Brandherz - Franziska Steinhauer - E-Book
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Brandherz E-Book

Franziska Steinhauer

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Beschreibung

Brandstiftungen in der Stadt Cottbus und dem Umland sorgen für Unruhe in der Bevölkerung. Niemand scheint vor dem Feuerteufel sicher. Als nach einem verheerenden Feuer eine Leiche in den Resten eines ausgebrannten Hauses gefunden wird, ist die Brandserie plötzlich ein Fall für die Mordermittler. Schon bald wird eine weitere Leiche entdeckt. Beiden Opfern fehlt das Herz. Peter Nachtigall kämpft sich durch einen Nebel aus Gerüchten und Spekulationen. Wird er weitere Opfer verhindern können?

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Franziska Steinhauer

Brandherz

Nachtigalls neunter Fall

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch die

Agentur Thomas Schlueck, Julia Aumüller

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von:

© Konstantin Yuganov / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4658-0

Prolog

»Nanu, Lilli. Willst du etwa schon nach Hause?«

Elisabeth nickte vage.

»Der Abend ist noch jung, ich denke, wir könnten Besseres damit anfangen, als jeder in seiner Bude zu sitzen und die Wand anzustarren.«

Das Mädchen überlegte – nur ganz kurz.

Streifte in Gedanken ihre Freundin, die genauso argumentierte, die immer der Meinung war, Stubenhocker verpassten im Grunde ihr gesamtes Leben – und schließlich wisse man ja nie, wann dieses Gesamte erreicht sei. »Wenn dich morgen die Straßenbahn überfährt, was hast du dann bisher erlebt? Also richtig wirklich erlebt?«, fragte sie gerne.

Der Typ war nett. Hatte sie vor ein paar Tagen beim Laufen unaufdringlich angequatscht. Keiner von diesen Draufgängertypen. Der redete nicht von Sex, sondern von Ausdauertraining, von gesunder Ernährung, von gemeinsamen Trainingseinheiten. Vielleicht war das ja einer zum Verlieben.

Außerdem hätte sie dann morgen etwas zu erzählen!

Sie schwang sich auf den Beifahrersitz.

»Siehst du, tut doch gar nicht weh!«, lachte er fröhlich. »Wo kommst du denn gerade her?«

»Bei McDonald’s gab es eine Rabattaktion.«

»Du warst allein dort?«

»Ja, ist ja nicht verboten!« Jetzt bereute sie schon, eingestiegen zu sein. Eine Inquisition hätte sie auch ohne ihn haben können.

»Missverständnis! Ich dachte, du triffst dich sicher ständig mit Freunden. Jemand wie du ist in der Regel mit einem ganzen Pulk unterwegs.« Er merkte sofort, dass er schon wieder ein Fettnäpfchen erwischt hatte, und begann hastig zu korrigieren: »Also, was ich sagen wollte, ist: Ein so nettes Mädchen wird bestimmt oft angerufen und gefragt, ob es Zeit für ein Date hat. Ich war nur erstaunt, nichts weiter«, zerknirscht sah er sie an. »Bist du schon mal nachts auf dem Reiterhof gewesen? Wenn die Pferde Lust haben, kann man sie auch ohne Sattel reiten. Wir müssen nur aufpassen, dass uns keiner erwischt. Wie wär’s damit?«

Lilli war schon versöhnt.

Ahnte nicht, dass sie sich sehr bald nichts sehnlicher wünschen würde, als bereits das gesamte Leben hinter sich zu haben.

1. Kapitel

Geht es Ihnen auch manchmal so?

Ich neige zum Träumen, immer und überall. Zu jeder Tageszeit. Ein Geräusch reicht aus, ein Geruch, eine Bewegung, die ich nur aus dem Augenwinkel wahrnehme, und schon drifte ich aus meiner Wirklichkeit davon. Nicht, dass ich es nicht verhindern könnte – aber warum sollte ich?

Es ist doch überaus angenehm.

Geht Ihnen auch so, stimmt doch?

Träumen Sie bei diesem Wegdriften davon, das schlagende Herz von jemandem zu halten, in Ihren eigenen Händen, während Sie gerade kommen, im Augenblick Ihres Orgasmus seinen allerletzten Schlag zu spüren?

Nein?

Ich schon.

Eigentlich täglich, stündlich – seit damals.

Sie träumen wahrscheinlich vom letzten oder dem nächsten Urlaub.

Ist in Ordnung, verstehen Sie mich nicht falsch. Jedem seine eigenen Fantasien! Und mir war früh klar, dass meine nicht dem entsprechen, was andere sich vorstellen. Deshalb habe ich von Anfang an gewusst, es ist besser, wenn ich mit niemandem darüber rede.

Ich erinnere mich lebhaft an das einzige Mal, als ich meinem besten Freund diese Frage zum Inhalt seiner und meiner Träume stellte. Doch der hatte mich so entgeistert angesehen, dass ich schnell behauptete, ich hätte irgendwo gelesen, man könne die Menschen mit solchen Fragen erschrecken. Alles nur ein Scherz, beruhigte ich ihn, er glaube doch nicht im Ernst … Tat er auch nicht.

Und ich erwähnte es nie wieder.

Doch seit jenem Tag beschäftigt es mich.

Das Tier war angefahren worden.

Möglicherweise hatte der Fahrer des Wagens den Zusammenstoß überhaupt nicht bemerkt.

Dem Hund war die Flanke aufgeschlitzt worden, die Innereien drängten aus dem Bauchraum.

Möglich, dass ich in einem ersten Impuls alles zurückschieben wollte.

Das Herz in meiner Hand schlug noch.

Es war geil, ich war geil, eine unvorstellbare Gier und Lust rissen mich von den Beinen, zuckten mich unkontrolliert über den warmen Asphalt.

Während ich kam, blieb das Herz stehen.

Wow!

Oh – habe ich bereits erwähnt, dass es mein Hund war? Nein? Ein Geschenk meiner Schwester, die meinte, ich könnte jemanden brauchen, der mir Halt gibt.

Natürlich will ich dieses Erlebnis seither gern wiederholen.

Es muss auch nicht mit einem Tier sein …

Mir genügt, wenn der Körper warm und irgendwie noch lebendig ist, wenn es passiert.

Es ist nur so, dass Menschen so furchtbar empfindlich sind.

2. Kapitel

Laut heulten die Sirenen unter dem Fenster entlang.

Das Blaulicht bewegte sich aufgeregt über die moderne Fassade des neuen Polizeigebäudes in der Juri-Gagarin-Straße.

Schon wieder!, dachte der Cottbuser Hauptkommissar Peter Nachtigall besorgt, ein neues Feuer wird für weitere Unruhe in der Stadt sorgen.

Michael Wiener schob seinen Kopf durch den Türspalt. »Schon wieder Feuerwehr! Hoffentlich hat nicht der Feuerteufel seine Finger im Spiel. So langsam fühlt sich niemand mehr sicher. Inzwischen gab es schon fast überall in der Stadt ein Feuer.«

»Der sechste Brand in den letzten zwei Wochen. Jeden zweiten Tag ein neuer Notfall. Was ein Glück, dass bisher niemand ernsthaft verletzt wurde. Die Zeitung berichtet natürlich ausführlich und schürt die Ängste der Leute.«

»Sie regt auch zu wilden Spekulationen an!«, meinte Wiener. »Marnie erzählte gestern Abend von den Gesprächen in der Krabbelgruppe. Unglaublich was für Vermutunge da an’gschtellt werde, des glaubsch du gar net.«

Nachtigall unterdrückte ein amüsiertes Schmunzeln. Ja, der Freund musste sich sehr aufgeregt haben, der Dialekt verriet seine emotionale Beteiligung. Der Cottbuser Hauptkommissar bedauerte, dass Michael sich das Badische so gut wie gar nicht mehr erlaubte. Hatte sich wohl abgeschliffen. Hier und da war mal ein einzelner Satz zu hören. Ihm persönlich fehlte es manchmal, in seinen Ohren klang es gemütlich. Nicht nur privat, auch sprachlich war der junge Kommissar offensichtlich in seiner neuen Heimat angekommen.

Einige behaupten, es sei eine Aktion gegen die Asylpolitik, einige halten es für einen Protest gegen die Fusion der Brandenburgischen-Technischen-Universität Cottbus mit der Fachhochschule Senftenberg. Eine der Mütter meinte, es ginge um finanzielle Interessen, es sei Versicherungsbetrug oder Immobilienspekulation.«

Wieder war das Geheul des Martinshorns zu hören.

»Ist was Größeres. Sie brauchen mehr Löschzüge«, murmelte Nachtigall beunruhigt, zurrte seinen Zopf etwas fester, als müsse er auf alles vorbereitet sein.

