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Manchmal liegt die Wahrheit außerhalb des Fassbaren.
Manchmal muss man erst über seinen Schatten springen, um sie zu erkennen.
Und manchmal stellt sich am Ende heraus, dass alles ganz anders ist, als es zunächst schien.
Was ist real und was nicht – dieser Frage muss sich auch die siebzehnjährige Lia stellen, nachdem sie sich gezwungen sieht, ihr geliebtes Frankfurt zu verlassen, um in einer Patchworkfamilie in der Provinz zu landen. Hier gefällt es ihr überhaupt nicht. Ihre Stiefschwester Nicole ist ihr zu zickig, der Stiefbruder Nino zu smart, die Nachbarin zu biestig und die Schule zu fremd.
Doch das Schicksal lässt es damit nicht auf sich beruhen, sondern katapultiert Lia in immer tiefere Abgründe. Schließlich bleibt ihr nichts anderes übrig, als Ninos Hilfe anzunehmen. Vielleicht ist er doch viel netter als gedacht?
Und dann sind da ja auch noch die WandelTräume, durch die sich für Lia fantastische Möglichkeiten ergeben.
Was es damit auf sich hat? Um das zu erfahren, lasst Euch entführen in eine Welt jenseits des Greifbaren.
Ein gefühlvoller Liebesroman, der aus der realen Welt in die Fantasie abtaucht
Abgeschlossenes Einzelbuch für Jugendliche und Erwachsene
Leserstimmen
"Es war überwältigend! Wie das Buch so voller Spannung und Leidenschaft geschrieben wurde! Ich bin noch immer mitten drin. Die Gefühle von Lia, Nino und den anderen, so zu beschreiben, Hut ab!"
"Mal was anderes als Vampire, Zauberer oder Werwölfe und so ist dieses Buch sehr unterhaltsam und spannend."
"Da war alles dabei: Von Humor bis Drama und Action. Genauso wie eine Story sein muss."
"Die Geschichte von Lia ist ein ganz besonderes Buch, das ich so noch nie gelesen habe. Die Autorin hat einen tollen Schreibstil, der ab der ersten Seite total fesselt."
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Inhaltsverzeichnis
1 – Reiheneckhaus
2 – BMX
3 – GAU
4 – Luna
5 – WandelTraum
6 – Dunkle Macht
7 – Heidrun und Tristan
8 – Hinweise
9 – Stollen
10 – Geister
11 – Quarantäne
12 – Tristan und Ringo
13 – Schattenattacke
14 – Tiefpunkt
15 – Echtrovos
16 – Erwachen
Nachwort
Impressum
WandelTräume
Isabella Mey
Da ist eine Wahrheit,
die kann Dir niemand erzählen,
in einem Wörterbuch wirst Du sie nicht finden
und in den Schlagzeilen suchst Du danach vergebens.
Selbst mit dem Verstand lässt sie sich nicht ermitteln.
Diese Wahrheit erfährst Du nur in der Stille,
wenn Du tief in Dich hineinlauschst.
Montagnachmittag
Seit einem halben Jahr wohne ich jetzt in diesem Reihenhaus mit dieser ›Familie‹ in dieser Kleinstadt! Und noch immer fühle ich mich wie eine Fremde in einer fernen Galaxie unter Außerirdischen. Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht meinem alten Leben in Frankfurt am Main nachtrauere. Dort fühlte ich mich frei, hatte Spaß mit meiner Clique und jetzt sitze ich in einem Kaff am Hochrhein fest, viel zu weit weg, um meine Freunde regelmäßig zu sehen. Am Anfang haben wir noch oft telefoniert, geskypt oder gechattet, aber mit der Zeit verebbte der Kontakt. In einem schleichenden Prozess geriet ich zunehmend in Vergessenheit, einfach deshalb, weil ich kein Teil des Alltags meiner Freunde mehr war.
Hier ist alles anders als in der Großstadt: Bestehende Freundschaften wurden bereits im Sandkasten besiegelt, für Neuankömmlinge bleibt kein Platz – bestenfalls! Wenn sie nicht gar als Eindringlinge angefeindet werden. Na gut, da übertreibe ich vielleicht ein wenig.
Ich sitze am Schreibtisch und brüte über der Kurvendiskussion für Mathe, als die Tür meines Zimmers schwungvoll auffliegt. Uneingeladen stürmt mein Stiefbruder Nino herein und wedelt mit einem grünen Heft.
»Hey Lia, kannst du mir mit Mathe helfen?«
»Nein! Und jetzt verzieh dich!«, blaffe ich ihn an.
Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn jemand ohne anzuklopfen mein Zimmer betritt. Dummerweise fehlt der Schlüssel, sonst hätte ich abgesperrt. Statt mein Zimmer zu verlassen, schlendert Nino zu meinem grasgrünen Sessel, der den Platz zwischen Bett und Schreibtisch ausfüllt, und fläzt sich hinein. Aufgebracht rolle ich mit dem Schreibtischstuhl rückwärts und drehe mich zu ihm hin. Mit Sicherheit zucken gerade wütende Blitze aus meinen Augen. Allerdings schlagen sie offenbar überall im Zimmer ein, nur nicht bei meinem Stiefbruder, denn das breite Grinsen in seinem leicht gebräunten Gesicht will partout nicht verschwinden.
»Sag mal, welchen Teil von ›Verzieh! Dich!‹ hast du nicht verstanden?«, fahre ich ihn an.
»Bitte, Lia! Dafür leih ich dir auch mein BMX!«
Jetzt gerate ich doch ins Stocken. Nino weiß ganz genau, womit er mich locken kann, denn sein Fahrrad reizt mich. Ich habe es zweimal ausprobiert – heimlich – und es fühlte sich an, als ob ich nie etwas anderes gemacht hätte, als den Bordstein rauf- und runterzuspringen. Sogar mit erhobenem Vorderrad konnte ich nach ein wenig Übung ein Stück weit fahren. Leider hat mich Nino dabei erwischt. Er wollte wissen, wo ich denn einen Wheelie gelernt hätte, und meinte, ich müsse ein Naturtalent sein. Aber da ich weder mit ihm noch mit dem Rest seiner Familie etwas zu tun haben will, habe ich das Rad einfach in die Ecke gestellt und bin wortlos weggegangen.
»Dein BMX interessiert mich nicht!«, antworte ich schweren Herzens, versuche meiner Stimme aber die notwendige Kraft zu verleihen, um ihn endlich zu vertreiben.
»Wer’s glaubt …«, murmelt Nino, rutscht tiefer in meinen Sessel und schlägt die Beine übereinander, um es sich so richtig gemütlich zu machen.
Mit dem tiefschwarzen Haar und den dunklen Augen sieht er wie ein typischer Italiener aus, was wohl daran liegt, dass seine Eltern ursprünglich aus Italien stammen. Dummerweise ist sein Vater vor fünf Jahren gestorben und noch dümmererweise hat seine Mutter vor einem halben Jahr meinen Vater geheiratet. Und das allerdümmste an der Sache ist, dass Nino auch noch eine dreizehnjährige, überaus zickige Schwester namens Nicole hat, die meinen Vater vergöttert und mir als ihre Konkurrentin um seine Zuneigung den Kampf angesagt hat. Das Schlimmste an der ganzen Geschichte aber ist, dass ich nach der Vereinigung unserer Eltern mein geliebtes Frankfurt verlassen musste, um in einem Reiheneckhaus im kleinstädtischen Waldshut am Hochrhein zu versauern.
Doch es kommt noch schlimmer: Nino ist mit seinen achtzehn Jahren nur sechs Monate älter als ich und belegt daher die gleiche Jahrgangsstufe derselben Schule wie ich. Das Schicksal hat mir wirklich übel mitgespielt, vor allem, weil dieser Kerl auch noch gut aussieht und immer eine Traube an Mädels hinter sich herzieht. Wenn er sich wenigstens bescheiden zurückhalten würde, wäre das ja nicht ganz so tragisch, das Problem ist aber: Nino weiß genau, welche Wirkung er auf das weibliche Geschlecht hat, und scheut sich nicht, das raushängen zu lassen.
Aber nicht mit mir!
Ich werde niemals in seinen Fanclub eintreten, da kann er warten, bis er alt und grau wird.
Mein Stiefbruder sitzt noch immer mit Hundeblick in meinem Sessel, aber gegen seinen Charme bin ich zum Glück immun.
»Was muss ich tun, um dich zu überzeugen?«, versucht er es erneut.
»Vergiss es! Steck deine Nase lieber in die Bücher, statt nach dem Sport in die Mädchenumkleide!«, ziehe ich ihn auf, obwohl ich mir in Wahrheit sicher bin, dass er so etwas niemals tun würde.
»Oh, du hast mich erwischt?! Wie peinlich!«, entgegnet Nino grinsend, doch mir scheint, dass es ihm nicht einmal unangenehm gewesen wäre, wenn er tatsächlich gespannt hätte.
Ich gehe alle Alternativen durch, um meinen Stiefbruder aus dem Zimmer zu vertreiben. Da wäre die körperliche Gewalt, doch leider ist er mir überlegen und außerdem ertrüge ich die Nähe eines Ringkampfes nicht. Ich könnte ihn auch einfach wie Luft behandeln und mich wieder in meine Kurvendiskussion stürzen, aber erfahrungsgemäß würde er mich dennoch weiter reizen, bis meine Nervenstränge komplett reißen.
Hysterisch schreien?
Nein, das wäre unter meiner Würde.
Erpressung? Aber womit?
