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Feurig romantische Fantasy - abgeschlossenes Einzelbuch
Nachdem Hanna den alten Blumenladen ihrer Großmutter erbte, geriet sie zunehmend in finanzielle Not. Als sie dann bei einer verzweifelten Flyer-Aktion im Palmengarten einnickt, träumt sie von einem fremden Mann.
Doch war das alles wirklich nur ein Traum?
Um Gewissheit zu erlangen, opfert sie schließlich ihr letztes Geld für ein Ticket und setzt wortwörtlich alles auf eine Karte.
Leseprobe
In diesem Moment kommt der Obdachlose ebenfalls um die Ecke und bemerkt leicht lallend: »Naaa, jetzt wisst iiihr auch mal, wies ist, ganz am Boden.«
Während sich Alex noch aufrappelt, schimpft er, ohne mich anzusehen: »Können Sie nicht aufpassen?!«
Ich bin viel zu geplättet von der skurrilen Situation, um überhaupt etwas zu sagen. Lediglich auf die Füße schiebe ich mich, um dem braunen Matsch zu entgehen. Statt sich den Schnee von der Kleidung zu klopfen, bückt sich Alex über das Gully und starrt fassungslos durch die Löcher. Er greift in die massiven Eisenstreben und zieht daran, doch im Gegensatz zu dem dampfenden Bereich in der Mitte, sind die Kanten von einer dicken Eisschicht bedeckt. Meistens verfügen diese Kanaldeckel lediglich über kleine kreisrunde Löcher, die um einen massiven mittleren Bereich angeordnet sind, dieses unglückliche Exemplar jedoch besitzt breite Eisenstreben, zwischen denen Aussparungen klaffen, die geradezu prädestiniert dafür sind, um diverse Wertgegenstände in den unergründlichen Tiefen darunter verschwinden zu lassen.
Den bekommt er im Leben nicht hoch!
»Das kann doch wohl nicht wahr sein! Warum ausgerechnet in den Gully?«, flucht Alex. Sein Keuchen setzt jede Menge Wasserdampf aus seinem Mund frei, der sich mit dem Dampf aus dem Abwasserkanal vermengt. Außerdem hat ihn der Schnee zwischenzeitlich mit einem leichten Flaum bedeckt. Ich lehne mich gegen die Hauswand, der einzige Halt, den ich in dieser unwirklichen Situation finden kann.
»Was ist? Jetzt helfen Sie mir doch wenigstens! Ich muss…« Er schaut flüchtig zu mir auf, um den Blick hastig wieder abzuwenden. »…meine Sachen unbedingt wiederbekommen«, ergänzt er den Satz, als wäre nichts gewesen.
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Inhaltsverzeichnis
Rätselhafte Visionen
Mysteriöser Mister X
Süßholz-Tee
Notdienst und Kunstdrucke
Seelenverbindung
Wendepunkt
Glatteis
Autounfall
Scherben zum Frühstück
Sonntagsfrühstück
Abgesperrt
Retter in der Not
Anzeige
Karaoke
Verfolgt
Sabrina und Agnes
Waldhotel
Linda
Heiß gegen Kalt
Vernissage
Danksagung und Nachwort
Fabolon
Flammentanz
Ode an meine Testleser
Impressum
Seelenfeuer
Isabella Mey
Die Wahl deiner Seele erkennst du, wenn du in den Augen des anderen dein eigenes Leuchten wiederfindest.
Johanna, Eppstein, Sonntag, 15. April
Dicke Flocken schweben vom Himmel und bedecken die Straße, und das mitten im April. Der Monat ist zwar bekannt dafür, dass er macht was er will, aber bisher ist es kaum wärmer geworden dieses Jahr und dass es seit einer Woche fast täglich schneit, liegt schon längst nicht mehr im Bereich des Normalen.
Ich stehe vor dem großen Schaufenster meines Blumenladens und schaue auf die verschneite Straße hinaus. Oranges Blinklicht kündigt einen Schneepflug an, der eine weitere Ladung der eisigen Masse zu dem ohnehin schon beachtlichen Berg am Fahrbahnrand schiebt. Ich reibe mir die steifen Hände. Hier unten im Laden ist es noch einigermaßen warm, vereiste Blumen will schließlich niemand kaufen, in meiner Wohnung dagegen steht die Heizung auf Sparflamme, gerade so, dass die Leitungen nicht zufrieren. Das Geschäft läuft leider ziemlich schlecht, sodass ich jeden Cent fünf Mal umdrehe, bevor ich ihn ausgebe. Deshalb habe ich mir für heute eine Aktion ausgedacht, um die Verkäufe etwas anzukurbeln. Die gut tausend Flyer für meinen Laden habe ich selbst gestaltet und ich finde, das farbenfreudige Ergebnis kann sich sehen lassen. Ich kann nur hoffen, dass sich die Investition lohnt, denn das war so ziemlich das letzte Geld, das ich dafür ausgeben kann. Der Laden, den ich von meiner Oma geerbt habe, wirkt recht antik mit seinen uralten Holzmöbeln. Hinter dem Haus steht außerdem ein größeres Treibhaus, in dem ich selbst Pflanzen anziehen kann, aber bei diesem Wetter wächst auch dort nichts.
Heute am Sonntag ist mein Laden ohnehin geschlossen, daher habe ich mir für diesen Tag vorgenommen, die Flyer zu verteilen. Dick eingepackt in meine Second-Hand-Winterjacke und die schon abgelaufenen Stiefel, trete ich hinaus. Bewaffnet bin ich mit Tesafilm und Schere, um die Flyer aufzuhängen. Eine dicke Flocke landet mitten auf meiner Nase und hinterlässt ein leichtes Brennen beim Schmelzen. Ich will die Flyer nicht einfach in irgendwelche Briefkästen werfen, jeder Einzelne soll gut platziert werden: An Laternenpfählen und Alleebäumen, eben überall da, wo ich hoffentlich nicht fürs Plakatieren angezeigt werde. Aber schon der erste Laternenpfahl stellt sich als Problem heraus, denn bei diesem Wetter haftet der Tesafilm schlecht, das Papier rollt sich zusammen und offenbar war es in meinem Rucksack zu warm, denn die Flocken schmelzen darauf und hinterlassen feuchte Flecken.
Ich seufze frustriert. Es hilft nichts, ich muss die Flyer irgendwo anbringen, wo sie vor der Witterung geschützt sind. Hier in Eppstein wüsste ich jedoch nicht, wo das möglich sein sollte, da müsste ich schon nach Frankfurt fahren, in die U-Bahn oder in den Palmengarten. Das sind mal wieder Investitionen, die ich mir kaum leisten kann.
Aber na ja, demnächst muss ich sowieso mein Auto verkaufen, danach werde ich ja wenigstens wieder ein bisschen Geld haben – wenn noch was davon übrigbleibt, nachdem die vielen offenen Rechnungen bezahlt sind.
Ein Auto durchquert viel zu schnell eine matschige Pfütze, was fette Spritzer des ocker-dreckigen Schlamms auf meine hellblaue Jeans befördert. Ich seufze entnervt.
Kann ja nur noch besser werden, versuche ich, sämtlichen verfügbaren Optimismus zu aktivieren.
Ich gehe die Straße zurück zu meinem Laden und versuche, mein Auto unter den Schneebergen in den Parkbuchten ausfindig zu machen. Da ich es schon länger nicht mehr benutzt habe, kann es sich eigentlich nur dort befinden, wo sich eine unberührte, dicke Schicht über dem darunter verschwundenen Wagen türmt. Der Schneepflug hat ebenfalls ganze Arbeit geleistet, denn der Hügel, der das Ausparken unmöglich macht, ist bestimmt auf gut einen Meter angewachsen.
Was solls, bei diesem Wetter mag ich ohnehin nicht Auto fahren, obwohl das Streusalz den Schnee an vielen Stellen schon wieder in Matsch verwandelt, ist meine Angst davor, ins Rutschen zu geraten, viel zu übermächtig.
Mit der S-Bahn bin ich eh schnell in Frankfurt und vielleicht sollte ich mir zur Abwechslung wirklich mal einen schönen Tag im Palmengarten gönnen …
* * *
Das feuchtwarme Klima bringt mich zum Schwitzen. Es ist schon so lange her, dass mir so richtig heiß wurde, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann. Ich ziehe meine Winterjacke aus und lehne mich auf der Bank zurück. Vor mir breitet sich ein Wald aus Palmen und Tropenbäumen aus, der mich in der Illusion wiegt, einen Abenteuerurlaub im Regenwald zu genießen. Das Plätschern des künstlichen Wasserfalls entfaltet seine beruhigende Wirkung und macht mich schläfrig. Schließlich bin ich Kilometerweit durch U-Bahnen gelaufen, auf der permanenten Suche nach Plätzen für meine Flyer, wo kein Plakatier-Verbotsschild prangte – schier ein Ding der Unmöglichkeit. Schließlich habe ich doch einige davon wahllos in irgendwelchen Briefkästen versenkt, bevor ich mich zum Palmengarten aufgemacht habe. Auch hier hatte ich kein gutes Gefühl, die Flyer in den Glashäusern anzubringen, habe mich dann aber dazu durchgerungen, einzelne an verschiedenen Plätzen einfach wie zufällig auf Bänke oder Mauern zu legen. Irgendwo musste ich sie doch loswerden und vielleicht kann ich damit ja doch jemanden in meinen Laden locken.
