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Eine verbotene Liebe in einer fremden Welt voller Magie
»Oh, Leanah! Es tut mir so leid!«, ruft Silas gequält, eilt herbei und hilft mir auf die Beine.
Ich habe mich nicht verletzt, nicht äußerlich, nur mein Herz brennt fürchterlich, vor allem, weil er mir jetzt wieder so nah ist. Sein Arm umschlingt meine Hüfte und der vertraute Duft macht die Pein schier unerträglich. Die hervorquellenden Tränenbäche lassen sich kaum noch eindämmen. Ich kann ihn nicht ansehen, schaue an Silas vorbei, weiß nicht mehr, ob ich einfach heulend weglaufen, ihm meinen Schmerz um die Ohren schreien oder mich in seinen Armen der überwältigenden Anziehung hingeben soll.
»Leanah, ich, es tut mir so leid«, wiederholt er unbeholfen.
Dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob er damit den Kuss meint, oder dass er mich mit der Tür umgeworfen hat, oder beides. Ich weiß nur zu genau, dass ich kein Recht auf Eifersucht habe und doch wünscht sich jede meiner Fasern, ich wäre die Frau gewesen, die er eben geküsst hat.
»Ja, ich weiß«, antworte ich erstickt.
Zweiter Band der Lichtertanz-Trilogie
Band I – Die Magie der Glanzlichter
Band II – Die Magie der Goldwinde
Band III – Die Magie der Lichtkristalle
Weitere Bücher der Autorin:
Flammentanz
Band I – Funken
Band II – Flammen
Band III – Feuer
Band IV – Brand
Band V – Glut (Finale)
Schattentanz
Trilogie um Torins und Ineas Tochter
WandelTräume
Ein außergewöhnliches Jugendbuch
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Inhaltsverzeichnis
1 – Schafe
2 – Zur Fröhlichen Singdrossel
3 – Begegnung mit Nieve
4 – Tillem Sendling
5 – Eine neue Magd
6 – Aufschlussreiche Nachtgespräche
7 – Ein Ausflug mit Folgen
8 – Der die Monster jagt
9 – Zwei Schergen und eine Offenbarung
10 – Eine verhängnisvolle Begegnung
11 – Im Schatten
12 – Saal der leuchtenden Tropfsteine
12 – Die Magie der Goldwinde
13 – Tal der Nebelstrudel
14 – Auf der Flucht
15 – Geröll im Bauch
16 – Klamm ohne Wiederkehr
17 – Berkat
18 – In der Falle
19 – Scherars Geheimnis
20 – Pakt der Frauen
21 – Quälende Ungewissheit
22 – Überschlagende Ereignisse
23 – Säulenhalle
24 – Aufbruch und Hilfe
25 – Magie der Liebe
26 – Das Tor zum Nirgendwo
Ausblick
Danksagung
Weitere Bücher der Autorin
Schattentanz
Ode an meine Testleser
Glossar
Impressum
LICHTERTANZ
Die Magie der Goldwinde
Isabella Mey
Band II
Nur wenn du weiter gehst, wirst du irgendwann das Licht am Ende des Tunnels erblicken.
Etwas Kühles berührt mein Gesicht und katapultiert mich damit abrupt aus meinen Träumen in die Wachwelt. Ich reiße die Lider auf. Beim Blick in zwei große, runde Augen fahre ich erschrocken hoch, wodurch das Tier, das eben noch auf meiner Brust hockte, zwitschernd in meinen Schoß kullert.
»Jori! Was treibst du da?«, rufe ich erbost.
Mein Hängebett schaukelt heftig. Ich weiß nicht, ob ich das bei ihm richtig deuten kann, aber es sieht aus, als würde er breit grinsen.
›Leanah sieht so lustig aus, wenn sie Grimassen schneidet‹, antwortet seine Stimme in meinem Kopf.
›Also, ganz bestimmt habe ich im Schlaf keine Grimassen geschnitten‹, widerspreche ich, allerdings ahne ich schon, was er meint.
›Du nicht, aber ich habe das für dich gemacht. Außerdem war es sehr lustig, wie du dazu »Oh ja, Silas!« gestöhnt hast‹, antwortet Jori und ich bilde mir bestimmt nicht ein, dass sein Grinsen nun noch breiter wird.
›Sicher habe ich das nicht gesagt!‹, wehre ich ab, auch wenn ein kleiner Teil von mir es doch für möglich hält. Leider erinnere ich mich nicht an meinen Traum.
›Nicht gesagt, sondern gestöhnt hast du es. Ganz laut und deutlich‹, beharrt Jori.
Jetzt wird mir doch anders zumute. Falls das wirklich stimmen sollte und mir so etwas passiert, wenn ich irgendwann als Jolims Frau mit ihm das Bett teile … Bei dem Gedanken an seine Reaktion und meine fadenscheinigen Ausreden wird mir jetzt schon flau im Magen. Aber wie soll ich Silas aus meinem Kopf bekommen? Ich muss mich ausschließlich auf mein Leben konzentrieren, irgendwann wird die Erinnerung an ihn verblassen und ich werde ihn vergessen haben …
›Warum machst du es dir so schwer, Leanah? Küss doch den Silas-Kerl, wenn du das willst, oder tu mit ihm diese anderen Sachen, die die Menschen so gern machen …‹
Ich schnaube – auch deshalb, weil ich nicht verhindern kann, bei der Vorstellung rot anzulaufen.
›Du weißt doch, dass das nicht geht. Bei uns Menschen ist eben alles kompliziert, auch wenn du das nicht verstehen kannst. Und woher bitteschön weißt du von … äh, von welchen Sachen redest du denn überhaupt?‹
›Na, du weißt schon, die Menschenmänner haben doch alle so was Langes zwischen den Beinen. Und dieser böse Zauberer, der mich gemacht hat, konnte gar nicht genug davon bekommen, es in diese Frau reinzustopfen, die manchmal zu ihm in die Höhle kam.‹
›Ähm, ja, ach … So genau wollte ich es doch nicht wissen. Was ist eigentlich aus dem Zauberer geworden? Lebt er noch?‹, wechsele ich rasch das Thema – zum einen, weil ich in diesen Dingen noch vollkommen unerfahren bin, zum anderen, weil mir nur beim Gedanken an die Hochzeitsnacht schwindelig wird, denn zu meinem Ärger spukt Silasʼ Gesicht permanent in meinem Kopf herum, wenn ich mir diese Szene vorzustellen versuche. Und jedes Mal zieht es dabei verräterisch in meiner Mitte.
Nein! So geht das nicht!
Stöhnend raufe ich mir die Haare.
›Weiß nicht … hab ihn nicht mehr gesehen, nachdem ich abgehauen bin.‹
›Abgehauen? Was? Ach so, ja, du meinst den Zauberer …‹, antworte ich verwirrt.
Es ist früh am Morgen und den Geräuschen nach zu urteilen, schläft meine Familie noch.
Was Silas wohl gerade treibt und wo er die Nacht verbracht hat? Nein, nicht schon wieder Silas! Wie sieht es mit Jolim aus? Er wird wie immer mit seinem Vater unterwegs sein und Dinge verkaufen … Wer wäre da noch? Meliesa!
Da erst fällt mir wieder ein, dass wir ja über die Unta in Kontakt bleiben wollten.
Ob das wirklich funktioniert, sie herzurufen? Wie war das noch? Ach ja, ich soll mir eine Gelina-Frucht vorstellen und ›Unta‹ sagen.
»Unta.«
Nichts geschieht. Ich schaue im Raum umher und wiederhole das Wort, male mir die Frucht süß, saftig und in allen Geschmacksrichtungen aus, aber nirgends kann ich die magische Schriftrolle entdecken. Enttäuscht lasse ich mich aufs Bett zurücksinken.
Warum funktioniert das nicht? Zu dumm, dass ich jetzt nicht einmal Meliesas Adresse kenne. Sie war wirklich nett und gute Freunde habe ich sonst kaum welche – wenn ich Silas und Jolim ausnehme, bleiben da eigentlich nur Jori und meine Familie.
›Warum stellst du dir andauernd diese komische Frucht vor? Willst du sie herbeizaubern?‹, fragt Jori, der mal wieder ungefragt meinen Gedanken gelauscht hat.
›Nein, so etwas geht doch gar nicht. Man kann Dinge nicht einfach herbeizaubern. Ich will …‹
Es klopft an der Tür.
Wer kann das sein so früh?
»Wer ist da?«
Ich setze Jori neben mich aufs Bett, er klettert sogleich geschickt an den Seilen ins Geäst der Zimmerdecke, und stehe auf. Ich habe in meinem cremefarbenen Nachtkleid geschlafen. An kalten Tagen dient es auch als Unterkleid.
Durch den Türspalt lugt Mikáso zu mir ins Zimmer. Es kommt eher selten vor, dass er mich hier aufsucht und ich ahne nichts Gutes. Er lauscht angespannt in die Stille. Als alles im Haus ruhig bleibt, tritt er ein und schließt die Tür sorgfältig hinter sich.
»Der erste Gefallen ist fällig«, verkündet er feierlich.
»Wenn’s sein muss …«
Murrend verdrehe ich die Augen.
»Ich habe große Lust auf Schillervogeleier. Du klaust alle unten aus der Küche und bringst sie mir. Wenn Papa merkt, dass sie weg sind, gestehst du ihm, dass du sie genommen und genascht hast.«
»Bist du verrückt? Berkat bringt mich eigenhändig um!«, protestiere ich stinksauer.
»Ach, so schlimm wird’s schon nicht werden. Dir fällt bestimmt eine gute Ausrede ein. Wenn Papa dagegen erfährt, dass ich dich mit einem fremden Mann erwischt habe, mit dem du ein heimliches Verhältnis hast, könntest du schon recht haben«, droht mein Halbbruder.
