Narrenspiel - Franziska Steinhauer - E-Book

Narrenspiel E-Book

Franziska Steinhauer

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Beschreibung

Nach dem Abpfiff eines Fußballspiels des heimischen FC Energie Cottbus bleibt ein Toter im Stadion zurück. Hans-Jürgen Mehring, Inhaber einer kleinen Spedition, wurde durch einen noch in der Wunde steckenden Vorbohrer tödlich verletzt. Bei der Obduktion wird zusätzlich eine Vergiftung festgestellt. Der Tod Mehrings wäre also nur eine Frage der Zeit gewesen. War der Mörder unter Zeitdruck geraten? Oder hatten es verschiedene Täter auf Mehring abgesehen? Und welche Rolle spielt die neue Sekte »Mind Watchers«, die zum Zeitpunkt des Mordes vor dem Stadion gegen das Spiel demonstrierte? Fragen über Fragen - und ein verzwickter Fall für Hauptkommissar Peter Nachtigall und sein Team.

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Titel

Franziska Steinhauer

Narrenspiel

Peter Nachtigalls dritter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2007– Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2007

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos www.photocase.com

Gesetzt aus der 10/14 Punkt GV Garamond

ISBN 978-3-8392-3318-4

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1

Freitag

Als Paul Mehring, wie jeden Morgen unter ziemlichem Zeitdruck, aus der Wohnungstür stürmte, stolperte er über ein unerwartetes Hindernis auf seinem Fußabtreter, kam ins Straucheln und konnte einen schweren Sturz nur dadurch verhindern, dass er das gegenüberliegende Holzgeländer umklammerte und so, knapp vor der ersten Stufe, den gesamten Schwung abfangen konnte.

Entrüstet wandte er sich um und erstarrte.

Mit schleppenden Schritten kehrte er zur Wohnungstür zurück und beugte sich aufschluchzend über das Bündel.

Tränen liefen über seine Wangen, tropften vom Kinn, die Lippen bebten, stammelten Worte wie ein Gebet. Seine Hände tasteten flehend nach Lebenszeichen.

Tot, dachte er nur immer wieder, tot.

2

Nico Lobedan musterte seinen Interviewpartner neugierig.

Hoffentlich hatte sein Redakteur sich das wirklich gut überlegt, diese Leute waren schließlich unberechenbar. Fanatiker eben.

Der junge Mann, der ihm gegenübersaß, war blass und wirkte mit seiner seltsamen Kleidung, einer Art Kaftan und extrem weiten Hosen, die konturlos seinen Körper umflatterten, ein wenig verloren. Aber vielleicht entstand dieser Eindruck von Entrücktheit mehr durch den Blick, mit dem er durch Nico Lobedan hindurchzusehen schien. In wenigen Minuten würden sie live auf Sendung gehen und der Moderator von LTV, dem lokalen Fernsehsender der Stadt, glaubte immer deutlicher, eine unterschwellige Aggressivität, ähnlich einer negativen Schwingung, spüren zu können. Ihm war der Mann unheimlich. Angestrengt versuchte er, seinen Blick von der Tüte loszureißen, die sein Gast so fest umklammert hielt, dass die Knöchel an seinen langen schmalen Fingern leuchtend weiß hervortraten. Bestimmt eine diskret tickende Bombe, scherzte eine kleine Stimme in Nico Lobedans Kopf, die er eilig verstummen ließ.

Alles Hirngespinste, schalt er sich dann, er würde sich nicht von dieser Atmosphäre des Misstrauens anstecken lassen; diese seismographischen Störungen, die er zu empfangen glaubte, waren Spiegel seiner Einbildung. Das Ungewöhnliche, machte er sich bewusst, das Fremde macht uns Angst!

Er würde sich nicht ins Boxhorn jagen lassen, sondern seine Chance nutzen und mit diesen albernen Gerüchten aufräumen, denn durch das Interview würden die Menschen in Cottbus und Umgebung sehen, dass es überhaupt keinen Grund zur Besorgnis gab!

Das vereinbarte Signal – es konnte losgehen.

»Ich begrüße in unserer heutigen Sendung über Cottbus und seine Menschen: Herrn Paul Mehring, Gründungsmitglied der Mind Watchers«, die Kamera schwenkte über beide Gesichter und die Gesprächspartner nickten sich kurz zu. »Herr Mehring, über einen Mangel an Aufmerksamkeit können sich Ihre Mind Watchers zurzeit sicher nicht beklagen. Können Sie für uns die wichtigsten Ziele Ihrer neuen Sekte knapp umreißen?«

»Ich würde die Mind Watchers nicht als Sekte bezeichnen wollen – das hat so einen religiös-fanatischen Unterton. Wir sind eine Bewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, das Bewusstsein der Menschen wieder für die Dinge zu schärfen, die ihnen schaden oder nutzen. Daher auch unser Slogan: ›Keep your mind in mind‹ – was so viel heißt wie: Pass auf dein Bewusstsein, deinen Geist auf.«

»Um den schädlichen Konsum von Zigaretten geht es demnach nicht.«

»Nein«, Paul rang sich ob dieses lahmen Scherzes ein gequältes Lächeln ab. »Wir beklagen schon seit geraumer Zeit eine zunehmende Kälte und Verrohung in der Gesellschaft, einen allgemeinen Werteverfall. Doch niemand arbeitet dem entschlossen genug entgegen.«

»Aha! Und die Mind Watchers tun genau das?«

»Ja. Wir Mind Watchers sind uns schon lange darüber im Klaren, dass dieser Verfall und die herrschende Gleichgültigkeit Ergebnis unserer ›Beschäftigungshygiene‹ sind. Was wollen Sie denn von einer Gesellschaft erwarten, deren Mitglieder sich in ihre Behausungen zurückziehen und dort geistlose Sendungen im Fernsehen ansehen? Telenovelas zum Beispiel. Schnell werden die Zuschauer geradezu abhängig vom Leben der Protagonisten und bringen für die realen Vorgänge vor ihrer Haustür so gut wie überhaupt kein Interesse mehr auf.«

»Ihre Bewegung sieht allerdings nicht nur in der Fernsehunterhaltung eine Bedrohung, oder?« Nico Lobedan hoffte, seine Stimme hörte sich nicht so kläglich an, wie er sich fühlte: Fernsehschelte in seiner Sendung! Vielleicht konnte er das Blatt ja noch wenden.

»Nein, selbstverständlich nicht. Jede Beschäftigung, die den Geist einlullt und womöglich noch Aggressionen im Schlepptau hat, ist gefährlich.«

»Dazu gehört nach Meinung Ihrer Bewegung auch Fußball. Damit machen Sie sich hier in Cottbus mit Sicherheit nicht viele Freunde. Der Verein ist in der letzten Saison wieder in die erste Liga aufgestiegen – fast jeder in der Stadt ist auch ein Fan von ›Energie Cottbus‹.«

»Meine Vorstellungen mögen nicht jedermann gefallen«, Paul Mehring beugte sich vor, sah Lobedan mit seinen hellblauen Augen direkt an und schüttelte seine üppigen blonden Locken, die bis über die Schultern fielen, »Fußball ist ein Spiel, das in besonderer Weise Emotionen freisetzt. Auf dem Spielfeld wird gefoult, getreten, geboxt, gezerrt – auf den Rängen lassen die Zuschauer ihren Gefühlen freien Lauf, bewerfen Spieler, zünden Feuerwerkskörper an, prügeln. Die Cottbuser Fans, oder was sich so nennt, sind nicht zimperlich.«

»Es ist eben ein archaisches Spiel. Der wahre Fan passt immer auf, damit die Sache nicht ausufert«, startete Nico Lobedan einen Rettungsversuch und wischte sich seine schweißfeuchten Hände, wie er hoffte unauffällig, an den Oberschenkeln ab.

