien-Bildband schon überreicht, sodass sie sich nicht mehr sorgen musste, ob ihm ihr Geschenk gefiel.
Was ist nur aus mir geworden?
Früher hätte sie über so etwas gar nicht nachgedacht und nun verunsicherte sie schon der Gedanke, Felix könnte ihr Geschenk missfallen. Seufzend hob sie den Kopf und ließ ihren Blick übers Bücherregal schweifen. Die Briefmarkenalben waren bereits von einer beachtlichen Staubschicht bedeckt. Seit Majas erster Reise nach Fabolon, hatte sie dieses Hobby sträflich vernachlässigt. Danach hatte sich so viel verändert: Sie und Felix waren ein Paar geworden, eine schwarze Echse besetzte nicht nur ihre Haut, sondern auch viel zu oft ihre Gedanken. Nicht zu vergessen Dario.
Majas Blick fiel auf den Wandkalender. Eine 99 stand hinter dem heutigen Datum.
99 Tage. So lange ist es jetzt schon her, dass wir von Fabolon zurückgekehrt sind. Das sind über drei Monate.
Noch nie hat es dermaßen lange gedauert zwischen den Reisen und mit jedem Tag schwand ein Stückchen Hoffnung, je wieder in diese fremde Welt zurückzukehren. Und gleichzeitig versuchte Maja, die Gedanken an Dario immer weiter von sich zu schieben. Doch selbst die Trennung durch verschiedene Welten konnte dieses Gefühl der Zugehörigkeit nicht auslöschen, konnte nicht verhindern, dass sie jeden Morgen beim Aufwachen und vor dem Einschlafen an ihn denken musste. Doch dieses hoffnungslose Anklammern an etwas, das nicht sein konnte und wahrscheinlich auch niemals sein würde, war so schrecklich zermürbend. Immer wieder nahm sich Maja vor, das Thema ein für alle Mal abzuschließen. Sie wollte ein ganz normales Leben führen, Abenteuer hatte sie schließlich schon genug erlebt. Felix war ein perfekter, liebevoller Partner und mit ihm würde sie sicher glücklich werden.
Vor Fabolon war Maja unternehmungslustig und sportlich gewesen, doch auch dies hatte deutlich nachgelassen.
Ich sollte unbedingt mal wieder mit Phoebe Rollerbladen gehen …
Rollerbladen. Laaangweilig!, schaltete sich da plötzlich ihre Echse ein.
Du musst ja nicht dabei sein. Verschwinde doch einfach irgendwohin ins Weltall, wenn dir was nicht passt, und lass mich in Ruhe!
Phhh, weißt du was, das mache ich jetzt auch. Aber du wirst schon noch sehen, was du davon hast!
Und damit war mal wieder Funkstille.
Mal schauen, wie lange …
* * *
Bunte Girlanden und Luftballons schmückten die kleine Tanzhalle, die die Bergers extra zu Felix’ achtzehntem Geburtstag für ihn gemietet hatten. Sogar Diskokugel und Lichtorgel hingen von der Decke. Nicht ganz dazu passten die zwanzig edlen Gedecke auf den zwei langen Tischen, die im Gegensatz zur quietschbunten Dekoration eher nach einem gehobenen Restaurant aussahen.
Julian Berger stand geschäftig mit seinem Notizbuch im festlich geschmückten Saal und ging zum gefühlt zehnten Mal alle Punkte durch:
»Das Catering bringt das Buffet um Punkt 17 Uhr. Eineinhalb Stunden sollte für das Essen ausreichen. Von 18:30 bis 19 Uhr startet das Unterhaltungsprogramm der Animation-Company und ab 20 Uhr spielt die Band …«
»Mir wird jetzt schon übel«, seufzte Felix. »Warum musstet ihr so ein durchgeplantes Tamtam zu meinem Geburtstag veranstalten? Eine Musikbox und mitgebrachtes Essen hätte es auch getan. Meine Freunde werden denken, wir wären Multimillionäre oder so was …«
»Jetzt sei mal nicht so undankbar!«, protestierte Felix’ Mutter. »Diese Party hat tatsächlich ein kleines Vermögen gekostet und schließlich wird man ja nur einmal volljährig.«
»Ja und als Volljähriger will ich immer noch selbst bestimmen, wie ich feiern möchte.«
»Also, ich find’s klasse«, flötete Lilli und drehte sich mit flatterndem Kleid im Kreis.