»Das wäre eine glatte Lüge! Ich habe kein Verhältnis mit ihm«, zische ich zerknirscht durch die Zähne.
»Wer’s glaubt! Ich hab doch genau gesehen, wie du ihn abgeknutscht hast.«
Da platzt die Wut endgültig aus mir heraus.
»Berkat vergnügt sich hier unter unserem Dach mit der Magd, stört dich das eigentlich gar nicht? Und mich erpresst du, weil ich einen Mann nur mal heimlich geküsst habe. Warum bist du so gemein zu mir? Hab ich dir irgendetwas getan?«, rufe ich aufgebracht, beiße mir dann jedoch auf die Lippe, denn ich war viel zu laut.
»Ich freue mich auf die Eier«, antwortet Mikáso unbeeindruckt und schon ist er zur Tür hinaus.
Toll, und was jetzt? Am besten ich bringe die Sache gleich hinter mich.
Die Sonne schickt gerade ihre ersten wenigen Strahlen über den Horizont. Meistens ist meine Familie um diese Zeit schon hellwach, aber heute herrscht ungewöhnliche Stille im Haus. So ergreife ich die Gelegenheit und schleiche auf nackten Sohlen die Stufen hinunter in die Küche. Die Schillervogeleier sind eine Delikatesse und besonderen Anlässen vorbehalten. Sie lagern in einer kleinen Holzkiste ganz oben im Regal. Ich benötige einen Schemel, um sie herunterzuholen. Neugierig öffne ich das Kästchen. Darin befinden sich zehn runde, schneeweiße Kugeln – optisch nicht außergewöhnlich, doch ich weiß ja, wie sie schmecken: nach Honig, Sahne und noch einigen leckeren Zutaten, die sich mit nichts vergleichen lassen. Nur vom Ansehen läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Da höre ich plötzlich ein Geräusch. Jemand kommt zur Tür herein. Eilig stopfe ich die Kiste zwischen die Maischamehlsäcke. Mein Herz pocht bis zum Hals.
Eine mir unbekannte Frau taucht auf und sieht mich verwundert an. Sie hat langes, rotbraunes Haar, trägt ein kurzes Unterkleid, das kaum ihren Hintern bedeckt und ihre Lippen glühen sinnlich rot. Das sieht mir verdächtig nach einem Extrakt aus den Kernen der Purpurschönen Perlbeere aus, welches vor allem die Blirnen1 – die leichten Mädchen der Städte –auftragen, um die Männer zu bezirzen.
Sie wird doch nicht etwa eine von denen sein?
»He, was treibst du hier? Ach, du musst die Lena sein!«, ruft sie aus, als sie mich erblickt.
»Leanah! Dann bist du also unsere neue Magd«, erwidere ich kalt.
In mir brodelt der Zorn und gerade hole ich aus, um ihr diesen entgegenzuschleudern, doch da kommt mir plötzlich eine Idee, wie ich den mir drohenden Ärger elegant vermeiden könnte.
»Magd«, lacht sie verächtlich. »Wenn du es so nennen willst …«
Darauf gehe ich lieber nicht ein, sonst sehe ich nur noch rot vor Wut. Stattdessen ziehe ich die Schillervogeleierkiste aus dem Regal, öffne sie und reiche Syndia eine Handvoll Eier, was gut der Hälfte entspricht.
»Hier, ein kleines Willkommensgeschenk.«
Die Augen der Magd weiten sich. Dann greift sie freudig zu und stopft sich gleich drei der Köstlichkeiten auf einmal in den Mund.
»Danke! Ich hätte gar nicht gedacht, dass du so nett bist«, antwortet sie kauend und schmatzend.
Bin ich auch nicht – jedenfalls nicht zu dir, denke ich insgeheim, wobei ich die Zähne zusammenbeiße, um meine Wut runterzuschlucken.
Das mit den Eiern war nur eine List, um Berkat zu besänftigen, sollte er den Verlust bemerken. Ich hole möglichst unauffällig die restlichen Eier aus der Kiste und stelle sie an ihren Platz ganz oben im Regal zurück. Dann eile ich die Treppe hinauf bis in Mikásos Zimmer. Alle Räume hier oben wurden in gleicher Größe angelegt, was Berkat überhaupt nicht passt, aber er hat das Haus ja nicht gebaut, sondern nur übernommen. So ist auch das Zimmer meines Halbbruders genauso groß wie meines, dafür aber wesentlich komfortabler eingerichtet. Es gibt hier noch einen gemütlichen Hängesessel, einen Schrank, einen Schreibtisch, außerdem Trophäen verschiedener Tiere, Schmucksteine und elegante Stoffe an den Wänden.
Mikáso schaukelt in seinem Hängesessel, als ich eintrete. Ich lege wortlos die fünf Eier auf seinen Schreibtisch.
»Mehr waren nicht da?«, fragt er enttäuscht.
»Die anderen hat Syndia gegessen«, entgegne ich wahrheitsgemäß.
Bevor sich mein Halbbruder noch weitere Gemeinheiten ausdenken kann, bin ich schon aus der Tür. Ich eile die Treppe hinunter, durch den Vorraum und über den Hof, um meine Arbeit im Stall zu erledigen. Auf der Außenseite führt eine Treppe direkt zum Heuboden über dem Stall. Hier finde ich Aaran vor. Er liegt mit ausgestreckten Gliedern im Heu. Zuerst erschrecke ich bei seinem Anblick, doch der gleichmäßige Atem und das versonnene Lächeln in seinem Gesicht verraten mir, dass es ihm gutgeht.
Ob er die ganze Nacht hier geschlafen hat? Der alte Mann ist schon ein seltsamer Kauz, aber ich liebe meinen Großvater von ganzem Herzen.
Ich werfe etwas von dem Kraftfutter durch die Öffnung, die über ein Rohr mit dem tiefergelegenen Futtertrog verbunden ist. Dieses Spezialfutter erhalten die Jungtiere, bevor Berkat und Mikáso sie zusammen mit der restlichen Herde auf die Weide bringen.
»Leanah! Wie schön, dass du wieder da bist. Komm her mein Kind!«, sagt Aaran erfreut.
Er richtet sich auf und ich setze mich neben ihn.
»Hast du etwa heute Nacht im Heu geschlafen?«
»Ja, es duftet hier so herrlich. Außerdem wollte ich sichergehen, dass es den Schafen gutgeht. Aber es lässt sich wohl nicht vermeiden, dass das Wesen eines der Tiere reißen wird. Das ist der Lauf der Natur, musst du wissen …«, sagt er mit rostiger Stimme und richtet seine trüben Augen dabei zu den mehrfach miteinander verschlungenen Ästen des Daches.
»Wesen? Welches Wesen? Wie kommst du darauf?«, frage ich verwirrt.
Das ist mir unheimlich, vor allem, weil er schon einmal etwas vorhergesehen hatte, das er eigentlich gar nicht wissen konnte.
»Sorge dich nicht um das, was kommen wird, Leanah. Genieße lieber diesen schönen Augenblick im Jetzt, denn man kann nie wissen, wie viele es davon noch geben wird«, antwortet er gewohnt kryptisch.
Doch in diesem Moment macht es mich schier wahnsinnig. Ich muss an das unsichtbare Monster denken, das Silas und mich verfolgt hat.
Ob Aaran davon spricht?
»Kannst du mir nicht mehr über das Wesen erzählen?«
»Nein, Leanah. Da waren Bilder des Schafes aber keine von dem Wesen.«
Ich seufze frustriert. Das könnte ja alles und nichts bedeuten. Aber es graust mich bei der Vorstellung, dass auch nur einem unserer Schafe etwas zustoßen könnte. Selbst wenn ich sie nicht berühren darf, liegen mir die Tiere am Herzen. Ich kenne jedes Einzelne seit seiner Geburt, weiß ihre Namen und einige kann ich sogar durch ihr Blöken unterscheiden. Am liebsten würde ich Berkat bitten, heute mich die Tiere hüten zu lassen, doch ich kenne ihn viel zu gut, um zu wissen, dass er dem niemals zustimmen würde. Und ihn zu warnen wäre ebenfalls vergeblich, denn wie sollte ich ihm weismachen, dass Aarans Gefasel doch nicht so verrückt ist, wie wir alle bisher glaubten.
Im Stall unter uns wird es laut. Ich höre die quietschenden Scharniere des Tores, das aufgeregte Blöken der Herde, das Getrappel der Tiere und Mikásos Rufe. Mein Atem geht schwer, weil ich schmerzlich an unseren Hütehund Fennik denken muss. So viele Jahre habe ich in diesen Momenten sein fröhliches Bellen gehört. Vor einem viertel Sonnenjahr ist er gestorben, einfach an Altersschwäche. Berkat hat sich mit dem Gedanken getragen, einen neuen Hund zu kaufen, doch Hunde sind seltene und wertvolle Tiere auf Atlatica. So hat er bislang keinen erschwinglichen Ersatz für Fennik auftreiben können. Das Schafehüten ist jedoch um Einiges anstrengender ohne die Hilfe eines Hundes – zumindest reibt mir Mikáso diesen Umstand bei jeder Gelegenheit unter die Nase.
Langsam entfernt sich die Herde und jemand schließt hörbar das Tor zum Stall. Jetzt beginnt meine Arbeit mit dem Ausmisten. Das ist zwar nicht jeden Tag notwendig, aber Thera meinte, dass sich während meiner Abwesenheit niemand darum gekümmert hat. Ich öffne die hölzerne Falltür, zerre zwei Strohballen vom Stapel und werfe sie durch die Öffnung in die Tiefe. Danach klettere ich die Leiter hinab.