Ich döse entspannt vor mich hin, als plötzlich etwas geschieht, das mich völlig aus der Bahn wirft:
Statt auf den Palmenwald schaue ich zu Boden. Dort liegt einer meiner Flyer im Schneematsch. Ich fühle Ärger über den Müll auf dem Gehweg, obwohl ich mich gleichzeitig darüber wundere und traurig bin, meinen schönen Flyer so aufgeweicht und schmutzig vorzufinden. So, als wäre ich unfreiwillig in einen anderen Körper geschlüpft, den ich aber weder zu fühlen noch zu steuern vermag, beuge ich mich, wer immer ich jetzt sein mag, herab und hebe das lädierte Papier auf. Eine Weile ruht mein Blick darauf, offenbar schüttele ich dann den Kopf und meine männliche Stimme murmelt: »Wie idiotisch, in Frankfurt Werbung für einen Blumenladen in Eppstein zu verteilen.«
Der Jemand, der scheinbar ich bin, zerknüllt den Flyer und versenkt ihn im nächsten Papierkorb.
Und dann ist es auch schon wieder vorbei. Ich sitze auf dieser Bank im Palmenhaus. Mein Herz donnert, Schweiß rinnt meine Stirn herab.
Was, verflixt nochmal, war das??? Oder, WER war ich gerade eben?
Die Stimme klang eindeutig männlich. Es schüttelt mich. Meine Entspannung ist dahin, ich springe auf, schlüpfe in meine Jacke und schultere meinen inzwischen fast leeren Rucksack.
Spinne ich? War das gerade echt, oder habe ich nur geträumt?
Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden: Ich muss dorthin gehen, wo dieser Jemand den Flyer aufgehoben hat und in den Papierkorb schauen.
Schwitzend haste ich durchs Palmenhaus zum Ausgang, stapfe die schmale Furche entlang, die jemand in die fünfzig Zentimeter hohe Schneedecke gegraben hat – eine absolute Sensation für Frankfurter Verhältnisse. In meiner komischen Vision hatte ich das Caféhaus Siesmayer am Palmengarten gesehen, allerdings von der Straße her. Deshalb wähle ich den Ausgang auf der Ostseite. Hier schaue ich mich wachsam um.
Könnte es sich bei einem der Passanten vielleicht um diesen ominösen Fremden handeln, aus dessen Augen ich gerade geschaut habe?
Ein älterer Herr mit Hut und Stehkragen nimmt seinen Stock zu Hilfe, als er auf das Café zusteuert. Weiter entfernt stapft ein Ehepaar über den Schneehaufen am Straßenrand. Auf der anderen Straßenseite steht eine Frau mit Kinderwagen. Er hat sich im Schnee festgefahren und sie versucht verzweifelt, die Räder zu lösen. Das Baby weint. Im Normalfall wäre ich ihr jetzt zu Hilfe geeilt, aber im Moment bin ich selbst viel zu aufgewühlt, um mich um andere zu kümmern. Ich passiere das noble Café, werfe einen Blick durch die großen Fenster, wo schick gekleidete Menschen ihren Mokka schlürfen und ihre Gabeln in köstlich aussehenden Torten versenken.
Und wenn er dort hineingegangen ist?, überlege ich aufgeregt.
Ich überfliege die zahlreichen Gäste, doch woran soll ich erkennen, um wen es sich handeln könnte? Ich erinnere mich, dass ich schwarze, lederne Handschuhe trug und der Stoff meines Ärmels war ebenfalls dunkel.
Da erfasst mich plötzlich ein eisiger Schauer. Gruselige Bilder von Serienmördern tauchen plötzlich vor meinem geistigen Auge auf.
Gab es nicht mal eine Fernsehserie, wo so eine Seherin Visionen irgendwelcher schlimmen Verbrechen bekam und der Kriminalpolizei damit Hinweise verschaffte? Meinen Flyer wegzuwerfen ist zwar kein allzu schlimmes Verbrechen – obwohl sich darüber natürlich streiten lässt – aber was, wenn das nur der Auftakt war?
Mir wird plötzlich ganz schlecht. Ich gehe am Café vorüber und da entdecke ich den berüchtigten Mülleimer am Wegrand neben einem Laternenpfahl.
Er existiert also wirklich!
Mein Herz donnert so laut, dass ich kaum noch etwas anderes wahrnehme.
Gleich werde ich sehen, ob ich spinne oder nicht.
Am ganzen Körper zitternd luge ich über den Rand des Mülleimers und spähe hinein. Auf dem von einer Schneeschicht bedeckten Abfall liegt ein zerknülltes Etwas – die Reste leuchtender Farben deuten stark auf meinen Flyer hin, aber ich muss Gewissheit haben. Nur mit Mühe gelingt es mir, meine Hand ruhig zu halten, als ich ihn herausfische.
»Igitt! Als ob sie bei der Tafel nicht genug zu essen hätten für Obdachlose … In den Tonnen zu kramen ist doch einfach widerlich …«
Erschrocken fahre ich herum und starre in das faltige Gesicht einer älteren Dame, die eingehakt im Arm ihres Gatten die Stufen zum Café hinaufsteigt.
Mir ist die Situation dermaßen peinlich, dass ich kein Wort herausbringe. Da ich sowieso schon völlig neben mir stehe, schaltet mein gesamtes System jetzt auf Flucht um. Ich werfe den Flyer zurück in die Tonne und marschiere mit schnellen Schritten davon. Dabei drehen meine Gedanken unablässig Schleifen um immer dieselbe Frage:
Warum habe ich plötzlich aus den Augen eines Fremden gesehen? Wer war dieser Mann?
Erst, als ich wieder in der S-Bahn nach Eppstein sitze, und die Landschaft gemächlich an mir vorüberzieht, beruhige ich mich ein wenig.
Vielleicht habe ich mir nur alles eingebildet und es handelte sich gar nicht um meinen Flyer, das alles hat nichts zu bedeuten und tritt auch nie wieder auf.
Meine Schuhe und Socken sind völlig durchgeweicht und eiskalt, als ich zu Hause eintreffe. Normalerweise bin ich recht fit, weil ich jeden Morgen vor der Arbeit joggen gehe, aber bei diesem Schnee war das einfach nicht möglich, daher bin ich wohl doch etwas aus der Übung und meine Beine schmerzen wie nach einem Marathonlauf. Da hilft nur noch das absolute Verwöhnprogramm: Ein heißes Bad und dann mindestens drei Stück der Schokosahnetorte, die ich gestern gebacken habe, ich bin sowieso schier am Verhungern. Schokosahnetorte gehört übrigens zu meiner Spezialität, ich backe sie jeden Samstag und wenn am Montag noch etwas davon übrig ist, bekommen sogar die wenigen Kunden, die bei mir Blumen kaufen, kleine Kostproben von den Resten angeboten.
Ich rubbele gerade meine Haare trocken, als die Türklingel läutet. Hastig schlüpfe ich unter Ziehen und Zerren in die frische Hose und stülpe mir ein T-Shirt über. Dann renne ich durch die Wohnküche zum Fenster und spähe auf die Straße hinunter. Es dämmert bereits, aber wenigstens hat der Schneefall nachgelassen. Von unten schaut meine Freundin Sina zu mir herauf.
»Komme gleich!«, rufe ich ihr zu.
Siedend heiß fällt mir ein, dass wir heute zum Spiele-Mädelsabend verabredet waren. Jeden zweiten Sonntag im Monat treffe ich mich mit meinen Freundinnen Sina, Leni und Ella zum Spieleabend. Wir haben immer viel Spaß dabei und mit meiner Schokosahnetorte sorge ich für die notwendigen Kalorien, die beim Denken, Quatschen und Lachen verbraucht werden. Eine halbe Torte ist noch übrig von gestern.
Hoffentlich reicht das für alle, denke ich, während ich die Treppe zum Blumenladen herunterhaste, um meine Freundin einzulassen. Es handelt sich um ein kleines zweistöckiges Fachwerkhaus, das ich von meiner Oma geerbt habe. Wahrscheinlich hat sich im Erdgeschoss vor Urzeiten ein großer Wohnraum befunden, der dann irgendwann zu einem Laden umgebaut worden war, deshalb führt die alte Stiege direkt aus dem Verkaufsraum nach oben in meine Wohnküche hinein. Früher hatten die Leute noch viel Sinn für Details, was sich in den blumenartigen Verzierungen zeigt, die sowohl ins Geländer als auch in die massiven Holzregale hineingeschnitzt worden waren. Das Haus steht unter Denkmalschutz, sicher könnte es schon deshalb einen hohen Verkaufswert erzielen, aber ich habe dieses Haus schon geliebt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Jedes Mal, wenn ich meine Großmutter besuchte, strömte mir dieser wundervoll frische blumige Duft entgegen. Diese Erinnerung hat sich ganz tief in meine Synapsen hineingebrannt und schon damals durfte ich mithelfen, ein Blumenbouquet zusammenzustecken. Außerdem hat sie mich verschiedene Blumenarten sowie ihre Besonderheiten gelehrt. Kein Wunder also, dass ich nicht eine Sekunde gezögert habe, in ihre Fußstapfen zu treten. Doch das alte Haus müsste dringend renoviert werden, durch die Fenster zieht es und an manchen Stellen bröckelt der Putz. Kleinere Renovierungs- und Malerarbeiten konnte ich zwar selbst erledigen, aber für die großen fehlt mir sowohl das Geld als auch das Können. Obendrein müssen ja bei allem die Auflagen des Denkmalschutzes beachtet werden.
Die Schellen über der Ladentür klingeln, als ich öffne. Sina klopft ihre Schuhe auf dem Rost ab und tritt ein.
»Hallo Süße!«, sagt sie und schließt mich in die Arme, um mir rechts und links ein Küsschen auf die Wange zu drücken. »Boah, Mann! Was für ein Wetter!« Sie klopft den restlichen Schnee von Mütze und Mantel, nachdem ich ihr beim Ausziehen geholfen habe.
»Ja, wird echt Zeit, dass der Frühling kommt«, stimme ich ihr zu.