»Nur schade für dich, dass du nicht eingeladen bist«, brummte Felix missmutig.
Sina Berger runzelte missbilligend die Stirn. »Du wirst doch deine eigne Schwester nicht ausladen.«
»Ich feiere hier keinen Klein-Kindergeburtstag! Und wenn ich schon nicht bestimme, wo und wie ich feiere, dann doch wenigstens mit WEM.«
»Das ist so gemein! Ich habe dich zu meinem Geburtstag auch immer eingeladen.«
»Das hättest du dir sparen können, ich hatte Besseres zu tun.«
»Also, könnt ihr euch nicht wenigstens mal heute vertragen?«, beschwerte sich Felix’ Vater.
Plötzlich lugte ein rothaariges Mädchen zur Tür herein. »Oh, bin ich zu früh?«
»Nein, nein, komm nur herein Klara!«
»Was macht die denn hier?«, zischte Felix, allerdings gerade mal so laut, dass es nur die anderen Bergers um ihn herum hören konnten.
Klara hatte sich alle Mühe mit ihrem Aussehen gegeben: Das rote Haar fiel in Schillerlocken herab und bot einen schönen Kontrast zum grün schimmernden Ballkleid. »Vielen herzlichen Dank für die Einladung.« Klaras Wangen brannten, als sie mit einem Geschenk in den Händen auf Felix zumarschierte. Sie hatte es sogar fertiggebracht, ein Geschenkpapier in exakt derselben Farbe und Musterung zu besorgen, wie ihr Kleid.
Felix schüttelte sich fassungslos. Er hätte sich schrecklich gemein gefühlt, Klara vor den Kopf zu stoßen, schließlich war sie ganz offensichtlich seiner Schwester Lilli auf den Leim gegangen. Dennoch brachte er es nicht über sich, das Geschenk entgegenzunehmen.
»Leg es da rüber …« Er deutete auf den Tisch mit den Blumenvasen, der für Geschenke reserviert war.
»Woher hast du denn dieses prachtvolle Kleid?«, staunte Sina. »Es sieht aus wie maßgeschneidert.«
»Ist es auch«, bestätigte Klara, wobei sich das Glühen ihrer Wangen intensivierte.
»Lilli! Ich muss mal mit dir reden!« Ohne eine Antwort abzuwarten, zerrte er seine Schwester nach draußen vor die Tür, wo die Wände der Vorhalle von Garderobenhaken gesäumt waren. Mit trotzig zusammengepressten Lippen schaute Lilli zu ihrem Bruder auf.
Sie will mir meine Party versauen!
Felix fiel es schwer, die Fassung zu wahren, als er seine Schwester anfuhr: »Klara ist nicht eingeladen und ich will, dass ihr beide sofort von hier verschwindet!« Mit ausgestrecktem Arm deutete Felix auf die gläserne Eingangstür. »Hast du das verstanden?«
»Nein! Klara passt viel besser zu dir als diese Maja und …«
Wie es das Schicksal so wollte, trat in diesem Moment Felix’ Freundin zur Glastür herein. Sie wirkte etwas verstört, doch nach all dem Chaos freute sich Felix ehrlich, sie zu sehen.
»Hey, Maja!« Er marschierte ihr entgegen und zog sie beschwingt in die Arme.
»Wer passt besser zu dir?«, wollte sie jedoch wissen.
»Niemand! Diese kleine Kröte …« Mit dem Kinn deutete er auf seine Schwester, »… versucht dauernd, mich mit ihrer rothaarigen Freundin zu verkuppeln.«
»Kröte!?« Lillie riss die Tür zur Festhalle auf und rief: »Mama, Felix hat mich Kröte genannt!«
»Puhhh, wenn da nicht die vielen Gäste wären, würde ich jetzt am liebsten mit dir von hier verschwinden«, stöhnte Felix.
