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Die Lausitz, Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein Unwetter tobt über dem Branitzer Schlosspark. Als begeisterter Landschaftsarchitekt ist Fürst Pückler besorgt und schickt am nächsten Morgen seine Gärtner aus. Sie sollen ihm berichten, ob Bäume beschädigt wurden. Bei ihrem Rundgang machen sie einen grausigen Fund: In den Wurzeln eines umgestürzten Baums hängt ein toter Knabe. Sein Körper ist übersät von blutigen Wunden. Im Ort kommt Unruhe auf und das Volk entwickelt abenteuerliche Theorien. Hat etwa der alte Fürst etwas mit dem Verbrechen zu tun?
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Seitenzahl: 447
Franziska Steinhauer
Sturm über Branitz
Historischer Kriminalroman
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© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2011
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Christoph Neubert
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart,
unter Verwendung des Bildes »Mann und Frau den Mond betrachtend« von Caspar David Friedrich; Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Caspar_David_Friedrich_028.jpg
Bildnachweise: S. 5: Fürst Pückler-Muskau, Holzstich, In: Gartenlaube, 1863, Stiftung-Fürst-Pückler-Museum Park und Schloss Branitz;
Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/
2/20/Die_Gartenlaube_(1863)_b_428.jpg;
S. 451: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pückler_alt.jpg;
S. 463: http://commons.wikimedia.org/wiki/
File:Fürst_Pückler_in_moslemischer_Tracht.jpg
Druck: Appel & Klinger, Schneckenlohe
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-3698-7
Rabenschwarze Finsternis.
Ein fürchterliches Unwetter toste durch Branitz und den Schlosspark, zerrte an den Kronen der Bäume und zwang sie zu einem ungleichen Kräftemessen.
Er stand am Fenster und starrte besorgt in die Finsternis hinaus.
Dicke Regentropfen peitschten gegen die Scheiben der Bibliothek. Der ums Haus heulende Sturm zwängte sich selbst durch die schmalsten Ritzen und verführte die Flammen der Kerzen zu einem wilden Tanz.
»Die Realität ist nichts, der Traum ist alles! Aber ach, so ist es nun doch die Realität, die versucht, der Fantasie den Garaus zu machen«, murmelte der weißhaarige Mann ungehalten. »Und schon morgen muss der Träumer seinen Park wieder an der Fantasie ausrichten.«
Im Haus war es vollkommen still.
Einzig das prasselnde Feuer und das unter anderen Umständen als gemütlich empfundene Knacken der Holzscheite zeugten davon, dass hier zu dieser späten Stunde noch jemand arbeitete.
Der Fürst stierte durch sein im unregelmäßigen Glas der Scheiben verzerrtes Spiegelbild und erhaschte, wenn der Sturm die Wolken für einen kurzen Moment auseinandertrieb, einen Blick auf sich biegende Äste, Bäume und Sträucher, die sich krümmten wie in einer geheimnisvollen Choreografie.
Ob die neu gesetzten Solitärbäume diesen elementaren Kräften würden trotzen können? Die Sommerlinde, die er am Weg hatte setzen lassen, der zum Tumulussee führte, der Ahorn am Kugelberg, die Silberweide am See? Flachwurzler, die noch kaum Gelegenheit bekommen hatten, den Boden um die Pflanzkuhle mit ihren Wurzeln zu erkunden. Stolze Riesen waren sie allemal. Entdeckt und erworben bei einer Fahrt durch den Spreewald, die er vor Kurzem erst unternommen hatte. Mit ein wenig Glück würden die Halteseile und Metallanker ein Umstürzen verhindern.
Seine Augen wanderten zum Feuerschutz vor dem Kamin.
Er schien die meisten Funken sicher abzuhalten. Nicht auszudenken, wenn seine Bibliothek Feuer finge! Unruhig geworden, trat er zum Kamin und rückte die Schutzwand etwas dichter an die lebhaften Flammen heran.
Seine Nichte Marie-Hermine hatte ihr Kommen für das Ende des Monats angekündigt. Natürlich brannte er darauf, ihr die neu entstandenen Ecken zu zeigen, verwunschene Orte, die schon bald beim Flanieren zu einem Aufenthalt einladen würden. Nur zu gern wollte er ihre Meinung dazu hören. Fehlte ihm doch schmerzlich der Austausch mit seiner geliebten Frau Lucie. Ihr Verlust an den Tod war noch immer eine schwere Bürde und nicht selten haderte er mit dem Schicksal, das sie ihm auferlegt hatte.