»Wieso sind deine Haare so nass? Warst du draußen oder gerade noch unter der Dusche?«
»Du, ich muss zugeben, ich habe unseren Spieleabend total vergessen.«
»Also, Hanna! Schäm dich! Wie konntest du nur …«, sagt sie mit vorwurfsvoller Ironie und schüttelt den Kopf. Ihre Augen blitzen jedoch belustigt.
»Ich habe einen total verrückten Horrortag hinter mir, da habe ich den Spieleabend komplett verschwitzt, aber etwas Torte ist noch da.«
»Echt, was ist denn passiert?«
In diesem Moment klingelt das Telefon im Laden – in der Wohnung habe ich gar keines. Ich zucke entschuldigend mit den Schultern und hebe ab. Ella meldet sich, sie kann heute nicht kommen, weil ihr kleiner Sohn mit hohem Fieber im Bett liegt. Kaum lege ich auf, meldet sich das Telefon erneut. Auch Leni muss absagen, sie wohnt in Königstein und ihr Auto will einfach nicht anspringen.
»Na, auch gut, dann haben wir deine Schokotorte für uns alleine«, bemerkt Sina lachend, natürlich hat sie die Gespräche mitangehört. »Machst du uns auch deinen Spezialtee?«
»Na klar. Komm mit nach oben, dann erzähle ich dir, was heute alles los war.«
Sina lehnt sich gemütlich auf meiner Couch zurück und zieht ihre Finger durch das vom Wetter zerzauste lange, schwarze Haar. Durch die Stupsnase und die kleinen Grübchen sieht ihr Gesicht irgendwie fast immer aus, als ob sie lacht. Im Gegensatz zu ihr, ist mein Haar strohblond, dafür leicht gewellt.
In der rechten Ecke meiner Wohnküche befindet sich eine kleine Kochecke, daher können wir uns bequem unterhalten, während ich das Teewasser aufsetze. Dabei erzähle ich meiner Freundin von der Flyer Aktion.
»Aber Hanna, was glaubst du, wie viele Frankfurter würden extra nach Eppstein fahren, um Blumen zu kaufen?« Sie schüttelt ungläubig den Kopf.
»Du hast ja recht«, seufze ich. »Im Nachhinein betrachtet war die ganze Aktion ein ziemlicher Reinfall. Verkaufsstrategien gehören eben nicht gerade zu meiner Stärke.«
»Was du bräuchtest, wäre ein gutes Marketing- und Vertriebskonzept. Hast du denn endlich deinen Businessplan ausgearbeitet?«
»Mmm, ich habe angefangen«, brumme ich ausweichend.
Ich bin eher der kreative, gestalterische Typ, diese vielen Zahlentabellen, Bilanzen und Businessstrategien sind mir zuwider. Die Gedanken schwirren wie wildgewordene Bienen in meinem Kopf herum, sobald ich mich mit so was beschäftige.
»Mann Hanna, aber irgendwann musst du dich da mal reinfinden. Wie läuft der Laden denn im Moment?«
»Na ja, geht so.« Da ich gerade das heiße Wasser aufgieße, schaue ich Sina nicht an, während ich antworte, so sieht sie mir hoffentlich nicht an, dass mir die Schulden bereits über den Kopf wachsen. Ich stelle die Kanne auf dem Couchtisch ab, danach folgen Teller, Tassen und die Schokosahnetorte.
Wir essen und trinken und reden ein wenig über belangloses Zeug, während ich mit mir ringe, ob ich Sina von dem seltsamen Erlebnis erzählen soll. Da mir das Thema permanent auf dem Herzen herumhüpft, rücke ich schließlich doch damit heraus und berichte von meiner »Vision«.
Wie befürchtet schielt mich meine Freundin schräg an. »Is nicht wahr, oder? Das hast du bestimmt nur geträumt.«
»Hab ich auch erst gedacht, aber es wirkte total echt und da lag wirklich ein zerknüllter Flyer in dem Papierkorb, so wie ich es als er gesehen habe.«
»Hm, wenn das stimmt, ist das ja echt gruselig. Na ja, man hört ja so Einiges von übersinnlichen Fähigkeiten, aber dass meine beste Freundin auch eine Seherin sein könnte, das muss ich doch erst einmal verdauen.« Entgegen ihrer Worte zwinkert sie mit beiden Augen.
»Nimmst du mich jetzt auf den Arm oder meinst du das ernst?«
Ich blicke sie schief an und im selben Moment bin ich schon wieder weg:
Dieses Mal sitze ich im Auto hinter dem Lenkrad. Die Scheibenwischer schieben unablässig kleine Schneeflöckchen beiseite, die von gelbem Laternenlicht beleuchtet werden. Vor dem Wagen hat gerade ein anderes Auto die Spur gewechselt und hätte meines beinahe gerammt.
»Idiot! Nimm die Kohlköpfe von den Augen!«, fluche ich.
Dann ist alles wieder vorbei, ich sitze neben meiner Freundin auf der Couch. Mein Herz donnert, aber wenigstens bin ich nicht mehr ganz so geschockt wie beim ersten Mal.
»Hanna, alles okay mit dir?« Sina mustert mich besorgt.
Ich schüttele den Kopf, bringe im ersten Moment keinen Ton hervor.
»Gerade eben ist es schon wieder passiert …«, flüstere ich heiser.
»Wie? Gerade eben, während wir hier zusammengesessen sind?«
»Ja.« Ich nicke mehrfach, als könnte ich Sina dadurch vom Wahrheitsgehalt meiner Aussage überzeugen. »Ich, oder vielmehr er, saß im Auto. Ein anderer Wagen ist dicht vor ihm eingeschert, sodass er ihn beinahe gerammt hätte. Er hat geflucht und dann war ich wieder hier. Wie habe ich denn ausgesehen in dieser Zeit? Hast du etwas an mir bemerkt?«
»Na ja, du wirktest irgendwie weggetreten, so abwesend, als ob du intensiv über etwas nachdenken würdest.«
»Das ist alles so verrückt«, keuche ich noch immer fassungslos.
Sinas Augen glänzen jedoch vor Aufregung. »Spannende Sache. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, durch wessen Augen du plötzlich spionieren kannst. Oder war es überhaupt derselbe Mann wie beim letzten Mal?«
»Ich konnte ihn ja nicht sehen, aber seine Stimme klang genauso.«
»Und wie war sie so, seine Stimme?«
Ich lege den Kopf zurück und versuche, mich zu erinnern: »Männlich, aber kein tiefer Bass, klare, deutliche Aussprache, aber na ja, beide Male war er nicht gerade gut gelaunt …«
»Das ist ja auch schon mal ein Anhaltspunkt. Womöglich springst du immer dann zu ihm, wenn er sich aufregt. Und da er sich beim ersten Mal über deinen Flyer aufgeregt hat, hat das vielleicht so was wie eine erste Verknüpfung mit unserem Mister X geschaffen«, folgert sie mit detektivischem Eifer.
»Hm, das könnte sein, aber warum? Kann mir das jetzt auch mit anderen passieren?«
»Wir müssen das weiter beobachten, dann bildet sich vielleicht ein Muster heraus oder du siehst mal wo er wohnt, vielleicht ein Adress- oder Namensschild.«
»Ich bin eigentlich nicht scharf darauf, dass mir das jetzt öfter passiert. Es könnte ja auch gefährlich werden, wenn ich zum Beispiel mit dem Auto fahre …«
»O Mann, stimmt! Daran habe ich gar nicht gedacht. Dann würde ich an deiner Stelle in der nächsten Zeit das Auto lieber stehenlassen.«
»Na ja, dazu müsste ich es ja eh erst mal freischaufeln.«
Und verkaufen muss ich es obendrein, setze ich in Gedanken hinzu, doch mit meinen Geldsorgen möchte ich Sina nicht behelligen.
»Also, dann hol doch mal ein Blatt, darauf notieren wir dann alles, was wir von Mister X wissen«, schlägt meine Freundin vor. Sie nimmt einen großen Schluck von ihrem Tee, während ich Notizblock und Papier herbeihole.
Darauf notieren wir alles, was wir bisher wissen: Schwarzer Mantel, schwarze Lederhandschuhe, männliche Stimme, er mag keinen Müll auf der Straße, fährt einen dunklen Wagen, welche Farbe genau, konnte ich im Licht der Laterne nicht erkennen.
»Ein ziemlich dunkler Typ, dein Mister X. Hatte er im Auto denn noch immer die Handschuhe an, oder konntest du seine Hände sehen?«
Ich versuche, die Szene in meinem Geiste erneut abzuspulen. »Die Hände hatten helle Haut, an mehr kann ich mich nicht erinnern.«
»Also schon mal kein Schwarzer«, sagt Sina und notiert das geschäftig auf dem Block. »Wir benötigen noch eine Karte von Frankfurt und der Umgebung, auf der wir die Orte markieren, die du wiedererkannt hast, damit können wir dann ein Bewegungsprofil erstellen.«
»Ich komme mir allmählich vor wie bei der Kriminalpolizei«, antworte ich lachend. Angesteckt von Sinas Eifer finde ich diese seltsamen Visionen mittlerweile gar nicht mehr so gruselig. Wer weiß, was am Ende dabei herauskommt.
»Oder bei der Partnersuche. Vielleicht ist dieser Mister X ja genau der Mann, den du dir fürs Leben wünschst«, scherzt Sina.
»Wohl kaum.« Alleine bei der Vorstellung schüttelt es mich. »Er flucht, trägt schwarze Sachen, fährt ein dunkles Auto, das passt doch so gar nicht zu meiner fröhlichen Art.«
»War ja auch nur Spaß. Wenn du mich fragst, kann Frau sowieso gut auf einen Partner verzichten.« Sina gießt sich Tee nach und schlürft an ihrer Tasse.