»Hoffentlich hört das bald auf«, sagte Wiener und zog sich einen Stuhl heran. »Bisher gibt es keine Zeugen, die jemanden im Vorfeld des Brandes bemerkt hätten. Was ja ungewöhnlich ist, jetzt, wo jeder misstrauisch geworden ist.«

»Jeder verdächtigt jeden, schiebt ihm Motive für die Brandlegung unter, fühlt sich vom Nachbarn beneidet, überwacht oder verfolgt. Langfristig entsteht ein ungemütliches Klima. Inzwischen glaubt doch niemand mehr an einen Zufall. Die Leute halten die Feuer für die Tat eines Einzelnen. Vielleicht liegen sie damit nicht falsch. Selbst die Zeitung spricht von einer Brandserie, sogar überregional wird schon berichtet. Würde mich gar nicht wundern, wenn hinter jedem zweiten Fenster einer mit Fernglas sitzt, um seine Nachbarschaft im Auge zu behalten – gern auch mit einem Nachtsichtgerät. Gab es neulich tatsächlich als Angebot im Baumarkt.«

»Das wären dann aber auch schlechte Zeiten für Einbrecher. Vielleicht kann man sogar später in der Kriminalstatistik diesen Knick nachweisen.« Wiener grinste.

Peter Nachtigall schlug eine Akte auf seinem Schreibtisch auf. »Ist eigentlich ein Vermisstenfall. Inzwischen schließen die Kollegen nicht mehr aus, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt«, informierte er seinen Kollegen. »Isadora Maler. Eine junge Frau mit exotischem Lebenswandel – das steht hier!«, rechtfertigte er sich, als er Wieners amüsiertem Blick begegnete. Er blätterte in der Handakte, rief parallel den Vorgang im Computer auf.

»Das ist der neunte Brand in diesem Monat«, Michael Wiener war beim letzten Thema hängen geblieben. »Wenn ein Einzeltäter dafür verantwortlich ist, muss er sehr geschickt vorgegangen sein. Er ist nie aufgefallen, war demnach lange vor Ausbruch der Flammen vom Tatort verschwunden. Ein Phantom.«

»Klar, fang du auch noch an. Bestimmt wissen Feuerwehr und Brandermittlung mehr als die Presse. Wir geben doch auch nicht alle Informationen preis. Phantom!«, schimpfte der fast zwei Meter große Mann laut, und Wiener zog unwillkürlich den Kopf ein. »Kümmern wir uns nun wieder um unseren Schreibtisch, ja?«

Wiener nickte, nahm die Akte vom Tisch.

»Sieh dir mal das Foto an! Die junge Frau ist ganz schön auffällig, ich verstehe, dass die Kollegen so schnell von einem Verbrechen ausgehen, wenn sie nirgendwo gesehen wurde.«

»Wie groß ist die Vermisste?« Wiener staunte. »Gut, auffällige Erscheinung ist gar kein Ausdruck. 1,80 Meter! Wenn eine so große Frau den Raum betritt, guckt doch jeder zweimal hin.«

Er tippte den Namen in die Maske ein und wartete darauf, dass der Computer nähere Informationen anbieten würde.

»Sie ist nicht zum ersten Mal verschwunden«, murmelte er dann. »Eigentlich ist sie regelmäßig auf und davon.« Seine Finger flitzten über die Tastatur. »Im Moment sind ziemlich viele Mädchen in dem Alter abgängig. Einige 17, andere erst 14. Da müssen viele Eltern in Aufregung sein. Marnie erzählte neulich, die Nichte ihrer Friseurin sei auch abgehauen. Gab Stress mit den Eltern – und weg war sie. Peggy oder Pamela oder so ähnlich. Sommer, Sonne …«

»Eigentlich ist wirklich nicht zu verstehen, dass niemand die junge Frau gesehen haben will …«, grübelte Nachtigall weiter über die auffällige Erscheinung nach und seufzte. »Isadora Maler ist seit über einer Woche verschwunden. Nach den Aussagen von Familie und Freunden gibt es keine Erklärung dafür. Im Protokoll steht, es habe weder privat noch am Arbeitsplatz irgendwelchen Ärger oder Schwierigkeiten gegeben. Einen aktuellen Freund gab es wohl zurzeit nicht.«

»Hm.« Wiener zückte sein schwarzes Notizbuch. »Wohin zuerst? Freunde? Familie? Arbeitskollegen?«

»Arbeitskollegen. Fragen wir mal nach dem ›exotischen‹ Lebenswandel!«

Nachtigall notierte sich die wichtigsten Adressen aus der Akte.

»Sie hat bis Anfang des Jahres in einer Boutique in der Innenstadt gearbeitet. Seit Februar räumt sie bei Netto am Sportzentrum Regale ein und sitzt an der Kasse. Dort fangen wir an.«

Er stand auf, zog seine Jacke von der Lehne des Schreibtischstuhls.

In diesem Moment klingelte das Telefon.

Wiener zuckte mit den Schultern und lief über den Gang in das gegenüberliegende Büro. »Ich hole nur meinen Pullover! Der liegt bei dir drüben.«

»Nachtigall!«

Wiener, der zurückkehrte, blieb in der Tür stehen. Registrierte die Veränderung, die in der Körperhaltung des Kollegen Ausdruck fand. Vielleicht würden sie nun doch zuerst ganz woanders hinfahren? Er konnte sehen, dass es eine Leiche gab.

»Wo?«

Schweigen. Angespanntes Klopfen mit dem Finger auf der Schreibtischplatte.

»Aha. Ja, aber können wir denn überhaupt schon …? Die Presse. Ich verstehe schon, natürlich. Wir sind auf dem Weg!«

Wiener zwängte seinen Kopf durch den Ausschnitt des Pullis, tastete in der Hosentasche nach seinem Dienstausweis, hatte schon den Autoschlüssel in der Hand, als der Hauptkommissar sich zu ihm umdrehte.

Schaulustige hatten sich versammelt.

Unzählige, so schien es Nachtigall.

Viel mehr, als Müschen Einwohner hatte. Direkt hinter dem Ortsschild war der Brandort leicht auszumachen. Nachtigall erinnerte sich; hier stand ein verfallenes Häuschen mit einem Schuppen auf einem verwilderten Grundstück. In diesem Jahr umzingelt von Mais. Teile des Daches vom Wind abgedeckt, offensichtlich kümmerte sich niemand mehr darum. Er wusste noch, dass er überlegt hatte, ob der Besitzer vielleicht verstorben war und die Erben sich nicht über die Verwendung des Anwesens einigen konnten.

Ein Fotograf blitzte in die Umgebung, offensichtlich im Versuch, die Stimmung vor Ort für die Leser seiner Zeitung einzufangen.

Entschlossen vertrat eine kräftige Frau mit eindrucksvoller roter Lockenpracht den beiden Ermittlern den Weg.

Nachtigall, der bei einer Größe von fast zwei Metern eine imponierende Schrittlänge und auf dem Weg zum Tatort ein forsches Tempo erreicht hatte, musste abrupt aus vollem Lauf stehen bleiben, hätte die Reporterin um ein Haar mit seinem Schwung rüde zu Boden gerissen.

»Guten Morgen, Herr Nachtigall. Sie hier? Das kann ja nur bedeuten, dass es um ein Tötungsdelikt geht! Vielleicht gar um Mord? Wir haben gehört, dass in diesem Haus eine Leiche gefunden worden sein soll. Können Sie bestätigen, dass man dem Opfer Organe entnommen hat?«, fragte sie atemlos. »Die Organmafia hat Brandenburg als neues Betätigungsfeld entdeckt?«

Nachtigall starrte die Frau missmutig an.

»Schön, dann wissen Sie mehr als ich. Wir werden uns erst mal ein Bild von der Situation machen. Es gibt weder eine Bestätigung von mir für einen Mord noch für irgendetwas anderes.« Er bemühte sich um einen freundlicheren Ton, als er fortfuhr: »Gedulden Sie sich ein Weilchen und wenden Sie sich dann an die Pressestelle. Sie wissen doch, wie das abläuft. Organe entnommen – was für eine sonderbare Idee.« Er schüttelte den Kopf und wandte sich an einen der Feuerwehrleute, der die Neugierigen vom Betreten des Geländes abhalten sollte. »Wer leitet den Einsatz hier?«

»Wolfgang Kerbel. Erster Hauptbrandmeister. Der dort drüben, der gerade den Helm abgenommen hat.« Der Mann hob das rot-weiße Absperrband ein wenig an, und die beiden Ermittler der Kriminalpolizei duckten sich darunter durch.

Nachtigall nickte zum Dank und schob sich zwischen Löschfahrzeugen, ausgerollten dicken Schläuchen und aus dem Haus geworfenem Inventar auf den Einsatzleiter zu. Die Hitze nahm dabei mit jedem Schritt zu.