»Vor und nach dem Spiel ist ein großes Polizeiaufgebot vonnöten, um eine direkte Auseinandersetzung zwischen den Fangruppen zu vermeiden. Abgesehen von den immensen Kosten, die wir Steuerzahler dafür aufbringen müssen und die sinnvoller in die Bildung geflossen wären – haben Sie sich je gefragt, was für Vorbilder Brüder und Väter dabei abgeben?«

Lobedan zog die Schultern ein wenig hoch und dachte unglücklich, dass solche Statements den meisten Zuschauern von LTV wohl nicht gefallen würden. Dieses Gespräch konnte mit Sicherheit nicht zur Deeskalation beitragen.

»Also geht es Ihrer Sekte um Gewaltverzicht?«, versuchte er einen neuen Anlauf.

»Ja, auch. Ein gesunder Geist weiß, dass Gewalt kein Mittel der Auseinandersetzung sein darf.«

Innerlich seufzte der Moderator auf. Das war sicheres Terrain. Viele Menschen sahen das genauso. Er erlaubte sich einen kurzen Moment der Entspannung.

»Gewaltverherrlichende PC- oder Internetspiele, Ballerspiele, sind schon vor Jahren in Verruf gekommen. Jeder weiß, wie jugendgefährdend sie sind, und doch wird so gut wie nichts dagegen unternommen. Schon kleine Kinder töten am PC lustvoll virtuelle Gegner – das kann eine Gesellschaft nicht ernsthaft gutheißen!«

Pauls Stimme zitterte merklich. Und ehe Nico Lobedan es verhindern konnte, hatte der junge Mann den steifen Körper einer toten Katze aus der Plastiktüte gezogen und hielt sie anklagend in die Kamera.

»Nur Menschen, deren Verstand verdummt und verroht ist, kommen auf die perverse Idee, meinen Kater Claudius zu ermorden und ihn mir auf den Fußabtreter zu legen!«

Tränen des Schmerzes und des Zorns schimmerten in seinen Augen.

»Wir Mind Watchers sind gegen jede Form von Gewalt gegen Mensch und Tier! Es wird Zeit, dass diese Gesellschaft ihre Fehler erkennt und umkehrt!«

Ein lautes Surren bezeugte ein weitergehendes Interesse der Kamera, die offensichtlich näher heranzoomte.

»Woher wollen Sie denn wissen, dass Ihr Kater ermordet wurde? Vielleicht hat auch nur einer der Nachbarn ihn tot aufgefunden und Ihnen vor die Tür gelegt.« Nico Lobedans Stimme schwankte bedenklich.

»Nein. Es lag ein Zettel dabei«, antwortete Paul Mehring schlicht. »Er steckte unter dem Draht, mit dem er erdrosselt wurde.«

Mit zitternden Fingern hielt er ein kleines, rot-weiß gestreiftes Blatt Papier hoch, auf dem stand:

Wenn du nicht aufhörst,

bist du als Nächster dran.

Das sind doch die Farben von ›Energie Cottbus‹, registrierte Nico Lobedan, tröstete sich aber sofort mit dem Gedanken, dass das ja nicht unbedingt etwas bedeuten musste.

3

Sonntag

Ein großes Polizeiaufgebot bemühte sich, die feindlichen Lager auf Abstand zu halten. Durch ihre Spezialkleidung wirkten die Beamten aufgeplustert und bewegten sich wie große, tapsige Bären mit Helm und Schild. Sie waren auf einen Routineeinsatz eingestellt, wie an jedem Spieltag, doch am Stadion angekommen erkannten sie schnell, dass es diesmal nicht nur darum ging, die Fans in Schach zu halten. Die neue Sekte war auch mit von der Partie.

Die blaugrüne Einheitstracht der Mind Watchers ließ die Gruppe größer erscheinen, als sie tatsächlich war, und dieser Eindruck verstärkte sich noch, als sie begannen, ihre Transparente zu entrollen und in Sprechchören die Fans zum Verzicht auf den Besuch des Spiels aufforderten.

»Gebt euren Kindern ein besseres Vorbild!«

»Fußball verdummt!«

»Keine aggressiven Spiele!«

»Hände weg vom Alkohol!«

»Lesen bildet!«

Der Einsatzleiter Norbert Hannemann warf einen entnervten Blick auf die Bilder, die die Stadionkameras auf seine Monitore übertrugen. Nervös kniff er sich in sein langes, etwas vorstehendes Kinn und strich sich dann eine schweißnasse, dunkelbraune Haarsträhne aus dem schmalen Gesicht. Tiefe Falten zogen sich von den Nasenflügeln zu den, jetzt bei Stress zuckenden, Mundwinkeln. Na, das konnte ja heiter werden. Ausgerechnet bei einem Pokalspiel. Ostderby: Da brodelte es im Stadion ohnehin und die Polizei konnte erfahrungsgemäß erst aufatmen, wenn der letzte Rostockfan die Stadt verlassen hatte. Randale war vorprogrammiert und gehörte bei einem Kick gegen Rostock zum Après-Spiel. Da konnte er weitere Verrückte nicht brauchen, die die Stimmung zusätzlich aufheizten. Nach dem Anpfiff würden die sich hoffentlich wieder verziehen.

Eine halbe Stunde später kochte das Stadion der Freundschaft. ›Energie‹ lag mit einem Tor in Führung und der Schiedsrichter weigerte sich, den zweiten Führungstreffer zu geben. Wüste Beschimpfungen prasselten auf ihn herab. Schrille Pfiffe erfüllten das Stadion, Sprechchöre forderten einen Austausch des Unparteiischen. Dann: Ein Foul, ein Elfmeter für Cottbus, ein kraftvoller Schuss – das zweite Tor.

Der Jubel bei den Cottbuser Fans war grenzenlos – die Empörung bei den Rostockern umso größer. Toilettenpapierrollen wurden aufs Spielfeld geworfen, ein ohrenbetäubender Lärm erfüllte den gesamten Platz. Das Pfeifen nahm zu, die Trommel setzte zu einem ekstatischen Wirbel an, gelbe und rote Rauchschwaden stiegen auf, die Massen wirkten mit einem Mal bedrohlich, eine Eskalation bahnte sich an. Die Kameras behielten die Fans im Fokus.

Ein Rostocker Fan hatte es geschafft, die Absperrungen zu überwinden und rannte nun, mit einer Faust drohend, über das Spielfeld auf den Schiedsrichter zu. Wachpersonal und Stadionordner stürmten hinter ihm her, versuchten ihn aufzuhalten und zu überwältigen. Doch dem Fan gelang es, einen der Verfolger mit einem gewaltigen Fausthieb niederzustrecken, sich aufzurappeln und weiterzulaufen. Voller Entsetzen entdeckte der Einsatzleiter nun auf der Cottbuser Seite einige Fans, die ebenfalls dabei waren den Absperrzaun zu überwinden. Oh Mann, dachte er, das darf doch nicht wahr sein!

Er gab über Funk Anweisungen und einige Einsatzgruppen der Polizei setzten sich in Bewegung. Dann geschahen gleich mehrere Dinge auf einmal: Der Rostocker erreichte den Schiedsrichter, der sich in einem Streitgespräch mit Spielern von Hansa Rostock befand, und warf sich entschlossen auf ihn. Von einem der Ränge flog ein brennendes Päckchen auf den Rasen und ließ zischend und pfeifend ein Feuerwerk aufsteigen. Im Cottbuser Fanblock loderten Flammen. Dicke Rauchschwaden ließen nur noch erahnen, was sich dort abspielte.

»Scheiße!«, brüllte Hannemann. »Mit den Kameras draufhalten! Ich will wissen, welcher Blödmann dafür verantwortlich ist! Ein Trupp rein! Feuer löschen, Personalien feststellen, am besten nehmt ihr gleich einige fest und führt sie in Handschellen ab! Und jetzt haltet doch den Spinner da unten auf! Festnehmen! So schwer kann das doch nicht sein! Verdammt noch mal!«, seine Stimme überschlug sich vor Wut und im Geiste sah er schon die reißerischen Schlagzeilen der morgigen Presse vor sich.

