Goldenes Glück - Isabella Mey - E-Book

Goldenes Glück E-Book

Isabella Mey

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Beschreibung

Fabolon, die Welt der Farbmagie
zweiter Band


Da die Serie an Unglücken kein Ende nimmt, erreicht Felix’ Laune einen absoluten Tiefpunkt.
Nachdem er zwei Wochen krank im Bett verbracht hat, seine Schwester nicht aufhört, ihn zu ärgern, hat er obendrein Majas Geburtstag verpasst.
Als einziger Erdoni ohne magische Fähigkeit wird er gegen seinen Willen nach Fabolon katapultiert und muss dort sofort ums Überleben kämpfen.
Als er schließlich aus seiner Bewusstlosigkeit aufwacht, fühlt er sich wie unnütze Last.

Naja, es kann ja eigentlich alles nur noch besser werden, oder?

Leseprobe
»Felix, jetzt komm doch endlich ins Bett«, mahnte Tono den Jungen, der noch immer aus dem Fenster lehnte, um den irre großen Mond zu betrachten.
»Warum sollte ich meine Zeit mit Schlafen verschwenden? Ich bin überhaupt nicht müde. Aber das da draußen müsst ihr euch unbedingt anschauen. Dieser blasse Mond ist so krass mit seinen Kratern. Die kann man voll deutlich erkennen. Und wie gigantisch groß der ist, es sieht aus, als ob er gleich zu Boden kracht.«
»Wahnsinn, der Mond.« Pipp gähnte und drehte sich zur Wand. Er und Nio lagen oben in den Etagenbetten, unter ihm versuchte Tono in den Schlaf zu finden, doch mit Felix am Fenster kam er einfach nicht zur Ruhe.
»Boah, wie genial sich dieser klare Sternenhimmel im Meer spiegelt.«
»Natürlich ist das schön, aber sag mal, Junge, was ist eigentlich los mit dir?«, wunderte sich Tono.

Bunte All Age Fantasy, angereichert mit Magie und gewürzt mit Romantik, empfohlen ab zwölf Jahren.

Fabolon
Band I – FarbelFarben
Band II – Goldenes Glück
Band II – StaubNebelNacht
Band IV – RostRoter Rubin
Band V – BlauVioletter Engel
In der gleichen Welt: Romantasy

Weitere Bücher der Autorin

Lichtertanz
Band I – Die Magie der Glanzlichter
Band II – Die Magie der Goldwinde
Band III – Die Magie der Lichtkristalle (Finale)

Flammentanz
Band I – Funken
Band II – Flammen
Band III – Feuer
Band IV – Brand
Band V – Glut (Finale)

Nacht der Lichter
Band I – Leiser Strom
Band II – Novisapiens
Band III – Gewittermacht

WandelTräume
Ein traumhaftes Jugendbuch

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Inhaltsverzeichnis

Ultimatum

Aufführung

Gold, Fisch und Mirek

Die Blaue Celestera

Lichtgas

Öffentliches Geheimversteck

Pavillon

Stofftasche

Wasserküsse

Farellaliebe und die Umaguren

Die Frau des Lachens

Eine dunkle Gestalt und böse Gedanken

Versteckte Pfade und Weltenwanderung

Felix im Glück

Nios Preis

Auf der Straße

Schlund der Hölle

Flatterflügler und Ferdelfe

Aufruhr

Kiros Geheimnis

Entdeckungen im Hause Litania

Hippito

Ungewöhnliche Vorstellung

In der Falle

Ruhe vor dem Sturm

Endloser Schmerz

Strahlendes Lachen

Danksagung und Nachwort

Ode an meine Testleser

Lexikon

Das Jahr auf Fabolon mit seinen Farben und Monaten

Impressum

FABOLON

Goldenes Glück

Isabella Mey

Band II

Das Buch Fabolon widme ich meiner Tochter Lara, die die Geschichte durch ihre unzähligen fantastischen Ideen bereichert hat.

Ultimatum

Fabolon, Dorf Fedo, 1213 Omajan 48

Nach all dem Schrecken mit dem Schleimmonster war bei Familie Tanúka wieder Alltag eingekehrt. Die Mauern zur Eindämmung des Schleims waren vollständig abgebaut und das Dorf sah aus wie zuvor, lediglich einige Geschwulste auf dem Stamm des Marnussbaumes erinnerten noch an den Horror.

Nachdem die Erdoni zurück auf der Erde waren, hatte die Familie Tanúka Gianna bei sich aufgenommen, schließlich wollte man das Mädchen nicht alleine im Gästehaus wohnen lassen. Seither teilte Valía ihr Zimmer mit Gianna. Alle in der Familie mochten das Mädchen und auch Valía empfand für sie wie für eine kleine Schwester. Bedauerlicherweise teilten nicht alle Bewohner des Dorfes diese Zuneigung. Natürlich hatte man darüber nachgedacht, sie zu ihren Eltern zurückzubringen, doch erschwerend war hinzugekommen, dass dem Mädchen eingefallen war, dass der Familienname Neomantes Raukes Erfindung entsprungen war. Weil ihr der echte Name nicht gefallen hatte, hatte sie Gianna kurzerhand umbenannt und an ihren echten Familiennamen konnte sich das Mädchen nicht mehr erinnern.

Papa Tono hatte sich nach dem Fischfang zu seiner Gattin ins Bett gelegt und die Drillinge saßen zusammen mit Gianna gemütlich beim Morgenmahl. Doch lediglich Pipp war bei der Sache. Sowohl Valía als auch Nio stocherten versunken in romantischen Träumen in ihrem Brei herum. Nios Herz war schwer und so sehr er sich auch bemühte, er fand einfach keinen Weg, das zu ändern. Auch Valía kämpfte mit ihrem Herzschmerz, denn die Beziehung zu Kollio gestaltete sich nach wie vor recht schwierig, was sie dazu veranlasste, sich wechselweise in Hochzeitsfantasien hineinzusteigern und Trennungsszenarien durchzuspielen – beides natürlich nur im Kopf.

»Reich mir mal das Kompott rüber, Valía!« Ohne die Reaktion seiner Schwester abzuwarten, streckte Pipp den Arm über den Tisch, um nach der Schüssel zu greifen, dabei streifte er jedoch den vollen Wasserkrug. Dieser vollführte einen schlingernden Tanz und schickte das übergeschwappte Nass direkt in Nios Schüssel, in dem der heiße Brei eben noch gedampft hatte.

Nio, der gerade eben noch gedankenversunken in seinem Essen herumgerührt hatte, schreckte zurück. Unter Valías und Giannas Quieken taumelte er auf seinem Schemel. Die Mädchen griffen von beiden Seiten reflexartig nach seinen Armen, wodurch sie den Jungen vor einer unsanften Begegnung mit dem Steinboden bewahrten.

»Pass doch auf!«, keuchte Nio, rückte seinen Schemel zurecht und schickte seinem Bruder ein düsteres Knurren.

Das beeindruckte Pipp jedoch in keiner Weise. »Du könntest deinem Bruder ruhig ein wenig mehr Dankbarkeit zeigen. Immerhin habe ich dich zumindest für einen Moment aus deinem Liebesjammer herausgerissen. Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest, du sitzt bei der Familie Tanúka vor deinem Morgenmahl.«

Nio kämpfte gegen die aufsteigende Röte in seinem Gesicht. Er hatte nicht gemerkt, dass sein Herzschmerz so offensichtlich gewesen war. Statt darauf einzugehen, deutete er auf den verwässerten Brei. »Du meinst wohl, das war mein Morgenmahl.« Er holte aus, um nach Pipps Schüssel zu greifen, doch dieser reagierte blitzschnell, indem er sie durch einen Seitenschwenk in Sicherheit brachte.

»Sogar Gianna benimmt sich erwachsener als ihr beiden«, rügte Valía kopfschüttelnd. »Wie alt seid ihr eigentlich?«

»Schwesterchen, ich kann ja verstehen, dass du dich uns überlegen fühlst«, konterte Pipp. »Immerhin genießt du einen vollen Zykel Altersvorsprung. Aber glaube mir, auch du hast ein Recht darauf, den Schalk deines inneren Kindes auszuleben. Gib einfach der tiefen Sehnsucht nach und vergiss nur ein einziges Mal an diesem Tag, dass du das Bedürfnis verspürst, dich wie unsere Mutter aufzuspielen.«

Valía schnappte nach Luft. Ihr Mund blieb eine Weile geöffnet, doch ihr wollte einfach kein eleganter Widerspruch einfallen. Unterdessen setzte Pipp erfolgreich sein Vorhaben in die Tat um und bediente sich mit reichlich Früchtekompott.

»Hast du wirklich Liebeskummer?« Dieses Mal war es Gianna, die Nio mit ihren großen grünen Augen neugierig musterte und ihn damit abermals in Verlegenheit brachte. Er hatte gehofft, das Thema wäre durch den Kampf um die Schüsseln in Vergessenheit geraten. Nio seufzte unmerklich, während er das Wasser, welches seinen Brei bedeckte, vorsichtig in eine leere Tasse abkippte. Seine Geschwister kannten ihn zu gut, um ihnen etwas vorzumachen, daher hielt er es für sicherer zu schweigen, doch so schnell ließ ihn sein Bruder nicht entkommen: »Lass mich raten«, stichelte Pipp grinsend. »Lisa, Lisa oder Lisa?«

Nio knurrte unwillig. »Lass mich bloß mit der in Ruhe!«

»Wirklich? Du hast dich in Lisa verliebt?« Valía musterte ihren Bruder, als sähe sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben. Konnte es tatsächlich wahr sein, dass sie die ganze Zeit über nicht bemerkt hatte, was in Nio vor sich ging?

»Was spielt das denn für eine Rolle? Sie ist weg und kommt ohnehin nie wieder«, knurrte er, jeglichen Augenkontakt vermeidend. Stattdessen arbeitete er akribisch an der Entwässerung seines Breis.