»Ja, ich weiß, du bist überzeugter Single, aber ich wünsche mir irgendwann Familie. Das muss aber schon ein Mann sein, zu dem ich aus vollem Herzen ja sagen kann.«
»Gibt es so was überhaupt?« Sie zuckt zweifelnd mit den Schultern. »Ich meine, irgendwo muss man doch immer Kompromisse eingehen. Wenn deine Anforderungen zu hoch sind, findest du am Ende überhaupt keinen Partner.«
»Hm, ja vielleicht …«, brumme ich und schiebe mir das letzte Tortenstück auf den Teller. Die Vorstellung, dass Sina womöglich Recht haben könnte, erzeugt eine Leere in mir, die ich mit dem süßen Geschmack im Mund zu füllen versuche.
Wir unterhalten uns noch über das Wetter und Sinas Reisepläne ins ferne Australien, bis es schon recht spät ist und sich meine Freundin verabschiedet.
»Jetzt hatten wir zwar keinen Spieleabend, aber das Detektivspiel mit deinem Mister X fand ich noch viel spannender. Halte mich auf dem Laufenden, wenn du wieder etwas von ihm mitbekommst, ja?«, sagt sie noch in der Ladentür.
»Mach ich. Komm gut heim.«
Sie hebt zum Abschied die Hand, dann zieht sie den Kragen ihres Mantels enger und stapft davon.
In Sinas Gegenwart waren mir diese seltsamen Visionen irgendwie unwirklich erschienen, kaum ist sie jedoch verschwunden, und ich bin allein mit meinen Gedanken, fühlt sich die ganze Sache wieder bedrohlich an. Ich grusele mich sogar ein bisschen vor mir selbst.
Wieso passiert mir das?
Johanna, Eppstein, Montag, 16. April
Tränen steigen mir in die Augen, als ich auf die verwelkten Dahlien in meinen Händen herabsehe. Die außergewöhnliche Seerosenzüchtung mit dem rotgelben Verlauf gehörte zu meinen Lieblingen. Schweren Herzens versenke ich die schlappe Blumenpracht in der Tonne. Das große Drama beim Verkauf von Pflanzen ist ihre Vergänglichkeit. Weil mich das Wegwerfen jedes Mal schmerzt, habe ich mein Angebot von Schnittblumen auf ein Minimum reduziert, die meisten Pflanzen in meinem Laden wachsen inzwischen in Töpfen, bevorzugt Orchideen, weil diese am längsten blühen. Auch Trockenblumensträuße und selbstgemachtes Flechtwerk gehören zu meinem Sortiment. Wenn doch endlich der Frühling anbrechen würde, dann könnte ich im Garten hinter dem Haus die ersten Schneeglöckchen und Narzissen ernten. Diese Frühblüher ziehen ihre Kraft aus den Zwiebeln und gewinnen auf diese Weise einen Vorsprung gegenüber der anderen Vegetation. Auch für mein Gemüse bietet der Garten Platz und in der Ecke steht sogar ein alter Apfelbaum, der mir im letzten Jahr so viele Äpfel geschenkt hat, dass im Keller immer noch welche davon lagern. Ihre inzwischen verschrumpelte Haut macht mir nichts aus, sie schmecken trotzdem immer noch besser als die gekauften.
Ich lasse mich in dem alten grünen Ohrensessel meiner Großmutter nieder und warte auf Kundschaft. Ich warte. Und warte. Gegen Mittag betritt immerhin ein Kunde den Laden, um ein paar Rosen für seine Liebste zum Geburtstag zu kaufen. Auch eine ältere Dame besorgt Blumen für ihren Hochzeitstag. Nach dem Essen heißt es jedoch wieder warten. Schließlich döse ich ein, weil ich mich letzte Nacht mehr unruhig hin und her gewälzt als geschlafen habe.
Und da passiert es schon wieder, mitten im Halbschlaf rutsche ich in diesen anderen Körper hinein, ohne aber, dass ich ihn irgendwie spüren oder lenken kann.
Dieses Mal stehe ich in einem Büroraum. Eine Frau mit langem blondem Haar sitzt hinter dem Schreibtisch.
»Linda! Das ist doch so kein Zustand«, sage ich mit der bekannten männlichen Stimme, während ich mich auf sie zubewege. »Bitte lass uns ganz normal miteinander umgehen.« Ein Gefühl, dass mir etwas schwer in der Brust liegt, bewirkt, dass ich versuche, sie zu besänftigen, indem ich ihr meine Hand auf die Schulter lege. Linda weicht samt Stuhl zurück, schüttelt dabei meine Hand ab und erhebt sich.
»Normal …« Das Wort perlt schal aus ihrer Kehle, während sie unglücklich an mir vorbeischaut. »Ich sehe es dir doch an, du bist heilfroh, dass es so gekommen ist. Da gibt es nichts weiter darüber zu reden, also lass mich gefälligst in Frieden, Alex!«
Noch bevor ich etwas erwidern kann, ergreift sie die Flucht, stürmt zur Tür hinaus.
Wie aus einem tiefen Wasser tauche ich an die Oberfläche zurück in meine eigene Welt, wo ich wieder in dem Ohrensessel sitze. Passend zu diesem Sinnbild schnappe ich nach Atemluft. Als ich mich einigermaßen beruhigt habe, lehne ich mich wieder zurück und schließe die Lider, um über das Erlebte nachzudenken.
Alex! Jetzt habe ich endlich einen Namen, wenn es auch nur der Rufname ist.
Dieses Mal steckte die Hand im Ärmel eines schwarzen Anzugs. Außerdem lugte eine teuer aussehende Uhr hervor. Bei Linda handelte es sich vermutlich um eine Kollegin oder Mitarbeiterin von Alex.
Aber was war los mit ihr? Hat er sie verletzt? Was ist so gekommen, worüber er angeblich froh ist? Und was war das für ein Büro?
Ich versuche, mich an mehr Details zu erinnern. Auf dem Schreibtisch lag Geschäftspapier mit einem Logo in Blau- und Grautönen, das ich schon mal irgendwo gesehen habe. Angestrengt versuche ich, das Bild in meinem Geist genauer zu betrachten, doch es scheint sich mehr und mehr zu verflüchtigen, je länger ich es fixiere. Bevor auch noch das Logo verschwindet, muss ich es aufzeichnen. Ich öffne die Augen und renne die Treppenstufen hinauf in den ersten Stock, hole meine Aquarellfarben und den Block aus dem Schrank. Noch ein Glas Wasser, dann beginne ich zu malen. Ein paar meiner Aquarelle zieren auch meine Wände hier oben, aber in meiner Mappe bunkere ich noch viel mehr davon – mein kleines Hobby.
Als ich fertig bin mit dem Bild schaue ich auf ein kleines graues C, das von einem großen graublauem C umschlossen wird, spiegelverkehrt findet sich dann nochmal dasselbe, wobei die beiden Seiten miteinander verschränkt sind.
Was ist das nur für eine Firma?
Ich kehre in den Verkaufsraum zurück, wo ich das Notebook unter dem Tresen hervorhole und aufklappe. Dann durchsuche ich die in Frankfurt ansässigen Firmen nach diesem Logo und es dauert nicht lange, bis ich fündig werde: Die Firma heißt yourFourCs (Creative Customer Computing Center) und bietet Softwarelösungen für Supply Chain Management (SCM) und Enterprise-Resource-Planning (ERP) an, was immer das sein soll. Der Firmensitz liegt im Frankfurter Stadtteil Niederrad.
Aufgeregt blättere ich durch die Internetseite der Firma, auch wenn ich kaum etwas von den technischen Dingen verstehe, die da präsentiert werden. Leider bilden sie keine Mitarbeiter auf ihrer Seite ab, aber man kann Fotos von dem Firmengebäude ansehen – eines von vielen Hochhäusern mit verspiegelten Gläserfronten. Über allem thront das Firmenlogo, welches man sogar von der Autobahn her erkennen kann, soweit ich mich erinnere.
Plötzlich fängt mein ganzer Körper an zu kribbeln.
Ich muss da hin, jetzt sofort!
Bei dem Schnee, wie er gerade wieder in fetten Flocken vom Himmel fällt, wagt sich heute sicher sowieso niemand mehr freiwillig aus dem Haus, um Blumen zu kaufen.
Kurzentschlossen schließe ich meinen Laden ab und mache mich auf den Weg. Die Kosten wachsen mir eh schon über den Kopf, da kommt es auf eine weitere Fahrt mit der S-Bahn auch nicht mehr an.
Hoffentlich spuckt der Geldautomat noch ein bisschen was aus, sonst wird es allmählich ziemlich eng.
Ich mache also noch einen Abstecher zum Automaten, doch dieser will mir partout keine Scheine mehr ausspucken. Da in meinem Geldbeutel ebenfalls gähnende Leere herrscht, krame ich in meinen Taschen nach Münzen, die ich aus Faulheit nach dem Einkaufen dort versenkt habe und werde fündig. Das Geld reicht gerade mal für die Hinfahrt nach Frankfurt, zurück muss ich dann wohl zu Fuß gehen, jemanden um Hilfe bitten oder wenn es nicht anders geht, ausnahmsweise mal Schwarz fahren. Diese Vorstellung behagt mir überhaupt nicht, doch ich kann einfach nicht davon ablassen, diese mysteriösen Visionen weiter zu verfolgen. Ich muss wissen, wer oder was dahintersteckt.