Brandgeruch schwängerte die Luft, nahm ihm den Atem. Er hustete. Fuhr sich übers Gesicht, als wolle er Geruch und Hitze wegwischen.

»Stinkt wie verbrannte Autoreifen«, hörte er Wiener neben sich sagen. »Und Kunststoff.«

»Den Flammen ist es ziemlich egal, was sie erwischen. Die treffen keine gesundheitsfreundliche Auswahl«, brummte der Cottbuser Hauptkommissar grantig.

Feuerwehrmänner waren mit den Aufräumarbeiten beschäftigt, sammelten ihre Gerätschaften ein. Geschäftigkeit hing über dem gesamten Ort.

Der Einsatzleiter kam ihnen entgegen.

»Peter Nachtigall und Michael Wiener, Kriminalpolizei Cottbus. Sie sind Herr Kerbel?«

»Ja, das ist korrekt. Wir haben eine Leiche im Haus gefunden.«

Wiener zückte sein Notizbuch. »Eine Leiche. Männlich oder weiblich? Wie alt etwa?«

Der Hauptbrandmeister warf dem eifrigen Beamten einen sonderbaren Blick zu. Mitleid lag darin, aber auch eine große Portion Befremden.

»Ist das Ihre erste Brandleiche?«, erkundigte er sich.

Wiener dachte an den verkohlten Torso, den der Rechtsmediziner bei einem ihrer letzten Fälle aus einem Auto geborgen hatte, und schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Dann müssten Sie doch wissen, dass sich der Leichnam in den Flammen stark verändert. Ich kann keine Ihrer Fragen mit Sicherheit beantworten. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass der Körper eröffnet wurde. Möglicherweise wurden Organe entnommen. Letztlich bleibt auch hier eine Unsicherheit. Der Rechtsmediziner wird das klären können.«

»Der Oberkörper wurde eröffnet?« Nachtigall schluckte hart. »Fachgerecht?«

»Das kann ich nicht beurteilen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei er aufgeschlitzt worden.«

Kerbel setzte seinen gelben Helm wieder auf, klickte den Gurt unter dem Kinn ein.

»Der diensthabende Arzt ist auf dem Weg. Aber den lasse ich noch nicht in diese Ruine. Schließlich kann er dem Opfer nicht mehr helfen – und einen Eindruck vom Tatort braucht er vielleicht nicht unbedingt, oder?«

»Unser Gerichtsmediziner schon. Dr. Pankratz möchte immer gern die Auffindesituation sehen.«

Kerbel schüttelte verständnislos den Kopf. »Reicht ihm wohl nicht, was er an Grauen auf dem Seziertisch findet«, murmelte er leise.

Nachtigall hatte die Worte gleichwohl gehört: »Wir klären, ob ein Verbrechen vorliegt, jagen eventuell nach einem Mörder. Da ist der Gesamteindruck häufig entscheidend.«

»Ja. Schon gut«, blieb der Einsatzleiter knapp.

Ein Feuerwehrmann brachte zwei Helme für die Ermittler.

»Bitte aufsetzen. Folgen Sie mir dicht auf den Fersen. Fassen Sie nichts an. Es ist heiß und ungemütlich da drinnen. Möglicherweise stürzt etwas aus dem Dachbereich auf den Boden herab. Ist ja nicht mehr viel davon übrig, aber gefährlich ist es dennoch. Der Deckenbereich ist instabil. Also bleiben Sie aufmerksam, lehnen Sie sich nirgendwo an. Der Brandermittler ist vor Ort. Er wird aufpassen, dass wir keine Spuren verwischen.« Kerbel verzog genervt das Gesicht. »Ziehen Sie bitte diese Jacken an – und haben Sie vielleicht Stiefel dabei? Wenn nicht …«

Wiener flitzte zum Auto.

Seine edlen Lederslipper waren für ein mit Löschwasser überschwemmtes Haus sicher nicht das richtige Schuhwerk. Nachtigalls stabile Schuhe nahm er ebenfalls mit.

Wenig später waren die beiden Ermittler umgezogen und bereit, Kerbel zum Fundort der Leiche zu folgen.

»In der Zeitung wird darüber spekuliert, dass diese Brände eine Serie sein könnten. Ist da was dran – oder alles nur ein Gerücht?«, fragte Nachtigall, fühlte sich in der dicken Kleidung unwohl. Unbeweglich wie ein Astronaut, der Helm drückte und in der schweren Jacke staute sich die Hitze. Wurde schnell belastend.

Kerbel wiegte unglücklich den Kopf. »Tatsächlich sieht es aus wie eine Serie. Ist natürlich nicht ganz einfach festzustellen. Aber im Augenblick treibt jedenfalls ein Brandstifter hier sein Unwesen, der nach einem festgelegten Muster vorgeht.«

»Und dieser Brand? Passt der auch in das Muster?«

»Ich fürchte, die Antwort ist unbefriedigend. Ja und nein. Sieht so aus, als wäre er nach dem uns bekannten Muster vorgegangen, allerdings gab es bisher keine Opfer zu beklagen. Dieses wäre das erste.«

»Ein Versehen? Hört so jemand, der Todesopfer nicht eingeplant hat, dann eher mit dem Zündeln auf? Oder ist es so, dass es ihn gleichgültiger macht, und die Gefahr zunimmt, es könne noch mehr Tote geben?«, wollte Wiener wissen.

»Das kann man nicht vorhersagen. Kommt ja auf den Täter an. Seine Motivlage. Und darüber wissen wir bisher gar nichts.« Kerbels Miene verschloss sich.

»Gibt es kein Bekennerschreiben? Oder eine Art ›Grußnote‹?«

»Nein.«

Der Hauptbrandmeister stapfte entschlossen weiter, und die beiden Ermittler hatten Mühe, Schritt zu halten. Zogen bei jedem Tritt die Stiefel aus dem vom Löschwasser aufgeweichten Gartenboden.

»Es ist ja verführerisch, ein Feuer zu legen«, erklärte der Einsatzleiter. »Kleiner Aufwand, größtmögliche Wirkung. Was brauchen Sie schon dazu? Eine Schachtel Streichhölzer, ein Feuerzeug. Etwas, das beinahe jeder in der Tasche hat. Sie halten es an ein brennbares Material, und schon geht die Show los. Das Feuer wird entdeckt, jemand ruft die Wehren, Blaulicht, Wasser, Action – und alles lag in Ihrer Hand, es auszulösen, dauerte nur Sekunden. Das ist Macht!« Kerbel drehte sich kurz um. »Vorsicht! Die Scheiben sind geborsten – alles voller Scherben hier.«

Im Haus selbst bot sich ein Anblick der Verwüstung.

Teile des Dachgeschosses waren eingestürzt, große Holzbalken hatten sich bis in den Wohnbereich gebohrt, Nebel waberte durch die Räume, der Brandgeruch und die schwüle Hitze wurden unerträglich. Die Holzkon­struktion ächzte und stöhnte, als wolle sie sich wegen der boshaften Behandlung beklagen. Deckenbalken lagen wie Treibgut durcheinandergeworfen in ihrem Weg, Möbel versperrten den Zugang, alles war von Wasser durchtränkt, Tropfen fielen den Ermittlern in den Kragen, liefen am Genick entlang über den Rücken.

Wiener schüttelte sich.

»Ist nicht giftig«, erklärte Kerbel beruhigend. »Kommt ja vor. Gibt sogar gelegentlich Todesfälle durch kontaminiertes Löschwasser. Aber wir haben das natürlich gecheckt. Keine Sorge.«

»War das Haus überhaupt bewohnt?«, erkundigte sich Nachtigall und sah sich skeptisch um.

»Darüber sind sich die Leute aus dem Ort nicht einig. Wie auch immer: Wenn überhaupt, dann hat hier nur sporadisch jemand gehaust. Ein paar aus der Gruppe der Schaulustigen draußen erwähnten einen Obdachlosen, der bei miesem Wetter hier übernachtet. Es gibt keine Küche, der Strom war abgestellt, Wasser konnte man aus einem eigenen Tiefbrunnen bekommen. Als dauerhafte Bleibe war es wenig geeignet. Schon vor dem Brand soll der Zustand baufällig gewesen sein.«

»Wem gehört es?«

»Das ist noch zu klären. Die Gemeinde muss ja Auskunft darüber geben können. Wir waren mit Löschen beschäftigt.«

Nachtigall schnupperte. »Riecht nach Benzin – oder?«

»Zumindest ist der Geruch nach einem Brandbeschleuniger deutlich wahrnehmbar, ja. Wir gehen schließlich nicht ohne Grund von Brandstiftung aus.« Kerbels Ton war aggressiv. Nachtigall fragte sich, ob es einen besonderen Grund dafür gab, dass der Einsatzleiter so angefasst reagierte, wenn das Thema Brandstiftung aufkam.