»Ist dem Schieri was passiert?«, fragte er dann besorgt bei seinen Leuten auf dem Spielfeld nach.

»Nein – ist halb so wild. Er blutet ein bisschen aus der Nase und wird behandelt werden müssen. Und das Spiel ist natürlich unterbrochen.«

Was für ein Chaos.

Norbert Hannemann überprüfte die Kamerabilder. Das Feuer war wohl gelöscht, im Fanblock glaubte er, im Rauch seine Beamten zu erkennen, die sich darum bemühten, die Situation zu entschärfen. Das Feuerwerk auf dem Platz war abgebrannt und der Schiedsrichter nirgends zu sehen.

»Habt ihr den Schläger?«

»Ja. Gut verschnürt.«

»Wie heißt der Kerl?«

»Er hat keine Papiere dabei und er ist nicht bereit, seinen Namen zu nennen. Wir nehmen ihn mit.«

»Und dann das ganze Programm! Fingerabdrücke, Fotos, Protokoll, Zelle! Ich will nachher noch mit ihm sprechen!«, wies der Einsatzleiter wütend an.

»Wir veranlassen das. Wird das Spiel fortgesetzt?«

»Keine Ahnung. Der Schieri ist jedenfalls nicht zu sehen – und ohne ihn geht’s ja wohl nicht. Mal sehen, wie er entscheidet. Der Typ hat ihm einen Schlag auf die Nase versetzt, er blutet. Jedenfalls haben wir genug brauchbare Bilder, um den Typen dingfest zu machen!«

Nach einer Unterbrechung von 15 Minuten wurde das Spiel erneut angepfiffen. Der Schiedsrichter begründete seine Entscheidung damit, dass man derart aufgeheizte Fans nicht einfach so aus dem Stadion schicken könne. Die Randale würde sich nur in die Straßen der Stadt verlagern. Seine Nase war dick angeschwollen und verfärbte sich im Lauf des Spiels immer dunkler, während er selbst immer blasser zu werden schien. Doch er weigerte sich rigoros, einen Ersatz anzufordern, weil ›er sich von keinem unterkriegen lassen wolle, das sei eine Frage der Ehre‹.

Die Partie ging in die Verlängerung.

Als die Rostockfans von der Polizei zum Bahnhof geleitet wurden, achteten die Beamten sorgfältig darauf, keinen zu verlieren. Es musste nicht auch noch nach dem Spiel zu Auseinandersetzungen kommen.

Allerdings wurde ihre Arbeit durch die Mind Watchers beträchtlich behindert, die entlang der Strecke standen und den Fans zuriefen:

»Wollt ihr wirklich, dass eure Kinder solche Bilder sehen?«

»Brutale Spiele verderben den Charakter!«

Auf einem Transparent stand geschrieben: Fußball ist Unterhaltung für Narren.

Norbert Hannemann beobachtete mit einer gewissen Erleichterung, wie sich die Ränge allmählich leerten. Bestimmt war der Schläger schon betrunken ins Stadion gekommen und die Einlasskontrolle hatte das nicht bemerkt. Mit ein bisschen Pech könnte die Sache ziemlich teuer für den Verein werden. Auch die Feuerwerkskörper waren keinem aufgefallen – so etwas durfte einfach nicht übersehen werden!

In seinem Kopfhörer knisterte es.

»Herr Hannemann? Ich glaube, das sollten Sie sich ansehen. Ich bin in der Fankurve von ›Energie‹ und hier sitzt ein Mann in sich zusammengesunken auf seinem Platz. Meiner Meinung nach sieht er verdammt tot aus!«

4

Kriminalhauptkommissar Peter Nachtigall eilte beschwingt und gut gelaunt zum Treffen mit der Nordic-Walking-Gruppe. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass er wirklich durchhalten würde, und nun trieb er schon seit ein paar Monaten konsequent Sport – soweit es sein Beruf eben zuließ. Von einem Waschbrettbauch trennten ihn noch Welten, aber einen solchen strebte er im Grunde auch gar nicht an. Nach der Trennung von Birgit hatte er sich wirklich ziemlich hängen lassen, räumte er in Gedanken ein. Er hatte zu viel und zu gut gegessen, sich dem Selbstmitleid hingegeben. Peter Nachtigall war immerhin fast zwei Meter groß – und wenn man dann zu mager war, sah das doch auch nicht gut aus. Die paar Kilos zu viel standen ihm ganz gut, fand er und sah kritisch an sich herunter. Die Ausdauer hatte sich verbessert und am Gewicht würde er noch arbeiten müssen – sein Trainer meinte immer, es ginge darum, Fett durch Muskelmasse zu ersetzen.

Fröhlich summte er vor sich hin. Er kochte eben leidenschaftlich gern und zu einem guten Essen genoss er gerne ein Glas Wein, oder auch zwei. Immerhin hatte er sich bei Cornelia abgeschaut, wie leicht es war, Fett einzusparen, ohne den Geschmack zu verderben, und nun stand selbst Salat regelmäßig auf seinem Speiseplan.

Dr. Cornelia Stamm hatte sein Leben gründlich geändert, stellte er liebevoll fest. Seit sie ihm diese seltsame schwarze Stelle auf der Haut entfernt hatte, die sich zum Glück als harmloses Muttermal erwies. Kein malignes Melanom! Kein Krebs! Seither fühlte er sich wie neu geboren. Er war jahrelang zu nachlässig mit sich umgegangen – doch nun hatte sein Leben einen neuen Mittelpunkt bekommen. Cornelia riss ihn mit in einen Strudel positiver Energie und ...

Sein Handy vibrierte.

»Nachtigall!«

»Es tut mir leid – hier spricht Norbert Hannemann. Ich fürchte, es gibt einen neuen Fall für Sie. Eine Leiche im Stadion.«

»Ich nehme an, Sie haben schon alles in die Wege geleitet: Absperrung, Arzt usw.?«

»Ja.«

»Ich habe vorhin im Radio von den Krawallen im Stadion gehört. Aber da klang es eher so, als hätten Ihre Kräfte die Ruhe wieder herstellen können.«

»Das konnten wir auch.«

»Ja, aber wenn jetzt ein Toter … Also gut, ich bin gleich da«, Nachtigall räusperte sich, unterdrückte seinen Ärger und wendete den Wagen. Wenn er schon angerufen wurde, wollte er auch Informationen! Doch die musste man diesem Hannemann wohl wie Würmer aus der Nase ziehen. »Wissen Sie, woran er gestorben ist? Alkohol und Prügel?«

»Aus seinem Rücken ragt der Griff einer Waffe.«

Peter Nachtigall betrachtete den Toten nachdenklich. Irgendwie schien ihm, war der Mann für ein Fußballspiel nicht passend gekleidet. Sein blau-weiß gestreiftes Hemd zierte eine Fliege in den unterschiedlichsten Braun- und Orangetönen. Es steckte in einer schlammfarbenen Hose, die über der prominenten Körpermitte von einem Naturledergürtel gehalten wurde. Sein Jackett glich einem hellbraunen, bayerischen Janker. Die dichten, schwarzglänzenden Haare standen senkrecht vom Kopf ab, was bei einer Länge von ungefähr fünf Zentimetern sicher nicht einfach zu erreichen war. Über der Stirn wellte sich, wohl als Reminiszenz an Elvis Presley, eine Locke, fixiert mit Gel oder Spray.