Ich fixiere das Heft in Ninos Hand. Das Grün des Umschlags beißt sich unangenehm mit dem Grün meines Sessels. Ich beuge mich vor und ziehe das Heft aus seinen Fingern. Das siegessichere Blitzen in Ninos Augen verblasst in dem Moment, als ich zusätzlich das Wasserglas anhebe. Ich male oft Aquarelle und habe das Glas mit der trüb-braunen Flüssigkeit beim letzten Mal hier stehen lassen. Zugegeben, Ordnung zu halten zählt nicht zu meinen Stärken, dementsprechend viele Dinge türmen sich auf meinem Schreibtisch. Die leicht gebräunte Gesichtsfarbe meines Stiefbruders verblasst deutlich, als ich das Wasserglas direkt über seinem Matheheft in Schieflage bringe. Noch tritt keine Flüssigkeit über den Rand, aber viel fehlt nicht mehr.
»Raus aus meinem Zimmer oder du kannst austesten, ob sich der Wäschetrockner auch für Mathehefte eignet!«
»Ach Lia, kannst du nicht mal ein bisschen netter zu deinem Stiefbruder sein?«, seufzt Nino, als er sich jetzt endlich von meinem Sessel erhebt.
»Nein, kann ich nicht«, brumme ich. »Und das Heft bleibt als Pfand bei mir, damit du mich nicht wieder belästigst.«
Doch da habe ich mich verrechnet, denn er zieht es mir im Vorbeigehen mit einer flinken Bewegung aus der Hand. Ich erschrecke so sehr, dass ich das Wasser beinahe über meine eigenen Schulbücher und Hefte verschütte, schaffe es aber dann gerade so, das Glas unter heftigem Wellengang abzustellen.
»Ich störe dich ohnehin nicht mehr!«, wirft mir Nino noch zu, bevor er hinausflitzt, natürlich ohne die Tür hinter sich zu schließen. Vor mich hin grummelnd übernehme ich diese Aktion notgedrungen selbst.
Der erneute Versuch, mich in meine Kurvendiskussion zu vertiefen, schlägt kläglich fehl. Zu sehr hat mich Ninos Überfall in Aufregung versetzt. Da kommt mir das Klackern der Katzenklappe gerade recht. Mit erhobenem Schwanz stolziert Luna quer durchs Zimmer und springt auf meinen Schoß. Ich weiß, eine Katzenklappe in der Außenwand eines Zimmers im ersten Stock ist recht ungewöhnlich. Tatsächlich war es ein enormer Aufwand, diese einzubauen, denn das Loch dafür musste in die Außenmauer des Hauses geschlagen werden. Bestimmt hat sich mein Vater nur deshalb zu diesem Gefallen breitschlagen lassen, weil an ihm das schlechte Gewissen nagt, mich hierher verfrachtet zu haben – schließlich musste ich alles aufgeben, was mir wichtig war. Vor meinem Fenster steht ein Apfelbaum, den Luna zum Aufstieg nutzt, und in meinem Zimmer stehen ihr Körbchen und der Kratzbaum vor der Klappe.
Ich muss wohl zugeben, dass Waldshut für sie besser geeignet ist als die Großstadt. Im Frankfurter Westend war es zu gefährlich, sie draußen rumlaufen zu lassen. Hier hingegen ist der Wald nicht weit entfernt und hinter den Reihenhäusern liegen viele kleine Gärten, in denen sie herumstreunen kann.
Ich streichele über Lunas graues Fell, wobei sie sich meiner Hand entgegenschmiegt und zu schnurren beginnt.
»Weißt du eigentlich, dass du die einzige Freundin bist, die mir geblieben ist, Luna?«, seufze ich.
Meine Katze legt den Kopf schief und sieht mich mit ihren bernsteinfarbenen Augen an. Nicht zum ersten Mal kommt es mir so vor, als ob sie jedes meiner Worte versteht. Ich kraule sie liebevoll am Hals, bis ihr leises Schnurren in ein lautes Brummen übergeht.
Als meine Oma gestorben ist, hat mir mein Vater zum Trost ein kleines graues Katzenbaby geschenkt. Seither besteht ein inniges Verhältnis zwischen Luna und mir. Als Britisch Kurzhaar ist sie eine Rassekatze, doch ihr Stammbaum ist mir egal – viel wichtiger ist mir das warme Gefühl, das mir ihre Nähe gibt. Es beruhigt mich, sie zu streicheln, und ich liebe es, wenn sie sich zwischen meinen Füßen zusammenrollt, wenn ich im Bett liege.
Die Tür fliegt auf. Zum zweiten Mal heute. Luna springt erschrocken von meinem Schoß und flüchtet unters Bett. Nicole steht mit puterrotem Gesicht im Türrahmen.
O nein! Die hat mir gerade noch gefehlt!
»Je-jemand hat mein Pu-Puder über meinem Bett verteilt!«, stottert Nicole aufgebracht. Das geschieht meistens, wenn sie sich aufregt, was wiederum recht häufig vorkommt. Durch das Stottern verliert ihr Wutausbruch allerdings an Schärfe.
»Und du denkst, dieser Jemand war ich?«, zische ich gereizt.
»Wer denn sonst? Ich wü-wüsste niemand anders, der mi-mi-mir das antun würde!«
Nicole gestikuliert hektisch mit den Armen, während sie redet. Sogar ihre Augen glitzern feucht, was mein Gemüt jetzt doch ein wenig abkühlt.
»Ich mache so etwas aber auch nicht«, antworte ich bestimmt.
»Ach ja? Und wa-was war mit meinem besudelten Spie-Spiegel? Wa-waren das alles die Hei-Heinzelm-m-m-männchen oder was?«
»Ja, vielleicht! Ich war es jedenfalls nicht.«
Nicole holt tief Luft, um noch etwas zu sagen, doch dann zieht sie nur düster die Augenbrauen zusammen und macht eine wegwerfende Handbewegung.
Sie murmelt etwas wie »Ich we-werde dich schon noch erwischen« und knallt meine Zimmertür ins Schloss.
Langsam atme ich mit geblähten Wangen aus und fühle mich mal wieder bestätigt, in einem Irrenhaus zu leben. Aber seltsam ist es schon, dass ständig etwas schiefgeht und niemand dafür verantwortlich zu sein scheint. Das mit dem Puder war ich jedenfalls nicht und ich kann mir auch nicht vorstellen, wer es sonst getan haben könnte. Bliebe eigentlich nur die Möglichkeit, dass sich Nicole das alles ausdenkt, um mich schlechtzumachen. Aber da müsste sie schon ziemlich gut schauspielern können und so irre kommt sie mir nun auch wieder nicht vor. Fast jedem in der Familie ist schon etwas ähnlich Unerklärliches passiert, was meist in stumme Verdächtigungen ausartete. Am häufigsten traf es Nicole, mich hingegen noch nie. Außerdem bin ich diejenige mit der Anti-Waldshut-Haltung, daher kursiert in der Familie der unausgesprochene Verdacht, ich wäre die Ursache des Übels – ein weiterer Grund, warum ich am liebsten meine Koffer packen und nach Frankfurt zurückkehren möchte.
Genau wie ihr Bruder hat Nicole braune Augen und dunkles Haar. Während es bei meinem Stiefbruder in leichten Wellen nicht ganz bis zur Schulter reicht, berühren die Haarspitzen seiner Schwester beinahe ihren Hintern. Als Dreizehnjährige beginnt sie gerade, ihre Weiblichkeit zu entdecken, und dabei übertreibt sie manchmal – sowohl mit der Schminke als auch mit reizvoller Kleidung, die sie dann vor allem meinem Vater präsentiert. Ich finde das megapeinlich und mein Vater versucht es weitgehend zu ignorieren. Am Anfang hat er sich noch hin und wieder dazu breitschlagen lassen, sie auf den Schoß zu nehmen – da wirkte sie allerdings noch wie ein kleines, hilfesuchendes Mädchen. Mit ihrer Verwandlung zur Frau jedoch, versucht er Nicole nun dezent auf Abstand zu halten, was bei ihr aber eher den entgegengesetzten Effekt auslöst: Sie buhlt regelrecht um seine Aufmerksamkeit. Sogar unseren Familiennamen hat Nicole nach der Hochzeit annehmen wollen, so heißt sie jetzt genau wie ich Schiller. Ihr Vater lebt schon lange nicht mehr, so konnte er auch keinen Widerspruch gegen die Namensänderung seiner Tochter einlegen.
Nino dagegen wollte den Namen seines Vaters behalten, was ich in seinem Fall nicht ganz nachvollziehen kann, denn witzigerweise lautet sein Nachname Angelo, was Neider manchmal zu Spötteleien verleitet. Damals in den Achtzigern kam doch dieser fast namensgleiche Schlagersänger Nino de Angelo groß raus, und natürlich sucht man da automatisch nach Parallelen. Das mit dem Frauenschwarm und der italienischen Abstammung passt ja schon mal zusammen. Bisher hatte ich allerdings noch keine Gelegenheit, das Gesangstalent meines Stiefbruders zu beurteilen. Ich frage mich, ob seine Eltern diesen Vornamen bei vollem Bewusstsein gewählt haben oder ob sogar Absicht dahintersteckte. Doch wieder zurück zu meiner Stiefschwester. Durch Nicoles Anhänglichkeit kümmert sich mein Vater kaum noch um mich. Ich weiß, dass er es nicht böse meint, aber neben seiner temperamentvollen Frau, seiner Arbeit und den Bemühungen, Nicole auf Abstand zu halten, bleibt eben nicht mehr viel Raum für seine eigene Tochter. Wahrscheinlich meint er auch, ich bin mit meinen Siebzehneinhalb ja schon fast volljährig und benötige keine Zuwendung mehr. Die Wahrheit aber ist: Egal wie viel Trubel um mich herum herrscht, ich fühle mich so was von einsam. Seit wir aus Hessen weg sind, spreche ich meinen Vater übrigens verstärkt mit Babba an – als Ausdruck meiner kleinen persönlichen Rebellion.