»Ach, woher willst du das so sicher wissen? Es könnte doch wieder eine Situation geben, in der wir die Hilfe der Echse benötigen und …« Valía seufzte träumerisch.

»Denk nicht mal dran!«, schnitt ihr Nio das Wort ab. »Die sollen gefälligst bleiben, wo sie sind.«

»Also echt, ich versteh dich nicht. Du mochtest die drei doch auch, oder nicht?«

»Waren das nicht vier Erdoni?«, hakte Gianna nach.

»Ja, stimmt, den komischen Lehrer hätte ich fast vergessen …«

»Ich kann dich schon verstehen, Brüderchen«, bemerkte Pipp ungewohnt ernst. »Wenn ihr mich fragt, dieses Liebeszeug bringt nur Ärger.«

»Na, du bist ja auch der absolute Experte darin«, konterte Valía.

»Glaube mir Schwesterherz, aus dem Abstand heraus sieht man oft mehr. Schau dir Nio an, wie er unter dieser Liebessucht leidet. Und du, vor lauter rosa Wolkenschlössern in deinem Hirn übersiehst du jeden Wolltierfladen, der im Weg liegt.«

»Das war nur ein einziges Mal!«, protestierte Valía. »Ob du es glaubst oder nicht, das Verliebtsein hat auch wunderschöne Seiten. Man kann das gar nicht beschreiben, so was muss man einfach mal selbst erlebt haben …«

»Ich verzichte liebend gerne«, brummte Nio.

Gianna hatte ihren Brei leer gegessen und lutschte am Löffel. »Wo bleibt Tono so lange?«, wunderte sich das Mädchen.

»Ach, er macht mit Mama bestimmt …«

»Sicher wird er gleich kommen«, schnitt Valía Pipp das Wort ab und schickte ihm warnende Blicke.

»… noch das Zimmer sauber«, ergänzte dieser breit grinsend.

Als hätten es die Eltern der Drillinge gehört, stiegen sie kichernd die Wendeltreppe herunter.

»Wie ich sehe, seid ihr schon fertig mit Essen. Tut uns leid, dass es so lange gedauert hat«, entschuldigte sich Tono.

»Kein Problem, ich hab noch …« Ohne die Miene zu verziehen, deutete Nio auf seine Schüssel, in der wässriger Brei schwamm.

Händchenhaltend und verliebte Blicke wechselnd begaben sich Mianma und Tono zu ihren Plätzen.

»Siehst du, so schön kann Liebe sein«, griff Valía das ursprüngliche Thema wieder auf, wobei sie ihre Eltern mit melancholischen Blicken bedachte.

»Dieses illusionäre Leuchten in den Augen wirkt auf mich nicht besonders erstrebenswert. Zudem ist es wohl eher die Ausnahme, dass sich ein solcher Zustand über längere Zeit hinweg aufrechterhalten lässt. Ich schätze, er stammt vielmehr von den vorherigen Aktivitäten des …«

»Pipp!«, rief Mianma und zog eine Augenbraue Richtung Gianna in die Höhe.

»… Zimmerputzens«, ergänzte ihr Sohn vielsagend.

»Warum veralbert ihr mich hier alle?« Gianna kräuselte die Lippen zu einer Schnute. »Ich merke doch genau, dass ihr mir was nicht sagen wollt. Was hat es auf sich mit diesem Zimmerputzen?«

Die restlichen Familienmitglieder wechselten vielsagende Blicke, dann antwortete Mianma sanft: »Gianna, meine Liebe, niemand will dich ärgern. Es ist nur so, dass es Dinge gibt, für die bist du noch nicht alt genug.«

»Und welche?«

Die Antwort blieb der Familie erspart, da in diesem Moment jemand energisch gegen die Tür pochte. Alle Aufmerksamkeit wanderte zu Mianma, die aufsprang, um zu öffnen. Draußen stand Kollio.

»Der Bote ist da! Der Bote!«, rief er aufgeregt, wobei er an Mianma vorbeischaute, um einen Blick ins Innere zu erhaschen.

Neuigkeiten und Nachrichten wurden im Land Fabenia stets von mehreren Boten von Ort zu Ort getragen. Dies war immer ein beliebtes Ereignis, denn sie lasen nicht einfach einen Text herunter, sondern veranstalteten stets ein kleines Schauspiel, wofür sie Geld einsammelten.

»Guten Morgen, Kollio«, grüßte Mianma.

»Äh, ja, guten Morgen. Ihr kommt doch auch zum Marplatz. Heute Mittag gibt der Bote mit seiner Tochter eine Vorstellung.«

»Bestimmt werden wir da sein. Welcher Bote ist es denn?«, wollte Tono wissen.

»Naujau, ich meine Fabio und seine Tochter Timja.«

Weil Fabio häufig nau statt nein und jau statt ja sagte, eine typische Eigenart seines kleinen nordländischen Volksstammes, hatte man ihm den Spitznamen Naujau verpasst. In Ordnung kam außerdem als oki heraus, was jedoch nicht in den Spitznamen einfloss. Es wurde gemunkelt, die Nordländer würden diese Worte dermaßen absurd betonen, dass dies der fabolonischen Sprachmagie einen Streich spielte, was wiederum zu dieser Verzerrung führte. So genau konnte das aber niemand sagen und bislang war seine Tochter Timja davon verschont geblieben.

»O schön! Die beiden waren ja schon lange nicht mehr hier«, freute sich Mianma.

Kollio reckte den Hals, um nach Valía Ausschau zu halten.

»Möchtest du reinkommen?«, fragte Mianma.

Das ließ sich Kollio nicht zweimal sagen. Tono erhob sich, um einen weiteren Schemel zwischen seiner Tochter und sich selbst zu platzieren. Valía duckte sich. Ihre Wangen glühten. Bisher hatte sie sich immer alleine mit Kollio getroffen. Hier vor der gesamten Familie ihre Liebe zu offenbaren, und sich Pipps Spötteleien auszusetzen, war ihr mehr als unangenehm. Kollio dagegen schien das komplett anders zu sehen. Er rückte seinen Schemel näher an seine Freundin heran und legte einen Arm um ihre Schulter. Bevor er zum Äußersten übergehen, und ihr vor aller Augen seine Lippen auf die ihren pressen konnte, fuhr Valía hoch.

»Äh, ich bin schon fertig mit dem Essen. Lass uns lieber nach oben gehen«, stammelte sie.

Sie fasste Kollio an der Hand und zog ihn mit sich die Treppe hinauf.

»Was für eine Ehre, dass du mich in dein Zimmer mitnimmst.« Kollio sah sich in dem spärlich eingerichteten Raum um. »Und hier schläft diese kleine Rote?« Er deutete auf das zweite Bett.

»Sie heißt Gianna«, korrigierte Valía, während sie die Tür zuzog. Kollio rollte Valías Decke ein, um sie als Polster zu nutzen. Er lehnte sich gemütlich auf ihrem Bett zurück und schenkte ihr ein extra breites Grinsen.

»Und jetzt?« Sie zog die Brauen in die Höhe.

»Na, wofür hast du mich denn auf dein Zimmer mitgenommen?«

»Hmm … Es könnte jemand hereinkommen, Gianna zum Beispiel …«

»Ja und?« Kollio hob die Schultern. »Du schämst dich doch nicht etwa, mit mir zusammen zu sein, oder?« Mit schiefem Blick musterte er sie eindringlich.

Valía schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht, aber … mir geht das alles einfach zu schnell.«

»Na gut, dann verschwinde ich besser mal wieder.« Kollio sprang schwungvoll vom Bett und drängte sich an Valía vorbei. »Gib mir Bescheid, wenn du so weit bist.« Er griff nach der Tür, doch Valía packte seinen Arm und zog ihn zurück.

»Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt!«

Sie seufzte.

Warum ist das mit Kollio nur alles so kompliziert?

»Ehrlich, ich versteh dich nicht. Sind alle Jolinas so kompliziert?«, fragte er kopfschüttelnd, wobei er mit Jolinas alle weiblichen Wesen meinte.

»Bin ich das? Tut mir leid, ich weiß selbst nicht, was das ist. Ich hatte doch noch nie einen Freund und ich glaube, mir ist das einfach alles noch zu neu.«

»Verstehe. Und was soll ich jetzt tun? Bleiben oder gehen?«

Kollio legte den Kopf schief und Valía atmete tief durch.

»Können wir nicht einfach ganz normal miteinander umgehen?«

»Bedeutet normal, wie Freunde, ohne Küssen?«

»Ich würde vorschlagen, wie Freunde, mit Küssen.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das er kopfschüttelnd erwiderte.

»Na, gut. Hier in deinem Zimmer, oder in einem Versteck, in dem uns niemand findet?«

Valías Blick verlor sich hinter Kollio, sie wechselte ihr Standbein und begann nervös, ihre Hände zu kneten.

»Ich denke … ich sollte mich langsam daran gewöhnen, dass meine Familie von uns weiß … Also bleiben wir hier.«

»Das bedeutet …« Er trat auf sie zu und zog sie sanft in die Arme.

Sein Gesicht näherte sich, die Lippen leicht geöffnet, Valía schloss erwartungsvoll die Lider, da flog die Tür auf. Reflexartig stieß sie Kollio von sich fort.

»Störe ich?«, fragte Pipp betont unschuldig. Das triumphierende Grinsen in seinem Gesicht verriet jedoch seine wahre Gesinnung.

»Was willst du?«, fuhr Valía ihn an.

»Ich spiele die Vorhut für Gianna. Sie braucht Tafel und Kreide, weil sie zur Schule gehen will.«

Tatsächlich lugte das Mädchen neugierig hinter dem Türrahmen hervor.

»Ach so, ja, dann holt halt die Sachen …«, murmelte Valía.

Kollio lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtete Gianna beim Tafelholen.