Es schmerzt, zu sehen, wie mein letztes Geld im Fahrkartenautomaten verschwindet. Dann warte ich zusammen mit einigen anderen Fahrgästen auf die S-Bahn. Wahrscheinlich liegt es an dem dichten Schneefall, dass sie sich um gut eine halbe Stunde verspätet. Frierend trete ich von einem Fuß auf den anderen. Endlich fährt die Bahn ein und ich kann mich ein bisschen aufwärmen. Auch der Anschlusszug verspätet sich, sodass ich wieder viel zu lange frierend am Bahnsteig warten muss.
Wenn das so weitergeht, komme ich in Niederrad an, wenn schon alle Mitarbeiter der Firma nach Hause gegangen sind, denke ich frustriert.
Als ich endlich in Niederrad eintreffe, strömen bereits jede Menge Leute in Businesskleidung aus allen Richtungen dem Bahnhof entgegen. Es scheint mir, als wäre ich die Einzige, die sich gegen den Strom bewegt, dennoch beachtet mich niemand. Die meisten gehen gebeugt mit zusammengezogenen Schultern, als müssten sie unter dem fallenden Schnee hindurchkriechen. Von dem gestrigen Marsch sind meine Stiefel noch immer feucht, in meinen Zehen sticht es vor Kälte, deshalb stampfe ich extra fest auf, um für ein bisschen mehr Wärme die Durchblutung anzuregen. Zuvor habe ich mir den Weg auf der Stadtkarte genau angeschaut, doch jetzt, wo ich hier zwischen den Häuserschluchten entlanglaufe und eine Glasfront der anderen zum Verwechseln ähnlichsieht, habe ich bald die Orientierung verloren. Auch das Logo kann ich nirgends entdecken. Ich fühle mich zunehmend elender. Die ganze Aktion war mal wieder so was von idiotisch, sinnlos und unnötig gewesen, das hätte ich mir wirklich sparen können.
Dieser erweist sich als einer der seltenen Momente, in denen ich doch wünschte, eines dieser modernen Handys zu besitzen, auf dem man seine Position auf der Landkarte bestimmen kann.
»Entschuldigen Sie. Können Sie mir sagen, wo ich die Firma yourFourCs finde?«, frage ich eine Passantin.
»Sorry, I don’t speak German«, antwortet sie schulterzuckend, dann läuft sie einfach weiter, will wohl so schnell wie möglich der Kälte entfliehen.
Der nächste deutet in eine Richtung, der ich vertrauensselig folge, doch entweder hat er sich einen Scherz erlaubt oder mich falsch verstanden, denn die Firma finde ich hier nirgends, stattdessen geht es schon langsam raus aus der Stadt. Entnervt kehre ich wieder um. Ich habe keine Lust mehr und will nur noch nach Hause. Sicher ist mein mysteriöser Mister X ohnehin schon längst nicht mehr auf der Arbeit.
Ach ja, ich weiß ja jetzt, dass er Alex heißt, fällt mir wieder ein.
Während ich weiter durch die Straßen irre, wird die Sehnsucht nach einem heißen Bad und einer Schokosahnetorte schier übermächtig.
Ob ich noch alle Zutaten zusammenbekomme, um mir eine zu backen, wenn ich wieder zu Hause bin?
Allerdings muss ich jetzt erst einmal wieder zurückkommen und da ich kreuz und quer umhergeirrt bin, weiß ich auch nicht mehr, wo es zum Bahnhof geht. Da sich die Straßen inzwischen geleert haben, ist da auch niemand mehr, den ich nach dem Weg fragen könnte. Und da fällt mein Blick plötzlich auf ein überdimensioniertes Firmenschild, das neben so einem Glaskasten aufgestellt wurde. Die doppelten Cs springen mir förmlich in die Augen. Ich kann es kaum glauben, dass ich das Gebäude tatsächlich gefunden habe. Ein breiter Aufgang führt zu einer gläsernen Drehtür, die mindestens doppelt so hoch ist, wie ich selbst. Dahinter erkenne ich eine große Eingangshalle, doch die Dämmerbeleuchtung und der verlassene Empfangstisch deuten darauf hin, dass zumindest die meisten Mitarbeiter bereits in ihren Feierabend verschwunden sind. Nur in einzelnen Fenstern des Gebäudes brennt noch immer Licht. Versuchshalber drücke ich an der Drehtür, wie zu erwarten bewegt sie sich nicht, stattdessen blinkt der Kartenscanner an der Wand auf.
Toll! Und was jetzt? Der ganze beschwerliche Weg, nur um einmal an der Drehtür zu drücken? Aber was habe ich auch erwartet? Dass Alex mir direkt in die Arme rennt?
Mein vager Plan war gewesen, einen Flyer für meinen Laden am Empfang abzugeben, kann ja sein, dass die Mitarbeiter mal ein blumiges Geburtstagsgeschenk für einen Kollegen benötigen. Das kann ich jetzt vergessen, dafür landet einer meiner Flyer im Postschlitz des Firmenbriefkastens.
Ich schicke einen letzten Blick die Glasfront hinauf und ernte ein paar Schneeflocken im Gesicht, eine landet auf meinen Wimpern und ich blinzele sie fort. Dann wende ich mich ab und stapfe davon. Da ich weder Handy noch Armbanduhr besitze, weiß ich nicht einmal, wie viel Uhr es ist. Hinter der Wolkendecke kann man die Sonne nicht sehen, doch es kommt mir so vor, als ob es bereits zu dämmern beginnt.
Wann geht die Sonne unter im April? So um zwanzig Uhr rum?
Ich komme nicht sehr weit, da bin ich plötzlich ganz wo anders, das heißt, doch, ich bin noch immer auf derselben Straße, nur einige Meter hinter mir selbst. Ich sehe mich jetzt quasi von hinten.
Bin das wirklich ich?
Ich wundere mich oder er wundert sich oder wir wundern uns beide(?), dass ich (Hanna) so seltsam rötlich leuchte. Aber da so was ja nicht sein kann, halte ich (Alex) es für eine Sinnestäuschung und ignoriere das Phänomen.
Und schon bin ich wieder ich selbst, stehe ein gutes Stück weiter vorne als eben noch. In meinem Kopf dreht sich alles im Kreis.
Habe ich mich selbst gerade wirklich von hinten gesehen? Aber das würde ja bedeuten …
Ich fahre herum und schaue die verschneite Straße entlang. Als ich den einzigen Mann erblicke, der sich dort leicht schwankend nähert, taumele ich schaudernd rückwärts. Vieles habe ich zu sehen erwartet, aber sicher nicht das: Der Mann wirkt leicht adipös, zwischen seinen Nasenlöschern baumelt ein fetter Ring, das Haar verschwindet unter einem karierten Kopftuch, in einer Hand trägt er eine Bierflasche.
Kann das wirklich wahr sein? Ist ER das?
Ich kämpfe gegen Schock und Enttäuschung, schließlich mag ich auch solche Menschen nicht abwerten, wer kann schon nachempfinden, was ihn dazu bewogen hat, dieses Leben zu führen und sich so zu kleiden. Und wie es sich anfühlt, wenig Geld zu haben, das durfte ich in der letzten Zeit oft genug erfahren, wer weiß, wo ich noch lande, wenn das so weitergeht …
Und doch passt dieser Typ überhaupt nicht zu meinen Visionen …
Im nächsten Augenblick wird mir auch klar, weshalb, denn direkt hinter dem Mann tritt ein weiterer hervor, der den dicklichen geschäftig überholt. Das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt hantiert er mit Schlüsselbund und Karten gleichzeitig. Er trägt einen langen schwarzen Mantel, auf dem dunklen Haar setzen sich die ersten Schneeflocken ab. Er schaut mich nicht an, ich ihn dafür umso intensiver, denn sein Anblick zieht mich voll und ganz in den Bann, was nicht mal daran liegt, dass seine Gestalt von einem rötlichen Schimmer umgeben ist – so ähnlich wie das aus seinen Augen bei mir ausgesehen hat. In meinem Körper kribbeln Abermillionen von wild gewordenen Ameisen und mein Herz kann gar nicht mehr aufhören, gegen meine Brust zu trommeln.
Wie unter Strom gesetzt glotze ich ihn an, während er einfach an mir vorbeimarschiert, den Blick irgendwo ins Nichts gerichtet.
»Du, es tut mir so leid, die Videokonferenz hat viel länger gedauert als geplant. Aber jetzt bin ich auf dem Sprung«, entschuldigt er sich mit der mir schon bekannten Stimme.
Erst, als Alex an mir vorbeigegangen ist und nun stattdessen der adipöse Mann mir seine Bierfahne entgegenbläst, löse ich mich aus meiner Erstarrung.
»Na, hast du mir vielleicht ein paar Cent?«, fragt er.
»Äh, nein, leider nicht …«, stammele ich heiser.
»Geizig, die Leute heute …«, brummt er missmutig, aber ich habe gerade keinen Kopf für Erklärungen, stattdessen drehe ich mich um.
Alex scheint es ziemlich eilig zu haben, so schnell, wie er vorwärts hastet. Er missachtet dabei völlig, dass es glatt sein könnte bei diesem Wetter, auch die Sohlen seiner ledernen Businessschuhe sind sicher nicht gerade geeignet für den Schnee. Während er das Telefon zum anderen Ohr wechselt, durchsucht er eine Manteltasche. Kurz bevor er hinter der Hausecke verschwindet, beeile ich mich, hinterherzulaufen. Ich weiß wirklich nicht, was ich genau erwarte oder wo das enden soll, ich kann ja auch nicht einfach einen fremden Mann verfolgen, und doch kann ich jetzt unmöglich lockerlassen, wo ich ihn endlich gefunden habe.
Ob ich ihn einfach anspreche? Aber was soll ich denn sagen? »Hallo, ich habe da so komische Visionen, in denen ich SIE bin?« Dann hält er mich doch für total bekloppt!