»Warum? Was ist denn los?«
»Du siehst doch, meine Schwester versucht, meine Party zu versauen, außerdem haben meine Eltern ein Catering, eine Band und eine Animation bestellt. Völlig überzogen, wenn du mich fragst …«
»Echt, auf so einer Party war ich ja noch nie. Weißt du was, wenn du deine Schwester und das andere Mädchen nicht dabeihaben willst, dann ignoriere sie doch einfach, als wären sie Luft. Das wird ihnen dann schon irgendwann zu blöd werden.«
»Da kennst du Lilli schlecht, aber mir bleibt sonst wohl sowieso nichts anderes übrig …«
Zur Tür herein kamen nun drei weitere Gäste: Tim, Lisa und Nick, ein Freund aus der Nachbarschaft. Felix begrüßte alle herzlich und wies seine Freunde an, die Geschenke drinnen auf dem Tisch abzulegen. Hier im Eingangsbereich fühlte er sich wesentlich wohler als in der Festhalle mit seinen Eltern und der nervigen Schwester samt Freundin. Cousins und Cousinen, die Klassenkameraden, Phoebe und Jörg und ein paar Kumpels vom Sport strömten herein.
Schließlich stießen auch Sina und Julian Berger von der anderen Seite hinzu. »So, wir lassen die Jugend dann mal alleine feiern«, erklärte Julian Berger. »Du kennst den Programmablauf. Die Lichter wurden alle überprüft, aber sollte etwas schiefgehen, weißt du ja, wie du uns erreichst.«
»Und sei lieb zu deiner Schwester!«, mahnte Sina.
Felix konnte nicht anders, als seinen Eltern die Zunge rauszustrecken, als diese das Gebäude verließen. Er kam sich vor wie ein trotziger Teenager, dabei wurde er heute doch volljährig.
Vielleicht sollte ich mir ab jetzt ein anderes Verhalten zulegen, das meinem erwachsenen Alter mehr entspricht, überlegte er. Wäre es erwachsen, Lilli und Klara zu ignorieren? Nein, ich glaube, wenn ich sie schon nicht loswerde, behandele ich sie am besten genauso wie alle anderen.
Während die Gäste noch in Grüppchen zusammenstanden und sich gut gelaunt unterhielten, rückte der Catering-Service mit mehreren Servierwagen an. Am herrlichen Duft konnte man schon erahnen, was sich unter den silbernen Hauben befand. Alle nahmen an den zwei Tafeln Platz – irgendwie hatte es Lilli fertiggebracht, dass für sie und Klara ebenfalls eingedeckt worden war. Das rothaarige Mädchen blickte betrübt auf ihr Gedeck.
Ganz dumm kann sie ja auch nicht sein, mit Sicherheit hat sie irgendwie bemerkt, dass Lilli die Sache eingefädelt hat und ich glücklich mit Maja zusammen bin.
Felix saß zwischen Maja und Tim, der wiederum neben Lisa hockte.
Das Fabolon-Team isst mal wieder zusammen. Für Felix war diese ferne Welt nach drei Monaten so sehr in den Hintergrund geraten, dass er kaum noch daran dachte, lediglich ein Anlass wie dieser, zu dem sie gemeinsam speisten, erinnerte ihn an die vergangenen Abenteuer.
Wider Erwarten verlief die Party ausgesprochen fröhlich. Das Essen schmeckte köstlich, die Animation war wirklich lustig und hob die Stimmung in ungeahnte Höhen.
Sogar die schüchterne Lisa taute mehr und mehr auf und musste regelmäßig vor lauter Lachen den Saal verlassen, damit die Haare nicht wider Willen hell aufflackerten. Felix hatte es schon leichter, da er die Hände lediglich in den Hosentaschen zu verstecken brauchte.
Nach der Animation wurden viele bunte Törtchen zum Dessert serviert.
»Lisa, wann hast du eigentlich Geburtstag?«, erkundigte sich Tim.
»Der war schon am 26. Februar.«
»Echt? Du hast ja gar niemandem was davon erzählt«, empörte sich Felix.
»Ach, ich hab’s nicht so mit großen Feiern.«
»Na, dafür scheinst du aber ziemlich viel Spaß hier zu haben«, lachte Tim.
»Ja, das stimmt schon«, gab Lisa zu.