Es war die richtige Zeit im Jahr, einen Eindruck von all jenem zu gewinnen, was in den vergangenen Monaten unter seiner Anleitung geschaffen werden konnte. Nach dem Sommer, in der Zeit des Übergangs in den Herbst, präsentierten sich manche Bereiche des Parks in beeindruckender Weise. Gewiss, dachte er, dieser Park wird viel kleiner als jener in Muskau, aber er soll ihm in seiner Wirkung nicht nachstehen. Ein Landschaftsgarten für die Ewigkeit.
Die Tumuli waren schon fertig angelegt, eine große Herausforderung für Planung und Durchführung. Eine Erdpyramide, wie sie in der Gegend seit Jahrtausenden üblich waren, die sich als beständiger erwiesen als ihre steinernen Vettern in Ägypten, und gegenüber eine Wasserpyramide. Seine Gruft.
Sicher, der Wind würde mit der Zeit ihre Kanten schleifen, doch sie bliebe in ihrer Pracht auf ewig erhalten. Die Ausschachtungsarbeiten für die Erweiterung des Tumulussees waren gut vorangekommen, nicht zuletzt dank des Einsatzes von bis zu 60 Strafgefangenen des Königlichen Central-Gefängnisses in Cottbus.
Stück für Stück nahm dieser Park Gestalt an, dort, wo er zunächst nur sandige öde Ebene und einen großen Haufen Mist vor dem Schloss vorgefunden hatte.
Lautes Krachen unterbrach seine Überlegungen.
Er zuckte heftig zusammen.
Nun, auch in Muskau hatte es immer wieder einmal Rückschläge gegeben, auch durch Stürme und andere schwere Wetter. Es gab nichts, was er nicht beheben konnte, davon war er überzeugt.
Er trat wieder ans Fenster.
Musterte kritisch sein Spiegelbild.
Die schwarze Scheibe zeigte ihm einen schlanken, nach gängiger Meinung nicht überragend gutaussehenden Mann, der, obschon sein schlohweißes Haar davon Zeugnis ablegte, dass er kein Jüngling mehr war, kraftvoll und entschlossen genug wirkte, die heute Nacht entstandenen Schäden anzupacken und zu beseitigen.
Er richtete sich kerzengerade auf. »So schlimm kann es gar nicht werden, dass es dich an deine Grenzen bringt«, sprach er sich leise Mut zu. »Du bist gut erholt und hast bewiesen, dass du mit deinen 80 Jahren über viele Stunden Seite an Seite mit deinen Gärtnern arbeiten kannst.«
Zu diesem Zeitpunkt ahnte er freilich noch nichts von dem haarsträubenden Abenteuer, in das er schon bald verwickelt würde.
Franz, Wilhelm und Kaspar liefen mit schnellen Schritten vom Friedhof her durch den Park.
Ganz mit anderen Problemen beschäftigt, hatten sie kein Auge für die entstehende Schönheit der Anlage oder die während des Unwetters geschlagenen Scharten.
»Bleib doch mal stehen!«, forderte Wilhelm.
Kaspar beschleunigte seine Schritte.
»Lasst mich bloß in Ruhe! Wir sollen nach Sturmschäden Ausschau halten. Der Fürst wartet auf eine Meldung. Vielleicht geht er auch selbst durch den Park– und dann trifft er auf mich, einen seiner Gärtnergehilfen, der sich hier mit Freunden unterhält! So was riskier ich nicht!«, erklärte er etwas außer Atem.
»Nun erzähl schon! Wie ist es mit Sofia gewesen?«, bedrängte Franz den Freund.
Kaspar wand sich. »Das ist kein Thema für euch!«
»Hab dich nicht so!«, forderte auch Wilhelm aufgeregt.
»Was denkt ihr denn? Darüber spricht man nicht! Das geht nur Sofia und mich etwas an!« Kaspar erhöhte noch einmal das Tempo.