»Analyse kommt – ein bisschen Zeit brauchen wir dazu«, setzte der Einsatzleiter einen Hauch freund­licher hinzu. Möglicherweise hatte er selbst bemerkt, wie unangemessen seine Reaktion ausgefallen war.

Sie traten in den angrenzenden Raum.

Dort stand schon ein anderer Besucher.

Nachtigall zuckte zurück, erkannte dann aber den Brandermittler der Polizei.

»Na, auch schon da!«, begrüßte sie Hannes Schönhaus griesgrämig. »Geht ja hier zu wie im Taubenschlag. Das ist ein Tatort. Alle trampeln herum, wie sie gerade lustig sind!«

Kerbel zog den Kopf zwischen die Schultern. »Hier wurde eine Leiche gefunden. Da ist es logisch, dass sich an diesem Brandort mehr Leute aufhalten als gewöhnlich.«

»Herr Kerbel! Ihre Leute haben Veränderungen vorgenommen, die nicht notwendig waren. Das erschwert meine Arbeit zusätzlich. Und lassen Sie gefälligst alles liegen, was rausgeworfen wurde. Ich will wissen, wo die Möbel ursprünglich ihren Platz hatten!«

»Ja, das habe ich schon angewiesen. Wir mussten davon ausgehen, dass sich eventuell jemand im Haus aufhält. Rettung hat bei uns immer höchste Priorität.«

»Der einzige Mensch in diesem Haus war tot.« Schönhaus gab sich keine Mühe, seine schlechte Laune zu verbrämen. Erst jetzt schien ihm aufzufallen, dass die beiden Ermittler auf den Körper starrten, der auf dem Sofa lag.

»Ja. Unsere Leiche. Im Grunde liegt sie so, wie man es von einem Schlafenden erwarten würde. Unter dem Kopf ein Kissen mit wahrscheinlich wollenem Bezug, über die Beine war etwas Breites gelegt worden. Was es genau war, lässt sich natürlich noch nicht mit Sicherheit sagen, aber es wäre gut möglich, dass eine Art Decke benutzt wurde. Sieht so aus, als habe sie sich eingebrannt – wahrscheinlich war sie aus einem Kunstfasergewebe.« Der Brandermittler klang bekümmert. »Die Körperhaltung insgesamt ist ungewöhnlich. Normalerweise finden wir Brandleichen in einer typischen Position – wir nennen sie Fechterstellung.« Er demonstrierte, was er damit meinte: angezogene, im rechten Winkel gebeugte Arme und Beine. »Das ist in diesem Fall nicht zu erkennen. Vielleicht war der Leichnam nicht frisch, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es deutet tatsächlich nichts darauf hin, dass das Opfer versucht hätte, dem Inferno zu entkommen.«

Inferno, hallte es in Nachtigalls Kopf nach, genau danach sieht es hier aus. Seine Augen tasteten sich über die Wände und den Boden. Die Decke über ihren Köpfen war schwarz, diese Verfärbung zog sich über die Wände abwärts.

»Ceiling Jet«, erklärte Kerbel, der dem Blick des Hauptkommissars gefolgt war. »Der Rauch steigt auf, klebt unter der Decke und sinkt nach unten. Tödlich.«

»Oberflächlich betrachtet: Der Brustkorb ist ihm sauber aufgeschlitzt worden – entlang der Rippe. Geborsten sieht anders aus. Der Schädel zertrümmert, Fragmente liegen keine herum, was aber nicht bedeuten muss, dass es keine gab!« Ein giftiger Ausdruck verzerrte die Züge des Brandermittlers. »Die Feuerwehr …«

»Jaja«, seufzte Kerbel, drehte die Augen gen Himmel. Offensichtlich führten die beiden Männer diese Diskussion seit Langem.

Wiener konnte seinen Blick kaum von dem schwarzen Körper lösen.

Interessiert beugte er sich vor.

In Nachtigalls Magen rumorte es leise und lästig. Es wurde schlimmer, wenn er sich vorstellte, das Opfer sei bei lebendigem Leibe verbrannt worden.

»Wäre es denkbar, dass das Opfer zu betrunken war, um das Feuer zu bemerken?«, krächzte er, räusperte sich dann und versuchte, eine professionelle Miene zustande zu bringen.

»Dann handelte es sich wohl nicht um einen Rausch, sondern um ein alkoholisches Koma«, lachte der Brandermittler rau.

Und Kerbel mischte sich rasch ein: »Ehrlich gesagt, es wird wohl doch so sein, dass jemand hier einen Toten verbrannt hat. Brandmord also. Ein Vertuschungsversuch vielleicht? Zum nächsten Haus ist es ein Stück – aber der Täter hätte nicht sicher sein können, dass etwa ein gefangengehaltenes lebendiges Opfer es nicht doch zur Tür raus schafft, gerettet werden kann und bei der Polizei Aussagen zum Tathergang machen kann.«

»Zu gefährlich, denken Sie?«, hakte Nachtigall nach.

»Nun, wenn das ein geplanter Mord sein sollte, dann schon.«

»Hm«, brummte Nachtigall. »Der Brustkorb wurde eröffnet? Das bedeutet auf jeden Fall, dass er nicht allein war, als er starb. Oder gehen Sie davon aus, dass all diese Manipulationen nach dem Tod des Opfers vorgenommen wurden?«

Schönhaus wiegte seinen gesamten Oberkörper hin und her. »Ehrliche Antwort?«

»Sicher.«

»Ich weiß es nicht. Ihr Rechtsmediziner wird mehr dazu sagen können. Im Moment kann ich nur feststellen, was offensichtlich ist. Eine Leiche, es hat gebrannt, der Schädel weist einen großen Defekt auf, was entweder durch Gewalteinwirkung oder die Hitze des Feuers entstanden ist. Dieser Mensch konnte sich nicht mehr bewegen, als das Feuer ausbrach. Entweder war er bereits tot – was ich annehme – oder stark narkotisiert oder bewusstlos infolge von Alkoholeinwirkung oder Barbituratgebrauch – oder beidem. Wenn Sie mal hier hinsehen«, lud Schönhaus den Hauptkommissar ein und ging neben dem Kopf des Opfers in die Knie. »Wenn Feuer auf jemanden zuwalzt, der lebt, kneift er automatisch die Augen fest zusammen. So verbrennt die Haut zwischen den Falten nicht – zieht man sie bei der Begutachtung der Leiche ein wenig glatt, erkennt man Krähenfüße. Die fehlen. Natürlich habe ich den Körper nicht angefasst oder bewegt, ich weiß ja, dass ich mich zurückhalten muss.« Wieder warf er Kerbel einen zornigen Blick zu, der bedeuten sollte, die Feuerwehr sei eher nicht um Spurensicherung bemüht, sondern einseitig mit Löschen befasst. »Die Analyse des Rechtsmediziners wird klären müssen, warum dieser Mensch nicht fliehen konnte.«

Der Brandermittler wies auf die Wand hinter dem Sofa. »Es gibt mehrere Brandherde. Einer befindet sich direkt hier. Der Geruch des Brandbeschleunigers ist deutlich wahrnehmbar. Nun frage ich Sie: Warum sollte jemand Barbiturate bis zum Anschlag einwerfen, dann Brandbeschleuniger ausschütten, das Haus anstecken und sich danach seelenruhig aufs Sofa legen und darauf warten, dass das Schlafmittel wirkt, bevor die Flammen ihn erreichen? So wie es auf den ersten Blick aussieht, hat es besonders unter dem Kopfteil des Sofas gebrannt. Da legte er sich hin, schob das Kissen womöglich noch ein wenig zurecht? Direkt darüber? Das erscheint schon vom Tatablauf her nicht recht logisch – oder? Und es erklärt gar nicht, wie er sich den Brustkorb eröffnet haben will. Ein großes Messer liegt hier jedenfalls nicht.« Seine Augen suchten Kerbel, bekamen einen kalten Ausdruck. »Oder hat etwa die Feuerwehr …?«, zischte er dann böse.

»Nein. Meine Leute haben nur brennbares Material …«, Der Hauptbrandmeister zuckte mit den Schultern.

»Wenn hier ein Blutsee war, wurde er vom Löschwasser weggespült. Vielleicht können Ihre Leute ja mal mit Chemie drübergehen und versuchen, ob sich noch was feststellen lässt.« Das Gift in der Stimme von Schönhaus war nicht zu überhören. »Luminol findet möglicherweise noch was. Trotz der widrigen Umstände.«

»Gibt es irgendeinen Hinweis auf die Identität des Opfers?«, lenkte Nachtigall den Fokus der beiden Streithähne auf einen neuen Aspekt.