Auf dem Rücken prangte ein großer Blutfleck. »Wie lange mag man brauchen, um die Haare so zu stylen?«, murmelte Michael Wiener vor sich hin und fing sich einen bitterbösen Blick von Nachtigall ein. Der junge, schlanke Mann zuckte zusammen und bedauerte seine Bemerkung sofort. Schließlich wusste jeder im Team, dass Nachtigall respektlose Äußerungen am Fundort einer Leiche nicht ausstehen konnte.

»Was ist das für eine Tatwaffe?«, fragte der Hauptkommissar und deutete auf den transparenten, blauen Kunststoffgriff.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Schraubendreher. Das sollte lieber der Rechtsmediziner rausziehen. Was immer es ist, es muss mit großer Kraft in den Körper gerammt worden sein. Es liegt mit dem Griff direkt auf dem Jackett auf«, informierte ihn der Arzt.

»Da muss der Täter aber gut gezielt haben. Es ist doch gar nicht einfach, von hinten so direkt ins Herz zu treffen.«

»Ja. Ich würde denken, er war sofort tot – sonst hätte ja auch jemand was gemerkt. Auf dem Boden hinter seinem Sitz hat sich eine Blutlache gebildet.«

»Was anscheinend auch niemand bemerkt hat. Muss wirklich ein tolles Spiel gewesen sein!«

»Naja – es herrschte zeitweilig ziemliche Aufregung. War echt was los heute«, meldete sich Wiener wieder zu Wort.

»Ach, warst du hier?«

»Ja, hatte aber nur einen Stehplatz.«

»Ich hab im Radio davon gehört«, Albrecht Skorubski sah sich um und zeigte auf die gegenüberliegende Seite. »Den meisten Ärger hat ein Rostocker gemacht. Der ist übers Spielfeld gerannt und hat den Schieri niedergeschlagen. Mann, Mann!«

»Die Kameras haben doch die Fans im Auge behalten, oder?«, wandte Nachtigall sich an Norbert Hannemann.

»Ja, klar. Wir wollten die Randalierer sehen. Ich hoffe, wir können die Typen identifizieren. Solche Spinner! Legen ein Feuer! Was da passieren kann!«

»Und nun haben wir einen Toten. Vielleicht ist unser Mörder auf den Bändern.«

»Schon möglich. Aber es war so ein Tumult, dass solch eine Einzelhandlung möglicherweise gar nicht auffällt.«

»Wissen wir, um wen es sich bei dem Opfer handelt?«

»Ja – das wüsste ich auch gern«, mischte sich aus dem Hintergrund eine neue Stimme ein. Dr. März, der zuständige Staatsanwalt, der gemeinsam mit Nachtigall schon eine Reihe komplizierter Mordfälle bearbeitet hatte, tauchte plötzlich neben dem Einsatzleiter auf.

»Ich wurde auf dem Weg zu meinem Wagen verständigt. Als ob das Spiel nicht schon aufregend genug gewesen wäre, nun auch noch ein Toter! Kennen wir den Namen des Opfers?«

»Ja also, definitiv kein Raubmord. Papiere, Brieftasche, Autoschlüssel – alles da«, erklärte Norbert Hannemann nervös.

»Und, wer ist es?« So schwer konnte es doch nicht sein, eine einfache Frage zu beantworten! Nachtigalls Stimmungsbarometer sank.

»Hans-Jürgen Mehring. Er hat eine kleine Spedition und ein Transportunternehmen für Kleintransporte. Macht auch Umzüge. Weiß ich von meinem Sohn. Der ist mit Mehring nach Leipzig umgezogen.«

»Na gut. Herr Nachtigall, dann gibt es für mich hier nichts mehr zu tun. Wir sehen uns«, damit nickte Dr. März den Anwesenden kurz zu und drehte sich um.

»Albrecht, du bleibst hier, bis das Opfer in die Gerichtsmedizin abgeholt wird, und dann sammelst du alles an Informationen, was wir in unserer Datenbank über ihn haben – und du Michael, lässt dir von den Kollegen die Bänder zur Auswertung geben. Wir sehen uns später im Büro.«

Peter Nachtigall machte sich schweren Herzens auf den Weg, um die Angehörigen zu informieren.

5

Frau Mehring hatte die Übertragung des Spiels im Radio verfolgt, während sie die Kartoffeln fürs Abendessen schälte. Die Beschreibung der Situation im Stadion ließ sie schmunzeln. Da kam ihr Mann heute voll auf seine Kosten – Tumulte in den Blöcken, Spinner auf dem Spielfeld, ein blutender Schiedsrichter, mehr konnte man wohl kaum erwarten. Wahrscheinlich würde er völlig heiser nach Hause kommen, überlegte sie und beschloss, ihm einen Salbeitee mit Honig zu kochen, damit er für die Kundengespräche am Montag wieder gut bei Stimme war. Schließlich hatten nicht alle Menschen hier in der Umgebung Verständnis für einen herumbrüllenden Fan in fortgeschrittenem Alter.

Ein bitterer Zug schlich sich um ihre Lippen. Es war aber auch wirklich zu schade, dass Paul so gar kein Verständnis für die Begeisterungsfähigkeit seines Vaters hatte. Ständig gab es Streit deswegen. Hoffentlich kam er heute nicht noch vorbei, dachte sie und schämte sich sofort dafür. Eine liebevolle Mutter sollte sich immer freuen, wenn ihr Kind sie besuchte – auch wenn der Ärger nach diesem Spiel schon in der Luft hing. Und eine Diskussion gäbe es auch, wenn Paul nicht da wäre. Schließlich bewies doch dieses Spiel, wie recht der Junge mit seinen Ansichten hatte – und da sie die Mutter war, würde ihr Mann sich eben an ihr austoben. Wie so oft.

Seufzend suchte sie nach einem anderen Sender. Hits aus den Achtzigern, freute sie sich und summte mit. Sie durfte nur nicht vergessen, nachher wieder zurückzuschalten – es musste nicht noch einen Grund für einen Streit geben.

Nach einem besorgten Blick auf die Uhr setzte sie die Kartoffeln auf. Sie war mit den Vorbereitungen fürs Abendessen im Verzug – trotz der Verlängerung. Vielleicht geriet Hans-Jürgen in einen Stau, dann würde es ihm wahrscheinlich nicht einmal auffallen.

Es dämmerte schon, als Peter Nachtigall auf den Hof des Anwesens in Kahren einbog.

Es lag etwas zurückgebaut von der Durchgangsstraße, ruhig und idyllisch. Von hinten sah man sicher nur den Wald, überlegte er, und hier an der Vorderseite verhinderte eine Hecke allzu neugierige Einblicke. Der Hof war mit grobem Kies bestreut, an der linken Grundstücksgrenze standen zwei kleinere LKW.

Das Gebäude war zweigeschossig, blassgelb verputzt mit einem roten Dach. Die verwinkelte Bauweise, die offensichtlich durch immer neue An- und Umbauten entstanden war, ließ es fast verwunschen aussehen. Nachtigall klingelte und stellte dabei fest, dass das Haus in mehrere Wohneinheiten aufgeteilt war.

Hinter der Haustür näherten sich leise Schritte – dann wurde sie einen Spalt breit geöffnet und das verschreckte Gesicht einer kleinen, zarten Frau mit feinen Zügen erschien. Irritiert sah sie ihn an.

»Wenn Sie zu meinem Mann wollen, werden Sie sich gedulden müssen. Er ist noch nicht vom Spiel zurück«, erklärte sie mit müder Stimme, die signalisierte, sie sei es leid, immer überraschende Besucher empfangen zu müssen, nur weil ihr Mann sich verspätete. Mit einer nervösen Geste schob sie die Haare hinters Ohr und nestelte an den Ärmeln ihrer Strickjacke, um sie weiter über die Hände zu ziehen.