Luna schleicht mir um die Beine, wobei sie ihren Kopf an meiner Hose reibt. Ich hebe sie auf meinen Schoß und kraule ihr den Hals. Dann starte ich einen erneuten Versuch, die Kurvendiskussion zu Ende zu bringen.
Eine Stunde später sind alle Hausaufgaben erledigt. Ich liege seitlich im Bett und starre zum Fensterbrett. Ein breites Regal vergrößert die Stellfläche, um ausreichend Platz für meine Blumentöpfe zu schaffen: Orchideen in mehreren Farb- und Formvariationen reihen sich dort aneinander – mein liebstes Hobby. Auch ein selbst gemaltes Aquarell an der Wand zeigt eine Orchidee, wobei ich dazu anmerken muss, dass ich im Normalfall nicht auf Selbstgemaltes an Zimmerwänden stehe. Aber dieses ein wenig abstrahierte Bild ist mir so gut gelungen, dass ich es einfach aufhängen musste. Als Kind wollte ich Blumenverkäuferin werden, weil es im Blumenladen immer so gut duftet. Heute weiß ich nicht mehr so recht – ich schwanke zwischen Floristik, Gartenbau und Biologie mit Schwerpunkt Botanik.
Irgendwer klopft an die Tür.
Es geschehen doch noch Wunder, dass tatsächlich mal jemand anklopft …
Ich richte mich auf und rufe: »Ja?«
Der Kopf von Antonius Schiller, meinem Vater, lugt durch den entstehenden Spalt zwischen Tür und Rahmen. Ein bisschen abgekämpft sieht er heute aus, aber ansonsten wie immer: Ein kantiges Gesicht, das durch die kleinen Grübchen und Lachfältchen Sympathie ausstrahlt. Die graublauen Augen habe ich von ihm, die braunen Haare auch, wobei seine schon ordentlich mit weißen durchsetzt sind.
»Hallo Lia! Francesca hat Fondue gemacht. Möchtest du mit uns zu Abend essen?«
Nein, ich habe keine Lust auf ein gemeinsames Essen mit meiner Patchwork-Pseudo-Familie, aber wenn mein Vater sich schon mal extra zu mir begibt, um mich persönlich einzuladen, fällt es mir schwer, ihn zu enttäuschen. Wäre er nicht gekommen, hätte ich mir nach dem Abendessen der anderen in der Küche ein Brot geschmiert und mich damit wieder aufs Zimmer verzogen.
»Hm, na gut«, antworte ich wenig begeistert.
Mein Vater schenkt mir ein nettes Lächeln, als ich vom Bett aufstehe und auf ihn zugehe. »Wie warʼs auf der Arbeit, Babba?«
»Spannend! Wir haben eine keltische Grabstätte entdeckt. Einiges daran ist recht ungewöhnlich – aber wie du ja weißt, unterliegen die Details der Geheimhaltung.«
Mein Vater arbeitet als Archäologe bei einer privaten Grabungsfirma. Wenn jemand altertümliche Gegenstände auf seinem Grundstück entdeckt, dann kann er die Firma beauftragen, die rechtlichen Formalitäten für ihn zu erledigen und die Grabung professionell durchzuführen. Was sie so alles entdecken, klingt zwar spannend, aber in der Praxis besteht die Arbeit eines Archäologen aus stundenlangem Freilegen Tausender verstreuter Artefaktsplitter – und das zum Teil nur mit einem Pinsel! Außerdem wird die Lage eines jeden Fundstücks genau ausgemessen und kartografiert. So eine Fieselei wäre der pure Horror für mich.
»Warum macht ihr eigentlich immer so ein Geheimnis aus den Grabungen?«, will ich wissen, während ich meinem Vater die Treppe hinunter ins Erdgeschoss folge.
»Alle Mitarbeiter sind zum Stillschweigen verpflichtet, denn es kommt nicht selten vor, dass wir echte Schätze entdecken. Die liegen dann mehr oder weniger frei zugänglich in der Erde herum, bis wir sie vollständig geborgen haben. Wenn davon die falschen Leute Wind bekämen, wäre die Grabungsstätte schneller geplündert als wir draufpusten können.«
›… schneller als wir draufpusten können‹, zählt zu den Lieblingssprüchen meines Vaters, was wahrscheinlich daran liegt, dass er das mit dem Pusten oft anwendet, um Staub und Erde von seinen Fundstücken zu entfernen.
Der intensive Duft von Kräuterbaguette und Gemüsesuppe strömt mir entgegen, als ich mit meinem Vater im Wohn-Esszimmer eintreffe. Francesca zerteilt gerade das Brot in mundgerechte Stücke und sieht dann zu uns auf.
»Lia! Welche Freude, dass du mitisst. Komm, setz dich, cara mia1!«
Die Frau meines Vaters zieht den Stuhl neben sich zurück und bedeutet mir, mich zu setzen. Zugegeben, Francesca ist nicht wirklich übel, aber für mein Empfinden zu emotional und in ihren Gefühlsausbrüchen zu körperlich – vor allem, wenn sie mich ungefragt in ihre Arme schließt oder mir einen ihrer feuchten Küsse auf die Wange drückt. So nahe stehe ich ihr nun einmal nicht, dass ich das gut finden könnte. Allerdings habe ich es bisher noch nicht gewagt, mich gegen ihre herzliche Überschwänglichkeit zu wehren … und ich sollte mir vielleicht eingestehen, dass es mich manchmal sogar ein wenig über meine Einsamkeit hinwegtröstet.
Ich lasse mich gerade auf dem angebotenen Stuhl nieder, als Nicole mit einer Schüssel voll rohem Fleisch aus der Küche kommt.
»Ey, Mama, da si-sitze ich!«, protestiert meine Stiefschwester.
Wen wundert’s – schließlich hat Francesca ausgerechnet den Platz für mich ausgesucht, der an das Kopfende des Tisches grenzt, an dem mein Vater sitzt. Den Stuhl gegenüber besetzt mein mir zuzwinkernder Stiefbruder.
»Nicole! No! Heute sitzt Lia neben ihre Papà!«, bestimmt Francesca und gestikuliert dabei ausladend.
Meine Stiefschwester sieht für einen Moment aus, als kämpfte sie mit dem Impuls, uns allen die Zunge rauszustrecken. Sie lässt es jedoch bleiben, wahrscheinlich weil sie merkt, dass das nicht mehr ganz zu ihrem Alter passt. Dafür starren ihre nussbraunen Augen unverwandt zu Boden, als sie sich widerstrebend neben ihrem Bruder hinsetzt. Zeitgleich stellt sie polternd die Schüssel auf den Tisch, auf dem bereits ein großer Topf mit Gemüsesuppe steht, unter dem mehrere Teelichter brennen. Zudem warten in Schälchen klein geschnittene Paprika und Tomaten und verschiedenen Soßen auf den Verzehr. Auch beim Thema Kochen muss ich zugeben, dass Francesca eine Bereicherung darstellt.
Zu Zeiten, als meine Oma diese Aufgabe noch übernommen hat, stand ausschließlich gute deutsche Küche auf dem Speiseplan, wobei anzumerken wäre, dass Kochen nicht gerade zu den Talenten meiner Großmutter zählte. Inzwischen ist sie jedoch gestorben.
»Lia, magst du die Soße mit die Knoblauch?«, fragt Francesca und reicht mir eine Schale.
»Nein, danke«, wehre ich ab.
»Toni, du?«
»Gerne, cara mia!«, antwortet er mit einem deutschen Akzent, den selbst ich als Nicht-Italienerin heraushören kann. Unwillkürlich verdrehe ich die Augen. Doch nicht nur bei Francesca, offenbar auch bei meiner Mutter war mein Vater seiner Schwäche für südländisches Temperament erlegen – sie ist eine heißblütige Griechin, allerdings zu heißblütig für ein spießiges Familienleben. Das hielt sie nämlich nicht lange aus, und so schloss sie sich kurz nach meiner Geburt einer Band als Sängerin an und tourt mit mittelmäßigem Erfolg quer durch die Welt. Aus diesem Grund fiel meiner Oma damals die Aufgabe zu, sich um mich zu kümmern, während mein Vater arbeiten ging. Ein Mal im Jahr kommt meine Mutter vorbei, um nachzusehen, wie viel ich gewachsen bin. Ich vermisse sie nicht besonders, weil es da noch nie eine enge Bindung gab…
Okay, erwischt!
Das rede ich mir mindestens dreimal täglich ein. In Wahrheit bin ich heftig enttäuscht von ihr. Wie oft hat sie mir versprochen, mich mal mit auf Tour zu nehmen, mir die Welt zu zeigen – aber nie ist was draus geworden. Und ihre fadenscheinigen Ausreden quellen mir auch schon zu den Ohren raus!
Während mein Vater genüsslich an seinem Rotwein schlürft, schnappt sich Francesca die Schüssel mit dem Fleisch und hält sie uns reihum vor die Nase. Ich nehme mir ein paar Würfel heraus und schiebe sie auf meine zwei Metallspieße, die dann neben ihren Kumpels in der blubbernden Gemüsesuppe landen. Bis das Fleisch gar ist, bediene ich mich an Blattsalat und Baguette.
»Hast du heute etwas Neues über die keltischen Gräber herausgefunden, Toni?«, fragt Nicole plötzlich hochinteressiert und sogar ohne zu stottern.