»Die Kleidung ist weitestgehend verbrannt. Es finden sich hier und da verbackene Reste. Möglich, dass ein Personalausweis in einer der Taschen steckte, aber von dem ist mit Sicherheit nichts mehr übrig.«

Wiener trat zur Seite und informierte telefonisch Dr. März, den Staatsanwalt, der in der Regel ihre Ermittlungen leitete. Nachtigall wäre bestimmt sehr erleichtert, wenn Dr. Pankratz für die Obduktion zur Verfügung stünde, der Staatsanwalt würde sicher nachfragen, ob der Rechtsmediziner abkömmlich sei. Die Zusammenarbeit mit dem asketischen Mediziner aus Potsdam hatte sich in den letzten Jahren als sehr erfolgreich erwiesen.

Der Erkennungsdienst wartete bereits draußen, das konnte Wiener durch eines der Fenster sehen. Er seufzte. Kein einfach zu bearbeitender Tatort für die Kollegen.

»Peddersen und sein Team sind schon da«, teilte er Nachtigall mit. »Dr. März kümmert sich um den Rechtsmediziner.«

»Dr. Pankratz wird sicher zum Tatort kommen und die Leiche hier in Augenschein nehmen wollen. Sperren Sie bitte alles ab, tragen Sie Sorge dafür, dass außer dem Erkennungsdienst und der Staatsanwaltschaft niemandem Zutritt gewährt wird. Unsere Leute werden Fotos machen und versuchen, Spuren zu sichern. Herr Schönhaus, würden Sie bitte vor Ort bleiben?«

»Logisch!«, versicherte der schwere Mann und strich über seinen ausladenden Bauch. »Ich suche ja auch. Beweise für die Brandstiftung müssen gesichert werden. Nur was gut dokumentiert wurde, taugt vor Gericht für eine Verurteilung des Täters – sollten wir ihn fassen. Und so habe ich auch gleich ein wachsames Auge auf Ihre Leute.« Er beugte mühevoll die Knie, ächzte laut und fotografierte eine Metalldose mit Schloss, die neben dem Sofa auf dem Boden stand. Der Lack war abgeplatzt, an manchen Stellen von den Flammen abgenagt. Wiener streckte die Hand aus, wollte sie öffnen, doch ein »Halt!«, das wie ein Pistolenschuss klang, ließ ihn in der Bewegung innehalten. »Junger Mann! Ich verstehe Ihre Neugier! Aber das ist Metall. Es ist ganz gewiss noch heiß. Und! Sie tragen keine geeigneten Handschuhe.«

Das Gesicht des Kommissars lief puterrot an.

»Danke«, presste er hervor. Doch als er die Hand in die Nähe der Kiste hielt, stellte er fest: »Richtig heiß ist sie aber nicht. Seltsam. Stand die wirklich die ganze Zeit hier im Feuer?«

Schönhaus schob seine Pranken in dicke Handschuhe und nestelte am Verschluss der Kiste. »Mist, verschlossen!«, schimpfte er, als sei das eine Unverschämtheit des Täters, die sich gegen ihn persönlich richtete. Dann zog er eine Hand aus dem Handschuh, angelte aus seiner Jackentasche einen Bund unterschiedlichster Dietriche. »Stimmt, nicht einmal warm.«

Peddersen bog mit seinem Team um die Ecke, erkannte auf den ersten Blick, was der Brandermittler vorhatte. »Nicht!«

Schönhaus zuckte zurück.

»Wir werden dieses Schloss öffnen – aber auf unsere Weise. Ohne irgendwelche Artefakte zu setzen!«

»Artefakte«, schnaubte der Brandermittler beleidigt. »Was wollen Sie schon mit diesem Schloss hier beweisen?«

Peddersen warf dem Kollegen einen kalten Blick zu. »Finden wir später einen Schlüssel bei einem Tatverdächtigen, können wir beweisen, dass er zu diesem Schloss gehört. Wenn sich kein Laie daran zu schaffen gemacht hat. Wie Sie sehen, wurde das ursprüngliche Schloss gegen ein hochwertigeres ausgetauscht. Diese Veränderung hat möglicherweise der Täter vorgenommen, der den Inhalt besonders gut schützen wollte. Deshalb …«

»Jaja. Schon gut. Ich mache meine Arbeit auch gern gründlich«, maulte Schönhaus.

»Diese Kiste passt nicht hierher«, stellte Nachtigall fest. »Alles alt und ramponiert, kein Strom, kein Wasser, keine Heizung, keine privaten Gegenstände – aber eine kleine Metallkiste? Für einen Schatz?«

Einer der Feuerwehrmänner, der offensichtlich die Worte im Vorbeigehen bis in den ehemaligen Garten gehört hatte, kam ins Haus und trat zu der Gruppe. »Ja, die passt nicht her. Vielleicht gehörte sie dem Opfer – oder der Täter brachte sie mit. Sie stand draußen, hat nur relativ wenig von dem Feuer abgekriegt. Wir haben sie reingebracht, weil hier so viele neugierige Leute rumschwirren. Sicherungsmaßnahme.«

»Noch eine Veränderung! Kerbel, Ihre Leute sollen ganz genau aufschreiben, was sie aus dem Haus gebracht oder hineingetragen haben! Das ist doch nicht zu fassen!« Schönhaus sah plötzlich sehr ungesund aus. Sein rotes Gesicht wurde blaustichig.

»Jetzt regen Sie sich doch nicht so auf!«, mahnte der Einsatzleiter. »Wir schreiben alles auf. Und mein Mann hat es richtig gemacht! Eine verschwundene Metallkiste nützt Ihnen gar nichts für Ihre Ermittlung.«

Schon schwärmten Peddersens Leute in den weißen Schutzanzügen durchs Haus, nahmen hier und da Proben, liefen geschäftig durch die wenigen Räume.

»Vorsicht! Ich denke, man hat Sie darüber informiert, dass durchaus Einsturzgefahr besteht, oder?« Kerbels Stimme überschlug sich in einem nervösen Diskant.

»Aber ja. Wir werden schon nichts kaputt machen«, beruhigte ihn Peddersen und gab eine Reihe von Anweisungen an sein Team. »Dies ist nicht der erste Tatort, an dem es gebrannt hat. Wir wissen, wie man vorgeht.«

Nachtigall nickte Wiener zu. »Michael, wir gehen. Im Moment können wir hier nichts Neues mehr in Erfahrung bringen.« Er verabschiedete sich von Schönhaus und informierte Peddersen darüber, dass Dr. Pankratz eintreffen würde, die Leiche bis dahin nicht bewegt und der Raum nicht verändert werden dürfte.

»Das ist klar. Wir gehen vorsichtig ans Werk – wie immer!«

Kerbel begleitete die beiden Ermittler nach draußen. Leitete sie durch das noch immer herrschende Chaos zu einem der Löschfahrzeuge, wo sie die Helme und Jacken abgeben konnten. Dann brachte er sie zu ihrem Wagen zurück.

Wiener warf das feste Schuhwerk in den Kofferraum.

Nachtigall spürte, dass dem Einsatzleiter etwas auf der Seele lag.

Statt einzusteigen, wartete er schweigend neben Kerbel, starrte auf das noch immer dampfende und qualmende Häuschen.

Plötzlich räusperte sich der Hauptbrandmeister, fuhr mit den Händen durch sein spärliches Haar, das unschön an diversen Stellen kreisrund auszugehen begann.

»Hören Sie«, begann er dann, »Sie wissen ja schon, dass wir von einer Serie ausgehen müssen, einem Serienbrandstifter. Aus verschiedenen Gründen nehmen wir an, dass es sich um einen Einzeltäter handelt. Das Schlimmste aber ist, dass wir nicht ausschließen können, dass es sich dabei um einen aus unseren Reihen handelt.«

»Einen Feuerwehrmann?«

»Ja. Am ehesten von der freiwilligen Wehr. Die durchleuchten Bewerber längst nicht so gründlich wie wir von der Berufsfeuerwehr. Beim vorletzten Brand wurde von Zeugen eine Person beobachtet, die sich in der Nähe des Tatorts aufhielt – kurz bevor das Feuer für alle erkennbar ausbrach. Man beschrieb einen jungen Mann, etwa 1,80 Meter groß, mit lockigem dunklem Haar, sehr schlank. Christoph Harder. Auf ihn passt diese Beschreibung perfekt. Er hatte zur Zeit des Brandes angeblich eine Prüfung. Irgendeine Klausur, und war freigestellt. Deshalb hat ihn auch niemand angerufen, obwohl wir sonst auf solche Umstände nicht immer Rücksicht nehmen können.«

»Und nun halten Sie es für möglich, dass dieser Christoph Harder für alle Brände der letzten Wochen verantwortlich ist?«

Kerbel sah sehr unglücklich aus. »Er ist ein ausgesprochen engagierter Feuerbekämpfer, nimmt seinen Auftrag sehr, sehr ernst. Mutig, aber nicht leichtsinnig. Entschlossen, aber nicht dämlich. Sie verstehen schon. Und natürlich weiß er gut über Brandstiftung Bescheid. Das gehört selbstverständlich zur Ausbildung. Ich würde es wirklich bedauern, wenn sich der Verdacht gegen ihn erhärtete – eigentlich wollte ich ihm vorschlagen, zur Berufsfeuerwehr zu wechseln.«

»Außer der Beschreibung spricht nichts für ihn als Täter? Haben Sie nachgefragt, ob er an der Prüfung teilgenommen hat?«, forschte Nachtigall.