»Frau Mehring?« Sie nickte und Nachtigall fuhr fort: »Kriminalpolizei Cottbus, Hauptkommissar Nachtigall. Ich hätte Sie gerne für einen Moment gesprochen. Können wir bitte hineingehen?«

Für einen kurzen Augenblick loderte so etwas wie Panik in ihren Augen auf, dann öffnete sie die Tür und ließ ihn eintreten. Bevor sie die Haustür wieder schloss, warf sie einen hektischen Blick zur Einfahrt, als wolle sie sich vergewissern, dass niemand ihren Besucher gesehen hatte.

»Bitte, dort entlang. Ich komme sofort nach – ich habe Kartoffeln auf dem Herd, die muss ich runterdrehen.«

Damit huschte sie den Flur entlang und verschwand um eine Ecke.

Der Raum, in den sie Nachtigall gebeten hatte, wirkte, als werde er nur sehr selten benutzt. Eine dunkle, klobige Sitzgarnitur, bezogen mit braunem Stoff mit riesigen altrosa-farbenen Pfingstrosen, dominierte. Eine ebenfalls dunkelbraune Schrankwand mit vielen verschlossenen Türen sorgte für eine beklemmende Atmosphäre. Kleine, runde Tischchen aus dunklem Holz standen im Raum verteilt, darauf lagen beigefarbene Häkeldeckchen. Selbst die Landschaftsbilder auf der streng gemusterten Tapete zeigten ausnahmslos düstere Ansichten. Wälder, über denen sich ein Unwetter zusammenbraute, Häuser, die vom heranrückenden Wald überwuchert zu werden drohten, sturmgepeitschte Bäume im Regen – und nirgendwo eine Menschenseele zu entdecken.

Frau Mehring kehrte rasch zurück. Sie hatte die Kittelschürze abgelegt und Nachtigall stellte fest, dass sie noch magerer war, als er es vermutet hatte. Unauffällig tastete er nach seinem Handy. Vielleicht würde er einen Arzt brauchen – oder einen Psychologen.

»Frau Mehring, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann ermordet wurde.«

Die Frau schien ins Stocken zu geraten. Sie verharrte in der Bewegung, ihr distanziertes Lächeln blieb wie erstarrt, nur ihre Augen sahen ihn verständnislos an.

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Mein Mann wird sicher gleich kommen. Vielleicht wurde er an der Schranke in Kiekebusch aufgehalten – oder er steht in einem Stau stadtauswärts«, erklärte sie entschieden.

»Nein, Frau Mehring. Ihr Mann steht weder an der Schranke noch im Stau. Er wurde ermordet.« Diesmal legte der Hauptkommissar mehr Nachdruck in seine Stimme.

Er wusste, wie es war, wenn jemand einem eine Nachricht überbrachte, die man nicht glauben wollte, fühlte mit ihr in ihrem Kampf um ihre Lüge, kannte den Abgrund, in den sie nun zu stürzen drohte. Zweimal in seinem Leben war es ihm auch schon so ergangen: Damals, als die Polizei ihm und seiner kleinen Schwester mitteilte, ihre Eltern seien bei einem Unfall ums Leben gekommen, und als Birgit, seine Frau, ihn mit der Tatsache konfrontierte, sie habe schon länger eine außer-eheliche Beziehung, wolle sich scheiden lassen und mit dem anderen leben.

Langsam sickerte die Nachricht in das Bewusstsein der Frau. Nachtigall sah, wie sie blass wurde, ihre Augen sich zu röten begannen und das Lächeln einem fassungslosen Gesichtsausdruck wich. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und für einen Augenblick befürchtete Peter Nachtigall, sie würde womöglich das Bewusstsein verlieren. Vorsorglich legte er seinen mächtigen Arm um ihre Schultern und schob sie behutsam zu einem der Sessel. Er ließ sie hineingleiten, spürte jedoch einen leichten Widerstand, so, als sei sie nicht befugt hier zu sitzen. Vielleicht war das der Stammplatz ihres Mannes.

»Sind Sie allein zu Hause? Soll ich vielleicht jemanden benachrichtigen, damit man sich um sie kümmern kann?«, fragte er flüsternd.

»Aber – was soll denn nun werden? Was soll nun werden?« Sie sah Peter Nachtigall ratlos an.

Unvermittelt begann sie gellend zu schreien.

Der junge Mann, der daraufhin ins Wohnzimmer gestürmt kam, sah dem Toten so ähnlich, dass sich für Nachtigall die Frage erübrigte, um wen es sich handelte.

Bestürzt warf er einen Blick auf seine schreiende, sich im Sessel hin und her werfende Mutter, dann trat er entschlossen heran und umfasste ihren schmächtigen Körper mit seinen muskulösen Armen. Fest drückte er sie an sich und summte leise in ihr Haar, begann die heftige Bewegung in ein sanftes Wiegen zu verändern. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Schreien und Schluchzen in ein klagendes Wimmern übergegangen war.

»Wer zum Teufel sind Sie? Und womit haben Sie meine Mutter derart erschreckt?«, fauchte er dann den unbekannten Besucher an.

»Kriminalpolizei Cottbus, Nachtigall. Es tut mir leid, aber wir haben Ihren Vater nach dem Spiel tot im Stadion aufgefunden.«

»Was heißt, Sie haben ihn tot im Stadion aufgefunden? So ein Quatsch! Als er zum Spiel gefahren ist, ging es ihm prima!«

»Ihr Vater wurde aller Wahrscheinlichkeit nach nochwährend des Spiels getötet – ermordet. Herr Mehring?«

»Markus Mehring. Von wem? Einem Rostockfan?«

»Das wissen wir noch nicht.«

»Wie?«

»Er wurde mit einer spitzen Waffe erstochen.«

Ratlos sah der junge Mann seine aufgelöste Mutter an, dann fischte er ein Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans und gab eine Nummer ein.

»Wen rufen Sie da an?«, fragte Nachtigall fordernd.

»Unseren Hausarzt. Sie sehen doch selbst, was Sie angerichtet haben.«

Der Arzt gab Frau Mehring eine Beruhigungsspritze und eine Stunde später hatte ihr Sohn sie zu Bett gebracht. Offensichtlich war sie nun eingeschlafen. Der Junior kehrte nachdenklich ins Wohnzimmer zurück, wo der Hauptkommissar geduldig auf ihn wartete.

Er warf sich schwer in einen der Sessel und sah Nachtigall feindselig an, als trage er die Schuld an der Situation.

»Gut, Sie sind hartnäckig. Das haben Sie unter Beweis gestellt. Ich schätze, Sie verschwinden erst von hier, wenn Sie mir all Ihre belanglosen Fragen über meinen Vater gestellt haben!«

»Meine Fragen sind nicht belanglos. Die Antworten, die ich darauf erhalte, werden mir helfen, den Mörder Ihres Vaters zu fassen. Und das ist doch sicher auch in Ihrem Interesse!«

Der junge Mann seufzte genervt, entspannte sich aber etwas.

»Meinem Vater gehört diese kleine Spedition hier. Neben den zwei LKW, die auf dem Hof stehen, hat er noch zwei Kleintransporter und zwei Kühltransporter. Die Geschäfte laufen zurzeit eher schlecht, aber es gibt keine ernste finanzielle Krise.«

»Feinde?«

»Feinde? Jemand wie mein Vater hat keine Feinde! Als das Geschäft so richtig gut lief, gab es vielleicht Neider, aber niemand würde das Risiko eingehen und sich meinen Vater zum Feind machen! Er hatte Einfluss.«

»Nur weil andere Angst vor jemandem haben, schrecken sie nicht vor Mord zurück. Das sollten sie vielleicht auch bedenken. Aber gut – dann erzählen Sie mir etwas über Ihre Familie.«

»Familie. Die ist klein. Außer mir gibt es noch meinen Bruder Paul. Und Großvater.«

»Wohnt Ihr Bruder auch hier?«

»Oh, nein. Der gnädige Herr zog vor einiger Zeit aus und wohnt jetzt in der Stadt. Bis vor ein paar Monaten wohnte Opa noch mit im Haus. Aber er hat sich ständig mit meinem Vater gestritten und eines Tages ist er ohne ein Wort gegangen. Er wohnt jetzt in einer Seniorenwohnanlage und ich durfte oben in seine Räume einziehen.«

»Und warum ist Ihr Bruder ausgezogen?«

»Streit und Knatsch. Das Übliche!«

Es klingelte und Markus Mehring erhob sich achselzuckend.