Ich seufze geräuschlos. Sie kann’s einfach nicht lassen, sich bei ihm einzuschleimen! Eigentlich heißt mein Vater Antonius, aber mit diesem Namen wird er höchstens von seinem Chef angesprochen. Freunde und Verwandte rufen ihn Toni. Immerhin verwendet Nicole heute mal seinen Vornamen, viel zu oft nennt sie ihn nämlich Papa. Das stößt mir jedes Mal übel auf.
»Ja, diese Gräber sind absolut ungewöhnlich. Wir haben sie auf die Latènezeit um 200 v. Chr. datiert. Es sieht ganz danach aus, als ob die Grabstätte ursprüngliche ein Stollen war, in dem die Kelten nach Mineralien gegraben haben. Allerdings wurden die zwei hintereinanderliegenden Grabkammern durch mehrere massive Felsblöcke versperrt und auf denen fanden wir atypische Zeichen vor. Wie ihr ja wisst, waren die Kelten recht schreibfaul, und so kommt es eher selten vor, dass man Schriftzeichen aus dieser Zeit entdeckt. Das Wissen über ihre Kultur und Lebensweise stammt fast ausschließlich aus den Quellen anderer Völker.«
Ich glaube es nicht!
Gerade eben hat Babba mir noch klargemacht, weshalb alle Informationen der Geheimhaltung unterliegen, und jetzt plaudert er munter drauf los!
»Aber in dieser Grabhöhle habt ihr Schriftzeichen gefunden?«, hakt Nicole nach, ohne ihren durchdringenden Blick von meinem Vater zu nehmen, der einen großen Schluck von seinem Rotwein nimmt. In der Begeisterung um seine Arbeit vergisst er sogar das Essen.
»Ja, genau! Und die Abbildungen deuten auf Warnungen vor bösen Geistern hin. Überhaupt ist es seltsam, dass der Stollen ausgerechnet an diesem Ort in den Fels gehauen wurde. Die Höhle befindet sich nämlich …«
»Babba, hast du nicht gesagt, das alles unterliegt der Geheimhaltung?«, fahre ich dazwischen.
»Oh, ja, danke, Lia! Wie dumm von mir! Darüber darf ich eigentlich gar nicht sprechen.«
Ich kann wirklich froh sein, dass Blicke nicht töten können, wenn ich Nicoles Gesichtsausdruck richtig deute.
»Komm, cara mia! Lia hat recht. Außerdem ist jetzt nicht die Zeit, um über die Arbeit zu sprechen! Du hast noch nicht einmal deine Essen probiert«, antwortet Francesca mit leicht italienischem Akzent.
Da sowohl Nino als auch seine Schwester in Waldshut geboren und aufgewachsen sind, sprechen beide fließend deutsch – von Nicoles Stottern mal abgesehen.
Francesca hält meinem Vater die Schüssel mit dem Fleisch unter die Nase, wobei ihre Arme über meinen Teller ragen. Sie verströmt den intensiven Duft eines Parfüms, das ich noch nicht kenne. Meine Stiefmutter tut alles für ihr perfektes Aussehen – regelmäßiger Sport im Fitnessstudio und gesundes Essen bilden dabei die Hauptpfeiler. Durch den jugendlich frischen Kleidungsstil und den gekonnten Umgang mit Make-up wirkt sie jünger, als sie mit ihren zweiundvierzig Jahren tatsächlich ist. Das alles muss sie wohl auch von Berufs wegen tun, denn sie betreibt ein Nagel-, Kosmetik- und Wellnessstudio im Wohnzimmer des Reiheneckhauses, das ich jetzt als mein Zuhause bezeichnen muss. Bevor mein Vater und ich hier einzogen, nutzte sie mein Zimmer für ihre Arbeit – ein weiterer Grund, weshalb ich mich hier wie ein unerwünschter Eindringling fühle, selbst wenn meine Stiefmutter mich das nie hat spüren lassen.
Nino fischt seinen Fleischspieß aus der Suppe und genießt sein Essen dann in aller Seelenruhe. Wenn ich so zurückblicke, erinnere ich mich an nicht viel, was diesen Typen aus der Fassung bringen kann. Ab und zu schaut er mich an, aber diesen Blickkontakt breche ich jedes Mal rasch ab, nicht dass er noch auf die irrwitzige Idee kommt, ich würde mit ihm flirten. Das Essen schmeckt köstlich, das muss ich Francesca lassen. Nur die Stimmung bei Tisch lässt zu wünschen übrig. Während Nicole in demonstratives Schweigen verfallen ist, sich mein Gesprächsbedarf ebenfalls in Grenzen hält und Ninos Konzentration ausschließlich dem Verzehr seines Fleischs gilt, gibt Francesca den neuesten Kleinstadtklatsch zum Besten, wobei sie versucht, meinen Vater mit ins Gespräch zu ziehen. Dieser äußert sich zwar höflich, jedoch eher einsilbig zu ihren Ausführungen. Ich weiß ganz genau, dass er mit Klatsch und Tratsch nicht viel anfangen kann. Bei den beiden wirkt offenbar gerade die Gegensätzlichkeit anziehend. Die Schnittmenge bildet lediglich ihrer beider Begeisterung fürs Theater und für Musicals. Sowohl mein Vater als auch Francesca sind absolute Spezialisten auf diesem Gebiet und pilgern in ihrer arbeitsfreien Zeit auch gerne mal durch die halbe Welt, um ihre Favoriten live zu sehen. So war es auch ein Musical, das die beiden schließlich zusammenführte, während ihnen das Schicksal direkt nebeneinander Plätze zuwies.
Wir sind noch nicht fertig mit dem Essen, da klingelt es an der Tür. Meine Stiefmutter fährt erschrocken in die Höhe.
»Hoffentlich, das ist nicht schon die Signora Peck: Die wollte erst um sieben kommen, zu die Maniküre!«
Francesca eilt in die Diele und öffnet die Eingangstür.
»Äh, ah, Frau Schlutemeie! Schöne gute Abend! Was kann ich für Sie tun?«
»Schlütermeiser ist mein Name, nicht Schlutemeie!«, krächzt unsere Nachbarin mit zorniger Stimme:
»Natürlich, natürlich. Scusa2«, antwortet Francesca beschwichtigend.
Unsere Nachbarin habe ich in meiner Katastrophenliste bisher gar nicht erwähnt. Das Reihenhaus liegt nämlich in Hanglage, was bedeutet, dass das Wohnzimmer im Erdgeschoss gleichzeitig das zweite Kellergeschoss bildet. Wir bewohnen alle Stockwerke außer der Dachwohnung – dort haust Frau Schlütermeiser, eine zänkische alte Dame.
Ihre Einliegerwohnung verfügt über einen eigenen Eingang, den man von der Hangseite her über eine Treppe durch den Vorgarten erreicht – ein zugegebenermaßen seltsames Konstrukt für ein Reiheneckhaus. Soweit ich mitbekommen habe, richtete das Frau Schlütermeisers Neffe damals so für sie ein, lange bevor meine Stieffamilie das Haus kaufte. Ich bin mir sicher, dass Ninos Eltern die Immobilie vor Jahren nur deshalb so preisgünstig erwerben konnten, weil Frau Schlütermeiser über ein lebenslanges Wohnrecht verfügt. Denn diese verbitterte Alte macht einem das Leben nicht gerade zum Vergnügungstrip.
»Die Treppe vor meiner Tür ist voller Erde!«, beschwert sich Frau Schlütermeiser jetzt. Sie steht mit Francesca im Hauseingang, schimpft aber so laut, dass wir es bis ins Wohnzimmer deutlich hören können.
»Si. Aber wir wissen nicht, wie Erde da hinkommt. Vielleicht spielen Kinder eine böse Streich.«
»Einen Streich? Und das in meinem Alter! Früher hätte es so etwas nicht gegeben! Da hatte die Jugend noch Respekt vor dem Alter. Aber die heutigen Sitten verkommen immer mehr …«
»Aber Frau Schlutemeie, ein bisschen Erde … das ist doch nicht ein großes Problem! Ich mache gleich weg die Erde.«
Francesca kommt kopfschüttelnd ins Wohnzimmer und hebt beschwörend die geöffneten Hände in die Höhe.
»Porca miseria3!«, murmelt sie, verschwindet in der Küche und eilt dann bewaffnet mit Schaufel und Besen in den Garten.
»War das mit der Erde jemand von euch?«, will mein Vater mit einem kritischen Blick in die Runde wissen.
Es versetzt mir einen Stich, dass er dabei besonders lange bei mir verweilt. Zugegeben, es scheint naheliegend, dass ich dafür verantwortlich sein könnte, weil ein Großteil des Gartens unter meiner Obhut steht. Ich habe erst kürzlich in kunstvoller Anordnung verschiedene Blumen gepflanzt und dafür benötigte ich natürlich Blumenerde, aber dass mein Vater mich verdächtigt, diese auf der Treppe zu Frau Schlütermeisers Wohnung verteilt zu haben, schmerzt mich.
Nino hält eine Antwort nicht einmal für notwendig und schüttelt lediglich den Kopf. Nicole sieht meinem Vater fest in die Augen und sagt: »Aber Toni, wie kannst du nur so etwas denken? Das würde ich niemals tun!«
Mich überhaupt dafür zu rechtfertigen, ist mir zuwider, daher stehe ich einfach auf und steige gekränkt die Treppen nach oben in den ersten Stock, welcher von der Hangseite her das erste Kellergeschoss bildet.
Luna kommt mir maunzend entgegen, als ich mein Zimmer betrete. Ich streichele ihr übers Köpfchen und versorge sie mit Wasser und Futter. Danach gieße ich meine Pflanzen. Ich atme den Duft der Blumen tief ein, das beruhigt mich ein wenig.