»Nein, wir haben nicht nachgehakt. Auch bei ihm selbst nicht. Wir wollten ihn nicht aufschrecken, falls er der Täter ist. Wissen Sie, wenn man erst mal einen kritischen Blick auf jemanden geworfen hat, entdeckt man plötzlich immer mehr Momente, die ihn verdächtig erscheinen lassen. So fällt schon auf, dass er ausgesprochen zurückhaltend ist, nur wenige Freunde hat und nicht so wirkt, als strotze er vor Selbstbewusstsein. Sein großes Hobby ist Kampfsport. Das ist auch ein Sport, bei dem man sich durch Mut und Einsatzfreude in Szene setzt.«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Durch besonderen Einsatz am Brandort fällt man auch auf. Wird vielleicht sogar in der Presse lobend erwähnt – Artikel mit Foto. Hm, ist denkbar. Aber es muss nicht so sein. Möglich wäre doch auch, dass ihm die Bestätigung durch den sportlichen Erfolg ausreicht. Wir werden der Sache nachgehen. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Wir brauchen …«

»Es ist ein ewiger Zankapfel«, unterbrach ihn Wolfgang Kerbel. »Von jeher fordern wir, dass die freiwilligen Wehren sich ihre Bewerber gründlicher ansehen, ihr Leben durchleuchten. Aber die Leute sind knapp, und so glauben manche Zugführer, einige der Falten in der Biografie könnten sie mit Training und Schulung schon ausbügeln. Bei uns sind die Kriterien viel strenger, ein Grund, warum sich manch einer bei uns gar nicht erst bewirbt. Weil er nämlich mit Sicherheit davon ausgehen muss, dass er keine Chance hat. Brandstiftung im Kindesalter oder Kokelei mit anderen Jugendlichen sind nichts, was man übersehen darf, ebenso wie schwaches Selbstkonzept, seltsame Liebe zum Feuer.«

»Nun, aber das bedeutet nicht, dass Sie Ihre Leute von jedem Verdacht ausnehmen können, oder? Gibt es denn Hinweise auf andere Feuerwehrmänner? Ist jemand aufgefallen?«

Kerbel sah auf seine Stiefelspitzen. »Probleme gibt es gelegentlich. Persönliche Krisen. Ich frage mal nach und leite die Informationen an Sie weiter«, versprach er dann leise.

»Wir brauchen die Namen der Zeugen, die den lockigen Mann beobachtet haben. Dies ist jetzt eine Mordermittlung.«

»Das ist eben der Unterschied, den ich nicht verstehe. Alles deutet darauf hin, dass die Brandlegung nach bewährtem Muster erfolgte. Aber bisher hat der Täter nur Häuser und Schuppen in Brand gesetzt, die garantiert unbewohnt waren. Er ist nicht das Risiko eingegangen, jemanden in Gefahr zu bringen. Warum ist es diesmal anders?« Kerbel zog einen Zettel aus der Innentasche seiner Jacke. »Christoph Harder, Querstraße, direkt am Waldrand«, sagte er und reichte ihn an Nachtigall weiter. »Wenn Sie seine Akte brauchen, reiche ich die nach.«

»Wir wissen noch gar nichts. Auch nichts darüber, was dieser Mensch dort drinnen vor seinem Tod erleiden musste«, antwortete Nachtigall und ahnte nicht, wie sehr er sich bald wünschen würde, nie etwas davon erfahren zu haben.

3. Kapitel

Der Bildschirm flackerte.

Scheiße, dachte der junge Mann, wahrscheinlich macht die Grafikkarte bald schlapp.

Körnig baute sich ein Bild auf.

»Nun mach schon!«, drängte er. »Ist doch nur ein ganz kurzes Video. Los, trau dich endlich!«

Nichts passierte.

Der Computer ließ sich zu Dienstleistungen nicht pushen.

Der hatte die Ruhe weg – ganz anders als der User.

Christoph schob sich mit beiden Haaren die dichten Locken aus dem Gesicht.

Seufzend kappte er die USB-Verbindung zwischen seinem neuen Spielzeug und dem Rechner, fuhr den PC runter, atmete tief durch und startete ihn erneut.

Als er diesmal den USB-Stecker in den Hub schob, gelang die Verbindung auf Anhieb! Begeistert beugte er sich nah zum Monitor, um nur kein Detail zu verpassen.

Das Fluggerät war bemerkenswert stabil in der Luft geblieben. Selbst dann noch, als er es in die Nähe der Flammen gesteuert hatte, die durch die hitzebedingten Luftbewegungen heftiger wurden. Fasziniert starrte Christoph in das Feuer, registrierte die Farben, die beim Brand entstanden.

Grün! Er versuchte sich zu erinnern, welches Element diese giftig wirkende Farbvariante erzeugte. Chlor? Wo war das denn hergekommen? Unglaublich: Grüne Flammen züngelten über den Bildschirm, wechselten zu Orange und kehrten zu Grün zurück.

Das ›Flugzeug‹ driftete leicht vom Brandherd weg. Zeigte das Gebäude in der Totale. Flammen schossen aus den Fenstern, fraßen sich in Fensterbretter und Rahmen, hatten innerhalb kürzester Zeit alles Holz in der näheren Umgebung weggenagt.

Der junge Mann fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, auf dem er die Hitze des Brandes zu spüren glaubte, kühlte mit den Handrücken seine Wangen.

Plötzlich brach das Video ab.

»Scheiße! Ein bisschen länger hättest du schon durchhalten können. Gerade an der spannendsten Stelle! Mann!«, fluchte der Oberfeuerwehrmann, der nun nicht sehen würde, wie das morsche Gebäude krachend in einem Meer aus sprühenden Funken in sich zusammenstürzte. Er schloss die Augen und rief seinen Erinnerungsfilm auf. Bis der Schuppen sich auf einen Haufen glühender Balken und Asche reduziert hatte.

4. Kapitel

»Und nun?«

Nachtigall wollte gerade antworten, da störte sein Handy.

»Ja, Nachtigall!«, meldete er sich nach einem kurzen Blick auf das Display.

»Kerbel noch mal. Einer meiner Männer hat eine Kette im Gras gefunden. Sieht nicht so aus, als läge sie dort schon lange. Goldkettchen mit Medaillon. Außen gibt es eine Gravur: ›Für meine liebe Tochter Lilli‹. Vielleicht hilft das bei der Identifizierung des Opfers.«

»Danke. Bitte geben Sie die Kette an unser Team weiter. Wir suchen mal, auf welche vermisste Person der Kosename Lilli passen könnte.«

Wiener sah Nachtigall fragend an: »Lilli? Liliane, Liese, Lisbeth …?«

»Na dann. Suchen wir in der Datensammlung.«

Wiener steuerte den Wagen auf die Straße zurück.

»Was mag nur in der Kiste sein? Wenn sie dem Täter gehörte, finden wir vielleicht wichtige Hinweise auf ihn darin?«

Nachtigall meinte: »Wenn sie Hinweise auf ihn enthalten sollte, hätte er sie doch nach dem Inbrandsetzen mitgenommen. Ich fürchte, wir werden etwas ganz anderes darin finden. Er wollte, dass sie vom Feuer verschont bleibt, sonst wäre sie im Haus gefunden worden und nicht in sicherer Entfernung.«

»Vielleicht war es notwendig, erst die Kiste und die Materialien für seinen Brand auszuladen, um dann die Leiche aus dem Kofferraum oder Anhänger zu hieven. Als das Feuer in Gang kam, musste er eilig verschwinden, möglicherweise ist ihm der Zeuge aufgefallen, der zu der Zeit unterwegs war. Er hat sich aus dem Staub gemacht und die Kiste vergessen«, schlug Wiener ein anderes Szenario vor.

»Wozu den Brustkorb aufschlitzen?«, grübelte Nachtigall. »Wenn er tatsächlich Organe entnommen hat – was wollte er damit?«

»Essen«, schlug Wiener trocken vor.