»Na, dann noch viel Spaß!«, rief Pipp lachend, während er die Tür hinter dem Mädchen zuzog.

Gerade als Valía tief durchatmete und sich wieder Kollio widmen wollte, flog die Tür abermals auf.

»Ach, bevor ich’s vergesse …«, sagte Pipp.

»Was ist denn noch?«, stöhnte Valía genervt, Kollio dagegen schmunzelte. Offenbar war sie die Einzige, die dieses Theater überhaupt nicht lustig fand.

»… vergesst nicht, dass der Bote heute Mittag auftritt.«

»Jaja, und jetzt verschwinde!« Gegen Pipps leichten Widerstand schob Valía die Tür ins Schloss und wünschte sich einen schweren Eisenriegel, um jeden weiteren Eindringling auszusperren. Da kein Schließmechanismus vorhanden war, übernahm sie diese Aufgabe selbst, indem sie sich rücklings gegen die Tür lehnte.

»Wollen wir da weitermachen, wo wir aufgehört hatten?«, erkundigte sich Kollio mit schiefgelegtem Kopf.

»Es tut mir leid, ich bin gerade ziemlich genervt. Ich glaube, wir sollten uns lieber heute Nachmittag noch mal treffen. Wie wärs bei dir in der Laube?«

»Na gut, schade. Aber lass mich nicht zu lange warten. Noch einen Abschiedskuss?«

Valía lauschte, ob alles ruhig blieb im Haus, dann wagte sie sich von der Tür fort und legte ihre Arme um Kollios Hals. Er zog sie an sich und küsste sie und sie küsste ihn und sie küssten sich und … es klopfte schon wieder. Stöhnend ließen beide voneinander ab. Kollio hob zum Abschied die Hand und öffnete die Tür. »Ich freue mich auf heute Nachmittag!« Er nickte ihr bedeutungsvoll zu, wobei er sich an Nio vorbei schob, der ins Zimmer lugte.

»Immerhin besitzt du so viel Anstand, anzuklopfen. Was willst du?«, fragte Valía genervt.

»Habt ihr Pipp gesehen? Wir wollten zusammen zur Schule gehen.«

»Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt ist. Die ganze Zeit über hat er mich genervt, vielleicht hat er Gianna zur Schule begleitet.«

»Oh, ich verstehe. Tut mir leid, da bin ich wohl auf seinen Streich reingefallen.« Nio streckte ihr seine Tafel entgegen, auf der in fabolonischen Zeichen geschrieben stand:

Wenn du wissen willst, wo ich bin, frag Valía.

»Der kann was erleben, wenn ich ihn erwische!«, schimpfte sie.

»Ich geh dann mal. Kommst du auch mit zur Schule?«

»Nein, mir ist heute nicht danach, außerdem macht es ohne Ardo nur halb so viel Spaß.«

»Gut, dann sehen wir uns auf dem Marplatz.«

Valía nickte verhalten, in Wahrheit war ihr die Lust an allem vergangen, sogar am Vorspiel des Boten.

Valía hörte, wie sich Kollio und Nio an der Tür von Mianma und Tono verabschiedeten, dann wurde es leise im Haus. Der Baum vorm Fenster stand in voller Blüte und Bienen summten in kleinen Schwärmen darum herum. Den Geräuschen nach zu urteilen, spülten ihre Eltern gerade das Geschirr ab und unterhielten sich dabei, was Valía als gedämpftes Wispern vernahm. Sie dachte an die komplizierte Beziehung zu Kollio, dann wanderten ihre Gedanken zu den Abenteuern, die sie mit den Erdoni erlebt hatte.

Ob die vier jemals wiederkommen? Wie sieht es wohl aus auf ihrem fremden Planeten? Ich wünschte, ich hätte mehr darüber erfragt, zum Beispiel ob dort auch Bäume und Blumen wachsen wie hier oder wie die Häuser aussehen.

Ein energisches Pochen an der Haustür schreckte sie aus ihren Gedanken.

Nein, nicht schon wieder!

Es war gerade so schön ruhig im Haus gewesen, dass Valía sogar ihr Zimmer offengelassen hatte.

»Was führt dich zu uns, Mirek?«, hörte sie ihren Vater sagen.

Mirek! Was will denn der?

»Wo ist die Rote?«, forderte dieser zu wissen.

»Warum, was ist mit Gianna?«, erkundigte sich Mianma.

Obwohl die Stimmen nun so laut waren, dass Valía sie deutlich hören konnte, schlich sie auf den Flur hinaus, um das Gespräch besser belauschen zu können.

»Sie muss fort! Es geht nicht, dass eine Rote bei uns im Dorf wohnt!«, bestimmte Mirek streng.

»Erstens hast du das nicht zu entscheiden und zweitens haben wir sie aufgenommen, weil sie kein Zuhause mehr hat. Wo soll sie denn hin? Du weißt selbst, dass die Stadt viel zu groß ist, um ihre Eltern dort aufzuspüren und sie selbst hat keine Ahnung, wo sie zu finden sind.«

»Der Rat hat beschlossen, dass sie weg muss.«

»Der Rat! Die bunt zusammengewürfelten Wichtigtuer, die du wie auch immer auf deine Seite gezogen hast?«, spottete Tono.

»Und wie genau stellst du dir das vor? Sollen wir Gianna etwa im Wald aussetzen?«, regte sich Mianma auf.

»Hör zu, Weib! Wie ihr das macht, ist mir völlig egal, aber ein Kind dieser Roten bringt nur Ärger. Sie muss weg! Verstanden?!«

»Mensch, Mirek, jetzt krieg dich mal wieder ein. Was glaubst du denn, was passiert, wenn ihre Eltern irgendwann rauskriegen, dass wir ihre Tochter einfach im Stich lassen?«, versuchte es Tono nochmal im Guten. »Sicher finden wir eine andere Lösung.«

»Ihr könnt gerne mit ihr zusammen verschwinden. Es ist beschlossene Sache: Wenn ihr euch weigert, die Rote wegzuschicken, werdet ihr Tanúkas aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen«, drohte Mirek. »Nachdem ihr diese fremden Magier samt Schleimmonster hierhergeschleppt habt, habt ihr schon genug Unheil angerichtet. Noch mehr dieser Unruhestifter können wir in Fedo nicht gebrauchen.«

»Also, mal langsam. Die Erdoni haben uns vor dem Schleimmonster gerettet und für das Farbelwesen sind wir nicht verantwortlich«, berichtigte Tono aufgebracht und auch Valía, die oben an der Treppe lauschte, schnaubte zornig.

»Das ist eure Version, aber die Leute sehen es mittlerweile anders.«

»Weil du sie gegen uns aufgehetzt hast, nehme ich an«, erwiderte Mianma scharf.

»Weil es die Wahrheit ist. Ihr habt zwei Tage Zeit, dann muss die Rote von hier verschwunden sein. Wenn nicht, werfen wir euch allesamt aus eurem Haus.«

»Das könnt ihr nicht tun!«, rief Tono aufgebracht.

»Das wird Ardo niemals zulassen. Was sagt denn der Weise Alte eigentlich dazu?« Mianmas Stimme bebte. Das war eindeutig zu viel für sie, dennoch fühlte sie sich ungewöhnlich wach, denn normalerweise hätte die Schlafkrankheit sie schon längst überwältigt und ins Bett gezogen.

»Der senile Greis hat hier nichts mehr zu melden. Außerdem befindet er sich leider gerade auf Reisen. Also, merkt es euch: Ihr habt zwei Tage und keinen Tag mehr!« Damit gab Mirek der Tür einen Schups, so dass sie ins Schloss fiel. Der Knall hallte durch die Stille, die er im Haus hinterlassen hatte.

Selbst Valía hielt für einen Moment den Atem an. Dann schlich sie die Treppe hinunter. Im Wohnraum traf sie auf ihre Eltern, die sich in den Armen lagen. Mianma schluchzte und Tono strich ihr tröstend übers Haar. Als er seine Tochter bemerkte, zuckte er zusammen.

»Valía!«

Mianma wandte den Kopf: »Wir dachten, du bist in der Schule. Hast du mitbekommen, was Mirek fordert?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»Es war ja laut genug. Der hat wohl nicht mehr alle Knöpfe in der Reihe!«, schimpfte sie.

»Macht euch keine Sorgen, ich werde mit dem Weisen Alten reden«, sagte Tono. »Dann wird sich alles schon wieder einrenken.«

Mianma schüttelte unglücklich den Kopf: »Du vergisst, dass er auf Reisen ist. Soviel ich weiß, wird er noch mindestens fünf Tage fort sein.«

»Stimmt, in der Schule unterrichten sich die Kinder zurzeit gegenseitig«, bestätigte Valía.

»Na, da hat der Jäger den Zeitpunkt ja schlau gewählt«, ärgerte sich Tono. »Aber der beruhigt sich schon wieder. Ich regele das.«

Doch er war längst nicht so zuversichtlich, wie er vorgab.

»Und was, wenn nicht?« Vor gar nicht so langer Zeit hatte sich Valía ähnlich elend gefühlt, als sie fürchtete, ihr Heim würde unter einem Berg aus schwarzem Schleim begraben werden. Jetzt musste sie schon wieder um ihr Zuhause fürchten, anderenfalls würden sie Gianna aussetzen müssen, was ebenfalls nicht infrage kam.

»Vielleicht finden wir jemanden in einem anderen Dorf, der sich um sie kümmert«, überlegte Tono.

»Mach dir nichts vor, eine Rote will keiner haben«, widersprach Mianma.

»Wir müssen ja niemandem erzählen, dass sie eine ist.«

»Das ist verrückt!« Mianma schüttelte den Kopf. »Wenn das jemals rauskommt, werden wir noch wesentlich mehr verlieren, als nur unser Zuhause. Ich möchte weder den Zorn ihrer Eltern erleben noch den der Dorfbewohner, die wir belügen müssten. Und Gianna hat so etwas auch nicht verdient. Sie ist ein liebes Mädchen.«

»Ja, da hast du natürlich recht«, lenkte Tono ein.