»Ich helfe dir Leanah«, bietet Aaran an.
Zwar bin ich versucht, den Alten davon abzuhalten, aber ich weiß, dass er trotz seiner Blindheit gerne Aufgaben übernimmt. Was soll er auch sonst den ganzen Tag über treiben?
»Gut, aber sei vorsichtig auf der Leiter«, antworte ich, während sich mein Großvater mit tastenden Schritten über den Boden bewegt.
Unten angekommen, drücke ich Aaran die Heugabel in die Hände. Dann wuchte ich die Ballen auf zwei Holzgabeln, damit sie nicht im Weg liegen. Ich klappe die Falltür im Zentrum des Stalls auf und sogleich strömt mir der blumige Duft aus dem Mugok-Becken entgegen. Der dunkle Schlund mündet in ein dickes, steinernes Rohr, durch welches sogar ein Erwachsener entlangkriechen kann, was notwendig ist, um Verstopfungen zu lösen. Zum Glück kommt das nicht allzu oft vor. Das vom Prahvo gespeiste Wasser fließt im Stall über ein Rohr in den Wassertrog, ergießt sich in eine Bodenrinne, die schließlich unter der Falltür hindurch ins Abwasserrohr für den Mugok mündet.
Aaran und ich beginnen nun, den Schafkot zusammen mit dem alten Stroh in das Loch hineinzuschieben. Ich sorge mich ein wenig darum, dass der Alte nicht ins Loch hineinfällt, doch er stoppt jedes Mal rechtzeitig. Wahrscheinlich bietet das Plätschern des Wassers eine gute Orientierungshilfe. Um den Stall blitzblank zu putzen, fluten wir manchmal den gesamten Boden, aber sehr oft ist das nicht notwendig und nur an heißen Tagen sinnvoll, wenn das Wasser durch die Verdunstung wunderbare Kühlung schafft.
Plötzlich hält mein Großvater inne. Es scheint, als würde er einem Geräusch lauschen, aber ich kann nichts Ungewöhnliches hören. Er legt die Heugabel beiseite, dann geht er einfach ohne ein Wort zum Tor und öffnet es.
»Aaran? Wo willst du hin?«, frage ich verwundert.
»Die Schafe …«, murmelt mein Großvater, dann ist er draußen.
Hin- und hergerissen, ob ich ihm folgen soll, verharre ich einen Moment. Ich kann nicht genau sagen, weshalb, aber ich entscheide mich dafür, hierzubleiben und meine Arbeit fortzusetzen. Vielleicht will ich mir selbst mit dieser altbekannten Routine beweisen, dass alles seinen gewohnten Gang geht, es keinen Grund zur Sorge gibt. Ich nehme die Scherklinge vom Wandhaken und durchtrenne damit die Schnüre, welche die Ballen zusammenhalten. Dann beginne ich, das Stroh gleichmäßig im Stall zu verteilen.
Plötzlich werde ich von einem weiblichen Lachen aufgeschreckt. Im Stockwerk über mir höre ich hektische Schritte.
»Du machst mich wahnsinnig«, knurrt jemand, bei dem es sich eindeutig um Berkat handelt.
»Schon wieder? Wir haben doch gerade erst …«, kichert diese verfluchte Blirne namens Syndia. »Aber hier im Stall?«
»Wo denn sonst, wenn dich Denyas Schmerzensschreie zu sehr stören, um dich mir hinzugeben?«
Es raschelt im Stroh. Berkat keucht. Mir wird schlecht und gleichzeitig könnte ich schreien. Zu allem Überfluss bewirkt mein innerer Aufruhr, dass sich die Magie mal wieder verselbständigt. Wütende Lichtblitze zucken aus meinen Augen und über meine Haut wandern glutrote Wellen.
Ich muss mich abreagieren! Irgendwie!
Mein Blick wandert zu dem gebogenen Schäferstock, der an der Wand hängt. Ich nehme ihn vom Haken und stelle mich damit unter die noch immer offene Falltür. Jeder einzelne Laut der Leidenschaft entfacht neue lodernde Flammen der Wut in meinem Inneren, entzündet ein wahres Feuerwerk stummer Lichtblitze, das sogar bis zum Dach hinauf leuchtet.
»O Omatan, ein Feuerwerk!«, japst Syndia, während ich weit aushole und den Hirtenstab gleich einem Speer mit voller Wucht nach oben schleudere. Dabei entweicht mir ein schriller Schrei, in dem sich all meine aufgestaute Wut entlädt.
»Ah!«, stöhnt Berkat, der Stab poltert ins Stroh und es wird verdächtig still über mir.
Ich eile zum Tor, welches Aaran nicht ganz geschlossen hat, da brüllt mein Vater drauf los: »Leanah! Ich weiß ganz genau, dass du das warst! Du kannst dich auf was gefasst machen!«
Meine Magie ist mit dem Ausbruch verebbt. Ich verharre unschlüssig im Tor. Ein Teil von mir will flüchten, der andere drängt darauf, Berkat die Stirn zu bieten, ihm das schreiende Unrecht um die Ohren zu schlagen. Doch beide Impulse werden von einem dritten überlagert, als ich draußen auf der Kuppe des Hügels unsere Schafe erblicke. Auch Aaran und Mikáso tauchen dort auf. Sie treiben die Tiere zu der Weide direkt neben unserem Stall. Über Mikásos Schulter hängt ein hellblaues Schaf: Arida. Ein besonders zahmes Tier, das zu meinen Lieblingsschafen zählt. Ich ahne Schlimmes.
Nein! Nein! Das darf nicht sein!Was ist mit ihm passiert?
Mit pochendem Herzen sehe ich zu, wie Mikáso rasch näher kommt, während Aaran das Gatter schließt und sich unter die Herde mischt. Zu gerne würde ich meinem Bruder entgegenlaufen, doch eine lähmende Schwere kriecht in meine Beine. Da legt sich plötzlich eine Pranke unsanft auf meine Schulter und reißt mich herum, sodass ich in Berkats wutverzerrte Fratze blicke.
»Du wagst es!«, donnert er.
Doch ich fühle mich im Recht und das verleiht mir die Stärke, seinem Blick standzuhalten.
»Dass du dich nicht schämst …«, entgegne ich mit zusammengekniffenen Augen.
Offenbar verwirrt es Berkat, dass ich kein bisschen vor ihm einknicke, denn für einen Moment steht Unentschlossenheit in seinen Augen geschrieben, ob er mich quer über den Hof prügeln soll oder besser komplett ignoriert. Die Szene löst sich dadurch auf, dass nun Mikáso aufgeregt herbei stürmt.
»Papa! Du glaubst nicht, was passiert ist!«, ruft er.
Als Berkat an mir vorbei sieht, verliert sein eben noch glutrotes Gesicht alle Farbe.
»Da war etwas, ein Monster, aber ich konnte es nicht sehen«, bringt mein Halbbruder atemlos hervor.
Ohne mich weiter zu beachten, tritt Berkat auf Mikáso zu. Er nimmt ihm das Schaf von der Schulter, legt es auf dem lehmigen Boden ab und befühlt seinen Puls. Äußerlich wirkt es unversehrt, doch es liegt so schrecklich leblos da. Unterdessen erzählt mein Halbbruder weiter:
»Es war unsichtbar und hat fürchterlich gebrüllt. Die Schafe gerieten in Panik. Zum Glück sind sie Richtung Stall gerannt, sonst hätte ich sie nie wieder zusammengekriegt. Doch das Monster war schneller, hat eines gepackt … die bunte Lisia … es hat sie durch die Luft gewirbelt. Blut tropfte aus ihrer Kehle. Das Biest muss riesig sein! Das tote Schaf wurde davon getragen, dann ist das Monster mit ihm im Dickicht verschwunden. Mehr habe ich nicht gesehen, weil … ich bin der Herde nachgerannt und da kam mir Aaran entgegen, hat die Schafe beruhigt. Zum Glück, als hätte er es geahnt …«
»Und was ist mit Arida geschehen?«, fragt Berkat, während er das Tier abtastet.
»Das-das weiß ich nicht so genau. Es sah aus, als ob ein grüner Nebel durch die Luft flog und Arida im Gesicht getroffen hätte, noch bevor das Monster angriff. Aber das habe ich mir vielleicht nur eingebildet.«
»Was für ein Auflauf am Tor. Na, was gibt es denn hier Schönes zu sehen?«, fragt Syndia, die plötzlich durchs Stalltor hinaus lugt.
Dabei kämmt sie die Finger durchs Haar, um das Stroh herauszuziehen, welches sich darin verfangen hat. Um Lippen und Wangen glüht sie in einem unnatürlichen Rot. Offenbar hat Berkat das Perlbeer-Extrakt beim Liebesspiel über ihr halbes Gesicht verschmiert. Eine Brust lugt gut zur Hälfte aus dem Ausschnitt hervor. Ich kann nicht verhindern, dass meine Augen ihr die ganze Verachtung entgegenschleudern, die ich in diesem Moment empfinde. Immerhin hat mein Vater nun Wichtigeres im Sinn, als auf ihren dümmlichen Kommentar zu antworten.
»Es lebt noch, aber die Atmung geht schwach. Leanah, lauf rasch zu Denya und frage sie nach einem Belebungstrank!«, befiehlt Berkat – eine Aufforderung, der ich gerne Folge leiste.
Ich fliege förmlich davon, um den Stall herum, ins Wohnhaus, wo ich meine Mutter schlafend im Hängesessel vorfinde. Die Stiefel habe ich einfach angelassen, heute ist mir der Mist egal, den ich damit im Wohnraum verteile.