In der Natur wachsen die meisten Orchideen auf Bäumen in tropischen Regenwäldern. Daher würden die Wurzeln, die sonst zum Teil in der freien Luft hängen, verfaulen, würde man sie mit Erde bedecken. Ich habe lange mit verschiedenen Mischungen aus Torf und Rinde diverser Bäume herumexperimentiert, um das optimale Orchideensubstrat zu entwickeln. Es muss ausreichend luftig sein, um Fäulnis zu verhindern, gleichzeitig dürfen die Wurzeln aber nicht austrocknen. Mein ganzer Stolz ist eine Variation der Cattleya, die ich selbst gezüchtet habe. Ich nenne sie Sonnenuntergang, weil die Lippe der Orchideenblüte in einem kräftigen Gelb leuchtet, während die drei großen Kronblätter einen Verlauf von Orange in dunkles Rot zeigen. Außerdem heben sich die Blattadern etwas heller hervor, sodass man sich darunter Sonnenstrahlen vorstellen kann. Diese Orchidee duftet besonders intensiv, was sie zu meinem absoluten Favoriten macht.
Am liebsten möchte ich mein Zimmer für heute nicht mehr verlassen, aber meine Kehle fühlt sich wie ausgetrocknet an. Ich habe heute ganz vergessen zu trinken, also muss ich doch noch mal in die Küche runter.
Im Wohnzimmer hat sich inzwischen Francescas Kundin eingefunden. Sie liegt in einem extrabequemen Sessel und lässt sich von meiner Stiefmutter das Gesicht mit einer komischen Paste beschmieren.
»Ach, Frau Schiller, Sie machen das wie immer fantastisch! Nach Ihren Gesichtsmasken fühle ich mich jedes Mal um zehn Jahre jünger«, schwärmt die Kundin.
»Wunderbar, das freut mich!«, antwortet Francesca enthusiastisch. »Ich gebe Ihnen nachher noch einen Lotion mit – duftet fantastico! Habe ich gestern ausprobiert und ich sage Ihnen …«
In der Küche angekommen, gieße ich mir Wasser in ein Glas, was das Gespräch kurzzeitig übertönt.
»Ja, und was ich Ihnen noch erzählen wollte, wir machen dieses Jahr Urlaub in Ihrer Heimat! Vielleicht können Sie mir ja ein paar Worte Italienisch beibringen?«
»Ma certo4 …«
»Ach, hier bist du, Lia!«
Ich zucke erschrocken zusammen, weil mein Vater plötzlich neben mir in der Küche steht.
»Hi Babba!«, antworte ich und trinke einen Schluck Wasser.
»Ich würde gerne mit dir reden.«
Warum klingt er denn so ernst?
»Klar, tust du doch gerade.«
»Schau mal, Lia. Wir wohnen jetzt schon über ein halbes Jahr in Waldshut. Meinst du nicht, du könntest die Situation langsam mal akzeptieren? Was hast du denn eigentlich für ein Problem?«
»Soll ich dir das wirklich alles aufzählen? Ich gebe dir nur mal eine kleine Auswahl: Meine Freunde sind weg, ich bin hier völlig fremd, diese Familie ist nicht meine, mir fehlt Frankfurt, in der Schule bin ich eine neu zugezogene Außenseiterin und auf der anderen Rheinseite ragt der Kühlturm des Kernkraftwerks in den Himmel!«
»Den siehst du doch von hier aus gar nicht!«
»Das ist doch egal! Es reicht schon aus, dass ich weiß, dass er da ist.«
»Meinst du nicht, es liegt auch ein Stück weit an dir selbst, dass du dich noch immer fremd fühlst? Freunde kannst du doch auch hier finden, oder nicht?«
»Babba! Ich wurde nicht mal gefragt, ob ich nach Waldshut zu dieser Familie ziehen will. Ich musste einfach mit! Was würdest du davon halten, wenn ich dich gegen deinen Willen nach Frankfurt entführen würde – weit weg von Francesca und deiner Arbeit? Oder in deinem Fall sollte ich es wohl eher mit dem Ausland vergleichen, weil du eine Strecke innerhalb Deutschlands ja ganz gut mit dem Auto zurücklegen könntest. Für mich sieht die Sache da schon ganz anders aus. Was wäre, wenn du gegen deinen Willen in Taiwan leben müsstest? Würdest du dich so leicht damit abfinden können?«
Darauf weiß er nichts zu erwidern, dafür fällt der folgende Seufzer umso geräuschvoller aus. Ich kippe das restliche Wasser in einem Zug hinunter, stelle das Glas in die Spüle und ziehe mich wieder in mein Zimmer zurück.
* * *
Als ich an diesem Abend im Bett liege, kann ich nicht einschlafen. Etwas beunruhigt mich, doch was es genau ist, lässt sich nicht fassen. Ich wälze mich von einer Seite auf die andere, versuche mich zu entspannen, aber eine diffuse Vorahnung, dass etwas Schreckliches geschehen wird, lässt mich nicht mehr los. Sogar Luna scheint es zu spüren, denn auch sie läuft immer wieder aufgeregt durchs Zimmer, und kuschelt sich schließlich maunzend in meine Arme.
Aber irgendwann siegt die Müdigkeit über die Unruhe und zieht mich ins Reich der Träume hinüber.
Italienisch: meine Liebe, mein Schatz↩
Italienisch: Entschuldigung↩
Italienisch: elender Mist↩
Italienisch: aber sicherlich↩
Dienstagmorgen
Bah, ich kann den Geschmack nicht leiden, den ich nach dem Aufwachen im Mund habe. Die Zähne fühlen sich eklig pelzig an und der Speichel schmeckt schal. Jeden Morgen, nachdem mich der Radiowecker aus dem Schlaf geholt hat, bewirkt dieses Gefühl, dass ich ziemlich rasch das Bett verlasse, um mir die Zähne zu putzen. Danach dusche ich mich kurz ab. Ich brauche das heute ganz besonders, da ich in dieser Nacht auch noch geschwitzt habe. Erst lasse ich warmes Wasser über meinen Körper fließen, um mit einem eiskalten Schauer abzuschließen – das vertreibt den letzten Rest an Müdigkeit.
Mein Zimmer liegt neben dem von Nicole und wir teilen uns ein Bad. In der Etage darüber befindet sich ein weiteres sowie das Zimmer mit dem Doppelbett, in dem mein Vater Dinge treibt, von denen ich lieber nichts wissen will. Außerdem haust in dieser Etage mein Stiefbruder – sein Zimmer ist direkt über meinem. Man sollte meinen, das Gebäude wäre auf einer Seite recht dunkel, aber so ist es nicht, denn zwischen Haus und Hang befindet sich ein irrsinnig tiefer Lichtschacht, der sich senkrecht über die gesamte Front zieht. In der Küche und im Bad auf meiner Etage führt jeweils ein Fenster in diesen Lichtschacht und über eine gläserne Schiebetür, die vom Wohnzimmer abgeht, lässt er sich sogar betreten. Die Betonwände des Schachtes sind allerdings ziemlich verwittert, mit Moos und Flechten überzogen. Das sieht nicht besonders schön aus. Insgeheim habe ich die Wände in meiner Fantasie mit Schlingpflanzen und Blumen (vor allem Orchideen) bemalt und eine Art Wintergarten mit Pflanzen und Springbrunnen daraus gestaltet. Aber diese Idee würde ich niemals in die Tat umsetzen, weil es bedeuten würde, dass ich mich mit diesem Haus, das nie mein Zuhause sein wird, abgefunden hätte.
Als ich in mein Zimmer zurückkehre, rekelt sich Luna gerade auf meinem Bett. Sie streckt ihre Pfoten weit von sich und gähnt ausgiebig. Noch immer in Unterwäsche öffne ich die Tür zum Kleiderschrank, da fliegt mir ein Stapel schlecht gefalteter Shirts entgegen. Ich fange ihn mit beiden Händen ab und stopfe die Wäsche schnell zurück ins Fach. Früher habe ich mehr auf Ordnung geachtet – das war in einer Zeit, in der meine vorherrschende Kleiderfarbe noch nicht Schwarz war. Aber so fällt die Auswahl wenigstens leicht. Ich krame eine schwarze Hose hervor und ein schwarzes … nein heute vielleicht doch mal ein dunkelgrünes Top. Hauptsache es wirkt nicht fröhlich, schließlich will ich nichts vortäuschen, was ich nicht bin.
In der Küche steht eine Espressomaschine. Es ist zu meinem Ritual geworden, mir einen Caffè Latte zu mischen und ihn im Stehen leer zu trinken, bevor ich mich zur Schule aufmache. An diesem Morgen treffe ich in der Küche allerdings auf Francesca, die pathetisch einen italienischen Song aus dem Radio mitsingt. Es klingt nicht schlecht, aber auch nicht gerade auftrittsreif. Ich lächele ein wenig verlegen, als ich eintrete und die Espressomaschine in Gang setze. Meine Stiefmutter streichelt mir über den Arm, während sie irgendwas mit »amore« trällert. Danach holt sie schwungvoll Paprikapulver und Salz aus dem Regal, um ihre in der Pfanne brutzelnden Spiegeleier zu würzen. Und jetzt kommt auch noch Nino herein.
Was ist heute nur los?
Normalerweise kann ich die kurze Zeit, die ich in der Küche verbringe, so timen, dass ich keinem Familienmitglied begegne. Nino hat um diese Zeit normalerweise schon seinen Kaffee getrunken und sein Brötchen gegessen. Anscheinend ist Francesca heute früher aufgestanden oder sie hat ihren Frühsport ausgelassen. Um niemandem in die Quere zu kommen, frühstücke ich mein Croissant generell auf dem Schulweg.