»Dann müssen wir eben doch ihre echten Eltern suchen. Wie viele Rote es wohl gibt, die eine Tochter verloren haben?«, überlegte Valía.

»Das spielt gar keine Rolle, denn es ist unmöglich, sie zu finden«, seufzte Tono. »Die Stadt Faresia ist so groß wie ein ganzes Land und es gibt dort über Tausend Schlösser der Roten. Alleine diese aufzuspüren ist schon eine Herausforderung. Das kannst du vergessen. Man müsste schon ganz genau wissen, wen man sucht und wo das Anwesen liegt.«

Tono, Mianma und Valía überlegten hin und her, doch es war zum verrückt werden. Sie berieten sich noch eine Weile, ohne dass sich eine Lösung des Problems abgezeichnet hätte.

»Bist du eigentlich nicht müde, Mama?«, fiel Valía plötzlich auf.

Mianma reckte sich ein wenig und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich fühle mich fit, als hätte ich mich jahrelang ausgeruht.«

»Du bist nicht müde?« Tono musterte seine Gattin ungläubig, während Mianma immer mehr zu strahlen begann.

»Nein. Mir geht es gut! Sehr gut!« Sie drehte sich einmal im Kreis, wobei ihr langes Kleid in die Höhe flatterte.

»Wie-wie kann das sein?«, stammelte Tono. Er konnte es noch immer nicht recht fassen. »Die Schlafkrankheit ist verschwunden? Einfach so?«

»Ja, es sieht tatsächlich so aus«, jubelte Mianma. Die Erinnerung an Mireks Ultimatum dämpfte ihre Stimmung jedoch wieder ein wenig. »Immerhin etwas Schönes an diesem Tag …«

Tono zog seine Gemahlin in die Arme. »Ich bin ja so froh, aber ich kanns noch gar nicht richtig glauben. Bist du wirklich kein bisschen müde?«

»Nein. Kein bisschen.« Mianma wirbelte abermals tanzend im Kreis herum. »Ich fühle mich voller Energie«, sang sie. »Und es gibt so unendlich viel, was ich nachholen möchte.«

Valía konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter jemals so glücklich gesehen zu haben. Alles hätte so schön sein können, wenn Mirek nicht dieses schlimme Ultimatum gestellt hätte.

Aufführung

Fabolon, Dorf Fedo, 1213 Omajan 48

Alle Augen richteten sich auf den Karren des Boten, der zu einer Bühne ausgeklappt worden war. Bemalte Holzschnitzereien imitierten Wald und Wiese. Den Hintergrund stellte das Bild eines dunklen Sternenhimmels dar. Ganz Fedo hatte sich auf dem zentralen Marplatz versammelt. Valía und ihre Eltern standen etwas abseits, als sich Jerome, einer der Ratsmitglieder, nach ihnen umdrehte und rief.

»Wo hast du denn die Rote gelassen, Tono? Ich hoffe für dich, sie verschwindet bald von hier!«

»Sie ist nur ein kleines Mädchen, das es nicht verdient, so angefeindet zu werden.« Mianma stemmte die Fäuste in die Hüfte und ihre Augen blitzten dermaßen gefährlich, dass Jerome den Kopf einzog.

»Jaja, trotzdem muss sie weg. Sie gehört einfach nicht hierher«, brummte er und wandte sich ab.

Zuvor hatte Tono versucht, das eine oder andere Ratsmitglied zur Rede zu stellen, doch alle waren den Gesprächen ausgewichen oder hatten ihn sogar beschimpft. Eine Unterhaltung mit Mirek hielt er ohnehin für sinnlos, daher war Tono erleichtert, dass er ihn nirgends entdecken konnte.

Dafür tauchten nun Pipp, Nio und Gianna auf und gesellten sich hinzu. Einige Leute begannen zu tuscheln und warfen dem Mädchen verstohlene Blicke zu. Die Kinder merkten zum Glück nichts davon, denn die drei beschäftigte etwas viel Wichtigeres:

»Mama, bist du nicht müde?«, wunderte sich Nio, als er seine Mutter erblickte.

»Du bist heute schon der Zehnte, der mich das fragt«, lachte Mianma. An diesem Tag gelang es weder Mireks Ultimatum noch den düsteren Blicken der Ratsmitglieder ihre gute Laune zu trüben. Sie hegte ohnehin den Verdacht, dass die anderen nicht dahinterstanden, sondern vom Jäger aufgehetzt worden waren.

Ohne Vorwarnung explodierte ein leuchtender Ball mitten auf der Bühne und zerstob in abertausende schillernde Funken. Die Menge jauchzte auf, verstummte dann abrupt und wartete gespannt, was folgen würde.

Valía lief ein Schauer über den Rücken, als eine Flüsterstimme wie aus dem Nichts zu wispern begann. Sie hatte noch nie verstanden, wie die Boten es bewerkstelligten, die Laute auf der Bühne so zu verstärken, dass man sie auch in den hintersten Reihen deutlich hören konnte. Wahrscheinlich steckte irgendeine geheime Magie dahinter.

»Im verborgenen Land, wo die ewige Dunkelheit herrscht«, flüsterte eine männliche Stimme, »ward vor langer Zeit ein finsterer Lord geboren. Als der Lord zu einem Jüngling heranwuchs, wurden die Schatten länger als jemals zuvor und Elend brach über die Menschen herein.« Die Silhouette einer gebückten Gestalt schlurfte bis zur Mitte der Bühne, wo sie ächzend zusammenbrach und sich auf dem Boden krümmte. Die Menge stieß ein entsetztes »Oh« aus. Ein Kind wimmerte.

»Ist das wirklich wahr?«, hauchte Gianna entsetzt.

»Ach was. Der Naujau übertreibt wie immer.« Tono legte dem Mädchen beruhigend die Hand auf die Schulter.

»… eines Tages fand der finstere Lord einen Weg aus seiner Welt heraus«, fuhr Fabio fort. Man sah, wie eine in dunkle Kleider gehüllte Gestalt aus dem Schatten trat, die Augen vor der Sonne abgeschirmt. Fabios Stimme schwoll bedrohlich an, als er fortfuhr: »Er betrat den Boden von Fabolon, um auch hier seine dunklen Machenschaften fortzuführen.« Ein Bauernmädchen lugte hinter einer Baumstammattrappe hervor. Beim Anblick des dunklen Mannes weiteten sich ihre Augen, sie presste die Hände auf den Mund, um ihren Schrei zu ersticken. Die Menge zuckte merklich zusammen.

Der Lord warf seine schwarzen Hüllen ab und darunter hervor kam Fabio. Das dunkle Haar mit leichtem Grünschimmer stach sich ein wenig mit seiner maigrünen Iris, welche magisch leuchtete. Der Schnurrbart verlängerte sich an beiden Seiten zu mehreren gekringelten Zwirbel. Mit ausgebreiteten Armen wandte er sich nun seinem Publikum zu: »Meine Lieben, gebt eine Spende, dann erfahrt ihr, ob es wahr ist, was ich euch hier berichtet habe.«

Mehrere Spendensäcke wurden hastig herumgereicht, weil alle natürlich unbedingt wissen wollten, ob das alles stimmte. Timja, die Tochter des Boten sammelte daraufhin die Säcke ein und präsentierte sie ihrem Vater, der zufrieden nickte. »Jau! Es ist wahr! Der dunkle Lord wurde an zwei Orten gesehen: in Origa und in Heibado. Was er plant, wodurch er seine finstere Natur zum Ausdruck bringt, das bleibt noch ungewiss. Womöglich steht seine Anwesenheit jedoch mit den folgenden Katastrophen in Verbindung …«

Der Vorhang fiel und verbarg Fabio und seine jugendliche Tochter dahinter. Als der silbrig glitzernde Stoff wieder nach oben gezogen wurde, gab er den Blick auf eine Schlucht frei. Lautes Gerumpel und Getöse erschütterte die Bühne, wobei es mächtig staubte und Felsbrocken regnete.

»Die machen ja ihre Bühne kaputt!«, japste Valía und auch Gianna bedeckte ihr Gesicht vor Entsetzen mit den Händen.

»Quatsch, das ist doch nur Schwammgummi!«, lachte Pipp. »Schaut doch, wie die angeblichen Felsen auf Fabio herumhüpfen.«

Valía richtete sich beschämt auf.

Wie hatte ich nur so dumm sein können?

Ein ganzer Haufen dieser falschen Felsen türmte sich schließlich auf der Bühne. Timja und ihr Vater taten so, als versuchten sie mit vereinten Kräften, die überaus schweren Brocken wegzuschaffen. Es schien ihnen aber nicht zu gelingen. Daraufhin wandte sich Fabio wieder an die Zuschauer: »Meine Lieben, wenn ihr wissen wollt, welche Schlucht es war, die durch diesen Steinschlag unpassierbar wurde, dann belohnt diese Information mit einer Spende.«

Und wieder wanderten die Spendenbeutel unter den Leuten, doch die Summe schien Naujau dieses Mal nicht zu befriedigen, sodass die Beutel abermals herumgereicht wurden.

»Papa, bitte, ich will wissen, wo das war«, bettelte Valía ihren Vater an, der sich bisher mit Spenden zurückgehalten hatte. Tono schien es viel wichtiger zu sein, seine Gemahlin im Arm halten zu können, als dem Boten zuzuhören. Auch Mianma wirkte ein wenig entrückt, vor lauter Freude, die Schlafkrankheit überwunden zu haben.

Tono schüttelte den Kopf. »Valía, genieße das Schauspiel, aber bitte glaube nicht an alles, was dieser Schauspieler von sich gibt. Das meiste denkt er sich nur aus, um uns das Geld aus der Tasche zu ziehen.«

»Und wenn es doch stimmt?«

»Irgendjemand wird schon noch was spenden …«

Tatsächlich wanderten die Beutel in diesem Moment zurück und der Bote nickte zufrieden.