»Mama! Wach auf! Ein Schaf ist verletzt! Wir brauchen dringend einen Belebungstrank!«, rufe ich, wobei ich sanft am Sessel rüttele.
Stöhnend öffnet Denya die Augen.
»Ein Schaf ist verletzt? Wie ist das geschehen?«, will sie wissen.
Dabei quält sie sich träge aus dem Sessel.
»Wir wissen es nicht genau. Irgendein Wesen aus der Zone der Monster wahrscheinlich. Es atmet schwach und ist bewusstlos.«
Schwankend bewegt sich meine Mutter zu ihrem speziellen Regal, in dem sie ihre Kräuter, Tränke und Salben aufbewahrt.
»Belebungstrank … ja, das ist in jedem Fall sinnvoll. Es wird Atmung und Kreislauf anregen …«, murmelt Denya, während sie zielsicher nach einem Fläschchen mit giftgrüner Flüssigkeit greift.
»Nicht mehr als fünf Tropfen auf die Zunge!«, sagt meine Mutter bedeutungsvoll, während sie mir den Belebungstrank in die Hand drückt.
Ich schließe die Finger darum.
»Danke, Mama«, sage ich und laufe auch schon zurück.
Als ich wieder beim Schaf eintreffe, ist auch Thera hinzugekommen. Mit Tränen in den Augen kniet sie neben dem Tier und streichelt Arida über die hellblaue Wolle. Seufzend reiche ich Berkat den Trank. Wie gerne würde auch ich das Schaf berühren, mit ihm kuscheln. Immerhin stelle ich erleichtert fest, dass von Syndia nichts mehr zu sehen ist.
»Nicht mehr als fünf Tropfen auf die Zunge, hat Mama gesagt«, füge ich hinzu, während mein Vater den Stöpsel entfernt und Mikáso dem Schaf das Maul öffnet.
Irgendwie fühlt es sich gut an, dass meine Familie so harmonisch zusammenarbeitet, wenn es um unsere Tiere geht. Immerhin eines der wenigen Dinge, die uns allen gleichermaßen am Herzen liegen.
Berkat träufelt exakt fünf Tropfen der grünen Flüssigkeit auf die herausgezogene Schafzunge. Dann schließt er Aridas Maul. Wir warten nun alle gebannt, was passiert, während Thera das Tier streichelt und die Männer Herzschlag sowie Atmung kontrollieren. Nach einer Weile atmet Berkat durch.
»Es erholt sich, wacht aber nicht auf. Wir bringen Arida in den Stall. Thera, du bleibst bei ihr und Mikáso, du reitest in die Stadt und gibst dem Monsterjäger Bescheid, dass ein neues Unwesen eines unserer Schafe gerissen hat. Dann hüte ich heute wieder die Herde.«
So wie er diesen Satz betont, muss er das Hüten während der letzten Zeit komplett seinem Sohn überlassen haben und mir ist natürlich klar, was er stattdessen getrieben hat.
Mikáso nickt zustimmend. Dann tragen die Männer Arida mit vereinten Kräften in den Stall hinein. Thera und ich folgen.
»Was lungerst du noch hier rum, Leanah? Los, kümmere dich gefälligst ums Morgenmahl!«, fährt mich mein Vater plötzlich aus heiterem Himmel an.
Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn der Familienfriede die Krisenmomente mal überdauert hätte. Da ich aber unmöglich Denya die Aufgabe des Brotbackens überlassen will, stapfe ich wortlos davon.
Atlaticanische: Prostituierte↩
Sie ist nicht für mich bestimmt. Leanah ist vergeben und wird einen anderen heiraten!
Jedes dieser Worte treibt Schmerzen bis in meine Eingeweide. Dennoch weiß ich, dass es keinen anderen Weg für sie gibt. So versuche ich, diese Sätze in mein Hirn zu meißeln, während sich gleichzeitig ein nicht unerheblicher Teil von mir hartnäckig dagegen sträubt, dies als Wahrheit anzuerkennen. Das magische Band, welches uns selbst in unseren Träumen vereint, muss etwas zu bedeuten haben, etwas das jenseits der Dinge des Verstandes liegt.
Versonnen setze ich meinen Weg fort. Inzwischen habe ich eine mit grobem Kies aufgeschüttete Straße erreicht. Sie begleitet den Fluss in sicherem Abstand zum Ufer. Es muss sich um den Pravho handeln, von dem Hanna und ich vor nicht allzu langer Zeit auf dem Floß-Baum hinweggespült wurden. Dabei konnte ich natürlich nicht besonders viel von der Umgebung wahrnehmen, jetzt dagegen wandern meine Blicke neugierig über jedes mir unbekannte Detail dieser fremden Welt: Das Flussufer wird hier von Bäumen gesäumt, deren lange, gefiederte Blätter bis zum moosbedeckten Boden und sogar bis ins Wasser hinabhängen. Vor diesen hat mich Leanah gewarnt. Sobald man unter ihnen verweilt, wickeln sie ihr Opfer mit den klebrigen Fasern ein und ziehen es in die Wipfel, wo man von einem mächtigen Schlund verspeist wird. Auf dem Weg müsste ich jedoch sicher vor ihnen sein. Am anderen Ufer türmen sich steile Felswände auf, die nur vereinzelt von Kletterpflanzen, Gräsern und Blumen bewachsen sind. Zu meiner Linken breitet sich eine hügelige Graslandschaft aus. Hin und wieder wird sie von Baumgruppen und Büschen unterbrochen.
Da ich nicht genau einordnen kann, wie lange ich bis zur nächsten Stadt namens Mistad benötige, marschiere ich in strammem Schritt. Mit Leanahs Zeitangabe von sechs Zykelticks, die ich in etwa benötigen sollte, kann ich nichts anfangen.
Die Ungewissheit liegt mir schwer im Magen. Auf der Burg habe ich kein Geld für meine Arbeit erhalten – mein Lohn bestand lediglich in Unterkunft und Verpflegung aus der Gesindeküche. So weiß ich weder, wo ich mein Nachtlager aufschlagen werde, noch was ich essen soll. Daher muss ich mich zuerst um Arbeit kümmern. Anhaltspunkte zum Aufenthaltsort meiner Eltern habe ich ohnehin keine und so macht es Sinn, sich auf der Insel einzuleben, um Kontakte zu knüpfen. Auf diese Weise komme ich am ehesten an Informationen.
Stunde um Stunde vergeht, bis sich endlich die Silhouetten von Behausungen aus dem Dunst heben. Auf meinem Weg bin ich kaum einer Menschenseele begegnet. Zwei Mann ritten ohne einen Gruß an mir vorüber, das war auch schon alles. Doch es wundert mich wenig, dass sich nicht viele Menschen in diese Gegend verirren, nachdem mir Leanah von vielerlei Untieren berichtete, die die Gebirgsregion unsicher machen. Allein Namen wie Leimar, Sumpfschmeigel oder Faulwolf erwecken in meiner Fantasie grausige Kreaturen zum Leben.
Die Sonne steht schon recht tief am Himmel, als ich die ersten Häuser erreiche. Die Leuchtkristalle in den Laternen spenden jedoch ausreichend Licht, um der eintretenden Dämmerung entgegenzuwirken. Je näher ich komme, desto reger wird das Leben. Ähnlich wie in Haifat, herrscht hier ein buntes Mischmasch an Behausungen, wobei in Mistad die aus Bäumen gewachsenen Wohnhäuser überwiegen und zuweilen den Eindruck erwecken, man befände sich mitten in einem Wald. Allerdings wundere ich mich darüber, dass an vielen Fronten verdorrte Pflanzen ein kümmerliches Bild der sonst überaus bunten Stadt abgeben. Doch dann fällt mir wieder der Schnee ein, der vor nicht allzu langer Zeit die fragile Vegetation gefrostet haben muss. Es herrscht ein reges Treiben auf den Straßen, Kinder spielen, Pferdekutschen bahnen sich ihren Weg, an manchen Ecken klappen Leute ihre mobilen Marktstände zusammen. Aber ich sehe auch nicht wenig bettelnde Krüppel und Greise und sorge mich, diese Nacht in ähnlicher Weise auf der Straße verbringen zu müssen.
Alle Straßen werden von einem schmalen Bach geteilt, welcher von dem Brunnen gespeist wird, der im Zentrum jeder Kreuzung zu finden ist. Hin und wieder führt eine Brücke über ein duftendes, rosa Gewässer, von dem ich inzwischen weiß, dass es sich um die Kanalisation Atlaticas handelt.
Auf meiner Wanderung habe ich mir überlegt, dass es sinnvoll wäre, in einem Wirtshaus nach Arbeit zu fragen, da ich dort am ehesten mit Leuten ins Gespräch komme. Nachdem ich ein wenig unbeholfen durch die Straßen geirrt bin, entscheide ich mich, jemanden anzusprechen. Ich gehe auf einen jungen Burschen zu, der einen Sack über der Schulter trägt. Mit seinen orangen Flatterhosen und den abstehenden Ohren ist er lustig anzuschauen. Zudem trägt er einen lichtabstrahlenden, hellgrünen Spitzhut, wie es häufiger hier zu sehen ist. In Frankfurt wäre er in seiner Aufmachung Ziel jeglicher Aufmerksamkeit, hier jedoch schenkt ihm außer mir niemand besondere Beachtung.
»Entschuldigen Sie, wo finde ich eine Gaststube?«, frage ich höflich.
Der junge Mann sieht mich mit verkniffenen Augen an.
»Was soll das sein und weshalb sprichst du so seltsam?«, fragt er.