»Hey, Lia! Wir könnten doch heute zusammen losgehen?«, wagt mein Stiefbruder tatsächlich vorzuschlagen.
»Könnten wir vielleicht – wollen wir aber nicht«, erwidere ich trocken und schlürfe hastig meinen Caffè Latte.
Ich muss hier schleunigst verschwinden!
»Na gut, bildest du dann die Vorhut oder soll ich vorausmarschieren?«, zieht er mich auf. Obendrein zwinkert er mir auch noch grinsend zu.
Was bildet der sich eigentlich ein? Dass alle weiblichen Wesen gleich zu Honig zerfließen, wenn er ihnen aus seinem Flirtface zuklimpert?
Ich kippe den letzten Schluck hinunter, zucke dabei zusammen, weil mein Getränk noch ziemlich heiß ist, schultere meine Tasche, schnappe mir ein Croissant und flüchte wortlos aus der Küche. Francescas Gesang erfüllt noch immer das Haus, und sogar, als ich die Eingangstür hinter mir schließe, kann ich ihre gedämpfte Stimme hören. Der Weg führt um das Haus herum, also eine Treppe an der Hauswand entlang, bis zum oberen Eingang. Von hier zweigen auch die Treppe zu Frau Schlütermeisers Dachgeschosswohnung und der Zwei-Meter-Waschbeton-Fußpfad zur Gartenpforte ab. Kaum bin ich oben, höre ich, wie die Haustür ein zweites Mal ins Schloss fällt, und mir ist sonnenklar, wer sich jetzt an meine Fersen heftet.
Ich eile die Straße bergab. Kaum hörbare Schritte verfolgen mich. Bestimmt trägt Nino seine geliebten Sneakers, deren weiche Sohlen es ihm ermöglichen, sich hinterhältig anzuschleichen. Mittlerweile komme ich mir allerdings schon ein wenig albern dabei vor, vor meinem Stiefbruder regelrecht zu flüchten.
An der nächsten Querstraße muss ich anhalten. Sie bündelt den Verkehr mehrerer Gebiete, weshalb hier deutlich mehr Betrieb herrscht als im Rest der Wohngegend. Ein Kleinbus nähert sich von links unten, da entdecke ich plötzlich Luna, die einer Maus hinterherjagt und dabei direkt vor das Fahrzeug rennt. Mein Herz bleibt schier stehen vor Schreck. Ich sehe noch, wie meine Katze erfasst wird, und dann ist plötzlich alles wieder weg. Sowohl Luna als auch der Kleinbus haben sich einfach aufgelöst. Die Straße ist völlig frei. Mein Herz schlägt bis zum Hals.
Was, verflucht noch mal, war das?
Eiskalte Schauer rinnen mir über den Rücken, Tränen sammeln sich in meinen Augen.
Diesen Horror möchte ich niemals erleben!
»Na, wie frei muss es noch werden, damit Madame die Straße zu überqueren gedenken?«, holt mich plötzlich Ninos Stimme aus meiner Schockstarre.
Er steht neben mir und blickt artig nach links und rechts, bevor er seine nussbraunen Augen auf mich richtet. Zu keiner Antwort fähig, schaue ich scheinbar durch ihn hindurch.
»Hey Lia! Was ist los?«
Entgeistert fixiere ich Nino und schließe dann die Lider.
Was war das eben? Ganz egal was, es darf nicht passieren! Niemals! Oder ist es schon geschehen? Wo ist Luna?
»Luna …«, flüstere ich, während kühle Rinnsale über meine Wangen laufen.
Eine kräftige Hand legt sich auf meine Schulter.
»Lia? Was ist mit deiner Katze? Der gehtʼs doch gut. Ich hab sie eben noch gesehen, wie sie Richtung Wald gelaufen ist.«
Sowohl Ninos Geste als auch seine Worte holen mich in die Gegenwart zurück.
Luna geht es gut. Ich habe nur blöd fantasiert. Kein Grund zur Sorge! Und was nimmt sich mein Stiefbruder eigentlich heraus, seine Hand auf meine Schulter zu legen?
Ich reiße die Augen auf und schiebe seinen Arm vehement beiseite. Es behagt mir ganz und gar nicht, dass mich Nino in diesem schwächlichen Zustand erlebt. Ich will weder vor ihm heulen noch ihn so nah an mich ranlassen, dass er an meinen Ängsten und Problemen Anteil nimmt. So lasse ich ihn einfach stehen und mache einen Schritt Richtung Fahrbahn, werde jedoch unsanft gepackt und zurückgeschleudert. Dabei wirbele ich um die eigene Achse und lande direkt in Ninos Armen. Ein Auto saust hupend an uns vorüber. Vor Schreck halte ich den Atem an. Mein Puls rast. Ich liege in den Armen meines Stiefbruders, der mich ziemlich fest umklammert. Wenn er mich nicht gerettet hätte, wäre ich geradewegs vor das Auto gelaufen. Es passt mir zwar überhaupt nicht, dass ich meinem Stiefbruder jetzt auch noch dankbar sein muss, doch im Augenblick bin ich viel zu geplättet von dem Schock, um darauf zu reagieren. Als mir wieder einfällt, dass ich atmen muss, bereue ich sofort, Luft geholt zu haben, weil mich der Duft, der meine Sinne überflutet, in einem Nebel aus rosaroten Wolken einlullt.
Was muss der Kerl ein derart anziehendes Aftershave verwenden? Oder ist das sein eigener Körpergeruch?
Egal, jedenfalls dauert diese Umarmung schon peinlich lange an und zudem spüre ich, wie er mir jetzt auch noch über den Rücken streichelt.
Hallo? Geht’s noch?
Verärgert, vor allem darüber, dass sich das gerade ziemlich gut anfühlt, schiebe ich meinen Stiefbruder von mir weg.
»Äh, danke fürs Retten. Aber ich muss jetzt los«, stammele ich hastig.
Ich drehe mich um und dieses Mal schaue ich ganz genau, ob ein Auto kommt. Die Straße ist jetzt wirklich frei. So schnell man nur gehen kann, ohne zu rennen, setze ich meinen Weg fort. Ich stehe noch immer völlig neben mir. Sowohl dieser gar nicht stattgefundene Unfall meiner Katze als auch Ninos plötzliche Nähe haben mich komplett aus der Fassung gebracht.
* * *
Zum Glück hat das neue Schuljahr gerade erst angefangen. Wenn es am Ende auf die Abiprüfungen zugeht, werde ich vor lauter Lernen wohl kaum noch den Himmel zu sehen bekommen.
Der Unterricht beginnt mit Gemeinschaftskunde, hier belege ich zum Glück nicht denselben Kurs wie Nino. Danach folgt Bio bei Frau Sommer. Obwohl ich das Fach mag, habe ich das Pech, dass mein Stiefbruder am Nachbartisch und Giselle Dubois direkt neben mir sitzt.
Nein, selbst wenn der Name das vielleicht vermuten lässt – sie ist keine der aufgetakelten Blondinen, die über andere herziehen. Ihr Problem stellt sich anders dar. Am Anfang habe ich noch nicht recht kapiert, weshalb Giselle meistens alleine sitzt. Da mochte ich sie auch noch einigermaßen, denn wenigstens hat sie nicht diesen typisch alemannischen Dialekt der Gegend drauf. Nach dem Umzug habe ich die alteingesessenen Einheimischen kaum verstanden. Inzwischen geht es zwar, aber die Worte müssen noch immer gut ein dutzend Mal durch alle Gehirnwindungen wandern, bis ich deren Sinn kapiere. Giselles ganz leicht angehauchter französischer Akzent klingt dagegen angenehm.
»Lia, du siehst heute ja unglaublich gut aus«, schleimt sich meine Sitznachbarin ein, kaum dass ich mich auf dem Platz neben ihr niedergelassen habe. Aber das kenne ich ja schon, diese Freundlichkeitsphasen kommen und gehen wie gutes Wetter.
»Hi, Giselle«, antworte ich daher mit fehlender Begeisterung.
»Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist. Ich habe Dana auf dem Gang ganz höflich gegrüßt und sie hat sich einfach abgewendet. Das musst du dir mal vorstellen! Ich ertrage das nicht, das geht mir so an die Nieren. Was sagst du denn dazu, Lia? Du bist doch die allerbeste Freundin, die ich je hatte, möchte ich behaupten. Was Dana da mit mir abgezogen hat, ist doch unfassbar, nicht wahr?«
Giselle gestikuliert theatralisch mit den Händen, während sie redet. Ihrem Tonfall nach zu urteilen, handelt es sich um eine absolute Katastrophe. Am liebsten würde ich gar nicht darauf eingehen, aber erfahrungsgemäß geht das nach hinten los. Ihre Übertreibungen sind mir oft zu viel, doch wenn ich ihr das mitteile oder sie ignoriere, kann das in einem fürchterlichen Heuldrama enden. Da niemand neben ihr sitzen will, sich die Freunde in der Klasse schnell zusammenrotten und ich mich ohnehin meist absondere, bleibt mir in vielen Fällen nichts anderes übrig, als den einzigen freien Platz neben Giselle zu besetzen. Nach dem letzten halben Jahr weiß ich aber noch immer nicht, wie ich mit ihr umgehen soll.
»Äh, vielleicht war Dana nur in Gedanken und hat dich einfach nicht bemerkt«, weiche ich ihrer Frage aus.
»Nein, nein, nein! Das kann unmöglich der Grund sein. Dahinter muss etwas anderes stecken, etwas Persönliches, verstehst du?«
»Das glaube ich nicht. Niemand würde dich freiwillig ignorieren«, antworte ich, bemüht, es nicht ironisch klingen zu lassen.