»Noch mehr von Ihrem Trupp?«

»Nein. Eher nicht.«

Der Sohn des Hauses ging öffnen und kurze Zeit später stand ein weiterer aufgelöster junger Mann im Zimmer, die Jacke schief geknöpft, die lockigen Haare wirr mit flackerndem Blick.

»Ist das wahr? Vater wurde ermordet?«

Aha, dachte Nachtigall, der zweite Sohn des Hauses.

»Mein Bruder Paul. Das ist die Kripo«, damit wies er auf Nachtigall.

»Wo ist Mutter?«, fragte Paul Mehring aggressiv und sein Blick irrte durch den Raum.

»Sie schläft oben. Dr. Bender hat ihr was Beruhigendes gespritzt. Los, setz dich her. Wir suchen Vaters Mörder.«

»Woher wissen Sie von dem Mord?«

»Jemand aus dem Fanprojekt hat mich angerufen.« Paul warf seine Jacke achtlos über einen der Sessel.

»Aha. Mein Beileid.« Nachtigall schüttelte dem ältesten Sohn die Hand, doch der schien es nicht einmal zu bemerken. »Ging Ihr Vater regelmäßig zu den Spielen?«

»Nur zu den Heimspielen – aber da hat er keins verpasst.«

»Das bedeutet, der Täter konnte mit einer gewissen Sicherheit davon ausgehen, Ihren Vater beim Spiel anzutreffen. Hatte er einen Stammplatz?«

»Ja. Schon seit Jahren. Er hatte eine Dauerkarte.«

»Fußball war also sein großes Hobby?«

»Nur eins von mehreren. Er war auch aktiv im Karnevalsverein – sehr zum Missfallen meines Bruders«, antwortete Markus und grinste Paul giftig an.

»Aha – und warum hat Sie das gestört?«

»Weil es ein stupides Verhalten ist. Bestellte Fröhlichkeit, platte Witze auf Kosten anderer, Alkohol in Strömen, um im Nachhinein sein mieses Benehmen entschuldigen zu können. Nein, für so etwas habe ich nichts übrig.« Selbst in dieser Situation wurde deutlich, wie viel Fanatismus in dem jungen Mann steckte.

Nachtigall betrachtete die beiden Brüder nachdenklich, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Markus Mehring hatte die untersetzte Statur seines Vaters und würde bestimmt später immer gegen sein latentes Übergewicht zu kämpfen haben. Die fast schwarzen Haare trug er kurz, allerdings nicht so steil hochgeföhnt wie sein Vater. Aus dunklen Augen unter geraden Brauen warf er spöttische Blicke auf seine Mitmenschen. Paul Mehring dagegen war schmalbrüstig und hochgewachsen. Seine lockigen, blonden Haare, die an den Afrolook der 80er-Jahre erinnerten, standen ab und fielen ihm weich bis über die Schultern. Sein Blick hatte etwas Wahnhaftes, sein Auftreten war provokant und zornig. Peter Nachtigall kannte das: Energie für eine Sache ob gut oder schlecht, ein brennendes Feuer.

Jetzt fiel ihm auch die sonderbare Kleidung des ältesten Sohnes auf, eine blaugrüne Tunika über einer weiten, blaugrünen Hose.

»Ach, Sie gehören den Mind Watchers an, nicht wahr?«

»Schlimmer noch, Herr Hauptkommissar, viel schlimmer. Mein Bruder ist eines der Gründungsmitglieder dieser intoleranten Bewegung. No fun for anyone!«

»Ach du, du hast doch überhaupt keine Ahnung! Du solltest dein Leben kritisch beleuchten. Was machst du schon, außer den lieben langen Tag am Computer rumzuspielen? Glaubst du wirklich, das sei das Leben?«, er beugte sich leicht vor und trat so nah an seinen Bruder heran, dass ihre Nasen sich beinahe berührten. Nachtigall bemerkte die geballten Fäuste des Älteren, der sich offenbar zu beherrschen versuchte.

»Das geht dich einen Dreck an, Brüderchen! Ich lebe so, wie ich es will!«

»Das ist eben die große Illusion! Leben ist: Wenn man den Wind, den Regen, die Sonne, den Schnee spürt, andere Leute trifft und nicht, wenn das Wetter nur computeranimiert über den Bildschirm huscht und man virtuelle Helden in lebensgefährliche Abenteuer stürzt!«

Nachtigall sah verblüfft von einem zum anderen. Den Mord an ihrem Vater schienen sie völlig vergessen zu haben.

»Ihr Vater hatte doch sicher Freunde. Ich brauche Namen und Adressen, auch von den Leuten aus dem Karnevalsverein«, forderte der Hauptkommissar entschlossen, übertönte so mühelos den Streit und brachte sich wieder in Erinnerung.

Als hätte man einen Schalter umgelegt, zeigten sie sich nun wieder umgänglich, vielleicht sogar ein wenig zerknirscht darüber, dass sie den Hauptkommissar an ihrem Zwist hatten teilhaben lassen.

Markus sprang eilfertig auf und entnahm einer Schublade Kugelschreiber und Papier.

Sehr organisierter Haushalt, stellte Peter Nachtigall insgeheim fest. Er hätte sicher eine Weile suchen müssen, um in seinem Wohnzimmer diese Utensilien zu finden.

»Ich brauche auch die Adresse Ihres Großvaters. Wir werden ihn über den Tod seines Sohnes informieren und bestimmt haben wir auch die eine oder andere Frage an ihn.«

»Opa weiß sicher noch nichts davon! Mein Gott, das wird ihn ganz schön umhauen!«, meinte der Mind Watcher empathisch. »Vielleicht sollte einer von uns Sie begleiten?«

»Red nicht so einen verdammten Quatsch!«, wies sein kleiner Bruder ihn zurecht, »Opa ist der, der von der ganzen Mischpoke am wenigstens ein Kindermädchen braucht.«

Wenn er sich da nur nicht täuscht, überlegte Nachtigall. Er wusste, wie sehr Väter mit dem Schicksal haderten, wenn es ihnen die Kinder nahm.

6

Die Wohnanlage für Senioren war idyllisch gelegen. Direkt am Amtsteich, im Grüngürtel der Stadt, der den Innenstadtbereich mit dem ehemaligen Bundesgartenschaugelände durch einen Weg entlang der Spree verband. Das Besondere an diesem Ort war, dass hier sommers wie winters Leben hautnah zu sehen und zu erleben war. Im Winter liefen die Menschen auf dem Amtsteich Schlittschuh, im Sommer genossen sie den idyllischen Flecken und spielten mit ihren Kindern. Enten füttern und spazieren gehen war hier genauso möglich wie toben und plantschen.

Nachtigall hatte diesen neuen Wohnpark noch nie bewusst wahrgenommen und immer nur vom Auto aus flüchtig den Baufortschritt registriert. Nun war er beeindruckt von dem Ensemble, das hier innerhalb kurzer Zeit entstanden war. Arztpraxen, Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants – alles war zu Fuß gut erreichbar und auch in die Innenstadt war es ein Katzensprung.

Das Haus, in dem Wilhelm Mehring seine Wohnung hatte, lag im ruhigen Parkbereich. Die Stimme, die auf Nachtigalls Klingeln aus der Gegensprechanlage zu hören war und energisch nach dem Begehr des späten Störers fragte, klang befehlsgewohnt wie die eines pensionierten Offiziers.