Ich habe gerade ebenfalls die Hausecke erreicht, als es schon wieder passiert, ich bin er, ein Stück weiter vorne, direkt hinter der Ecke. Ich bin ausgerutscht und mir sind Schlüsselbund, Karte und Handy heruntergefallen. Schlüssel und Karte sind durch den Schlitz eines Gullys verschwunden – die warmen Dämpfe im Inneren haben die Rillen vor dem Zufrieren bewahrt – das Handy liegt oben drauf und sieht ziemlich lädiert aus. Ich rappele mich gerade auf, als von hinten jemand eilig um die Ecke kommt.
Und jetzt wird es absolut chaotisch: Es gibt mich plötzlich doppelt. Gleichzeitig, wie ich viel zu schnell um die Hausecke haste und gegen Alex stoße, bin ich Alex und stürze vornüber. Der Moment, in dem ich ihn berühre, ist der seltsamste von allen. Sein roter Schimmer vereinigt sich mit meinem roten Schimmer und wir leuchten plötzlich als eine einzige rote Flamme hell auf. Das alles geschieht in weniger als einem einzigen Atemzug und dann ist es auch schon wieder vorbei. Alex kniet keuchend und fluchend am Boden, während ich noch mit dem Gleichgewicht kämpfe.
Die Situation kommt mir dermaßen surreal vor, dass ich sie kaum als wahr anerkennen kann. Meine Kniegelenke scheinen sich außerdem in Wackelpudding verwandelt zu haben, denn ich verliere den Kampf mit dem Gleichgewicht und sinke in den eiskalten Schneematsch, wo ich mich dicht neben dem Geschäftsmann im Mantel ungelenk mit den Händen abstütze.
In diesem Moment kommt der Obdachlose ebenfalls um die Ecke und bemerkt leicht lallend: »Naaa, jetzt wisst iiihr auch mal, wies ist, ganz am Boden.«
Während sich Alex noch aufrappelt, schimpft er, ohne mich anzusehen: »Können Sie nicht aufpassen?!«
Ich bin viel zu geplättet von der skurrilen Situation, um überhaupt etwas zu sagen. Lediglich auf die Füße schiebe ich mich, um dem braunen Matsch zu entgehen. Statt sich den Schnee von der Kleidung zu klopfen, bückt sich Alex über das Gully und starrt fassungslos durch die Löcher. Er greift in die massiven Eisenstreben und zieht daran, doch im Gegensatz zu dem dampfenden Bereich in der Mitte, sind die Kanten von einer dicken Eisschicht bedeckt. Meistens verfügen diese Kanaldeckel lediglich über kleine kreisrunde Löcher, die um einen massiven mittleren Bereich angeordnet sind, dieses unglückliche Exemplar jedoch besitzt breite Eisenstreben, zwischen denen Aussparungen klaffen, die geradezu prädestiniert dafür sind, um diverse Wertgegenstände in den unergründlichen Tiefen darunter verschwinden zu lassen.
Den bekommt er im Leben nicht hoch!
»Das kann doch wohl nicht wahr sein! Warum ausgerechnet in den Gully?«, flucht Alex. Sein Keuchen setzt jede Menge Wasserdampf aus seinem Mund frei, der sich mit dem Dampf aus dem Abwasserkanal vermengt. Außerdem hat ihn der Schnee zwischenzeitlich mit einem leichten Flaum bedeckt. Ich lehne mich gegen die Hauswand, der einzige Halt, den ich in dieser unwirklichen Situation finden kann.
»Was ist? Jetzt helfen Sie mir doch wenigstens! Ich muss …« Er schaut flüchtig zu mir auf, um den Blick hastig wieder abzuwenden. »… meine Sachen unbedingt wiederbekommen«, ergänzt er den Satz, als wäre nichts gewesen.
Ist denn etwas gewesen? Warum hat er so schnell wieder weggeschaut?
»Äh …«, ich räuspere die dicke Kröte in meinem Hals fort, »… was ist denn hineingefallen?«
»Einfach alles!«, schnaubt er, während er die Finger nun abermals durch die Streben steckt. »Meine Mitarbeiterkarte und die Hausschlüssel … Das Handy ist auch kaputt.« Er schüttelt das lädiert aussehende Gerät und tippt entnervt darauf herum. »Das ist eine absolute Katastrophe!« Alex zieht mit aller Kraft, der Deckel bewegt sich jedoch kein bisschen, dann lässt er keuchend locker. Aus eigener leidvoller Erfahrung weiß ich, dass diese Dinger auch ohne Eis höllisch schwer zu heben sind. Ohne Brechstange geht da nichts, deshalb versuche ich es erst gar nicht.
Ich tippele vorsichtig auf ihn zu, nicht dass sich meine Knie schon wieder verabschieden. Aber dieses Mal knicken sie nicht ein, dafür nimmt das Kribbeln meines Körpers zu, je näher ich ihm komme. Ich bin nervöser als vor meiner praktischen Fahrprüfung und das will was heißen. Während Alex noch immer gebückt vor dem Gully hockt, schaue ich zu ihm herab, beziehungsweise an ihm vorbei, durch die Löcher in den Schacht hinein. Man kann entfernt etwas erkennen, das an einen Schlüssel erinnert, Karte sehe ich aber keine.
»Ich glaube, das wird nichts mehr«, erkläre ich kopfschüttelnd.
Alex rauft sich die Haare.
»Heute geht irgendwie alles schief«, schnaubt er, »ich schätze, ich bin einfach überarbeitet. Aber ohne Schlüssel komme ich nicht in meine Wohnung, ohne Karte nicht in die Firma und ohne Handy kann ich weder den Schlüsselnotdienst noch sonst jemanden anrufen.«
Darauf weiß ich nichts zu antworten. Ich kann meinen Blick einfach nicht von ihm lösen und bin froh, dass er mich nicht ansieht, sonst wäre das wohl ziemlich peinlich.
Er erhebt sich und jetzt schaut er mich doch an. Der Blick seiner graublauen Iris zuckt wie ein heißer Blitz durch mich hindurch, während eine transparent rötliche Flamme zwischen uns in die Höhe zuckt.
Alex blinzelt verdattert.
»Was war das?«, frage ich heiser. »Haben Sie das auch gesehen?«
»Wieso? Was meinen Sie?« Er klingt alarmiert.
Besser, ich spreche nicht weiter darüber.
Er hat den Blick wieder abgewandt und kramt etwas aus seiner Tasche hervor.
»Wenigstens der Autoschlüssel ist noch da. Ich muss unbedingt mal telefonieren. Können Sie mir vielleicht Ihr Handy leihen?«, erkundigt er sich, schaut dabei aber die Straße entlang, als suchte er etwas oder jemanden. Inzwischen ist es menschenleer und auch in den Firmen brennt kaum noch ein Licht hinter den Fenstern.
»Ich habe leider kein Handy. Ich könnte Ihnen höchstens anbieten, von mir zu Hause aus anzurufen.« Es kostet mich ziemlich viel Mühe, diesen Satz so herauszubringen, dass er normal klingt, weil ich immer noch schrecklich aufgeregt bin.
Und da bin ich doch wieder Objekt seiner Neugier geworden, denn er starrt mich abermals fassungslos an, was sich jetzt in einer Salve kleinerer Feuerblitze entlädt. Alex blinzelt, als habe er einen Fremdkörper im Auge.
»Sie haben wirklich kein Handy? Wie kann man in der heutigen Zeit ohne Handy auskommen?«, fragt er kopfschüttelnd.
Ich zucke stumm mit den Schultern. Um ehrlich zu sein, besitze ich tatsächlich noch ein uraltes Handy zu Hause, allerdings mit gesperrter SIM-Karte, doch bin ich viel zu geplättet für ausführliche Erklärungen.
»Wenn ich nur meine Karte noch hätte, könnte ich vom Büro aus anrufen …«, seufzt er und schaut sich dann auf der Straße um, wo außer uns jedoch niemand mehr zu sehen ist. Dann richtet er seinen Blick tief durchatmend gen Himmel, was ihm ein paar kalte Flocken im Gesicht beschert.
»Wo wohnen Sie denn? Ist es weit von hier?« Nun schaut er leicht an mir vorbei.
»In Eppstein.«
»Eppstein?! Danke, aber das liegt ja nicht gerade um die Ecke … nur um einen Schlüsselnotdienst anzurufen …«, überlegt er. »Das wäre ja so, als ob ich extra nach Eppstein fahren würde, um Blumen zu kaufen«, erinnert er sich offenbar an meinen Flyer. Ich muss heftig schlucken, aber irgendetwas in mir erkennt in dieser Situation gerade eine besondere Komik, sodass ich nicht anders kann, als meinen Rucksack vom Rücken zu ziehen und einen der besagten Flyer herauszuholen.
»Ach, in Eppstein gibt es einen wundervollen Blumenladen, es lohnt sich tatsächlich, da mal vorbeizuschauen«, präsentiere ich ihm das Blatt, auf dem ich in Aquarellfarben bunte Blumen gemalt habe (natürlich nur auf dem Original, nicht auf diesem Druck).
Er starrt den Flyer mit geöffnetem Mund an, als handele es sich um eine Ankündigung der Regierung, dass demnächst eine Brigade Ufos auf der Frankfurter Zeil landen wird. Dann schüttelt er den Kopf und lacht, wobei er die Stirn in einer Hand vergräbt.
»Das ist ja unglaublich! Sie sind das, die diese Flyer in Frankfurt verteilt hat? Haben Sie dadurch tatsächlich einen einzigen Kunden gewonnen?«
»Hm, vielleicht sind Sie ja der erste …«, bringe ich so hoffnungsvoll hervor, dass er sich einen zweiten Lacher nicht verkneifen kann.