»Ich bin fremd hier und suche einen Ort, wo man etwas essen und trinken kann.«
»Ach so, ein Wirtshaus. Sag das doch gleich! Geh einfach dort die Straße entlang, dann dreh rechts und da siehst du schon die ›Fröhliche Singdrossel‹.«
»Ich danke dir.«
»Auf gute Beine!«, antwortet er, wobei er die Hand hebt und dann seines Weges zieht.
Auf gute Beine? Welch ein seltsamer Abschiedsgruß!
Wenig später stehe ich vor einem hölzernen Schild mit der Aufschrift ›Zur fröhlichen Singdrossel‹. Das Haus setzt sich aus einer Mischung von gewachsenen Bäumen, Holzbretterwänden und milchigen Glasscheiben zusammen. Letztere liegen nicht, wie ich es von zu Hause gewohnt bin, in Rechtecken auf Sichthöhe, stattdessen verteilen sich Scheibenteile aller Größen und Formen gleichmäßig über die gesamte Front des Gebäudes. Immerhin gibt es im ersten Stock quadratische Fenster, die sich sichtlich auch öffnen lassen. Die Singdrossel macht ihrem Namen alle Ehre, denn bereits von draußen höre ich, wie Gäste einen heiteren Gesang anstimmen. Aus der Tür torkelt ein Betrunkener. Zögerlich bewege ich mich zum Eingang, als ein Mann auf der Straße geradewegs auf mich zusteuert.
»He, was stehst du da im Weg rum?«, schimpft er, während ich im letzten Moment ausweiche.
Im Gegensatz zur normalen Bevölkerung trägt er komplett schwarze Kleidung. Seine Haare sind ebenso dunkel wie seine Augen und vielleicht auch seine Seele. Bestimmt handelt es sich um einen der berüchtigten Magier Sorbats. Alle, die ich bisher gesehen habe, wirkten gleichermaßen düster – selbst Torin. Da ich mir aber keinen Ärger einhandeln will, hebe ich entschuldigend die Hände und mache einen Schritt auf den Eingang zu.
»He, Moment! Was erlaubst du dir? Keiner geht an Sorbats Kämpfern vorüber, ohne Lord Sorbat zu huldigen!«
Der Kerl packt mich grob am Arm und reißt mich zurück. Jetzt sitze ich gehörig in der Tinte. Habe ich doch keine Ahnung, was man von mir erwartet. Einige Schaulustige lugen zur Tür heraus. Diese Aufmerksamkeit kann ich noch weniger gebrauchen.
»Gehuldigt sei Lord Sorbat«, antworte ich und bete, dass die Sache damit erledigt ist.
»Sag mal, du legst es wohl darauf an, dich in Schwierigkeiten zu bringen«, knurrt der Kerl bedrohlich.
»Nein, es ist so, ich bin fremd hier und wenig vertraut mit den hiesigen Gepflogenheiten«, versuche ich mich an einer Erklärung.
»Fremd hier? Was soll das heißen? Woher stammst du, dass du nicht weißt, wie Sorbat zu huldigen ist?«
Der Kerl rückt bedrohlich nahe, während er mir tief in die Augen stiert. Instinktiv richte ich meine Gedanken auf die hohen Gipfel des Shikoat-Gebirges und erst im nächsten Moment begreife ich, weshalb mich dieser Impuls vor großen Problemen bewahrt hat.
»Du bist ein Eremit aus den Bergen? So siehst du gar nicht aus. Viel zu jung. Aber damit du’s weißt, du hast vor mir auf die Knie zu fallen, die Arme gen den Himmel zu recken und ›Lord Sorbat über alles!‹ zu rufen, sobald einer seiner Leute an dir vorbeigeht.«
Er blitzt mich herrisch an. Wohl erwartet er, dass ich dies nun in die Tat umsetze und doch bleibe ich einfach stehen, erwidere fest seinen Blick.
»Na wird’s bald! Auf die Knie!«, brüllt er, was einen erneuten Widerstreit in mir auslöst.
Sicher ist es dumm, nicht einfach meinen Stolz zu überwinden und seinem Befehl Folge zu leisten, dennoch fühlt es sich an wie ein Verrat an mir selbst.
Vor diesem selbstherrlichen Despoten und seinen Schergen soll ich am Boden kriechen? Niemals! Das bringe ich nicht fertig.
Um uns herum bildet sich ein immer größer werdender Ring an Schaulustigen. Ich wage nicht, in die Gesichter zu sehen, aber alle verhalten sich still, höchstens ein aufgeregtes Wispern vernehme ich ab und zu.
»Du weigerst dich! Dann muss ich wohl nachhelfen!«
Kaum hat er das gesagt, zieht der Kämpfer sein Schwert, holt aus und zielt auf meine Knie. Angst und größte Anspannung entfesseln augenblicklich meine Magie. Mit einem Schlag wälzt sich die Zeit unendlich zäh voran, während die Klinge in fast quälender Langsamkeit auf mich zu gleitet. So ist es ein Leichtes für mich, einfach darüber hinweg zu steigen. Gleichzeitig ziehe ich einzelne Finger des Magiers vom Griff, bis ich die Waffe aus seiner Hand winden kann.
Doch was nun? Lange wird der Zauber nicht mehr anhalten.
Ich schleudere das Schwert mit Wucht in die Wipfel des Baumes über mir, wo es im dichten Laub verschwindet und nicht wieder herabfällt. Die Menschen um uns haben kaum eine Lücke gelassen, aber keine zwei Schritt entfernt führt eine Treppe außen am Wirtshaus ins obere Stockwerk. Sie wird unten durch ein Tor versperrt, daher befinden sich dort keine Leute. Schon einmal brachte ich es fertig, übermenschlich hoch zu springen in diesem Zustand der verlangsamten Zeit, als ich mit Hanna auf dem Floß gelandet bin. So bleibt mir nur, es nun erneut zu versuchen. Ich gleite in die Unsichtbarkeit, gehe in die Knie und stoße mich mit aller Kraft vom Boden ab. Und tatsächlich, beinahe fühlt es sich an, als würde ich fliegen. Mit einem gewaltigen Satz gleite ich über die Köpfe der Leute hinweg, berühre mit den Füßen den oberen Rand des mannshohen Tores. Just in diesem Augenblick spüre ich, wie die Zeit wieder schneller zu laufen beginnt. Ich stoße mich von den hölzernen Stangen ab, lande auf den Stufen und schaffe es noch, ein Stück nach oben zu steigen, bevor die Straße von Lauten des Erstaunens erfüllt ist. Ich schlüpfe durch eine zum Glück offene Tür und werde wieder sichtbar, für den Fall, dass dieser Magier in der Lage ist, meine Magie zu orten.
Ein paar Atemzüge lang verschnaufe ich, bevor ich mich umsehe: Von einem breiten Flur führen mehrere Zimmer ab, über eine Wendeltreppe aus gewachsenem Holz gelangt man nach unten, aber auch weiter hinauf. Ich schleiche zu einer der Türen und öffne sie vorsichtig. Dahinter liegt ein gemütlich eingerichtetes Zimmer. Durch das offene Fenster dringen aufgeregte Stimmen.
»Ihr wollt mich wohl für dumm verkaufen! Da war ein Mann und jetzt ist er verschwunden, genau wie mein Schwert!«
»Nein Herr! Da war niemand. Mit Verlaub, sicher habt ihr zu viel Maischameet gebechert.«
» Du wagst es, mir Trunkenheit zu unterstellen! Sieh mir in die Augen Wirt, ob du die Wahrheit sprichst! Aber … das kann nicht sein … Und weshalb, Rucht Femmock, steht ihr dann alle hier so rum und glotzt mich an?«
»Na, wir wunderten uns, mit wem Ihr da sprecht, während Ihr mit Eurem Schwert in der Luft herumfuchteltet«, ruft ein anderer.
»Mein Schwert! Ich werde Euch alle den Smegos vorwerfen lassen, wenn der Dieb nicht augenblicklich mein Schwert herausrückt.«
»Ihr habt es fortgeworfen«, beteuert ein Mann mit rotem Bart.
»Nie und nimmer. Für wie dämlich haltet ihr mich eigentlich? Das werdet ihr bitter bereuen! Allesamt! Ausräuchern lassen werde ich diesen Pfuhl hier.«
Ich habe mich inzwischen bis an das Fenster herangeschlichen und luge vorsichtig zur Straße. Der Magier ist noch immer umringt von einer Handvoll Männern, die meisten Leute haben jedoch das Weite gesucht. Als hätte es die Waffe gehört, rutscht sie plötzlich aus dem Geäst des Baumes und saust in die Tiefe.
»Achtung!«, entfährt mir ein Warnruf.
Alle Gesichter wandern nach oben. Gerade rechtzeitig für die Männer, um die Gefahr zu erkennen und auszuweichen. Klirrend knallt das Schwert aufs Kopfsteinpflaster. Dabei zersplittert die Spitze.
»Rucht Femmock!«, schimpft der Magier und hebt seine Waffe auf.
»Ich sagte doch, Ihr habt das Schwert in den Wipfel des Baumes geschleudert«, beteuert der Rotbart.
Jemand lacht.
»Wer hat da gelacht? Euch werde ich es heimzahlen, sich über mich lustig zu machen!«, erbost sich der Magier.
»Niemand! Ihr solltet Euch ausruhen und Euren Rausch ausschlafen, so werden am nächsten Tag gewiss die Personen und Stimmen in Eurem Kopf verschwunden sein, die gar nicht existieren.«
Noch immer blickt der Magier grimmig und voller Zweifel in die Runde, doch was soll er schon gegen gut zehn Männer ausrichten, die allesamt behaupten, er wäre verrückt. So zieht er schließlich unverrichteter Dinge ab. Ich atme auf, nehme meinen Rucksack vom Rücken und lasse mich erschöpft auf einen Schemel gleiten. Der lange Fußmarsch und die Aufregung zollen nun doch ihren Tribut.