»Kriminalpolizei also? Hauptkommissar Peter Nachtigall? Hmhmhmhm«, murmelte der hagere Mann. Das Alter hatte seine Gestalt leicht gebeugt und er brauchte eine Brille, um den Ausweis zu prüfen. Geduldig wartete Nachtigall, bis er damit fertig war und ihm den Dienstausweis zurückgab.

Herr Mehring führte ihn in ein überraschend modern eingerichtetes Arbeitszimmer, das so gar nichts mit der spießigen Atmosphäre im Hause seines Sohnes gemein hatte. Eine cognacfarbene Sitzecke vor einer grünen Wand, ein schlichtes Regal in hellem Holz mit unzähligen Büchern bestückt reckte sich bis unter die Decke. Abstrakte Figuren füllte die wenigen freien Fächer vollends aus. Auf einem Schreibtisch mit geeister Glasplatte stand ein aufgeklapptes Laptop, an dem Herr Mehring wohl gerade gearbeitet hatte. Der ältere Herr bot Nachtigall an Platz zu nehmen und setzte sich dann ebenfalls. Aus wachen, blassgrauen Augen sah er seinen Besucher interessiert an.

»Nun, Herr Nachtigall? Ich bekomme nicht oft Besuch von der Kriminalpolizei.«

»Es tut mir wirklich leid, Herr Mehring, aber ich platze mit einer schrecklichen Nachricht in Ihren ruhigen Abend: Ihr Sohn wurde heute während des Fußballspiels im Stadion ermordet.«

Das Gesicht zeigte keinerlei Regung. Wie fotografiert.

Nur die Hände auf den Oberschenkeln bewegten sich. Die Finger wurden gespreizt, zusammengeführt, erneut auf dem schwarzen Stoff der Hose gespreizt. Herr Mehring sah ihnen dabei zu, als handele es sich um exotische Forschungsobjekte und hätten mit ihm nichts zu tun.

Abrupt stand er auf und trat ans Fenster, starrte sein eigenes Gesicht in der schwarzen Scheibe an und fuhr sich mit beiden Händen durch sein volles, weißes Haar.

»Tot also«, sagte er nach einer Ewigkeit. Dann legte er die Hände hinter seinem Rücken ineinander, wo die Finger anfingen, sich umeinander herumzuwinden. Er wippte auf die Zehenspitzen und zurück.

»Ja. Es tut mir sehr leid.«

»So? Aber Sie kannten ihn doch gar nicht, oder?«

»Nein. Das ist wahr.« Was für ein sonderbarer Dialog. Nachtigall begann sich noch unwohler zu fühlen, als er es ohnehin schon tat, wenn er Angehörigen die schreckliche Nachricht vom Tod eines Familienmitglieds überbringen musste. Er beobachtete den alten Mann nachdenklich. Erschüttert schien er jedenfalls nicht zu sein – eher irritiert.

»Mein Sohn hatte viele Fehler, Schwächen, wie auch immer Sie das nennen wollen. Nicht alle waren verzeihlich. So wundert es mich eigentlich nicht, dass ihn jemand umgebracht hat. Wie ist es denn passiert?«

»Er wurde von hinten erstochen. Direkt ins Herz. Der Arzt meint, er müsse sofort tot gewesen sein.«

»Von hinten!«, empörte sich Wilhelm Mehring. »Feige! Tja, die Zeiten sind wohl endgültig vorbei, als man noch wusste, was sich gehört. Dem Feind ins Angesicht sehen! Aber von hinten! Nein, also wirklich!«

»Wer konnte ihm denn seine Schwächen nicht verzeihen?«, hakte Nachtigall sanft nach.

»Ich! Ich zum Beispiel. Mein Sohn war ein lausiger Chef – er hätte die Firma beinahe ruiniert! Von mir hat er eine prosperierende kleine Spedition übernommen, aber ihm fehlte jedes Verständnis für Zahlen.«

»Wie lange existiert die Spedition denn schon?«

»Seit 120 Jahren! Am Anfang hatten wir sogar noch zwei Kaltblütergespanne, die Transportkutschen zogen. Zu DDR-Zeiten lief die Firma zwar auf Sparflamme – aber sie hat immer zuverlässig die Familie ernährt. Ersatzteile für die Wagen waren damals ein Problem, aber es gab immer irgendeine Lösung. Und nach der Wende ging’s aufwärts mit dem Betrieb. Alle hatten plötzlich was zu transportieren! Wir konnten bald neue Fahrzeuge anschaffen, unser Angebot ausweiten. Seit sieben Jahren leitete nun mein Sohn das Unternehmen – und nur von einer Krise in die nächste!« Er hatte sich in Rage geredet, plötzlich zuckte er zusammen und senkte die Stimme etwas. »Er war einfach ungeschickt. In vielen Dingen«, stellte er abschließend nüchtern fest.

»Hatte jemand Grund, Ihren Sohn so zu hassen?«

»Tja, schwer zu sagen. Er war ein Mensch, der es nicht nur seiner Familie schwer gemacht hat, ihn zu lieben. Und seit ich ausgezogen bin, weiß ich ohnehin nur noch, was mir meine Enkel bei ihren seltenen Besuchen so erzählen. Meiner Schwiegertochter würde es nicht einfallen, mich zu besuchen. Sie geht jedem Streit aus dem Weg.«

»Soll das heißen, Ihr Sohn hat der Familie den Umgang mit Ihnen verboten?«, Nachtigall war perplex. Solch ein patriarchalisches Verhalten war ihm schon lange nicht mehr begegnet.

»Ja.«

»War Ihr Zerwürfnis nicht zu kitten?«

»Ich fürchte, ich habe ihm einmal zu viel vorgeworfen ein Totalversager zu sein. Meinen Sie nicht, das reicht für einen Riesenkrach mit anschließendem Rauswurf?«

Peter Nachtigall hustete verlegen. Nun ja, dachte er, im Alter von Hans-Jürgen Mehring war man nicht mehr bereit, sich vom eigenen Vater in dieser Weise beschimpfen zu lassen.

»Sie sind finanziell unabhängig?«

»Oh ja. Dafür habe ich stets Sorge getragen. Rauswerfen konnte er mich – ruinieren nicht.«

»Was haben wir?«, Nachtigall sah Michael Wiener und Albrecht Skorubski auffordernd an.

»Bisher noch keine wirklich neuen Informationen. Er war Eigentümer einer kleinen Spedition, war seit 32 Jahren verheiratet, zwei Söhne, der ältere, Paul, studiert an der BTU ›Environmental and Ressource Management‹ im Masterstudiengang, der jüngere hat die Schule abgeschlossen und Hannemann glaubt, dass er nun das Unternehmen weiterführen wird. Mehring war aktiv im Fußballverein, hat auch kleinere Spenden beigesteuert und war Vorstandsmitglied im Karnevalsverein. Da muss der Ärger mit dem Sohn ja vorprogrammiert gewesen sein«, fasste Skorubski zusammen. »Kein Wunder, dass der ausgezogen ist.«

»Haben wir seine Adresse?«

»Ja. Er wohnt nah bei der BTU in der Petersilienstraße.«

»Und die Videobänder?«

»Jede Menge Material. Auf den meischte siehsch du nur irgendwelche Fans, die randaliere. Bilder, die die Kollege ebe besonders interessiert habe. Aber es isch no viel Material übrig.«

»Gibt es denn überhaupt Bilder von dieser Seite der Tribüne?«

»Ja, scho. Der Kollege Hannemann meint, es müsstet welche komme – ich soll halt die Geduld net verliere ...«, seufzte der junge Mann wieder einmal im schönsten Dialekt.

»Bleib dran. Vielleicht sehen wir tatsächlich den Mord!«

»Ich hab meiner Freundin versproche, dass wir heut noch ins Kino gehen.«

»Wie viele Bänder sind es denn noch?«

Frustriert zeigte Michael Wiener auf einen Turm neben seinem Schreibtisch.