Hoffentlich beginnt der Unterricht bald …
»Aber, Lia …«
»Du hast dich aber heute besonders schön rausgeputzt«, unterbreche ich Giselle in der Hoffnung, dass sie darauf anspringt. Prompt lächelt sie verführerisch und wackelt dabei mit den Schultern.
»Glaubst du, das Kleid kann auch deinen umschwärmten Stiefbruder bezirzen?«, fragt sie und zieht dabei den Saum ein wenig höher, damit man einen guten Blick auf ihre langen Beine erhält.
»Hm, kann schon sein«, murmele ich, während ich mein Biobuch aus der Tasche fische.
Doch dann schiele ich unmerklich zu meiner Tischnachbarin. Giselles dunkelrotes Kleid ist wirklich schick, es steht ihr hervorragend und sieht auch nicht nuttig aus, muss ich innerlich zugeben.
Ob es mir auch stünde? Und ob es Nino tatsächlich gefällt?
Es kommt mir so vor, als ob er zu uns herüberschielt, aber da er in der gleichen langen Tischreihe sitzt wie ich, kann ich nicht genau erkennen, wem von uns sein Blick gilt. Aber das ist ja auch völlig egal – immerhin posieren schon wieder zwei meiner Mitschülerinnen auf dem Tisch vor ihm und lachen über einen Witz, den Nino gerade reißt.
»Das klang nicht ehrlich, Lia! Und du hörst mir jetzt nicht mal mehr zu!«, protestiert Giselle.
O Mann, ich habe keine Ahnung, was sie gesagt hat, aber um ehrlich zu sein, will ich es auch gar nicht wissen.
»Ach, jetzt lass mich doch mal in Ruhe«, seufze ich frustriert.
Warum muss sie immer so ein Theater veranstalten?
Giselle schluchzt geräuschvoll und platziert dann polternd ihr Buch auf dem Tisch.
Wann kommt endlich Frau Sommer? Müsste die Pause nicht schon längst zu Ende sein?
Statt der Biologielehrerin betritt Lukas Marbach den Raum – mein heimlicher Schwarm: blonde Haare, die gleichen graublauen Augen wie ich. Er ist ein echt netter Kerl, sieht blendend aus und zieht mich nicht immer so blöd auf, wie mein selbstverliebter Stiefbruder. Und im Gegensatz zu ihm glänzt Lukas, der meistens Luke gerufen wird, durch Bescheidenheit.
Mein Problem ist allerdings, dass ich es nicht so damit hab, über Gefühle zu reden. Beim Flirten käme ich mir einfach nur albern vor, und da Luke bisher noch keinen Schritt auf mich zugemacht hat, hängt unser Status bei guten Mitschülern fest.
»Seit wann bist du denn bei uns im Biokurs?«, frage ich ihn, während sein Blick suchend über die Reihen schweift.
»Oh, hi, Lia! Ach, da ist ein Fehler mit meinem Stundenplan passiert, deshalb war ich letzte Woche in zwei Chemiekursen eingeteilt. Mein Biokurs fiel hingegen völlig flach. Aber wie es aussieht, ist bei euch gar kein Platz mehr frei.«
»Hallo Lukas!«, ruft Giselle neben mir hocherfreut und klimpert dabei auffällig mit den Wimpern. »Wenn du magst, hole ich dir einen Stuhl von nebenan, dann rücken wir zusammen und du setzt dich zwischen uns. Wie wäre das?«
»Das ist lieb von dir, Giselle, aber …«
Mitten in seinem Satz springt sie jedoch auf und läuft zur Tür hinaus. Luke lächelt mir zu und ich lächele zurück, schaue dann aber schnell zur Tafel, bevor der Blickaustausch doch noch in einen Flirt ausartet. Auch wenn ich gerne wollte, ich kann das einfach nicht.
Keine Minute später kehrt Giselle mit einem Stuhl zurück, den sie so aufstellt, dass Lukas zwischen ihr und dem mosernden Mark eingequetscht wird. Sie selbst rückt viel zu nah an mich heran und mir bleibt rechts außen kaum noch Platz.
Das fehlte ja noch …
An dem langen Tisch reihen sich neben mir Giselle, Lukas, Mark, Nino, Birte, Rita und Julia auf. Abgesehen von Luke ist mir nur die letzte in dieser Reihe wirklich sympathisch, aber da Julia meistens mit ihrem Freund rumhängt, habe ich noch nicht ernsthaft versucht, Freundschaft mit ihr zu schließen. Am Ende würde ich mich in einem Dreiergespann nur überflüssig fühlen.
»Das ist aber schön, Lukas, dass du nun bei uns bist. Und deine Jeans steht dir fantastique!«, flötet Giselle.
Nein, es gefällt mir überhaupt nicht, dass sie mit fast jedem Mitschüler flirtet, und noch weniger passt es mir, dass Lukas sie nicht zurückweist. Die beiden unterhalten sich über ihre Wochenenderlebnisse und ich fühle mich mal wieder wie das millionste Schräubchen in einer Schraubenfabrik.
Ich mache drei Kreuze, als Frau Sommer leicht außer Atem in den Saal stürmt.
»Entschuldigen Sie die Verspätung!«, keucht sie und stellt ihre Tasche auf dem Pult ab. »Wo waren wir in der letzten Stunde stehen geblieben?«
»Wir haben die ganze Zeit über gesessen!«, antwortet ein Schüler aus der hinteren Reihe, dessen Name ich mir nicht merken kann – oder will, weil ich ja eh nicht hier sein möchte. Ein Murren über den ausgelutschten Witz geht durch die Reihen.
Der Unterricht nimmt seinen Lauf. Wir behandeln das Thema Genetik, soviel bekomme ich mit, aber der Rest verschwimmt mit wirren Träumereien. Plötzlich bemerke ich im Augenwinkel, wie Giselle einen Zettel zugeschoben bekommt. Ich erhasche einen Blick auf das Papier und lese gerade noch meinen Namen, bevor sie ihre flache Hand drauflegt. Ihre Aufmerksamkeit vorgetäuscht zur Tafel richtend, tut sie so, als schiebe sie ihn weiter zu mir, in Wahrheit aber schließt sich ihre Faust darum, welche sie dann mit ihrer Beute hastig unterm Tisch verschwinden lässt. Alles geht so schnell, dass ich es beinahe nicht mitbekommen hätte.
»Gib mir den Zettel!«, zische ich und halte Giselle demonstrativ meine Handfläche hin.
Sie kichert und läuft knallrot an.
»Äh, du weißt doch, ich bin schrecklich neugierig …«, stammelt sie und reicht mir das zerknautschte Papier.
Dicke Tränen sammeln sich in ihren Augen.
»D-du bist mir doch nicht böse, Lia? Da-das tut mir wirklich leid! Ich konnte einfach nicht anders«, jammert sie so übertrieben, dass ich rasch einlenke, um das Drama zu beenden.
»Schon gut. Mach so was einfach nie wieder, okay?«
Ich wende mich ab und lasse Giselle weiter leise vor sich hin schniefen. Meine Konzentration liegt jetzt ohnehin auf dem Papier in meiner Hand.
Wer schickt mir auf diese Weise eine Nachricht? Das war noch nicht dagewesen – zumindest nicht an dieser Schule, in der ich das Gegenteil einer Stimmungskanone verkörpere.
Oder erlaubt sich da jemand bloß einen doofen Scherz?
Am liebsten würde ich jetzt gleich nachgesehen, was draufsteht, aber ich kann förmlich spüren, wie Giselle, die plötzlich viel zu dicht neben mir sitzt, darauf lauert, etwas vom Inhalt der Nachricht zu erhaschen. So stopfe ich den Zettel in meine Tasche, lehne mich zurück und schaue Frau Sommer dabei zu, wie sie sich abmüht, eine DNA-Alpha-Doppelhelix an die Tafel zu zeichnen.
Meine Banknachbarin hat es aufgegeben, mich mit ihrem Gejammer beeindrucken zu wollen, rückt stattdessen wieder näher an Luke heran und lehnt ihren Kopf gegen seine Schulter. Er wirft ihr einen überraschten Blick zu, lässt sie aber gewähren. Das war’s dann endgültig mit meinem Schwarm. Damit ist er für mich gestorben!
Wie kann er nur? Und dann auch noch ausgerechnet bei Giselle!
Leere macht sich in mir breit. Jetzt gibt es auch in der Schule niemanden mehr, dem ich erlauben würde, mein Herz zu berühren. Für die dunkle Wolke über meiner Seele ist Niederschlag angesagt und mir graut davor, dass auch das trübe Wetter kein Ende mehr nehmen könnte.
* * *
Wie so oft endet der Unterricht für Nino und mich an diesem Nachmittag zur selben Zeit, und auch diesmal verfolgt mich mein Stiefbruder auf dem Heimweg. Das wird langsam echt lästig, vor allem, weil ich noch immer keine Gelegenheit gefunden habe, den Zettel zu sichten.
»Und? Wie lautet deine Antwort, Lia?«, fragt Nino, während er zu mir aufschließt.
»Nein! Zu welcher Frage auch immer!«
»Das bedeutet, du hast meinen Brief gar nicht gelesen?«
»Äh, was? Nein!«
Jetzt bin ich baff. Nino hat mir den Brief geschickt? Und warum in der Schule über Freunde? Er hätte ihn mir auch direkt geben können.
»Tja, dann … Ciao!«
Er winkt mir zu und läuft eilig vorüber. Das alles gibt mir nun so viele Rätsel auf, dass ich stehen bleibe und den Zettel aus der Tasche fische – natürlich erst, als mein Stiefbruder außer Sichtweite ist. Beim Glätten des Papiers bemerke ich, dass es wie ein Brief an den Ecken eingefaltet und mit einem kleinen Stück Tesafilm in der Mitte zusammengeklebt wurde. Vorsichtig reiße ich die Ecken heraus, bis sich mir die Innenseite offenbart.