»Und wie alt bist du geworden?«, wollte Maja wissen.
»17«
»Willkommen im Club.«
»Felix, was ich dich schon immer mal fragen wollte: Wie kommt es, dass du heute 18 wirst und trotzdem bei uns in der 11 A bist?«, wollte Phoebe wissen. »Hast du mal eine Ehrenrunde gedreht?«
»Das ist ein Geheimnis …«, wisperte Felix verschwörerisch.
»Gar nicht!«, quakte plötzlich Lilli dazwischen. »Felix hatte im ersten Schuljahr zwei Mal Windpocken, deshalb hat er zu oft gefehlt und musste die Klasse wiederholen.«
Zorn braute sich mal wieder in Felix’ Bauch zusammen, doch er wollte nicht ausfallend werden und vor seinen Freunden mit der Schwester zu streiten, hatte er ebenfalls keine Lust.
»Das sind alles nur Gerüchte«, erklärte er. »In Wahrheit hatte ich eine Allergie gegen die Lehrerin. Jedes Mal nach dem Unterricht bekam ich überall diese roten Flecke und musste zu Hause bleiben.«
»Wer’s glaubt«, quäkte Lilli.
Unterdessen hatte die Band ihren Platz auf der kleinen Tribüne eingenommen. Der Sänger begrüßte die Gäste und dann spielten sie die Songs, welche Felix ausgesucht hatte: Eine gute Mischung aus Pop und Latein und auch ein paar Balladen waren dabei.
»Tanzt du mit mir?« Tim war aufgestanden und streckte seine Hand nach Lisa aus.
Lächelnd schlug sie ein und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche führen. Es waren drei lange Monate vergangen seit der letzten Fabolonreise und allmählich glaubte Lisa schon nicht mehr daran, dass sie diese Welt und mit ihr Nio jemals wiedersehen würde. Sie musste sich auf das Leben hier konzentrieren und es war einfach sinnlos, einem Menschen nachzuhängen, bei dem es immer unsicher war, ob und wann man ihn treffen konnte. Tim hatte Lisa nie bedrängt in den vergangenen Monaten, hatte aber auch keinen Hehl daraus gemacht, dass er sie noch immer sehr mochte. Und heute fühlte sich Lisa einfach zu gut und zu schön in diesem hellblauen Kleid, um sich zurückzuhalten. Die Musik, das Licht und die allgemeine Hochstimmung schwappten über sie hinweg und bewirkten, dass sie sich beim Tanzen immer enger an Tim heranschmiegte. Als die Band dann schließlich eine Ballade anstimmte, war es um sie geschehen. Lisa schlang ihre Arme um Tims Nacken und wie von selbst fanden ihre Münder zueinander. Warme Schauer pulsierten durch ihren Leib, während sie sich wie beduselt von den Klängen und der Nähe dieses Jungen im langsamen Takt wiegte. Er strich sanft durch ihr Haar, dann ließ er jedoch plötzlich los und schaute sie forschend an. »Bist du dir denn sicher? Oder sollen wir das lieber lassen?«
Doch es hatte sich zu schön und zu gut angefühlt mit ihm, um ihn jetzt loszulassen.
»Nein. Bitte bleib«, antwortete sie fest.
»Weißt du, ich komme mit allem gut klar, aber nicht mit einem Hin und Her. Bist du sicher, dass du mit mir zusammen sein willst und dass das morgen nicht wieder anders ist?«
»Ja, kann ich verstehen.« Lisas Herz pochte unnatürlich laut. Sie musste sich jetzt entscheiden. Es wäre nicht fair, sich Tim in die Arme zu werfen und dann doch wieder von Nio zu träumen. Aber Nio hatte selbst gesagt, eine Beziehung zwischen zwei Welten hätte keine Zukunft und damit hat er ja auch Recht. Lisa wünschte sich etwas Festes, jemanden, mit dem sie auch irgendwann eine Familie gründen konnte und wie sollte das gehen mit einem Mann, der in einer anderen Welt lebte? Wo würden die Kinder dann geboren werden? Würden sie ihren Vater überhaupt je zu Gesicht bekommen, wenn sie nicht mitspringen konnten? Das alles zischte wie Blitze durch Lisas Geist, dann sah sie Tim fest in die Augen und sagte: »Ich will mit dir zusammen sein.«
Tim strahlte sie freudig an. Der innige Kuss ging Lisa durch und durch und doch nagte da ein kleines nerviges Gefühl an ihrem Herzen, das ihr zuflüsterte: Du wirst ihm nie ganz gehören können, denn die Verbindung zu Nio ist viel stärker.