»In der Mudrettaschlucht gab es einen mächtigen Steinschlag, sodass sie unpassierbar geworden ist«, verkündete der Bote. »Damit ist Faresia von hier aus nur noch übers Meer zu erreichen.«

»Was kümmert uns das? Wer will schon nach Faresia?«, brummte Tono.

»Ich würde Faresia schon gerne einmal sehen«, bemerkte Kollio, der in diesem Moment hinzutrat und seinen Arm um Valías Schulter legte. Sie grinste ein wenig verlegen, wich aber dieses Mal nicht zurück, sondern versuchte, seine Umarmung zu genießen und sich nicht wie ein Ausstellungsstück zu fühlen, das von ihrer Familie neugierig betrachtet wurde.

»Jetzt wollen wir aber auch Küsse sehen!« Wie befürchtet, hielt sich Pipp mit seinen Kommentaren nicht zurück und zu ihrem Ärger blieb Valías Kampf gegen die aufsteigende Hitze in ihrem Gesicht erfolglos.

»Warum bist du so rot?«, wunderte sich obendrein Gianna und verschlimmerte damit ungewollt das Problem. Valía wünschte sich ganz weit weg, doch sie blieb tapfer stehen.

Da muss ich jetzt wohl durch, dachte sie.

»Seid doch mal leise, ich verstehe ja gar nichts«, beschwerte sich Nio, da Fabio bereits mit einem neuen Thema begonnen hatte. Es ging um irgendwelche Meerestiere, mehr hatte Valía ebenfalls nicht mitbekommen, daher war ihr auch die folgende Spende egal.

Danach drehte sich das Schauspiel um grauen Staub, der in einigen östlichen Gegenden das Land verwüstete. Es folgten ein seltenes Farbelwesen und andere Themen, die für Valía durch Kollios Gegenwart jedoch in den Hintergrund traten. Es fühlte sich aufregend an, von ihm umarmt zu werden. Vor allem, dass es in der Öffentlichkeit geschah, brachte ihr Herz zum Rasen. Gleichzeitig ärgerte sie sich über ihre Scham, den roten Kopf und das Drängen ihrer Beine, aus dieser Situation flüchten zu wollen.

Das kommt wahrscheinlich vom angeborenen Fluchtinstinkt, dachte sie bei sich.

Immerhin schenkte Pipp seine volle Aufmerksamkeit wieder dem Schauspiel und ließ sie in Ruhe. Zu ihrer Erleichterung stellte Valía fest, dass sich ihr Puls allmählich beruhigte und sie sich zunehmend besser fühlte mit Kollio: warm, geliebt, nicht mehr alleine … Sie schmiegte sich enger an ihn und schob zaghaft ihren Arm um seine Hüfte, was er mit einem freudigen Lachen beantwortete. Zu Valías Schreck blieb es jedoch nicht dabei. Offenbar hatte Kollio die Geste als Einladung verstanden, noch weiter zu gehen, denn nun zog er sie näher zu sich heran, um sie auf die Lippen zu küssen. Das ging Valía dann doch wieder zu weit in der Öffentlichkeit. Reflexartig schob sie ihn von sich fort.

»Versteh einer die Jolinas …«, brummte Kollio gekränkt. Ohne Abschied wandte er sich ab und verschwand durch die Menge, die in diesem Moment in lautes Johlen und Klatschen ausbrach, was Valía im ersten Moment auf sich bezog. Sie versank förmlich im Boden vor Scham, bis ihr klar wurde, dass der Applaus der Vorstellung galt, von der sie nichts mitbekommen hatte.

Sie stand da wie begossen, fühlte sich elend, salzige Feuchtigkeit sammelte sich in ihren Augen. Es war wie verhext mit Kollio: Kaum fühlte es sich gut an, änderte sich im nächsten Moment schon wieder alles.

Ob er wirklich der Mann ist, mit dem ich glücklich werden kann? So wie bei meinen Eltern?

Trotz dieser Zweifel vermochte Valía nicht, den Gedanken an eine Trennung zuzulassen. Es fühlte sich an, als brauchte sie seine Nähe, seine Umarmung viel zu sehr. Sie verließ den Marplatz, um nach ihm zu suchen. Diese Mission war leichter als gedacht, denn Kollio wartete bereits in der Laube – mit verschränkten Armen und gesenktem Blick. Valía ließ sich neben ihm auf der Bank nieder. Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen. Tausend Gedankenfetzen rasten durch ihr Hirn, doch die richtigen Worte waren nicht dabei. Als sie schließlich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, kam Kollio ihr zuvor: »Tut mir leid. Ich weiß, du magst das nicht vor den anderen«, bemerkte er tonlos. »Du schämst dich für mich, stimmts?«

»Nein, du verstehst das nicht. Küssen ist für mich etwas Privates, das mag ich nicht vor dem ganzen Dorf machen, es liegt aber nicht an dir. Es tut mir leid, dass ich dich damit verletzt habe.«

»Ja, das war für mich auch ziemlich peinlich, so von meiner Freundin zurückgewiesen zu werden …«

Kollio atmete tief durch und endlich löste er die verschränkten Arme. Er erhob sich, griff nach Valías Händen. Auch sie stellte sich auf die Füße, sodass sie sich gegenüberstanden. Er sah ihr so tief in die Augen, dass sie glaubte, in seinen zu verschwinden. In Erwartung eines Versöhnungskusses öffnete sie die Lippen, doch sie hatte seine Geste missverstanden.

»Meinst du, wir passen überhaupt zusammen?«, fragte er tonlos. »Wir sind so verschieden, dass wir uns ständig missverstehen.«

Valía erstarrte. Kalte Angst kroch durch ihr Herz.

Kam das gerade wirklich über seine Lippen? Er will sich trennen?

»Du … du willst Schluss machen?«, keuchte sie aus rauer Kehle. Damit hatte sie so gar nicht gerechnet. Sie schüttelte den Kopf, wobei sich Feuchtigkeit in ihren Augen sammelte. Das durfte nicht sein. Mit Kollio hatte sie Gefühle der Vollständigkeit, des Geliebtwerdens erlebt, von denen sie zuvor nicht ahnte, dass sie existieren. Ja, es war auch oft kompliziert und schwer mit ihm, aber er hatte etwas in ihr entflammt, das sie nicht mehr missen wollte. Es passte Valía überhaupt nicht, dass sie sich in diesem Moment schwach fühlte, so abhängig von seiner Nähe … doch was half es, sich dagegen zu wehren? Nur unter großer Mühe widerstand Valía dem Impuls, Kollio schluchzend um den Hals zu fallen. So viel Stolz bewahrte sie sich, doch die hervorschießenden Tränen ließen sich nicht zurückhalten und verrieten ihren inneren Aufruhr.

Gerührt schob Kollio seine Arme um ihre Hüfte und zog sie zu sich. Seine Nähe schwappte über sie hinweg wie ein warmer Schauer. Valía schloss ihn ebenfalls in ihre Arme und schmiegte sich an ihn. »Ist schon gut«, flüsterte er, während er sie hin und her wiegte. Dann fasste er ihr tränennasses Gesicht, fuhr mit den Händen unter ihr Haar und küsste ihre salzigen Lippen. Sie erwiderte den Kuss mit einer nie gekannten Sehnsucht im Herzen, eine Sehnsucht, die auch Kollio teilte, eine Sehnsucht, die sie beide vereinte und aneinanderband, eine Sehnsucht, die sie über nicht mehr enden wollende Küsse zu stillen versuchten und doch war es nie genug um den inneren Brand zu löschen.

Unterdessen fand die Vorstellung auf dem Marplatz ihr Ende. Die Leute waren zugleich erheitert, schockiert und um einige Münzen ärmer als zuvor. Wie üblich würde der Bote noch ein paar Tage im Gästehaus des Dorfes wohnen. In dieser Zeit konnten ihn die Leute besuchen und Neuigkeiten austauschen.

Unvermittelt schälte sich Mianma aus Tonos Arm und lief durch die sich auflösende Menge zur Bühne.

»Was hat Mama denn?«, wollte Nio wissen.

Tono zuckte mit den Schultern »Keine Ahnung.« Die anderen Familienmitglieder warfen sich fragende Blicke zu, folgten Mianma dann neugierig nach vorne.

»Fabio, kann ich dir beim Abbau behilflich sein?«, rief Mianma zur Bühne hinauf.

Naujau trat durch den Vorhang. Das Kostüm hatte er gegen die blaue Kleidung der fahrenden Leute getauscht – Boten und Künstler ohne festen Wohnsitz gehörten dem Stand der Blauen an.

»Nau! Das ist äußerst liebenswürdig, doch kann ich dem Publikum keinen Zutritt zu meinen Requisiten gewähren. Das Geheimnis so mancher Magie sollte bewahrt bleiben, liebe Jolina«, erwiderte er mit zuvorkommendem Lächeln.

Mianma seufzte, als sich Tono, Pipp, Nio und Gianna zu ihr gesellten. Offenbar hatte sie alleine mit Fabio reden wollen, dennoch fuhr sie fort: »Ich weiß, die nächsten Tage sind dazu gedacht, Informationen auszutauschen, doch es geht um ein sehr dringliches Thema, das uns derzeit beschäftigt. Würdest du mir daher schon jetzt eine Frage gestatten?«

Tono stieß ein erleuchtetes »Ah!« aus, erntete vom Nachwuchs jedoch Unverständnis. »Kommt, lasst uns nach Hause gehen, das Gespräch ist nicht für unsere Ohren gedacht«, flüsterte er seinen Söhnen zu, was die Sache für die Brüder jedoch umso spannender machte. Sie ignorierten ihren Vater und wichen nicht von der Stelle. Gianna schaute zwischen ihnen und Tono hin und her, während Fabio antwortete: »Nun, dann stellt eure Frage, liebe Maid.«

»Ich danke dir. Mein Name ist Mianma.«

»Mianma? Bist du nicht die Fischerin, die an der Schlafkrankheit leidet?«, fragte er neugierig.