Der Freund schüttelte sich. »Essen? Menschliche Innereien?«

»Wer weiß, wäre doch möglich, er glaubt, er müsse das tun. Kannst du dich noch an den Typen erinnern, der meinte, er müsse menschliches Fleisch verzehren, weil er sich sonst auflösen würde? Außerirdische sin au mit im Spiel gewese. Die händ ihm ein Zeichen gebe, wenn es so weit gewese isch un er nachlege musst.«

»Ja, ich erinnere mich. Ein Beispiel aus der forensischen Psychiatrie, von dem man uns erzählt hat. Das war überhaupt ein sehr sonderbarer Fall, nicht nur dieses Kannibalen wegen. Seit dieser Zeit lebt Casanova bei mir.«

Wiener grinste. »Der verwöhnte Kater, der dir beim Lösen der Fälle behilflich ist!«

Im Büro angekommen, stellte Nachtigall fest, dass sich auf seinem Schreibtisch bereits die Berichte der Feuerwehr zu den Brandeinsätzen der letzten Wochen türmten.

»Wenn wir den Täter nicht schnell finden, kann ich bald nicht mehr über den Stapel rübersehen«, maulte der Hauptkommissar und schlug die erste Akte auf. »Hm.«

Wiener loggte sich ein und suchte in der Liste der vermissten Personen nach jemandem, den die Eltern Lilli genannt haben könnten.

Er wurde rasch fündig.

»Elisabeth Schandtke, genannt Lilli. Die Kollegen haben einen detaillierten Bericht eingestellt. Also: Die Familie wohnt in der Pestalozzistraße. Die Tochter Elisabeth ist gerade volljährig geworden, ihre große Schwester lebt im Ausland. Die ältere Tochter der Familie war eine Woche nicht erreichbar, offenbar auf einem Survivaltrip, rief nach ihrer Rückkehr aber die kleine Schwester an. Konnte sie nicht erreichen, die aufgeregten Eltern wussten auch nicht, wo das Mädchen sein könnte. Alle Anrufe bei Bekannten und Freunden blieben ergebnislos. Die Eltern meldeten Elisabeth als vermisst. Unklar ist allerdings, seit wann genau sie nicht mehr nach Hause gekommen ist. Offenbar ist sie sehr selbstständig, meldet sich nicht ab und gibt nicht Bescheid, wenn sie wieder zurück ist. Gelegentlich übernachtet sie für ein paar Tage bei Freunden – man macht sich nicht gleich Sorgen, wenn sie nicht beim Frühstück auftaucht«, fasste er die Informationen zusammen, drehte den Monitor um. »Das ist sie.«

Nachtigall schluckte trocken. Hustete. Wollte sich nicht vorstellen, dass aus diesem hübschen Mädchen mit den langen dunklen Haaren und den strahlenden Augen das schwarzverkohlte Opfer geworden war, das er vor wenigen Stunden gesehen hatte.

»Mein Gott. Wie sicher sind wir?«

»Gar nicht. Wir bräuchten schon die Kette, um die Eltern befragen zu können.«

»Da komme ich wohl gerade recht!«, verkündete eine jugendliche Stimme auf dem Gang. Verblüffte Blicke huschten über die Schreibtische. Wiener hob ratlos die Arme.

»Herr Peddersen schickt mich. Er meinte, Sie bräuchten sicher das Beweismittel so schnell wie möglich. Die Sache dort in Müschen gestaltet sich schwierig. Aber egal, Peddersen setzt sich am Ende immer durch. Ach, Dr. Pankratz hat sich bei uns gemeldet. Er ist in etwa einer halben Stunde vor Ort. Danach nimmt er das Opfer sicher gleich mit und wir haben freie Bahn.« Der Kollege lachte breit und übergab einen Beweismittelbeutel an Nachtigall.

»Das Medaillon!«, freute sich der Hauptkommissar.

»Yupp. Ich muss wieder los!« Sprachs, und schon war der junge Mann über die halbe Länge des Ganges, als Nachtigall die Tür erreichte.

»Ein herzliches Dankeschön! Das war genau im richtigen Moment!«

»So, komm! Wir fahren bei den Eltern vorbei, und haben wir dort kein Glück, versuchen wir es bei der Schwester«, forderte er den jungen Kommissar auf.

Wiener beeilte sich, hinter dem Schreibtisch vorzukommen, und lief dem Freund hinterher.

»Die Schwester lebt dauerhaft im Ausland«, erinnerte sich Wiener.

»Das Medaillon wurde draußen im Gras eher zufällig entdeckt. Ist es beim Transport der Leiche verloren gegangen? Oder ist das ein absichtsvoll gegebener Hinweis?«

»Wenn er uns eine Kiste zurücklässt, warum dann nicht auch einen Anhänger?«, antwortete Wiener.

»Doch dann hätte er die Kette auch in die Kiste legen können, oder? Immerhin bestand ja bei dem Großeinsatz der Feuerwehr die Gefahr, dass Räder den Anhänger tief in den Boden drücken und wir ihn nie finden.«

»Er hat es dem Zufall überlassen? Meinst du das? Gottes Urteil, Wink des Schicksals? Vielleicht gehört die Kette einem Mädchen aus der Nachbarschaft, das sie dort verloren hat. Dann ist das Medaillon nichts weiter als eine tote Spur.«

»Diese Kette ist nicht eine von den modernen. Das Medaillon sieht nach Handarbeit, nicht nach Massenfertigung aus. Wir fragen einfach nach.«

Das schmucke, imposante Einfamilienhaus lag inmitten eines Gartens, in dem es üppig blühte.

Die weiße Fassade leuchtete in der Sonne, die polierten Fensterscheiben schienen den ungebetenen Besuchern einladend zuzublinzeln. Zwei Etagen, offensichtlich alle Räume bewohnt, registrierte Nachtigall berufsneurotisch. Unter dem Mansardgiebeldach zierte ein halbrundes Fenster die Fassade, über dem Eingang spannte sich ein Rundbogen.

Gelbe und rosa Blüten im Überfluss. Nach hinten begrenzte den Garten eine begrünte Mauer, die den Eindruck von Regenwald verstärkte. Es hätte Nachtigall nicht gewundert, Papageien aus dem Bewuchs flattern zu sehen. Ein Gartenparadies.

Ein wenig schuldbewusst dachte Nachtigall an sein eigenes Stück Grün hinter dem Haus und nahm sich fest vor, wenigstens den Rasen mal wieder zu mähen. Die Katzen, hatte seine Frau Conny neulich erzählt, hätten sich schon lautstark beschwert, weil es den Mäusen zu leicht gemacht wurde, im hohen Gras unterzutauchen.

Das Gartentor zwischen den Backsteinsäulen stand offen.

Die beiden Ermittler werteten das als Einladung und betraten das Grundstück.

Links vom Weg, auf einer geschwungenen Gartenbank, saß eine ausgesprochen korpulente Frau, die wie die Urmutter der Umweltschutzbewegung aussah. Die lockigen grauen Haare fielen bis über ihre Schultern, die bequeme Tunika aus grober Baumwolle und die Pluderhose verbargen die Konturen des Körpers komplett, und die Füße fanden ausreichend Bewegungsfreiheit in ledernen Gesundheitssandalen.

Als die beiden Besucher näher kamen, hob die Frau den Kopf.

»Sie sind eindeutig nicht die Person, mit der ich verabredet bin. Ein spontaner Besuch demnach, sonst hätten Sie einen Termin vereinbart. Wie also kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sie sich in einer Art Singsang.

Nachtigall, der sich in seinem schwarzen Outfit wie ein Fremdkörper in dem bunten Rund fühlte, fummelte seinen Ausweis hervor. »Kriminalpolizei Cottbus.« Er ahnte, dass es schwierig werden würde. Noch schwieriger als sonst.

»Sie kommen wegen unserer kleinen Elisabeth«, stellte sie ruhig fest.

»In den Akten steht, dass Sie Ihre Tochter Lilli nennen.«

»Oh ja. Das ist eine Familientradition.«

»Wir haben eine Kette gefunden, die einer Lilli geschenkt wurde. Das geht aus der Gravur hervor.« Nachtigall holte den Beweismittelbeutel aus der Jackentasche. »Gehörte diese Kette Ihrer Tochter?«

Frau Schandtkes Finger zitterten leicht, als sie die Hand ausstreckte.

Nachtigall legte das transparente Tütchen hinein.

Wie Klauen umschlossen die Finger das Kettchen.

Frau Schandtke zerrte unsanft mit einer ungeduldigen Bewegung die Lesebrille aus den Haaren, betrachtete das Schmuckstück voller Interesse.