Da haben mich die Leute, obgleich ich ihnen vollkommen fremd sein muss, vor dem Magier gerettet. Das rechne ich ihnen hoch an. Gerade lehne ich den Kopf gegen die Wand und schließe die Lider, da knarren schwere Schritte im Raum und lassen mich hochfahren.
»Ach, hier bist du abgeblieben! Dachte ichʼs mir doch!«, sagt ein dickbauchiger Mann.
Er sieht mich aus zusammengekniffenen Augen abschätzend an. Um die Hüfte hat er eine Schürze mit daraufgemalten bunten Vögeln (Atlaticanische Singdrosseln?) geschnürt. Unter seiner hohen Kappe mit identischem Muster wallen blonde Locken hervor. Die Oberlippe ziert ein gezwirbelter Schnauzbart – mit höchster Wahrscheinlichkeit handelt es sich um den Wirt der Fröhlichen Singdrossel.
»Äh, verzeihen Sie, dass ich mir hier unberechtigt Zugang verschafft habe. Ich war in einer Notlage …«
»Ja, das hab ich gesehen – mit meinen eigenen Augen. Die Frage ist nur, wie hast du es geschafft, so plötzlich vom Erdboden zu verschwinden?«
Er stemmt die Fäuste in die Hüften, während er mich kritisch mustert. Auch ich bin aufgestanden, sodass wir uns jetzt Auge in Auge anstarren.
Diese Leute haben mich zwar vor dem Schergen Sorbats beschützt, doch den Grund dafür kenne ich nicht.
Kann ich diesem Wirt wirklich vertrauen?
Die Leute hassen die Magier, da werden sie mich nicht plötzlich mögen. Ich schweige.
»Nun gut! Wenn du nichts erzählen willst, kann ich Smenko Herebot ja zurückholen. Aber frag nicht, was er dann mit dir anstellen wird.«
»… oder auch mit Ihnen, nachdem dann klar ist, dass Sie Ihn angelogen haben«, kontere ich wagemutig.
Darauf weiß er einen Moment lang nichts zu erwidern.
»Dann beantworte mir nur eine Frage: Weshalb hast du dich geweigert, Lord Sorbat zu huldigen?«
Er will also wissen, auf welcher Seite ich stehe. Das sage ich gerne mit voller Überzeugung.
»Sorbat ist ein grausamer Tyrann. Nichts in der Welt bringt mich dazu, vor seinen Schergen niederzuknien.«
Diese Worte zeigen deutliche Wirkung. Der Wirt legt zischend einen Finger auf seine Lippen, marschiert zum Fenster und schließt es, um danach auch die offene Tür hinter sich zu verriegeln.
»Euch ist wohl klar, dass Ihr gerade Euer Todesurteil gesprochen habt, sollte Euch einer dieser Schergen gehört haben«, bemerkt er tief durchatmend.
Anders als zu Beginn, schwingt nun Ehrfucht in seiner Stimme und Ausdrucksweise.
»So etwas habe ich wohl angenommen.«
»Und das flößt Euch keine Furcht ein?«
»Doch«, gebe ich zu. »Wer ist schon gänzlich ohne Ängste? Dennoch stellt sich die Frage, ob man den Weg der Furcht beschreitet oder den richtigen.«
»Ja, wohl wahr! Kommt! Setzt euch mit mir an den Tisch und erzählt mir von Euch! Woher stammt Ihr? Eure Art zu Reden ist mir fremd.«
Wir gehen zum Tisch und nehmen auf den einzigen beiden Schemeln Platz. Der Wirt schenkt aus einer Karaffe Wasser in die beiden Tontassen und schiebt mir eine zu. Die Geste wirkt einladend, doch ich bleibe vorsichtig.
»Woher soll ich wissen, ob ich Ihnen trauen kann?«, erwidere ich.
»Ein guter Einwand. Da sind wir nun zwei, die sich dessen nicht sicher sein können. So schlage ich vor: Information gegen Information. Ich erzähle Euch von mir, dann seid Ihr an der Reihe und so geht es im Wechsel. Einverstanden?«
Dieser Vorschlag erscheint mir annehmbar. Außerdem benötige ich dringend Verbündete.
»Mein Name ist Pito Heringbert. Mir gehört die Fröhliche Singdrossel. Nun Ihr! Wer seid Ihr?«
»Silas Lichtenfeld. Ich bin der Sohn eines Arztes.«
»Geht es noch genauer?«
»Sie sind an der Reihe«, fordere ich den Wirt auf.
»Nun gut, ich … es gibt eine geheime Organisation, die Pläne gegen die Magier schmiedet.«
»Eine Untergrundorganisation, der Sie offenbar angehören«, schlussfolgere ich, was Pito merklich verunsichert.
»Wenn diese Information in falsche Hände gerät, bin ich ein toter Mann.«
»Genau wie ich, falls Sie herumerzählen, wie ich zu Sorbat stehe, oder diesen Magier auf mich hetzen …«
»Nun gut, Ihr seid an der Reihe!«
»Ich stamme nicht von Atlatica, sondern einer Welt außerhalb. Die Stadt heißt Frankfurt am Main.«
Pito pfeift durch die Zähne.
»Davon habe ich gehört, aber ich war mir nie sicher, ob das nur alles dumme Gerüchte sind.«
»Es ist die reine Wahrheit. Nun erzähle mir mehr über die Untergrundorganisation. Waren die Männer unten auf der Straße auch alle Mitglieder?«
Wieder atmet er merklich durch, dreht nervös an den verzwirbelten Enden seines Bartes.
»Nein, nicht alle. Uns allen gemeinsam ist der Hass auf die Magier, das verbindet und lässt uns zu Verbündeten werden.«
»Magie an sich ist nichts Schlechtes, nur Menschen, die sie aus Machtgier missbrauchen, sind schlecht.«
Nun verengen sich seine Augen zu Schlitzen.
»Das sagt Ihr aus dem einzigen Grund, weil Ihr selbst über Magie verfügt, nicht wahr? Wie sonst hättet Ihr plötzlich spurlos verschwinden können?«
»Ja. Ich bin ein Lichtmagier, aber ich möchte meine Begabung für die Menschen einsetzen, nicht gegen sie. Es kommt doch auf die Gesinnung an, nicht auf die Fähigkeiten. Mein Vater ist Arzt, er nutzt seine Magie, um Krankheiten zu heilen.«
»Nun, da seid Ihr und Euer Vater wohl zwei große Ausnahmen.«
»Das ist nicht wahr. Ich habe weitere Magier kennengelernt, die zwar von Sorbat unterdrückt werden, ihre Zauberkraft dennoch nicht gegen andere Menschen richten. Natürlich halten sie sich damit bedeckt, so werden diese Informationen wohl kaum herumgetragen.«
»Nun gut, das halte ich immerhin für möglich. Es ist gefährlich, sich offen gegen Sorbat zu wenden und so könnte man irrtümlich auch vermuten, dass Gelina keinen Widerstand leistete.«
»Gelina?«
Pito seufzt laut auf. Offenbar hat er mir mit diesem Wort mehr verraten als gewollt.
»Wo es nun schon raus ist, macht es keinen Unterschied mehr. Gelina ist der geheime Name unserer Organisation. Keiner von uns kennt alle Mitglieder, das wäre viel zu gefährlich, da die Magier in unsere Gedanken eindringen können. Genau genommen kennt jedes Mitglied ein bis drei andere, die dazu gehören. Mit diesen tauschen wir Neuigkeiten aus und übermitteln Botschaften. Wir sind alle einfache Leute, aber ein Magier, der auf unserer Seite steht, wäre ein Segen für Gelina. Diejenigen, die sich weigern, Sorbat zu unterstützen, landen normalerweise entweder auf Inferior, der Gefängnisinsel für Magier, oder im Schlund der Smegos, musst du wissen.«
»Äh, Moment. Ich habe nicht gesagt, dass ich plane, in den Untergrund zu gehen. Es ist so, dass drei Magier meine Eltern entführt haben. Aus diesem Grund bin ich nach Atlatica gekommen. Ich muss sie finden und befreien.«
»Oh, das ist bedauerlich. Doch immerhin erklärt es Eure Abneigung gegen die Schergen des Lords. Aber mir kommt eine Idee: Was haltet Ihr davon, wenn wir eine Abmachung treffen? Wir helfen Euch bei der Suche nach Euren Eltern und wenn Ihr sie in Sicherheit gebracht habt, unsterstützt Ihr unsere Organisation.«
»Das klingt nicht schlecht, doch ich muss mir das zunächst durch den Kopf gehen lassen.«
»Nun gut. Denkt darüber nach.«
»Können wir dann die förmliche Anrede beiseite lassen. Nenn mich einfach Silas.«
Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über das dicke Gesicht des Wirtes. Er reicht mir die Hand und sagt: »Gerne, dann nenn mich Pito!«
Jetzt fällt mir wieder ein, weshalb ich überhaupt zur Singdrossel gekommen bin.
»Da wäre noch ein Anliegen. Ich suche Arbeit und Unterkunft.«
»Ha, da kommst du genau richtig, Silas. Arbeit gibt’s bei uns genug. Mich wundert ohnehin, dass Benniak hier nicht längst aufgetaucht ist, um sich zu beschweren, weil ich ihn mit den Gästen alleine gelassen habe. Nur mit dem Bett wird es schwierig. Dies war bisher das einzige freie Zimmer, aber es ist auch schon reserviert. Du kannst auf ein paar Decken in der Wirtschaft schlafen, sobald alle Gäste fort sind. Danach werde ich mich umhören, wer dich für eine Weile aufnehmen kann.«
»Herzlichen Dank, Pito.«
Das erleichtert mich sehr. Kaum hatte ich zu hoffen gewagt, noch an diesem Abend Arbeit und Nachlager aufzutreiben.