Erde, Frankfurt, Mittwoch, 1. Mai
Drei lange Monate waren nun vergangen seit der letzten Reise nach Fabolon und Lisa glaubte nicht mehr daran, je wieder zurückzukehren. So gesehen hatte sich die Entscheidung für Tim als richtig erwiesen. Und es war wirklich schön, mit ihm zusammen zu sein. Dieses aufgeregte Kribbeln in seiner Nähe und die Zärtlichkeiten gaben ihr das wunderschöne Gefühl, geliebt und angenommen zu werden.
Die einzige Erinnerung an die Abenteuer war die Echse samt der vielen Fähigkeiten, die Lisa nicht mehr missen wollte. Bereits nach drei »Nachsitzen-Stunden« bei Herrn Dr. Mayer hatte Lisa die Emotionskontrolle ihres Feuers beherrscht. Die vierte Stunde übten sie dann gemeinsam noch ein bisschen zielgenaues Anzünden und Lisa kam in den Genuss der überfälligen Präsentation von Richards Eisenbahn. Eine fünfte Übungsstunde war dann nicht mehr notwendig gewesen.
Auch wenn sich der Rektor sehr zusammen nahm, merkte Lisa, wie sehr ihn die Trennung von Helen Kassandra mitnahm. Auch in der Schule nahm sie seine traurigen Blicke wahr, mit der er die Lehrerin heimlich ansah. Und jedes Mal war es, als ob diese Traurigkeit etwas in ihrem Inneren zum Klingen brachte, wie eine Stimmgabel. Dann schwappte etwas von seiner Traurigkeit zu ihr herüber. Lisa versuchte, es wegzudrücken, weil sie genau wusste, dass es keinen Sinn hatte, diesem Gefühl nachzuhängen. Aber indem sie es ignorierte, gewann es an Kraft, daher ging Lisa schließlich dazu über, jeden Abend, wenn sie im Bett lag, ihrem Herzschmerz über Nios Verlust Raum zu geben und die Tränen fließen zu lassen. Das schaffte Erleichterung und half ihr, das Thema tagsüber ruhen zu lassen.
Heute am Maifeiertag war schulfrei. Lisa stand am Fenster und spielte auf ihrer Querflöte die melancholische Melodie von Swanee River. Das Lied passte ganz gut zu ihrer Stimmung. Ein Klopfen an der Tür ließ sie innehalten.
»Lisa?« Die Angesprochene verdrehte die Augen, wusste sie doch genau, was ihre Mutter wollte. Die Klinke bewegte sich vergeblich nach unten, da es Lisa nach langer Suche endlich gelungen war, einen passenden Schlüssel für ihr Zimmer zu besorgen und seither blieb diese Tür fast immer verschlossen.
»Was ist?«
»Julio hat Paella für uns gekocht. Bitte komm doch runter und iss mit uns.«
»Wahrscheinlich wieder Paella mit extra viel Fleisch«, rief Lisa erbost. »Ich verzichte!«
»Jetzt sei doch nicht immer so negativ. Du brauchst das Fleisch einfach nur wegzulassen. Julio wollte uns eine Freude machen und ich finde es absolut nicht in Ordnung, dass du ihm nicht mal eine Chance dazu geben willst. Kannst du ihn nicht wenigstens ein bisschen akzeptieren?«
Lisa schloss die Lider und atmete tief durch.
»Wie lange willst du dich denn auf deinem Zimmer einsperren?«, fuhr Mama fort. »Das ist doch für uns alle so kein Zustand.«
»Stimmt, deshalb ziehe ich nach dem Schulabschluss ja auch zu Papa«, murmelte Lisa.
»Was hast du gesagt? Komm doch mal raus, damit ich dich verstehen kann. Bitte! Mir zuliebe …«