»Daran kannst du dich noch erinnern? Es ist doch sicher schon zwei Jahre her, als du das letzte Mal unser Dorf besucht hast. Die anderen Boten schauen viel häufiger vorbei. Aber ja, es stimmt, ich litt an der Schlafkrankheit, doch seit heute bin ich geheilt«, strahlte Mianma.

»Das freut mich zu hören. Was möchtest du wissen?«

»Wir haben Gianna bei uns aufgenommen.« Sie legte dem Mädchen eine Hand auf den Kopf, bevor sie fortfuhr. »Sie stammt aus einem Haus der Roten. Als sie vor einigen Jahren zusammen mit ihrer Großmutter und anderen übers Meer segelte, kenterte das Schiff. Nur Gianna konnte gerettet werden. Nun möchte ich wissen: Ist dir bekannt, welche Familie der Roten vor einigen Jahren ein Kind durch ein Schiffsunglück verlor? Wir möchten ihre Eltern ausfindig machen.« Fabio wiegte den Kopf hin und her. »Diese Information wäre wohl einige Silberlinge wert, doch leider kann ich damit nicht dienen.«

Enttäuscht senkten sowohl Mianma als auch Gianna den Kopf. Das hatte sie dem Mädchen ersparen wollen und sie ärgerte sich, dass sie nicht bis zum nächsten Tag gewartet hatte, um Fabio alleine im Gästehaus aufzusuchen.

»Aber ich weiß es!«, rief plötzlich eine weibliche Stimme aus dem Inneren des Wagens. Durch den Vorhang trat ein Mädchen mit schwarzem Haar, so lang, dass es bis zur Hüfte reichte. Ihre dunkelbraunen Augen blitzten geheimnisvoll. Aus der Nähe und ohne Kostüm sah sie noch viel schöner aus, als während der Vorstellung. Offenbar kam sie eher nach ihrer Mutter, da Fabio grünliches Haar und grüne Augen hatte.

»Sie stammt aus dem Hause Litania, aus dem Teil Faresias, der an der Küste liegt, nahe des Tebo«, erklärte das Mädchen, bevor ihr Vater sie zurückhalten konnte.

»Jaja! Litania! Ich erinnere mich! Und am Meer waren wir auch manchmal. Das stimmt!«, rief Gianna freudig aus. Mianma war dagegen verstummt, weil sie gar nicht glauben konnte, diese Information doch noch so leicht erhalten zu haben.

»Timja, du weißt, wir leben von den Informationen, die wir verbreiten. Du solltest sie nicht einfach ohne Gegenwert preisgeben«, rügte Fabio seine Tochter.

Doch Timja schüttelte energisch den Kopf.

»Gianna sucht ihre Eltern. Sie hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer sie sind. Mit so etwas macht man doch keine Geschäfte, Papa!«

»Hm, nun ja, vielleicht hast du recht.« Er wandte sich an die Tanúkas: »Diese Tochter ist einfach zu gut für ihren Vater … Aber es scheint mir, als habt ihr eine Menge spannender Geschichten zu erzählen und ich wäre äußerst neugierig, sie zu hören.«

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Tono. »Wenn ihr möchtet, seid unsere Gäste heute Abend. Wir laden euch zu einem köstlichen Mahl ein und erzählen euch, was sich die letzten Wochen hier zugetragen hat. Ihr werdet staunen …«, prophezeite er mit Funkeln in den Augen. Tono liebte es, Geschichten zu erzählen und er freute sich schon sehr darauf, Fabio und seine Tochter in Staunen zu versetzen.

»Gerne nehmen wir euer Angebot an.« Der Bote strahlte übers ganze Gesicht. »Euer Haus ist das dort drüben, oder?« Er deutete in die richtige Richtung.

»Ja, genau. Was du dir alles merken kannst …«, staunte Mianma.

»Papa vergisst nie etwas. Aber als das Schiff damals unter ging, lag er mehrere Wochen krank im Bett, deshalb haben wir keine Vorstellungen gegeben. Es ging ihm so schlecht, dass er nicht einmal Neuigkeiten hören wollte.«

»Unsere Geschichten sparen wir uns für heute Abend auf«, unterbrach Fabio, der ungern an diese Zeit erinnert wurde. »Jetzt müssen wir hier aufräumen. Übernimmst du das, Timja? Dann kümmere ich mich so lange um das Futter der Pferde.«

Die Tanúkas verabschiedeten sich und kehrten nach Hause zurück, um das Abendessen vorzubereiten. Lediglich Pipp blieb vor der Bühne stehen.

»He, du!«, rief er, als Timja gerade wieder hinter dem Vorhang abtauchen wollte.

»Damit meinst du doch nicht etwa mich, oder?« Sie schaute zurück und kniff die Augen zusammen.

»Doch!«

»Und was willst du?«

»Du hast da was verloren.«

Die Bühne reichte Pipp bis zur Hüfte, sodass Timja, die darauf stand, ihn weit überragte. Blitzschnell griff Pipp nach der blauen Schnalle, die ihren linken Schuh zusammenhielt, zog sie ab und streckte sie ihr mit einem extra breiten Grinsen entgegen. Timja öffnete den Mund, brachte im ersten Moment jedoch keinen Ton hervor. So etwas Dreistes hatte sie noch nicht erlebt.

»Sag mal, da scheint etwas ziemlich durcheinander geraten zu sein, in deinem Kopf.« Sie wollte die Schnalle nehmen, doch Pipp schwenkte seinen Arm zur Seite, sodass sie danebengriff.

»Pass auf, da fliegt ein Schwalmhuhn auf dich zu!« Er stieß täuschend echt die Rufe des Vogels aus und brachte es dabei sogar fertig, das Flügelschlagen nachzuahmen. Es klang so echt, dass sich Timja, die ahnte, dass er sie nur reinlegen wollte, tatsächlich danach umsah. Da hatte Pipp auch schon die zweite ihrer Schuhschnallen stibitzt.

»Du hast noch was verloren!« Er präsentierte in jeder Hand eine Schnalle. Als sie danach greifen wollte, ließ er sie in seinen Ärmeln verschwinden. Nun wurde es Timja endgültig zu bunt.

»Gib die sofort her!«, schimpfte sie. »Ich habe hier Besseres zu tun, als mich mit albernen Scherzen rumzuärgern.«

»Ich könnte helfen«, bot Pipp großherzig an.

»Nein! Danke! Und jetzt her mit den Schnallen!«

»Wieso? Du hast sie doch schon.« Er zog fragend die Schultern hoch und deutete nach unten. Timja starrte verwirrt auf ihre Schuhe, die wie gewohnt von den blauen Schnallen zusammengehalten wurden.

Wie hat er das nur gemacht?

Diesen Trick kannte sie noch nicht. Während sie noch staunend ihre Schuhe betrachtete, wandte sich Pipp um und ging davon. Timja hob den Blick und schaute ihm versonnen hinterher, wie er vom Platz schlenderte.

Was für ein unverschämter, seltsamer Junge!

Gold, Fisch und Mirek

Fabolon, Dorf Fedo, 1213 Omajan 48

Mianma schrie angsterfüllt. Tono ergriff ihre Hand und zog sie zu sich. Dann bäumte er sich auf und schirmte Mianma dabei hinter seinem Rücken ab, um sie vor dem Zugriff des imaginären Schleimmonsters zu schützen. Fabio, Timja, Gianna, Pipp, Nio und Valía saßen um den runden Tisch herum. Gebannt von der Darbietung waren alle Augen auf Tono und Mianma gerichtet. Das Festmahl, an welchem die Tanúkas zykellang gekocht, gebraten und gebacken hatten, duftete verführerisch, doch vor lauter Spannung hatten die Zuhörer das Kauen vergessen, die Gäste sogar das Atmen.

»Und was glaubt ihr, geschah dann?« Tono hob bedrohlich die Stimme und schaute zwischen Timja und Naujau hin und her.

»Es ist zu Staub zerfallen?«, hauchte Fabio. »Immerhin muss es von dannen gewichen sein, sonst wäre in Fedo nicht wieder der Frieden eingekehrt.«

»Das ist wahr, doch das schwarze Glibbermonster verschwand nicht einfach, alles verlief weitaus fantastischer: Von einem Moment auf den anderen verwandelte es sich in ein anderes Wesen: Es wurde zu einem Feuermonster und statt des Schleims, schwelte überall Lavaflüssigkeit.«

»Das Monster hat sich verwandelt? Einfach so?«, hakte Timja erstaunt nach.

»Nicht einfach so. Es hatte durchaus einen Grund, aber diesen Teil der Geschichte kennen wir nur von Erzählungen der Erdoni, denn auf dem Feld, wo Richard ihm begegnete und im Tempel des Wassers waren wir nicht dabei.« Tono fuhr mit seiner Geschichte fort, die so fantastisch klang, dass er entgegen seiner Gewohnheit sogar darauf verzichtete, sie mit Übertreibungen auszuschmücken.

Timja lauschte dermaßen fasziniert, dass sie nicht einmal bemerkte, wie Pipp, der neben ihr saß, fortwährend von allem nachlegte, was sie gerade weggegessen hatte. Erst als Tono zum Verschwinden der Erdoni kam, flachte der Spannungsbogen ab und sie richtete ihren Blick mit geweiteten Augen auf das viele Essen, das noch auf den Verzehr wartete und sie förmlich anlächelte, denn Pipp hatte die Speisen obendrein so drapiert, dass sie ein lachendes Gesicht formten. Timja schwankte im ersten Moment zwischen Lachen, Ärger und Verzweiflung. Natürlich war ihr sofort klar, dass Pipp, der rechts von ihr saß, Schuld an diesem zweifelhaften Kunstwerk trug. Zwar konzentrierte er sich nun ausschließlich auf den Verzehr seines Katuffelbreis, da zu ihrer Linken jedoch ihr Vater saß, zu dem solche Scherze nicht passten, kam nur der Tanúka-Drilling dafür in Frage.