Da steht:
Hey Lia,
was ich dir schon immer mal sagen wollte: Ich steh nicht auf Giselle, auch nicht auf Birte und auch nicht auf Rita. Es gibt da aber eine, die ist ein Wahnsinns-BMX-Talent, hat ein Händchen für Blumen, immer einen coolen Spruch auf Lager und lässt sich nie unterkriegen. Leider geht’s ihr nicht so toll und deshalb ist sie oft schlecht drauf, aber ich habe so den Eindruck, wenn sie den Panzer mal abstößt, könnte man ziemlich viel Spaß mit ihr haben. Wenn du weißt, wen ich meine, dann frag sie doch, ob sie Lust auf eine BMX-Tour hat. Mark leiht mir seins, dann können wir gemeinsam fahren.
Ciao Nino
Meine Hand hat beim Lesen zu zittern begonnen. Das kann unmöglich stimmen! Um ein paar Ecken herum steht in dem Brief, dass Nino auf mich steht, oder täusche ich mich?
Aber ich will nicht, dass er mich mag, das verkompliziert die Familiensituation nur noch mehr. Außerdem bin ich mir bei ihm eh nie sicher, wie ernst er Dinge meint. Andererseits lädt er mich nur zu einer BMX-Tour ein, ganz harmlos und unverfänglich.
Ob ich es wagen soll?
Ich ertappe mich dabei, wie ich an dem Brief schnuppere, um herauszufinden, ob er nach Nino duftet. Doch ich kann nur den Geruch von Tinte, Radiergummi und Tesafilm herausfiltern.
Ist ja auch besser so, sonst komme ich doch noch auf dumme Gedanken.
Während ich geistesabwesend den Heimweg fortsetze, überlege ich hin und her, ob ich nun zu- oder doch lieber absagen soll.
Als ich durch das obere Gartentor trete, kommt mir Frau Schlütermeiser entgegen. Sie wedelt mit weißen Zetteln, die aussehen wie geöffnete Briefe. Ich habe keine Lust, mich mit ihr auseinanderzusetzen und irgendwelche Beschuldigungen über mich ergehen zu lassen, daher eile ich einfach an ihr vorbei zur Treppe, die am Haus entlang zum tiefer gelegenen Eingang führt.
»Meine Briefe aus dem Kasten zu fischen und zu öffnen, das ist eine Frechheit sondergleichen! Eine Straftat! Ich werde die Polizei rufen!«, keift sie mir hinterher.
Das kann ja wohl nicht wahr sein!
Diese Unterstellung wird mir gerade echt zu viel. Ich drehe mich auf dem Absatz um und fixiere zwei funkelnde Augen in einem von Bitterkeit gezeichneten, faltigen Gesicht.
Sie ist genauso verbittert wie ich, kommt mir plötzlich der Gedanke. Eben war mir noch danach, ihr so richtig die Meinung zu geigen, doch mit einem Mal ist der ganze Ärger verpufft.
»Es tut mir leid, dass Ihre Briefe geöffnet wurden, Frau Schlütermeiser, aber ich war das nicht«, höre ich mich sagen.
Das scheint jedoch völlig an ihr vorbeizugehen.
»Was man sich in meinem Alter noch alles gefallen lassen muss!«, zetert sie.
Da es mir sinnlos erscheint, mich weiter mit ihr anzulegen, wende ich mich ab und steige die Stufen zum Eingang hinab. Der obere läge zwar näher, aber dieser führt geradewegs in die Etage mit zwei Zimmern, um die ich lieber einen großen Bogen mache: das von Nino und das mit dem Ehebett. Generell bevorzuge ich es, vom Garten aus einzutreten und den Wohn-Essbereich zu durchqueren, weil ich zum einen eine Schwäche für diesen kleinen Garten habe und zum anderen den zweiten Stock wegen der für mich dubiosen Räume lieber meide.
Auf dem Weg zu meinem Zimmer nimmt die innere Unruhe stetig zu. Mir fällt meine Vision wieder ein, in der ich Luna vors Auto habe rennen sehen. Erst wenn ich meine Katze in die Arme schließe, werde ich wieder aufatmen können. Ein leichtes Zittern geht durch meinen Körper, als ich die Tür öffne.
Hoffentlich ist sie da!
Aber ihr Körbchen und auch der Katzenbaum sind verwaist. Ich pfeffere meine Tasche in die Ecke und schaue unruhig aus dem Fenster in den Garten hinunter. Doch auch hier kann ich meine Katze nirgends entdecken. Ich schließe die Augen und atme tief durch, versuche, mich zu beruhigen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Luna um diese Zeit draußen herumstrolcht. Ich sollte mir deshalb keine Sorgen machen. Aber das sagt sich so leicht. Ganz egal, was ich anstelle, ich finde einfach keine Ruhe. Ich versuche mich krampfhaft auf Englisch zu konzentrieren – keine Chance, dabei steht morgen ein Test an.
Gerade, als ich an meiner Anlage die Musik laut aufdrehen will, um die Grübelei zu vertreiben, schwingt die Katzenklappe hörbar nach innen. Ich fahre herum und sehe voller Erleichterung, wie Luna auf mich zuspringt, um ihr Köpfchen an meiner Hose zu reiben. Ich hebe sie auf den Arm und setze mich mit ihr in den grünen Sessel, um sie ausgiebig zu kraulen und zu streicheln. Allein beim Gedanken, es könnte ihr etwas zustoßen, bricht mir das Herz. So sitze ich in mich versunken da, bis die Tür aufgeht und Nino durch den Spalt lugt – um genau zu sein, schaut mich ein riesiges auf Papier gemaltes Smiley an, das sich mein Stiefbruder vors Gesicht hält. Luna ist inzwischen auf meinem Schoß eingeschlafen, aber ich kann nicht aufhören, ihr samtenes graues Fell zu streicheln.
»Kannst du nicht anklopfen?«, fahre ich Nino an.
Eigentlich wollte ich nicht so aufbrausend reagieren, doch das ist schon fast zu einem Automatismus geworden, außerdem hat er mich aus meiner Versenkung aufgeschreckt. Mein Stiefbruder wechselt mit einer raschen Handbewegung die Maske des lachenden Smileys zu einem traurigen, dem dicke Tränen aus den Augen kullern.
»Könnte ich schon, aber als ich das das letzte Mal probiert habe, stand ich wie so ein Idiot vor der Tür und niemand hat ›herein‹ gerufen, obwohl du da warst!«, entgegnet er. Dabei vibriert das Papier unter dem Luftstrom seiner Worte. Jetzt entgleitet mir doch ein ungewolltes Schmunzeln.
»So? Kann mich gar nicht erinnern. Das muss schon ein halbes Jahr her sein.«
Nino nimmt das Smileygesicht herunter, sodass mich seine haselnussbraunen Augen nun forschend mustern können.
»Heißt das, zwischenzeitlich hättest du mich auch mal hereingebeten?«
»Nein.«
»Wozu soll ich dann klopfen?«
»Damit dir klar wird, dass du nicht ungefragt eintreten darfst.«
»Aber wenn die Antwort immer aus einem stummen Nein, besteht …«
»… muss sogar der Frauenschwarm Nino das akzeptieren.«
Ich verschlucke mich beinahe selbst an meinen Worten, weil es nicht in meiner Absicht lag, ihn mit diesem Kompliment zu bauchpinseln. Umso breiter fällt das Grinsen in seinem leicht gebräunten Gesicht aus.
»… auch dann, wenn der Frauenschwarm Nino mit dir eine BMX-Tour machen will?«
War ja klar, dass er das peinliche Wort auch noch betonen muss.
»Ist das nicht schon zu spät heute?«
In Wahrheit suche ich nach Argumenten, um die Nein-Waagschale meines inneren Widerstreits stärker zu gewichten.
»Nö, wieso? Wir haben erst sechs und mehr als eine Stunde Radfahren schaffst du doch eh nicht«, zieht er mich auf.
»Tsss, das glaubst auch nur du!«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, mir das Gegenteil zu beweisen.« Mein Stiefbruder grinst siegessicher.
Mist, was kann ich da noch entgegensetzen?
»Na gut. Dieses eine Mal …«, gebe ich mich seufzend geschlagen.
Ich nehme Luna vorsichtig hoch und lege sie in ihr Körbchen. Sie rekelt sich behaglich und schläft gleich wieder ein. Dann folge ich Nino nach draußen. Am Zaun zum Vorgarten lehnen zwei BMX-Räder aneinander. Mein Stiefbruder löst das Schloss und schiebt mir sein schwarz-rotes Rad zu. Mir fällt sofort auf, dass Sattel und Lenker tiefer liegen als beim letzten Mal, als ich mir das Rad heimlich geborgt hatte.
Gegen meinen Willen überrollt mich die warme Welle der Erkenntnis, dass Nino sein BMX exakt auf meine Körpergröße eingestellt hat, obwohl er sich noch nicht einmal sicher sein konnte, dass ich überhaupt mitkommen würde. Ich versuche mir jedoch nichts anmerken zu lassen und steige auf das Rad. Sofort fühle ich mich wie zu Hause angekommen. Die Pedale scheinen mit meinen Füßen zu verschmelzen, als ich mit dem BMX über den Asphalt presche.
»Hey Lia, vergiss nicht den Kopfschutz!«, ermahnt mich mein Stiefbruder.
Ich kehre zu ihm zurück und greife mir im Fahren den rot-weiß gestreiften Helm, den er mir entgegenstreckt.
Wo hat er den nun wieder her?