Lachend ist er mir wesentlich sympathischer als fluchend. Hier mit ihm zu stehen, hat mich alles vergessen lassen, die kalten, nassen Füße, das lauter werdende Grummeln in meinem leeren Magen und den vielen Schnee um uns herum. Mein Herz scheint permanent Saltos zu vollführen und in diesen graublauen Augen könnte ich mich schier verlieren.
»Na gut, es scheint mir ja auch kaum etwas anderes übrig zu bleiben, es sei denn, ich klingele irgendwelche fremden Leute aus ihren Wohnungen, um nach einem Telefon zu fragen. Sind Sie mit dem Auto hier?«
»Nein, mit der S-Bahn.«
»Gut, dann schlage ich vor, ich nehme Sie mit, Adresse steht ja hier drauf.« Während ich noch begeistert nicke, nimmt er mir den Flyer aus der Hand und liest meine Adresse laut vor. Besonders, als er meinen Namen Johanna Süßholz ausspricht, kribbelt es gewaltig. Alex faltet das Blatt zusammen und versenkt es in seiner Manteltasche, dann schreitet er voran.
»Da vorne in der Tiefgarage … Zum Glück habe ich die Karte dafür noch im Geldbeutel, sonst kämen wir jetzt nicht mal aus der Garage heraus.«
Ich kann mein Glück kaum fassen. Nicht nur, dass ich endlich herausgefunden habe, wer dieser mysteriöse Mister X ist, er scheint wider Erwarten ein netter Mensch zu sein und obendrein bringt er mich jetzt sogar mit seinem Auto nach Hause.
»Da Sie nun mein Fahrgast sind, wird es wohl Zeit, dass auch ich mich vorstelle. Meine Visitenkarten habe ich leider im Büro gelassen, daher kann ich damit nicht dienen. Mein Name ist Alexander Richter, das werden Sie sich sicher auch so merken können, oder?«
»Ja, natürlich«, antworte ich viel zu heftig nickend.
Johanna, Frankfurt, Montag, 16. April
Als wir jedoch wenig später zusammen in seinem Auto sitzen, ist mir schon gar nicht mehr so wohl zumute. Die Sorge verdrängt das aufgeregte Kribbeln, welches mich bisher in seiner Gegenwart durchflutet hatte.
Ich kenne diesen Menschen doch überhaupt nicht. Bin ich eigentlich bescheuert, bei einem wildfremden Mann ins Auto zu steigen? Was, wenn er doch ein Serienmörder ist? Die können sich ja schließlich auch gut verstellen, um ihre Opfer einzuwickeln.
Unsicher kneife ich die Beine zusammen und rücke auf dem Beifahrersitz so weit wie möglich von ihm fort. Von dem roten Schimmer um ihn herum ist nichts mehr zu sehen und ich frage mich, ob ich mir den nicht doch eingebildet habe.
Im Autoradio läuft ein Schmusesong, der fast unheimlich durch meinen Körper summt. Ich weiß schon gar nicht mehr, warum mein Herz so schnell schlägt, ob es Angst ist oder Aufregung.
Die Scheibenwischer schieben unablässig Schnee von der Windschutzscheibe. Wir fahren gerade hinter einem blinkenden Schneepflug her, es geht langsam voran, dafür ist die Straße wenigstens schön frei.
»Dieses Wetter ist doch nicht mehr normal …«, meint Alex kopfschüttelnd. »Aber für das Blumengeschäft müsste der Schnee doch zuträglich sein, oder? Ich meine, die Leute sehnen sich bestimmt nach Frühlingsblüten.«
»Na ja, bei dem Wetter geht kaum jemand vor die Tür, wenn er nicht muss.«
»Dann sollte man den Leuten die Blumen vielleicht vorbeibringen«, überlegt er.
»Wie soll ich das denn machen? Jemand muss doch im Laden bleiben.«
»Na, um Flyer in Frankfurt zu verteilen, haben Sie ja offenbar auch Zeit«, stichelt er.
Damit hat er mich schachmatt gesetzt.
Was soll ich darauf noch antworten?
Eine Weile herrscht eisiges Schweigen, dann greift Alex das Thema erneut auf.
»Haben Sie denn einen Businessplan erstellt?«
Ach nein, nicht schon wieder diese lästigen Fragen!
»Was machen Sie eigentlich beruflich?«, hole ich zum Gegenschlag aus.
Alex vermeidet es nach wie vor, mich anzusehen, im Auto fällt das immerhin nicht so auf, weil er sich ja ohnehin auf die Fahrbahn konzentrieren muss.
Würde sich ein Serienmörder so verhalten?
»Ich bin Projektmanager für SRM- und ERP-Lösungen.«
»Aha.«
Wieder lacht er, weil er natürlich merkt, dass ich keine Ahnung habe, wovon er redet und ich will auch nicht näher nachfragen, um zu vermeiden, dass er den vergeblichen Versuch startet, mir noch mehr dieser unverständlichen Dinge zu erklären.
»Wirklich ein fürchterliches Wetter«, greife ich stattdessen das ursprüngliche Thema wieder auf.
»Ja, und vor allem sind die Flocken so dick«, steigt er ein, während sich ein belustigtes Grinsen in seinem Gesicht breitmacht.
»Und ziemlich kalt ist der Schnee auch …«, ergänze ich gewichtig, wobei ich nur unter Mühe ein Kichern verkneifen kann.
Wenn er ein Serienmörder sein sollte, dann einer mit Humor. Gibt es das überhaupt? Humorvolle Serienmörder?
Ein Millionär ist er bestimmt auch nicht, kommt mir in den Sinn, weil ich an diese vielen Romane denken muss, wo eine Frau mit eher wenig Geld, so wie ich, sozusagen das große Los zieht, indem sie sich einem berühmten, stinkreichen Typen angelt und mit ihm dann viele romantische Abenteuer erlebt. Sozusagen von Null auf Eintausend. Ich muss ehrlich zugeben, es ist nicht leicht, wenn man jeden Cent mehrfach umdrehen muss und trotzdem steht das Geld bei meinem Traummann gar nicht auf der Liste mit drauf. Es muss doch vor allem vom Gefühl her stimmen, dann kann man zusammen so viel Stärke entwickeln und sich gegenseitig stützen, dass alles andere von ganz alleine kommt. So stelle ich mir das zumindest idealerweise vor.
Wir fahren gerade unter einer Brücke durch, als von oben eine Ladung Schnee herabfällt – oder hat da jemand nachgeholfen?
Jedenfalls ist es so viel, dass die Scheibenwischer feststecken, man absolut nichts mehr sehen kann und Alex erschrocken abbremst.
»Und gefährlich ist dieser Schnee …«, fügt er nun hinzu, was nicht mehr ganz so belustigt klingt. Es hilft nichts, da man so nicht weiterfahren kann, steigt er aus und weil ich keine Prinzessin bin, die untätig sitzen bleibt, wenn es was zu tun gibt, verlasse ich ebenfalls den Wagen, um ihn dabei zu unterstützen, die Scheibe freizuräumen. Mit dem Eiskratzer kommt man da nicht weit, deshalb verwenden wir beide die Ärmel – er auf der Fahrer- ich auf der Beifahrerseite – und weisen dabei eine fast schon unheimliche Synchronität in den Bewegungen auf. Noch befinden wir uns in der Stadt, um diese Zeit ist auf den Straßen wenig los und die Autos, die noch unterwegs sind, fahren zum Glück langsam, daher ist die Gefahr hoffentlich nicht groß, dass von hinten jemand das Auto rammt – es ist übrigens dunkelblau, die Marke habe ich mir nicht so genau angeschaut, aber es sieht nach einem Firmenwagen aus, wenn man dem Logo am Heck glauben darf.
Nachdem wir das Schneewegwischen beendet haben, kehren wir durchgefroren ins Auto zurück, wobei wir wieder gespenstisch synchron die Schuhe draußen abklopfen.
Alex ignoriert diese Synchronitäten komplett, also beschließe auch ich, nichts davon zu erwähnen. Nachdem die Türen gleichzeitig wieder zu sind und wir weiterfahren, reibe ich mir verfroren die Hände. Alex dreht die Heizung auf Maximum. Jetzt ist er wieder da, dieser rötliche Schimmer um ihn herum.
Was ist das bloß?
Als ich durch seine Augen geschaut habe, hatte ich ebenfalls so einen Schimmer um mich herum gesehen, obwohl ich an mir selbst nichts davon bemerke. Und dazu diese Visionen und gleichzeitigen Bewegungen? Irgendetwas ist da zwischen uns, das ich weder erfassen noch verstehen kann. Eine gewisse Sympathie kann ich nicht leugnen, obwohl mir dieser Mann auch irgendwie unheimlich ist, warum kann ich aber nicht erkennen. Eine verzwickte Sache. Einen Ehering trägt er nicht am Finger, aber das sagt ja nichts aus.
Mir fällt das Gespräch wieder ein, das er führte, als er an mir vorbeigelaufen ist.
»Hatten Sie eigentlich noch was vor heute Abend?«, erkundige ich mich neugierig.
»Ja, meine Verabredung wundert sich sicher schon, wo ich bleibe, aber das lässt sich jetzt ja nicht ändern.«
Aus seinem Tonfall kann ich so gar nichts herauslesen, weder ob er das bedauert noch ob es sich um ein Date handelt oder etwas Geschäftliches.
In meinem Bauch kribbelt es schrecklich vor Neugier, aber wenn ich jetzt nachfragen würde, könnte er ja vielleicht glauben, ich hätte Interesse an ihm … Da halte ich mich doch lieber zurück.
»Und wie steht es mit Ihnen?« In seiner Frage schwingen deutliche Zweifel mit, dass jemand wie ich noch wichtige Termine am Abend haben könnte.