»Oh nein!« Timja stöhnte und hielt sich den Bauch. »Ich kann nicht mehr. Irgendjemand hat mir viel zu viel Essen aufgetürmt, als ich nicht aufgepasst habe.« Endlich sah Pipp sie an, doch statt zu antworten, grinste er von einem Ohr zum anderen.

»O Pipp!«, rief Mianma empört. »So behandelt man doch nicht seine Gäste. Was fällt dir ein?« Ihr Sohn zuckte unschuldig lächelnd mit den Schultern. »Eigentlich waren die leckeren Krabbenscheren für mich gedacht. Meine Hand hat wohl die Teller verwechselt, vor lauter Spannung«, entschuldigte er sich ziemlich unglaubwürdig.

Mianma seufzte und wandte sich an Timja: »Es tut mir leid. Das musst du natürlich nicht alles essen, Liebes.«

»Nun, da gibt es in der Tat nichts zu entschuldigen«, mischte sich Fabio ein. »Wir wurden selten so gut bewirtet und unterhalten wie bei euch. Das Essen hat vorzüglich gemundet und wenn ihr es erlaubt, würde ich gerne etwas davon einpacken, für den Verzehr in unserer Unterkunft.«

»Natürlich, gerne.« Mianma nickte wohlwollend. »Es ist noch so viel übrig, dass wir die nächsten drei Tage davon zehren könnten.«

»Habt Dank, liebe Jolina. Und zu dir, mein lieber Tono, es sei gesagt, dass deine Geschichte ein Vermögen wert wäre, wenn du damit als Bote durch die Lande zögest. Von ganzem Herzen danken wir euch. Solltet ihr weitere Informationen benötigen, so braucht ihr nur zu fragen.« Er senkte ergeben den Kopf.

»Nun«, setzte Tono zögernd an. »Wir müssen unbedingt in den nächsten Tagen nach Faresia aufbrechen, um Gianna nach Hause zurückzubringen und …«

»Wieso denn? Und warum so dringend?«, wunderte sich Nio. »Hat das nicht Zeit?« Die Jungen starrten ihren Vater erstaunt an.

»Mirek und die Leute vom Rat machen uns Druck«, platzte Valía heraus, bevor ihr Vater noch auf die Idee kam, sich eine Ausrede auszudenken. Doch der Blick in Giannas bleiches Gesicht ließ sie ihre Worte schon wieder bereuen. Sie zog das Mädchen seitlich auf den Schoß. Gianna schlang schluchzend die Arme um Valía.

»Ich vermisse meine Eltern, aber ich will auch nicht von euch weg«, jammerte die Kleine.

Mianma seufzte. Das Mädchen hatte einige Tage getrauert, nachdem Lisa plötzlich verschwunden war, und es brach ihr das Herz, ihr schon wieder eine Trennung zumuten zu müssen. Außerdem hatten sie sie alle liebgewonnen. Obwohl die Achtjährige noch keine zwei Wochen bei ihnen war, fühlte sie sich bereits an, wie eine weitere Tochter.

»Wir können dich regelmäßig besuchen kommen.« Valía streichelte dem Mädchen übers Haar.

»Ja, das müsst ihr machen und ich will auch, dass ihr noch ganz lange mit mir bei meinen Eltern bleibt, wenn ihr mich zurück bringt.«

»Das können wir aber nicht versprechen. Deine Eltern müssen ja schließlich einverstanden sein«, gab Mianma zu bedenken.

»Die schwierigere Frage lautet doch eher, wie wir dort überhaupt hinkommen, wenn die Straße durch die Schlucht verschüttet ist«, sagte Tono. »Kennst du nicht doch noch einen anderen Weg, Fabio?«

»Nein, leider. Mit demselben Problem haben wir auch zu kämpfen, schließlich haben wir die meisten Dörfer in diesem Teil Fabenias bereits besucht und wir planten nun ebenfalls durch die Schlucht Richtung Faresia zu ziehen. Es bleibt nur noch der Seeweg um das Gebirge herum, aber dazu wäre ein Boot vonnöten.« Er räusperte sich. »Ihr Fischer verfügt doch über Schiffe, nicht wahr?«

»Nun ja, wir haben ein großes Boot, doch es gehört nicht mir alleine. Wir sind drei Fischerfamilien im Dorf, die es gemeinschaftlich nutzen. Ich kann nicht einfach damit davonfahren.«

»Wäre es denn groß genug, um auch meinen Karren und die Pferde zu transportieren?«

»Ja, das schon.«

»Wir würden die Fischer großzügig entlohnen für die Überfahrt.« Fabio packte einen Beutel aus und leerte den Inhalt auf den Tisch.

Tono schnappte nach Luft. »Das ist viel zu viel!«

»Es wird schon einige Tage dauern, bis ihr wieder zurückkehrt.«

»Na gut, ich werde mit den anderen Fischern reden. Genau genommen bleibt mir auch gar nichts anderes übrig … Dann kläre ich das am besten sofort …«

Tono packte das Gold zurück in den Beutel und lief damit zur Tür hinaus.

»Da ist es hin, das schöne Gold …«, seufzte Fabio.

»Ach, Papa, du weißt doch ganz genau, dass wir in Faresia ein Vielfaches dieses Geldes für unsere Geschichten verdienen werden.«

»Jaja, ich weiß schon«, brummte er kleinlaut.

»Noch wissen wir ohnehin nicht, ob die anderen Fischer einverstanden sein werden«, gab Mianma zu bedenken. »Ohne das Boot werden sie keinen Fang einbringen können und es ist ungewiss, wie lange ihr fort sein werdet.«

»Warum?«, fragte Pipp verständnislos. »Man benötigt doch keine zwei Tage zum hin- und höchstens zwei zum zurücksegeln, oder? Mehr als zwei Tage wird es auch nicht dauern, Gianna bei ihren Eltern abzuliefern, also sind wir spätestens nach sechs Tagen wieder hier. Wo ist das Problem?«

»Na, man weiß nie, was so alles passiert auf hoher See …«, seufzte Mianma. »Das Meer ist so unberechenbar und was da alles für Wesen in den Tiefen hausen …«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Gianna. Auch ihr war nicht wohl dabei, wieder auf ein Schiff zu steigen. Auf der anderen Seite mochte sie das Meer, hatte so lange im Wasser gelebt und war ja auch von den Fischern gerettet worden, daher hielten sich ihre Sorgen in Grenzen.

Nun hieß es, auf Tonos Rückkehr zu warten. Gianna saß wieder auf ihrem Platz und malte Figuren in die Reste ihres Katuffelbreis. Mianma stieß von Zeit zu Zeit einen Seufzer aus. Die Anspannung stieg kontinuierlich an. Fabio zwirbelte seinen Bart und versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, was aber nicht so recht gelingen wollte.

Valía wippte nervös mit den Beinen. Ihr war völlig klar, dass sie ein dickes Problem hätten, sollten die anderen Fischer ablehnen. Dann gäbe es keine Möglichkeit, Gianna zu ihren Eltern zu bringen und sie wollte sich nicht vorstellen, was Mirek und die anderen Ratsmitglieder dann unternehmen würden. Obwohl sie sich dagegen wehrte, sah sie in ihrem Geiste, wie Mireks Meute ihre Familie zur Tür hinaus prügelte und das Haus hinter ihr zu Trümmern zerfiel.

Nein, Stopp!

Valía schüttelte sich, in der Hoffnung, diese Gedanken ein für alle Mal loszuwerden. Pipp wippte bedenklich ausladend auf seinem Schemel und gab schon zum fünften Mal das Trällern eines Graupelspatzes zum Besten.

»Pipp, kannst du bitte damit aufhören«, beschwerte sich Mianma, »das macht mich noch wahnsinnig.« Auch ihr war die Nervosität ins bleiche Gesicht geschrieben.

Was macht Papa nur so lange?, fragte sich Valía.

Da flog plötzlich die Tür auf und Tono stürmte herein. Sein strahlendes Gesicht und der deutlich weniger prall gefüllte Beutel in seiner Hand verrieten bereits den Ausgang der Gespräche.

»Bente und Jaro sind einverstanden. Also, packt schon mal eure Sachen zusammen!«

»Moment mal, ich hab wohl nicht richtig gehört. Bedeutet das, wir sollen jetzt sofort nach Faresia reisen? Alle zusammen?«, rief Pipp aus.

»Nun, ich habe angenommen, ihr wollt auch gerne mal die Großstadt sehen, aber natürlich geht es nicht sofort los. Wir werden vor der Reise versuchen, noch so viel Fisch an Land zu ziehen, dass es für mindestens zehn Tage im Dorf ausreicht. Außerdem werden ja auch Fabio und seine Tochter noch etwas bleiben wollen. Aber wenn ihr einverstanden seid«, sagte Tono an den Boten gewandt, »werden wir in zwei Tagen bei Sonnenaufgang in See stechen.«

»Hervorragend«, freute sich Fabio. »Wir werden bereit sein.«

»Habe ich das recht verstanden, wir fahren alle mit und lassen das Haus alleine zurück?«, hakte Valía nach. Noch nie hatte sie sich weiter von ihrem Geburtsort entfernt als bis zur nächstgrößeren Siedlung. Es hieß, dass ein Fußmarsch vom nördlichen Ende Faresias bis zum südlichen Ende an der Küste mindestens zehn Tage dauerte. Es gab Flüsse und Kanäle, auf denen man die Stadt mit dem Boot durchqueren konnte, doch auch für die Fahrt bräuchte man flussabwärts zwei bis drei Tage – je nach Wetterverhältnissen und Strömung. Diese Dimensionen überstiegen alles, was sich Valía vorstellen konnte.