»Gut dann komm mit!«
Wir erheben uns. Mit dem Öffnen der Tür fällt der Dämpfer für die beachtliche Geräuschkulisse weg: erheiterte Stimmen, lauter Gesang und fordernde Rufe nach dem Wirt. Wir treten auf den Flur, da erreicht ein Mann mit rotem Bart gerade die obersten Treppenstufen zum ersten Stock. Ich erkenne in ihm einen der Leute, die den Magier auf der Straße für dumm verkauften.
»Da bist du ja endlich! Unten ist die Hölle los!«, ruft er Pito zu. Dann schweift sein Blick zu mir. »Heyo! War das nicht der Kerl von eben, der sich in Luft aufgelöst hat?«
»Ja, das ist mein Freund Silas«, antwortet der Wirt und schlägt mir dabei freundschaftlich auf die Schulter. »Wie du gesehen hast, hat er ziemlich gute Zaubertricks drauf.«
»Ein fantastischer Trick, muss ich sagen«, bestätigt der Rotbart anerkennend. »Und wie du es dem Finstermann gezeigt hast! Alle Achtung! Kaum einer hat den Mut, nicht vor ihm niederzuknien. Bei den Jungs bist du jetzt schon der Held des Tages. Im Übrigen sind Pitos Freunde auch meine Freunde. Mein Name ist Benniak.«
»Sehr erfreut, Benniak!«
»Redest du immer so seltsam, Silas?«
»Ja, meistens schon«, antworte ich lächelnd.
»Er kommt von außerhalb, wenn du verstehst … aber jetzt lass uns runter gehen. Silas hilft heute mit.«
»Jede Hilfe kommt uns recht«, strahlt Benniak.
Dann geleiten mich die beiden Männer in den Wirtsraum. Bunte Lampen beleuchten Decke und Wände. Ein Tresen führt rundherum, beinahe an der gesamten Wand entlang. Nur die Tür und ein Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite wurde ausgespart. Hier endet auch die Wendeltreppe und durch einen Torbogen gelangt man in die Küche, wo mehrere Köche eifrig damit beschäftigt sind, Gemüse zu schneiden, Speisen zu braten und Teig zu kneten. Ich habe Mühe, meinen Speichelfluss zu kontrollieren bei dem Geruch von Essen. Die Gaststube ist ungewöhnlich groß. In der Mitte wurde eine Bühne errichtet, auf der gerade ein Musikant Flöte spielt, nicht besonders melodisch, wie ich finde, doch keiner der Gäste stört sich daran. Um die Bühne herum stehen an die zehn Tische, die alle voll besetzt sind. Auch am Tresen ist kaum noch ein freier Barhocker zu sehen.
Während sich Benniak ins Getümmel wirft, schiebt mich Pito durch eine weitere Tür. In dem Raum dahinter befindet sich allerlei Gerümpel, zerbrochene Stühle, leere Krüge, aber auch Säcke mit Vorräten, Hälften irgendwelcher undefinierbarer Tiere hängen von der Decke. Der Wirt greift in das Fach eines Schrankes, zieht einen Stapel zusammengefalteter Stoffe heraus und überreicht ihn mir feierlich. Ich verstehe nicht recht, bis ich die Sachen auseinanderziehe – es handelt sich um Schürze und Haube in der gleichen Ausführung, wie Benniak und Pito sie tragen.
»Hier kannst du deinen Sack abstellen, dann ziehst du dir das über!«, sagt der Wirt.
Ein wenig lächerlich komme ich mir mit den Sachen schon vor, aber das muss wohl sein. So binde ich mir die Schürze um und setze die Haube auf.
»Warte, ich habe noch etwas für dich«, sagt Pito geheimnisvoll.
Er kramt irgendwo herum und klebt mir dann etwas Flauschiges ins Gesicht. Es pikt unangenehm.
»Was soll denn das?«, beschwere ich mich.
»Ein wenig Tarnung kann nicht schaden. Die Whorlos zwitschern1 zwar, dass Herebot Mistad nach seinem peinlichen Auftritt verlassen hat, aber man weiß nie, wem man trauen kann.«
Jetzt erst begreife ich, dass Pito mir einen falschen Vollbart aufgeklebt hat. Ich kann mich gar nicht genug für seine Hilfe und Unterstützung bedanken.
»Du kannst deine Dankbarkeit beweisen, indem du unsere Gäste zufriedenstellst«, erwidert er nur und dann geht es an die Arbeit.
Da ich mich mit den hiesigen Getränken und Speisen nicht auskenne, hat mich Pito für heute lediglich zum Geschirrwaschen eingeteilt. Die Spüle besteht aus einem steinernen Becken, das fortlaufend mit frischem Wasser gespeist wird, ähnlich, wie ich es bereits in den Bädern der Burg gesehen habe. Unter den Gästen befinden sich auch Frauen, doch aufgrund ihrer Aufmachung und ihrem Gebaren halte ich sie für leichte Mädchen, die die Männer bezirzen.
Atlaticanischer Ausdruck für Informationen, die sich herumgesprochen haben. Worhlos sind tagaktive Fledermäuse, die von Magiern häufig als Spione eingesetzt werden.↩
Viel fehlt nicht mehr bis ich im Stehen einschlafe, als Pito endlich den letzten betrunkenen Gast zur Tür hinausschiebt und diese verriegelt. Die anderen Küchenangestellten sind ebenfalls nach Hause gegangen. Es zupft unangenehm auf der Haut beim Abziehen des falschen Bartes.
»Na, wie lief es, Silas?«
»Gut«, lüge ich, während ich die verschrumpelten Hände in der Schürze vergrabe und mit dem Gleichgewicht kämpfe.
Pito lacht auf, dann verschwindet er in der Kammer hinter der Treppe und kehrt mit einer Decke und meinem Sack zurück. Die Decke breitet er in einer Ecke des Raumes auf dem Boden aus.
»Bevor du dich niederlegst, isst du aber noch eine Greinpilzsuppe mit mir! Sonst fällst du am Ende noch ganz vom Fleisch!«
Ich nicke mit flatternden Lidern. Mein Hunger ist mindestens genauso groß wie die Müdigkeit. Pito verschwindet in der Küche und kehrt mit zwei dampfenden Schüsseln zurück, welche er auf einem der Tische abstellt. Die Bühne sieht plötzlich so einsam aus ohne die Sänger, Witzemacher und Musikanten, die ihr Können den ganzen Abend über zum Besten gegeben haben.
Ich lasse mich auf den Schemel plumpsen wie ein Sack mit Bleigewichten.
»Lass es dir schmecken, Silas!«, fordert mich der Wirt auf.
* * *
Weder kann ich mich an die Unterhaltung erinnern, noch wie die Suppe geschmeckt hat, oder wie ich in mein Nachtlager gelangt bin. Aber am nächsten Morgen erwache ich gerädert von einem hellen Quieken.
Ich rappele mich mit schmerzenden Gliedern auf und sehe mich verwirrt um. Eine Frau mit langen, braunen Haaren blickt entsetzt auf mich herab, die Hände vor den Mund gepresst. Obgleich von schlanker Statur, lässt ihr kugeliger Bauch vermuten, dass sie guter Hoffnung ist. Als ich mühsam aufstehe, weicht sie ängstlich zurück, wie ein Reh kurz vor der Flucht.
»Gute Frau, Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten. Pito hat mir angeboten, hier zu übernachten. Sie kennen doch sicher Pito? Wo ist er denn?«, versuche ich, sie zu beruhigen.
»Mein Mann beherbergt in unserer Wirtschaft einen Landstreicher? Das kann nur gelogen sein«, erwidert sie mit hoher Stimme, wobei die Furcht in Teilen der Empörung gewichen ist.
»Nun, als Landstreicher würde ich mich nicht bezeichnen«, erwidere ich, wenngleich es der Wirklichkeit auf Atlatica doch sehr nahe kommt im Moment.
Endlich steigt Pito die Treppe herab.
»Beruhige dich, Morena! Silas ist mein Freund. Er hilft in der Wirtschaft aus und ich werde heute eine andere Bleibe für ihn finden«, beschwichtigt er seine Frau.
»Du hättest mich warnen sollen. Ich bin zu Tode erschrocken, als ich ihn hier liegen sah. Denk nur an das Baby! Wenn es nun durch den Schock zu früh gekommen wäre …«
»Es tut mir aufrichtig leid, mein Goldstern. Aber es ist ja zum Glück nichts passiert«, schneidet er ihr das Wort ab, bevor sie zu weiteren Vorwürfen ausholen kann. »Vielleicht möchtest du dich noch etwas ausruhen. Das würde dem Baby bestimmt guttun.«
Morena schnaubt etwas Unverständliches, dann flüchtet sie nach oben.
»Ach, seit sie schwanger ist, dreht sie vollkommen durch«, seufzt Pito. »Ich gebe dir einen guten Rat, Silas: Solltest du dir je ein Weib nehmen und schwängern, dann verzieh dich so lange, bis das Kind auf der Welt ist.«
»Verstehe«, antworte ich ein wenig in mich hineingrinsend.
Der Miene des Wirtes entnehme ich, dass dieser Rat nicht allzu ernst gemeint ist. Allerdings lässt es die Sehnsucht nach Leanah unangenehm aufflammen. Gewiss wäre die Zeit mit ihr wundervoll, wenn sie mein Kind unterm Herzen tragen würde.