»Oh, ja, gut dass Sie mich daran erinnern. Ich treffe mich später noch mit einigen Geschäftspartnern zum Dinner«, lüge ich auf eine leicht durchschaubare Weise.
»Tatsächlich?« Er schielt skeptisch zu mir herüber, was kleine Feuerspritzer in mir zum Glühen bringt. »Mit den Eigentümern verschiedener Gärtnereien, dem Management einer Hochzeitsagentur oder einem Blumenversandhandel?«
»Ja, so ungefähr …«, erwidere ich ausweichend.
Alex wiegt belustigt den Kopf, entgegnet aber nichts.
Endlich hat der Schneefall nachgelassen und die Autobahn ist einigermaßen frei, sodass es nun zügiger vorangeht. Wir schweigen auf der weiteren Fahrt, lauschen der Musik aus dem Radio und ich hänge meinen Gedanken nach, die sich allerdings ausschließlich um Alex und diese rätselhafte Verbindung zu ihm drehen.
Nach der Abfahrt geht es über die Landstraße weiter, auch hier wurde zum Glück schon geräumt. Im Auto gibt es zwar ein Navi, aber das benötigen wir nicht, weil ich ja den Weg kenne und Alex direkt zu meiner Haustür lotsen kann.
»Das ist er also, der berühmte Blumenladen Süßholz von Eppstein«, bemerkt er, allerdings kann man durch die dunkle Scheibe vom Auto aus kaum etwas erkennen. Wir haben Glück, einen freien Parkplatz zu finden, was bei diesen Schneemassen nicht selbstverständlich ist.
»Und hier wohnst du auch?«, erkundigt er sich.
»Ja, meine Wohnung befindet sich im ersten Stock.«
»Sehr praktisch. Ich habe auch manchmal den Eindruck, ich würde im Büro wohnen, aber wahrscheinlich arbeite ich einfach zu viel, jedenfalls stimmt heute irgendwas nicht mit meinen Augen.«
Mir wird gleichzeitig heiß und kalt, weil ich ahne, dass er damit den roten Schimmer meint.
»Warum, was ist denn los?«, frage ich so unschuldig wie möglich.
»Ach, nichts Dramatisches«, winkt er ab und steigt dann einfach aus. Ich folge seinem Beispiel und wir stapfen durch den knirschenden Schnee zu meinem Geschäft.
»Schönes antikes Fachwerk, aber renovierungsbedürftig«, kommentiert er mein Heim.
Ich weiß, dass er damit Recht hat, aber so was mag ich gar nicht hören, weil ich es sowieso nicht ändern kann. Wir klopfen nacheinander die Schuhe ab und treten ein. Wie immer strömt mir ein wundervoll frischer, blumiger Duft entgegen, den ich tief in meine Lungen einsauge. Ich knipse das Licht an und entledige mich meiner Winterjacke und der Stiefel. Zu meinem Erstaunen zieht auch er seinen Mantel ab, als plane er, länger zu bleiben.
»Darf ich Ihnen einen heißen Tee anbieten?«, frage ich.
»Ja, gerne.«
»Dort steht das Telefon. Bedienen Sie sich einfach.«
Ich deute auf mein älteres blassgrünes Modell mit Wählscheibe und geringeltem Hörerkabel. Heute Morgen hat es zumindest noch funktioniert, aber da ich auch mit der Telefonrechnung im Verzug bin, kann ich nur hoffen, dass es im Laufe des Tages nicht abgestellt wurde. Es wäre doch mega peinlich, wenn Alex extra mit mir hierhergefahren wäre um zu telefonieren und es dann nicht funktioniert.
»Danke, aber leider habe ich die Nummer eines Notschlüsseldienstes gerade nicht im Kopf. Könnten Sie mir die vielleicht auch noch heraussuchen?«
»Ach so, ja natürlich.«
Ich stelle mein Notebook auf der Verkaufstheke ab und stopfe das Netzwerkkabel in den Router aus dem letzten Jahrhundert.
»Kein WLAN?« Alex schüttelt belustigt den Kopf.
»Brauche ich nicht«, entgegne ich trocken. Er kommt zu mir auf die andere Seite der Theke, um zu schauen, wonach ich suche. Peinlicherweise erscheint prompt die Internetseite mit seiner Firma auf dem Bildschirm, leider gelingt es mir nicht, sie schnell genug wegzuklicken, sodass Alex sofort erkennt, was ich zuletzt an meinem Rechner gemacht habe. Dermaßen heiße Schauer wallen über mich hinweg, dass ich fürchterlich zu schwitzen beginne und das heiße Blut meine Wangen zum Glühen bringt.
»Was wollten Sie denn von der yourFourCs? Eine ERP-Softwarelösung für den Blumenladen?«, wundert er sich verständlicherweise. Ich traue mich nicht, ihn anzuschauen, starre weiter auf den Bildschirm, wo ich jetzt Schlüsselnotdienst eingebe. Zumindest versuche ich das, genau genommen vertippe ich mich mehrfach, sodass ich das Wort immer wieder korrigieren muss.
»Äh, nein, ich habe nur nach Firmen gesucht, die vielleicht Interesse haben könnten, für Mitarbeitergeburtstage mit mir zusammenzuarbeiten«, fällt mir zum Glück meine Ausrede wieder ein.
»Aha, verstehe, im Grunde gar keine schlechte Idee, mit Firmen zusammenzuarbeiten«, lobt er mich immerhin, »aber was macht ausgerechnet die yourFourCs in Frankfurt so prädestiniert für eine Zusammenarbeit mit einem Eppsteiner Blumenladen? Fressen die Fahrtkosten da nicht die ganze Marge wieder auf?«, erkundigt er sich äußerst interessiert.
»Ähm, ich vertraue da ganz auf meine Intuition …«, rede ich mich mal wieder um Hitze und Schweißausbrüche herum.
»Ach, deshalb waren Sie dort in Niederrad. Und wie ist es gelaufen? Hat meine Firma angebissen? Bekomme ich jetzt zu jedem Geburtstag einen Blumenstrauß aus Ihrem Laden von den Kollegen geschenkt?«, erkundigt er sich belustigt.
O lieber Gott, erlöse mich doch endlich von diesen Fragen!
»Nein, leider nicht«, entgegne ich knapp. Details meiner verzweifelten Suche will ich uns beiden ersparen.
Die Suchmaschine spuckt jetzt mehrere Ergebnisse von Schlüsselnotdiensten in ganz Deutschland aus, sodass ich die Eingabe mit dem Zusatz Frankfurt wiederholen muss. Endlich erscheint die passende Liste und Alex deutet auf einen Namen, den ich anklicke.
»Der hier wirkt seriös. Mit den Notdiensten muss man vorsichtig sein«, erklärt er, »wenn man nicht vorher genau die Kosten erfragt, kann das ziemlich teuer werden.«
»Ja, davon habe ich schon gehört.«
Mit klopfendem Herzen beobachte ich, wie er den Hörer abnimmt und atme erleichtert auf, als ich den Frei-Ton wahrnehme.
»Danke.« Er schenkt mir ein Lächeln, das mich schier zum Schmelzen bringt. Der rote Schimmer um ihn herum hat deutlich an Intensität zugenommen und immerhin traut er sich jetzt, mich flüchtig anzusehen. Um die Mundwinkel herum haben sich kleine Grübchen gebildet, nicht so tief wie bei meiner Freundin Sina, aber so, dass dieses Lächeln äußerst sympathisch wirkt, vor allem, weil mich seine Augen intensiv anstrahlen. Auch in den Augenwinkeln entdecke ich kleine Lachfältchen. Hier im Laden wirkt sein braunes Haar heller als noch vor dem Büro, außerdem hat das Wetter und auch das Schneewegschieben von der Windschutzscheibe bewirkt, dass es ein wenig zerzaust ist. Dadurch wirkt er natürlicher, wilder, männlicher …
O Mann! Hanna! Hör bloß auf damit, sonst …, schelte ich mich in Gedanken.
Bei meinen Höhenflügen habe ich nicht einmal bemerkt, dass seine Aufmerksamkeit wieder zur Telefonnummer auf meinem Notebookbildschirm gewandert ist. Auch sein rötlicher Schimmer hat sich merklich verdunkelt.
Was das wohl zu bedeuten hat?
»Wollten Sie nicht Tee kochen?«, erkundigt er sich, während er die Nummer wählt.
»Äh, ja natürlich.«
O nein, bestimmt habe ich ihn angestarrt.
Eilig laufe ich die Treppe hinauf, um Wasser zu kochen. Auf dem Tisch liegen noch immer meine Aquarellfarben und das Bild, das ich vom Logo gemalt habe. Eilig räume ich die Sachen weg, wenn er das alles sehen sollte, käme ich arg in Erklärungsnot.
Von oben kann ich hören, wie er mit dem Schlüsselnotdienst einen Preis aushandelt. Sie verabreden sich in eineinhalb Stunden vor seiner Wohnung, sodass ich auch seine Adresse mitbekomme. Alex’ Wohnung befindet sich in einem Haus im Frankfurter Westend, wie er erklärt.
Da liegt auch der Palmengarten, fällt mir auf. Wahrscheinlich hat er deshalb Sonntag das Café am Palmengarten besucht, vor dem er meinen Flyer gefunden hat.
So fügen sich plötzlich alle Puzzleteile zusammen. Sina wird Betonklötze staunen, wenn ich ihr das alles erzähle. Als ich das heiße Wasser in die Kanne kippe, merke ich, wie aufgeregt ich immer noch bin, denn meine Hände zittern so sehr, dass ich alle Mühe habe, nichts zu verschütten. Es duftet bereits köstlich nach meiner Spezialmischung aus selbst gezogenen und getrockneten Kräutern. Süßholz-Tee habe ich diese Mischung auf meinen Familiennamen getauft.