»Ich werde hierbleiben«, verkündete Mianma und riss Valía damit aus ihren Gedanken. »Mich bekommt ihr auf kein Schiff und erst recht nicht in eine Großstadt. Außerdem muss sich doch jemand um den Garten und das Haus kümmern. Die Zaunkirschen sind bald reif und es wäre doch ein Jammer, wenn sie verderben würden.«

»Aber ihr drei kommt doch mit, oder?« Gianna warf den Drillingen flehentliche Blicke zu. Sie liebte jeden der Drillinge auf seine besondere Art, lachte über Pipps Blödeleien und ließ sich von Valía bemuttern und Tipps beim Kochen geben. Auch Nio war ihr immer freundlich begegnet, obwohl er oft ein wenig geheimnisvoll und traurig wirkte. Häufig schwelgte er in seiner eigenen Welt, aber gerade das machte ihn so interessant für Gianna, die zu gerne gewusst hätte, was in seinem Kopf vor sich ging.

»Na klar, wir kommen mit«, beruhigte Valía das Mädchen. »Ich bin schon sehr neugierig auf Faresia und deine Eltern.«

»Wie nett, dass du für uns mitentscheidest, Schwesterchen. Aber gut, ich für meinen Teil bin dabei. Wie siehts aus mit deinem Teil, Nio?«

»Ich weiß nicht … Ich überlegs mir noch.« Er zuckte mit den Schultern. Seit Lisa in ihre Welt zurückgekehrt war, war ihm irgendwie alles egal geworden. Nio verbrachte die meiste Zeit damit, gegen die Sehnsucht anzukämpfen, die das schüchterne Mädchen bei ihm hinterlassen hatte und ärgerte sich darüber, dass sich ihr Bild so unwiderruflich in seine Erinnerung gebrannt hatte. Abends vor dem Einschlafen galt ihr sein letzter Gedanke und nicht selten begleitete sie ihn in seinen Träumen. An diesem Morgen hatte er sich dabei ertappt, wie er Lisa in seiner Fantasie in die Arme zog. Noch bevor sich ihre Lippen berühren konnten, war er hochgefahren und aus dem Bett gesprungen, hatte sich rekordverdächtig schnell angezogen, um im Morgengrauen kreuz und quer ums Dorf herum zu joggen, als könnte er auf diese Weise den quälenden Gefühlen entfliehen. Danach hatte er einen hüfthohen Stapel Holz gehackt, aber auch das brachte keine Erleichterung.

»… vielleicht wäre es doch ganz gut, wenn du mit Mianma zu Hause bleibst, Nio«, schreckte Tono ihn aus den Gedanken, »dann muss sie nicht ganz alleine zurückbleiben.«

»Gut, wenn du meinst …«, stimmte Nio zu, doch jetzt, wo er hierbleiben sollte, bereute er seine Entscheidung. Die Großstadt hätte bestimmt eine wesentlich bessere Ablenkung geboten als die immer gleichen Gesichter und Häuser Fedos.

* * *

Die Farella tauchte die klaren Berge am Horizont in ein dunkles Rot, als sich eine mit Fackeln bewaffnete Horde durch die Straßen zum Haus der Familie Tanúka aufmachte.

Einige Leute lugten neugierig aus den Fenstern, was da draußen vor sich ging, doch niemand wollte sich einmischen. Nur einer, der die Gruppe schon seit einer Weile beobachtet hatte, stellte sich breitbeinig in den Weg, die Fäuste in die Hüften gestemmt: Es war Kollios Vater Fontano aus der Familie Stoffer.

»Wo gehts denn hin so spät am Abend?«, fragte er misstrauisch.

»Aus dem Weg!«, knurrte Bronko, der Schmied.

»Es geht um Gianna, stimmts? Aber ihr habt doch nicht etwa Angst vor einem kleinen Mädchen«, spottete Fontano.

Mirek knirschte mit den Zähnen und blitzte sein Gegenüber durch die zusammengekniffenen Augen an.

»Es ist völlig egal, wie klein sie ist«, zischte er. »Ich kenne diese Roten. Das sind großtuerische, breitspurige Sklaventreiber. Diese Brut bringt nur Unglück. Du wirst uns nicht aufhalten können, Fontano, also verschwinde!« Ein Wink mit der brennenden Fackel verlieh seiner Forderung Nachdruck, doch der Stoffer ließ sich nicht beirren.

»Kapiert ihr Hohlköpfe das denn nicht? Wenn jemals herauskommt, dass wir eine Tochter der Roten schlecht behandeln, dann haben wir tatsächlich dicken Ärger am Hals.«

»Pah! Wir werden es nicht sein, die sich an ihr die Finger schmutzig machen. Die Tanúkas haben sie hergeholt, also werden sie auch dafür sorgen müssen, dass sie noch heute verschwindet. Wir helfen nur ein bisschen nach. Freiwillig bewegt sich bei denen ja nichts, wie man sieht.«

»Sagt mal, schämt ihr euch nicht, die Tanúkas so zu tyrannisieren? Ihr seid doch nicht ganz bei Hirn!« Fontano schüttelte den Kopf, wandte sich dann den anderen in der Gruppe zu: »Was ist mit euch? Jaro! Seit wann lässt du dich gegen jemanden aus unserem Dorf aufhetzen?« Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und wandte dann mit zusammengekniffenen Lippen den Blick ab, als Fontano fortfuhr:

»Tasmo, was bist du nur für ein Schlichter! Du solltest einen Streit schlichten, statt dich auf eine Seite zu schlagen!«

»Ich tue, was ich für richtig halte«, blaffte der Angesprochene zurück. »Wir werden sehen, was Tono dazu zu sagen hat.«

»Und was ist mit euch? Brauko, Fette, Jerome, Tinika! Seid ihr plötzlich zu blinden Mirek-Jüngern geworden, oder was? Habt ihr alle euer Herz in Pech getaucht? Was wollt ihr denn jetzt mit den Tanúkas machen? Etwa das Haus abfackeln?«

»Nein, … nur wenn es keinen anderen Ausweg gibt …«, stammelte Jerome.

Fette antwortete lediglich mit einem Schnaufen, das jedoch von der Anstrengung des schweren Leibes beim Gehen herrührte.

Brauko straffte die Schultern, während er auf Fontano zutrat. »Mirek hat Recht. Eine Rote können wir hier nicht gebrauchen«, rief er.

Fette und Jerome senkten den Blick.

»Halt dich da raus, Stoffer!«, zischte Tinika. Die kräftige Holzfällerin war die einzige Frau unter ihnen, offenbar wollten sich die anderen Weiber des Rates nicht an dieser Aktion beteiligen.

Mirek verlor die Geduld: »So und jetzt tritt beiseite, oder du bekommst unsere Fackeln zu spüren«, drohte er unnötigerweise, da der Weg ohnehin breit genug war, um bequem zu beiden Seiten an Fontano vorbeizumarschieren. Genau das taten sie nun, als sich der Stoffer nicht vom Fleck rührte. Schimpfend folgte er den Ratsleuten bis zum Haus der Tanúkas. Inzwischen war die Röte der Abenddämmerung einer violetten Dunkelheit gewichen, in der einzelne Sterne und der Kleine Blaue Mond das Dorf in blassblauen Schimmer tauchten. In den Häusern wurden Lampen und Kerzen angezündet, deren Licht durch die Fenster flackerte und helle Flecke auf dem Kringelsteinpflaster der Straßen hinterließ.

Vor dem Haus der Tanúkas angekommen, polterte Mirek in dem Moment gegen die Tür, als diese auch schon aufflog, sodass der zweite Faustschlag des Hünen widerstandslos durch die Luft glitt.

»Wenn ihr wegen Gianna gekommen seid«, kam Tono ihm zuvor, »wir werden morgen aufbrechen und sie nach Faresia bringen. Es ist alles vorbereitet. Ihr könnt also beruhigt wieder verschwinden.«

Sprachlos starrte Mirek ihn an. Der Hass, den er gegenüber diesen Roten empfand, hatte sich dermaßen aufgestaut, dass er dringend ein Ventil benötigte, um diese Gefühle zu entladen. Seine Eltern waren Graue gewesen, im Dienste dieser roten Tyrannen, und er gab ihnen noch immer die Schuld am Tod seiner Mutter, die unter den schlechten Verhältnissen gelitten hatte. Mireks Vater war daraufhin mit ihm aufs Land gezogen, hatte eine Partnerin im Dorf Fedo gefunden, doch hatte Mirek das Leid und den Schmerz über den Verlust seiner Mutter nie verwinden können.

Nun hatte er mit wilden Diskussionen gerechnet, hatte im Geiste schon gesehen, wie Tono um Gnade winselte, sich die Weiber weinend vor ihm in den Dreck warfen. Beraubt der Möglichkeit, seine Aggressionen auszuleben, schüttelte Mirek ungläubig den Kopf. Es konnte einfach nicht wahr sein, was dieser fischige Tanúka hier von sich gab. Es war schlicht unmöglich, so schnell eine neue Bleibe für das Mädchen zu finden. Ja, das musste es sein: Tono wollte ihn mit dieser Ausrede nur hinhalten.

»Lüg mich nicht an, Fischer! Du hast doch überhaupt nicht vor zu verschwinden! Außerdem läuft das Ultimatum heute ab. Die zwei Tage sind rum!«

Zornesglut stieg in Tonos Wangen. Normalerweise regte ihn nichts so leicht auf, aber diese Unverfrorenheit des Jägers, sich als Herrscher aufzuspielen und seine Familie grundlos unter Druck zu setzen, das war einfach zu viel für ihn.

»Du hast uns überhaupt kein Ultimatum zu stellen, Mirek! Außerdem frag doch die anderen Fischer und Fabio. Sie werden dir bestätigen, dass wir morgen in See stechen. Damit hast du, was du wolltest, also verschwinde!«