Ich schüttele mich, um den Gedanken loszuwerden.
»Wir öffnen gleich wieder für die Mittagsgäste. Hier hast du ein Stück Maischabrot zur Stärkung und dort hinter der Tür findest du das Badom. Dort kannst du dich noch ein wenig frisch machen.«
Ich nicke und reibe mir verschlafen die Augen. Wie es scheint, habe ich den ganzen Vormittag durchgeschlafen. Ich verstaue meine Sachen wieder in der Kammer, während Pito seine Küchenhilfen einlässt. Dann verschwinde ich im Bad, welches man hier Badom nennt. Die Ausstattung ähnelt derjenigen der Dienstboten-Badoms auf der Burg des Lords, nur dass die Wände hier aus Holz und Leuchtkristallen bestehen, statt aus Stein.
Immerhin darf ich jetzt Bestellungen aufnehmen, an die Küche weitergeben und die Speisen und Getränke servieren, denn zum Spülen ist ein junger Kerl eingeteilt, der nichts anderes hinbekommt, wie Pito versichert. Anders als am Abend kommen jetzt auch Kinder, Frauen und ganze Familien zum Essen in die Wirtsstube. Es geht wesentlich ruhiger zu und es macht mir Spaß, die Leute zu bedienen. Da ist jedoch eine junge Frau mit braunem, langem Haar unter ihnen – ohne Frage eine Augenweide – die mir jedoch sonderbar erscheint, da sie ohne Begleitung am Tisch sitzt und nach dem Essen immer neue Getränke bestellt, als hätte sie nichts anderes zu tun, als hier zu sitzen. Dabei beobachtet sie mich bei meiner Arbeit.
Die Stube leert sich, doch die fremde Frau sitzt noch immer an ihrem Tisch. Ich gehe zu ihr und frage:
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«
»Ich weiß nicht, ich …ich habe mich gefragt, ob …«
Verlegen sucht sie nach Worten. Ihre sanft geschwungenen Lippen schenken mir ein scheues Lächeln, dann holt sie eine Kette aus der Tasche hervor und legt sie auf den Tisch. Mein Herz pocht bis zum Hals, als ich das Schmuckstück an mich nehme, denn ich erkenne darin die Kette meiner Mutter wieder. Mit zittrigen Fingern öffne ich das Medallion und beseitige damit alle verbliebenen Zweifel: Im Inneren befindet sich das Hochzeitsfoto meiner Eltern.
»Wo-woher haben Sie das?«, stottere ich, um Fassung ringend.
»Ich fand ihn am Wegesrand. Ein wunderschöner Schmuck! Ihr müsst wissen, am liebsten hätte ich ihn behalten, doch als ich, wie jeden Tag, in der Singdrossel mein Mittagsmahl einnehmen wollte, dachte ich, Ihr seht diesem jungen Mann zum Verwechseln ähnlich und die Kette wird wohl Eurer Gemahlin gehören. Sicher vermisst sie das edle Stück bereits schmerzlich …«, sagt sie mitfühlend.
»Oh nein! Ich bin nicht verheiratet. Das ist der Schmuck meiner Mutter und der Mann darauf ist mein Vater.«
»Tatsächlich? Ihr könntet der Zwillingsbruder Eures Vaters sein, wenn ich mir das Bild so betrachte … ein äußerst anziehender Mann …«
Sie räuspert sich, wobei in ihren Wangen die Schamesröte aufsteigt.
Sie hat mich mit meinem Vater verwechselt, aber …
Ich greife an mein Kinn und da merke ich, dass ich vergessen habe, den falschen Bart anzukleben. Pito hat auch nichts erwähnt, kam allerdings an diesem Tag nur hin und wieder in der Wirtsstube vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Doch letztlich hat es sich als Glück herausgestellt, sonst wäre diese Frau kaum auf die Idee gekommen, die Kette gehörte mir. Aufgeregt setze ich mich zu ihr an den Tisch. Ein verlegenes Lächeln huscht über ihr Gesicht. Niedliche Sommersprossen zieren die Nase, das Braun ihrer Iris ist noch dunkler als das kastanienfarbene Haar.
Wie schön sie ist: zartblasse Haut und von anmutiger Gestalt.
Und doch fühlen sich diese Gedanken an wie ein Verrat an Leanah.
Aber sie ist nicht für mich bestimmt. Leanah wird einen anderen heiraten!, rufe ich mir ins Gedächtnis. So steht es mir frei, andere Frauen zu begehren.
»Wo genau haben Sie den Schmuck gefunden?«, will ich wissen.
»Gerne zeige ich Euch den Ort, wenn Ihr Zeit für mich erübrigen könnt. Und oh, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Nennt mich Nieve! Und Ihr? Der Sprache nach stammt Ihr nicht aus dieser Gegend.«
»Da haben Sie richtig gehört, doch können wir gerne die förmliche Anrede beiseite lassen. Ich heiße Silas. Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Nieve.«
Sie lächelt und streicht sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr. Sinnlich beißt sie sich auf die Unterlippe und errötet abermals, als sie meinen Blick bemerkt.
»Gut, ähm, warte hier. Ich werde rasch nach Pito sehen, um mich zu erkundigen, ob ich nun abkömmlich bin. Dann können wir gehen, wenn es recht ist.«
»Gerne. Ich sollte vorher auch noch die Rechnung bezahlen.«
»Ähm, ja, das übernimmt Benniak« – weil ich weder mit den Preisen noch dem hiesigen Geld vertraut bin.
So absurd es erscheinen mag, aber die kugelförmigen Zahlungsmittel sehen aus wie Halbedelsteine. Ich würde sagen, Jade und Rubine, doch das erscheint mir eher unwahrscheinlich. Bekannter sind mir dagegen die wenigen Goldmünzen, welche im Umlauf sind. Sie haben den höchsten Wert, so viel wurde mir bereits klar, was jedoch ein weiterer Hinweis ist, dass es sich beim Kleingeld keinesfalls um echte Edelsteine handeln kann.
Alle anderen Gäste sind inzwischen verschwunden. Ich erhebe mich und schaue mich nach Benniak um. Er steht mit breitem Grinsen an den Torbogen zur Küche gelehnt und formt mit den Händen eine Frauenfigur, die er daraufhin in die Arme zieht. Dabei schürzt er die Lippen, schließt die Augen und verteilt Küsse in der Luft.
In Sorge, Nieve könnte sein unziemliches Gebaren beobachten, schüttele ich heftig den Kopf. Ein flüchtiger Blick zeigt mir jedoch, dass sie versonnen das Bild im Amulett betrachtet, welches noch immer auf dem Tisch liegt.
»Die Dame möchte bezahlen«, sage ich zu Benniak.
»Oh, und wie viel soll ich ihr für den Flirt mit dem Personal berechnen?«, entgegnet er frech, wenigstens haucht er es mir so leise zu, dass es hoffentlich unter uns bleibt.
»Untersteh dich! Und wo hält sich eigentlich Pito auf?«
»Wenn du fragen möchtest, ob du noch gebraucht wirst, oder dich mit der Süßen vergnügen darfst, dann lautet die Antwort: Viel Spaß! Sieh nur zu, dass du bei Sonnenuntergang zurück bist. Hier ist noch ein Stück Brot. Das Essen solltest du nicht vergessen!«
»Danke«, knurre ich.
Während Benniak Nieve abkassiert, lege ich Schürze und Haube ab und verstaue beides zusammen mit meinem Gepäck in der Kammer.
Wenig später spaziere ich gemeinsam mit Nieve die Straße entlang. Ich kaue an meinem Brot, dennoch verspüre ich kaum Hunger, da mir die Aufregung über den Fund der Kette auf den Magen schlägt. Immer wieder sehe ich mich um, damit ich mir den Weg einpräge. In der nicht vom Brot belegten Hand wiege ich das Schmuckstück meiner Mutter.
Endlich ein Hinweis!
»Wohnen deine Eltern in Mistad?«, fragt Nieve neugierig.
»Nein, sie wurden entführt.«
Ihre Augen weiten sich.
»Wirklich? Sie wurden entführt? Weshalb? Von wem?«
»Ich weiß nicht weshalb, doch es sind wohl Magier dafür verantwortlich«, antworte ich vage.
Zwar erscheint mir die Frau vertrauenswürdig, doch ich ermahne mich zur Vorsicht, einer Fremden zu viele Informationen preiszugeben.
»Und dabei hat deine Mutter das Amulett verloren? Oder schon früher?«
»Es muss während der Entführung geschehen sein, daher ist es auch so wichtig für mich, zu wissen, wo du es gefunden hast.«
»Ich verstehe.«
Wir gelangen zum Stadtrand und schlagen zunächst den Weg ein, den ich gekommen bin, dann jedoch geht es zu einem Pfad, der Richtung Fluss führt. Nieve geht voraus und gewährt mir damit eine gute Sicht auf ihre weibliche Figur.
Sie trägt ein bodenlanges, hellgrünes Kleid, in das silbrig-blaue Pflanzen eingestickt wurden. Die Art, wie sich ihre Hüften beim Gehen hervorheben, erregt meine männlichen Gefühle auf unanständige Weise. Allerdings wandern meine Gedanken unvermittelt zu Leanah, als sich entsprechende Szenen in meinem Geist zu manifestieren beginnen.
Oh verflucht!
Ich frage mich, ob ich meinen Lebtag mit der quälenden Sehnsucht nach Leanah zu kämpfen haben werde. Wenn ich es recht überlege, käme mir eine andere Frau nicht ungelegen, um mich abzulenken – zumindest könnte sie meinen Durst nach Liebe und körperlicher Vereinigung ein wenig lindern.