»Ich krieg die Bänder, mit dene die Kollege scho fertig sin. Ich hab kei Ahnung, wie viele da no komme.«

»Gut. Es ist fast 21 Uhr. Wir sehen uns morgen hier. Kontakt per Handy. Der jüngere Sohn muss befragt werden, der ältere auch, wir müssen sehen, ob Frau Mehring für ein Gespräch zur Verfügung steht, vorhin musste der Arzt alarmiert werden und der hat ihr eine Beruhigungsspritze gegeben. Die Vereine ...«

»Alles klar.«

Damit verschwand Wiener hastig aus dem Büro, bevor Nachtigall es sich noch einmal anders überlegen konnte.

»Ich habe hier noch eine kleine Information zu Paul Mehring im Computer gefunden«, erklärte Skorubski, während er nach dem Autoschlüssel suchte. »Er ist schon als Jugendlicher bei uns aktenkundig geworden, weil er jähzornig rumprügelte. Es gibt sogar einen Vermerk, der eine Therapie nahe legte. Der Vater, der seinen Sprössling bei uns abholte, lehnte das entschieden ab.«

»Du meinst, es gab vielleicht einen Streit und der Sohn hat den Vater erstochen?«

»Na, du hast doch gesagt, sie haben sich permanent in den Haaren gelegen.«

Nachtigall lachte. »Nur weil sie sich streiten, müssen sie sich doch nicht gleich gegenseitig umbringen! Stell dir nur vor, was hier sonst los wäre!«

»Aber möglich wär’s vielleicht schon, oder?«

Peter Nachtigall fuhr nach Hause. Seit ein paar Wochen lebte er mit Casanova, einem rotgetigerten Kater allein in seinem Reihenhaus in Sielow. Jule, seine Tochter, wohnte mit ihrem Freund Emile Couvier, der als Fachmann für operative Fallanalysen beim LKA arbeitete, in einer eigenen Wohnung in der Innenstadt direkt am Altmarkt. Der junge Psychologe hatte der Liebe wegen vom LKA Berlin nach Brandenburg gewechselt. Nachtigall seufzte.

Dem Hauptkommissar fiel es noch schwer, diesen neuen Zustand zu akzeptieren, er kehrte nicht gern mit seinen Mordfällen, Tätern und Opfern in ein leeres, dunkles Haus zurück und Casanova war kein wirklicher Ersatz für einen menschlichen Gesprächspartner. Doch er würde sich mit der Zeit schon daran gewöhnen – und ab morgen war auch Conny wieder von ihrem Kongress zurück. Ein wenig deprimiert bog er in seine Auffahrt ab und stellte voller Erstaunen fest, dass das gesamte Erdgeschoss hell erleuchtet war. Beschwingt sprang er aus dem Wagen und schloss die Tür auf. Pizzaduft erfüllte das Haus.

»Jule?«

»Hi, Papa. Wir dachten, du hättest vielleicht auch Lust auf Pizza«, rief sie ihm aus der Küche zu.

Emile hatte eine Flasche Wein mitgebracht und Jule erzählte während des Essens von ihren Plänen zur Gestaltung der neuen Wohnung. Nachtigall hörte entspannt zu und genoss voll väterlichem Stolz die Lebendigkeit, die seine schöne Tochter um sich herum verbreitete. Ihre dunklen Locken flogen um ihr schmales Gesicht, die grünen Augen sprühten vor Begeisterung und die zartgliedrigen Finger untermalten intensiv ihre Worte. Genau so war Birgit damals gewesen, als er sie zum ersten Mal getroffen hatte. Durch ihren Umzug nach Norwegen hatte sie sich selbst um das Vergnügen gebracht zu sehen, wie ähnlich ihr ihre Tochter geworden war, dachte Nachtigall, aber schließlich hatte sie den Kontakt so minimal wie möglich gehalten.

Als er später mit Casanova im Schlafzimmer zusammentraf und sie sich auf die unterschiedlichen Schlafplätze geeinigt hatten, war Peter Nachtigall bereit einzuräumen, dass er nach all den Höhen und Tiefen der letzten Jahre nun im Großen und Ganzen mit seinem Privatleben zufrieden sein konnte.

7

Montag

»Na, Michael. Guten Morgen. Kommst du voran?«

Wiener riss den Blick vom Bildschirm los und sah Peter Nachtigall mit leisem Vorwurf an. Der junge Mann trug wie Nachtigall selbst auch immer schwarze Kleidung und rückte nun umständlich seine Brille zurecht.

»Guten Morgen! Okay, es gibt ein Computerprogramm, mit dem könnt ich einem Verdächtige durch die Kassette folge – wenn ich halt einen hätt! So könne die Kollege ihre ›spezielle Freunde‹ auf den Bändern gezielt rausfiltern. Aber ich hab noch keinen!«, lachte er dann trotzig und machte sich mit einem Stapel Bänder auf den Weg zu den Kollegen, um sie gegen andere auszutauschen.

»Wir fahren zu Mehrings! Überprüfen die Alibis«, rief Nachtigall ihm hinterher und Michael Wiener winkte ihm im Gehen zu ohne sich umzudrehen.

Albrecht Skorubski starrte misslaunig vor sich hin, während er auf der Kreuzung auf der Madlower Hauptstraße darauf wartete, dass der Verkehr abriss und er endlich nach links in Richtung Kahren abbiegen konnte.

»Was ist los?«

»Warum ersticht man jemanden im Stadion? Das ist doch hoch riskant! Es hätte doch ausgereicht, wenn nur einer der Umsitzenden gemerkt hätte, dass mit dem Mann was nicht stimmt – und schon wäre es für den Täter verdammt eng geworden. Also wenn ich schon jemanden ermorden wollte, würde ich mich mit ihm an einem möglichst entlegenen Ort treffen.«

»Aber an einem verlassenen Ort gesehen zu werden, an dem ein Mord begangen wurde, ist viel verdächtiger, als zufällig mit Tausenden anderer in einem Stadion gewesen zu sein, in dem jemand getötet wurde.«

»Ja, ja, stimmt schon! Aber vor laufender Kamera! Heute weiß doch jeder, dass die Polizei im Stadion filmt!«

»Gut. Ich wage jetzt eine Prognose, Albrecht«, leitete Nachtigall seine Worte mit einer gewissen Dramatik ein. »Ich sage dir: Der Täter wird auf dem Videoband zu sehen sein, vielleicht sogar der Mord selbst – aber wir werden nicht in der Lage sein, ihn zu identifizieren.«

»Aber wenn wir den Mord sehen, wissen wir auch, wer ihn begangen hat!«, protestierte Skorubski.

»Wir werden den Mord sehen – aber es wird uns nichts nützen«, beharrte Nachtigall.

Markus Mehring öffnete die Tür und Nachtigall sah ihm an, dass er sie ihnen am liebsten einfach wieder vor der Nase zugeknallt hätte.

»Wir haben noch ein paar Fragen«, stellte der riesenhafte Hauptkommissar schulterzuckend fest.

»Aha.«

Der junge Mann, der zu Nachtigall aufschauen musste, ließ sie eintreten.

Skorubski zückte seinen Dienstausweis, doch der Sohn winkte gleichgültig ab.

»Meine Mutter ist nicht vernehmungsfähig«, trumpfte er dann auf und präsentierte ein ärztliches Attest.

»Ja. Das dachte ich mir schon. Wir wollten mit Ihnen sprechen«, erklärte Nachtigall freundlich.

»Wir hatten doch erst gestern ein ausführliches Gespräch. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, worüber wir uns noch unterhalten müssten.«

Er führte die frühen Besucher in seine Wohnung. Die typische Junggesellenunordnung, die Nachtigall nur zu gut kannte, empfing sie.

»Kaffee?«

»Gerne.«