»Ich spüre, dass Sie glauben, Lilli sei tot. Aber das stimmt nicht. Ich habe eine spiritistische Verbindung zu ihr und weiß, es geht ihr gut. Ihre Theorie ist falsch, denn schon die Grundannahme entspricht nicht der Wahrheit«, dozierte sie.

Plötzlich wurde die Haustür aufgerissen.

Eine Frau um die 50 stürmte auf die kleine Gruppe zu.

»Darf ich fragen, was Sie mit meiner Schwägerin zu besprechen haben? Sollten Sie irgendeiner Sekte oder Freikirche angehören«, sie wies energisch mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf das Gartentor, »dann gehen Sie jetzt besser, bevor ich die Polizei rufe!«

»Ach, Lilli! Was regst du dich denn so auf?«

Nachtigalls Augen wanderten von einer der Damen zur anderen.

»Wir sind von der Kriminalpolizei«, informierte er die neu Hinzugekommene.

Die Frau wurde blass. »Sie kommen wegen meiner Lilli?«, fragte sie tonlos.

»Ihrer Lilli?« Er wandte sich der Frau auf der Bank zu, stellte vorwurfsvoll fest: »Dann ist Elisabeth gar nicht Ihre Tochter?«

»Nein«, antwortete die andere für ihre Schwägerin. »Lilli ist meine Tochter. Dies ist Lillis Tante.«

»Wir haben eine Kette mit einer Gravur gefunden: ›Für meine lieb Tochter Lilli‹. Und da in der Akte vermerkt ist, dass Ihre Tochter Elisabeth mit diesem Kosenamen gerufen wird, wollten wir wissen, ob dies ihre Kette ist.«

Mit etwas Mühe entwand er der Tante den Beutel.

Die Mutter griff nicht danach.

»Ja.«

»Wollen Sie sich das Medaillon nicht sicherheitshalber genauer ansehen?«, regte Wiener an.

»Brauche ich nicht. Es war meine Kette. Ich habe sie vor etwa zwei Jahren an meine Tochter weitergegeben.«

»Ist eine Tradition«, mischte sich die Tante ein. »Habe ich Ihnen ja eben gesagt!«

»Jede zweitgeborene Tochter wird seit Generationen auf den Namen Elisabeth getauft und Lilli gerufen. Jeweils am 16. Geburtstag bekommt sie dann das Medaillon. Sie trägt und behält es, bis sie selbst eine zweite Tochter bekommen und großgezogen hat«, erklärte die Mutter seufzend. »Wo haben Sie es gefunden? Und wo ist meine Tochter?«, erkundigte sie sich dann mit bebender Stimme.

»Stell dich nicht so an!«, fuhr die Tante dazwischen, bevor Nachtigall antworten konnte. »Lilli geht es gut! Wie oft soll ich dir das denn noch sagen? Alles ist bestens.«

»Es tut mir leid, Frau Schandtke, aber wir brauchen etwas Untersuchungsmaterial für eine Analyse. Eine Haarbürste von Lilli. Oder eine Zahnbürste. Möglichst etwas, das nur sie benutzt hat«, erklärte der große Hauptkommissar leise.

»Für eine DNS-Untersuchung, nicht wahr? Es gibt eine Tote!« Die Mutter schlug sich beide Hände vors Gesicht und schluchzte auf.

»Ja. Wir wissen allerdings nicht, um wen es sich bei dem Opfer handelt. Deshalb die Untersuchung.«

»Hör auf, rumzujammern!«, wies die Tante sie zurecht. »Sie ist es nicht!«

Die Mutter schien jedoch nicht an das spiritistische Band zu glauben.

Sie drehte sich zu ihrer Schwägerin um.

»Halt endlich deine Klappe! Den ganzen Tag redest du nur Schwachsinn. Lässt dich hier versorgen und mischst dich in alles ein! Mach, dass du ins Haus kommst! Geh in dein Zimmer und schließ die Tür hinter dir. Du kommst erst wieder raus, wenn ich dich rufe!«, funkelte sie die andere böse an.

Zu Nachtigalls Überraschung griff die Tante widerspruchslos nach dem Buch, stemmte sich hoch und zog beleidigt ab.

»Sie ist leicht dement. Deshalb haben wir sie bei uns aufgenommen. Aber mir wird das alles manchmal zu viel. Dabei ist sie noch gar kein Pflegefall – nur rechthaberisch, uneinsichtig, halsstarrig, neugierig, schwatzhaft … und spiritistisch, was auch immer sie darunter versteht. Wo haben Sie die Kette gefunden?«

Wiener schob die Mutter sanft auf die Bank. »Vielleicht setzen Sie sich besser.«

»In Müschen. Bei der Untersuchung eines Brandorts. Die Kette lag auf einem Wiesenstück im Garten.«

»Müschen bei Burg? Lilli war nie begeistert von Burg. Der ganze Spreewald ödete sie an. Nichts für junge Leute mit Lebenshunger, hat sie gesagt.«

»Wir wissen ja auch nicht, ob wir Ihre Tochter tatsächlich dort finden werden. Es gibt eine Leiche, mehr wissen wir noch nicht. Bisher weist nur die Kette darauf hin, dass Ihre Tochter überhaupt dort war.«

»Vielleicht hat sie das Medaillon verloren, und es ist durch jemand anderen in diesen Garten gelangt. Das wäre doch möglich!« Hoffnung glomm in den Augen der Mutter auf.

»Ja, das wäre möglich. Wir müssen dennoch die Identität der Person klären, die wir gefunden haben. Wenn Sie also etwas wie eine Bürste oder Vergleichbares hätten, wäre das hilfreich.«

»Ja, ich hole Ihnen was!« Frau Schandtke lief davon, kehrte nach wenigen Augenblicken zurück und brachte eine Haarbürste mit. »Lilli war schon immer sehr eigen mit ihren Haaren«, sie lächelte nachsichtig, um Fassung bemüht, mit Tränen der Angst in den Augen. »Niemand durfte ihre Bürste verwenden oder gar eine ihrer Haarspangen ausleihen. Pubertät ist eine schwierige Zeit. Und als sie mit ihrer neuen Freundin – na ja, Isadora lebte in vollkommen anderen Verhältnissen, und wir kamen Lilli plötzlich spießig vor, alles schien zu eng.«

»Isadora?«, fragte Wiener schnell nach.

»Ja. Isadora. Was für ein Name, dachte ich noch. Wer nennt seine Tochter schon Isadora? Klingt wie der Name einer Artistin im Zirkus.«

»Haben Sie die Freundin auch persönlich kennengelernt?«

»Eine Riesin! Aber trotzdem gut proportioniert. Lilli war ganz verschossen in sie. Für meine Tochter hatte das Leben dieses Mädchens etwas Exotisches. Sie war vollkommen fasziniert.«

Schon wieder dieser Begriff in Bezug auf die Lebensumstände Isadoras, registrierte Nachtigall irritiert und fragte: »Kennen Sie auch den Nachnamen des Mädchens?«

»Moment, der fällt mir wieder ein. Mit M denke ich …« Frau Schandtke konzentrierte sich sichtlich. »Maler! Ich weiß, dass ich Lilli noch fragte, ob man das mit oder ohne h schreibt.«

»Wäre es für Sie vorstellbar, dass Lilli mit Isadora gemeinsam durchgebrannt ist?«, erkundigte sich Nachtigall und dämpfte die Stimme, um der Ungeheuerlichkeit in diesem verträumten Garten nicht zu viel Raum zu geben.

»Pubertät, da ist vieles möglich, was man sich zuvor niemals hätte vorstellen können. Lilli empfand unser Leben als eingrenzend, fand, es sei zu viel reglementiert, das finge schon bei ihrem Namen an, Elisabeth sei spießig und altmodisch, Lilli albern. Wie man sich ernsthaft vorschreiben lassen könne, wie man seine Kinder zu nennen hatte? Isadoras Eltern sahen alles lockerer. Offensichtlich war das Mädchen schon mehrfach weggelaufen und es hatte sich niemand ernsthaft aufgeregt. Ich kann nicht ausschließen, dass Lilli einfach mal testen wollte, wie wir auf so ein Verhalten reagieren. Man kann auch nicht sagen, was ihr nun besser gefiele: von der Polizei gesucht zu werden oder ihrem Schicksal kommentarlos überlassen zu sein.«

Tja, erinnerte sich Nachtigall sehr genau an diese Phase bei seiner eigenen Tochter Jule. Es gibt ein Alter, in dem machen Eltern sowieso alles falsch, wusste er.

Er schob die Bürste in einen Beweismittelbeutel.

»Danke. Wir melden uns.«

»Lieber nicht. Dann bleibt mein Kind am Leben«, antwortete die Mutter schlicht.