»Haha! Du konntest sie nicht überzeugen, sich küssen zu lassen! Gib es nur zu: Die Dame hat sich geziert und du kamst nicht zum Zuge!«, zog Wilhelm den anderen auf.
»Ich glaube, wir brauchen ein paar handgreiflichere Argumente, um seine Zunge zu lockern«, drohte Franz, begann, die Ärmel seines zu dünnen Hemdes hochzukrempeln und schüttelte scherzhaft die geballte Faust unter Kaspars Nase.
»Versuch’s!« Ehe sich die beiden Freunde versahen, war Kaspar losgestürmt, schlug geschickt ein paar Haken, wetzte um die nächste Ecke, raste in Richtung Kugelberg davon. Entschlossen setzten die beiden anderen ihm nach.
Nach drei weiteren Bögen, scharfen Kanten und überraschenden Richtungswechseln blieb Kaspar so plötzlich stehen, dass Franz ungebremst in Wilhelm krachte, weil er so schnell nicht abbremsen konnte.
Sprachlos starrten sie auf das albtraumhafte Bild, das sich ihnen bot.
Sofia und alle Geheimnisse um das nächtliche Treffen mit dem Gärtnergehilfen waren vergessen.
In einem Anflug von guter Erziehung zog Kaspar hastig seine Mütze vom Kopf und presste sie atemlos mit beiden Fäusten gegen seine magere Brust.
»Oh Gott! Was ist das?«, fragte der lange Wilhelm mit so hoher Stimme, dass der Gehilfe erschrocken herumwirbelte und ihn verwundert ansah.
»Lebt er noch?«, hauchte Franz neugierig, äugte über Wilhelms Schulter und strubbelte durch seine halblangen schwarzen Haare.
»Schau doch richtig hin! Wie kann der wohl noch am Leben sein?« Wilhelm, der zwar seinen burschikosen Ton wiedergefunden hatte, aber noch immer unnatürlich bleich war, schubste Franz ein Stück vor. »Nein, nein! Der tut dir nichts mehr, du Angsthase!«
»Wie ist der bloß hierhergekommen?«, murmelte Kaspar und machte Anstalten, näher heranzugehen. Schaffte aber nur einen halben Schritt auf die Stelle zu, an der durch den Sturz des Baumriesen das gesamte Wurzelwerk aus der Erde gerissen worden war.
»Nicht!«, warnte Wilhelm. Packte den Freund mit eisernem Griff an der Wolljacke. Riss ihn auf den Weg zurück. »Weißt du denn nicht, dass sie giftig sind?«
»Er hat recht. Man muss Abstand halten!«, wusste auch Franz.
Der Körper des Knaben war auf beunruhigende Weise mit den Wurzeln des Baumes verwoben. Als hielten sie ihn wie Finger für die Ewigkeit umklammert und wären nicht bereit, ihn an die Welt der Menschen abzutreten.
Dem Jungen hing die Zunge aus dem Mundwinkel, erdig und fast schwarz. Beide Augen, trübe und ohne Glanz, waren aus den Höhlen getreten. Um seinen Hals wand sich ein grüner Seidenschal, von Goldfäden durchwirkt, der so gar nicht zu der eher ärmlichen Kleidung passen wollte, die er außerdem am Leib trug. Ein hüftlanges weißes Hemd aus grobem Stoff umflatterte den Körper, einige der Knöpfe fehlten. Die Hose reichte nur zur halben Wade, war verschlissen und an manchen Stellen lieblos geflickt. Alles starrte vor Schmutz. Strümpfe oder gar Schuhe trug er nicht.
»Unheimlich!«, stellte Kaspar fest. »Meint ihr, der ist da irgendwie reingeraten?«
»Nie und nimmer!«, entschied Franz großspurig. »War der schon immer so dünn, oder ist das später passiert?«
»Woher sollen wir das wissen? Ich habe den noch nie zuvor gesehen!« Kaspar kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Die Haarfarbe wäre mir doch aufgefallen!«
»Schade, dass von seinem Gesicht nur so wenig zu erkennen ist. Das meiste fehlt ganz«, bedauerte Franz und gab vor, sich nicht zu grausen.
»Diese Würmer überall!« Wilhelm schüttelte sich angewidert. »Wie bei dem toten Schwein damals, wisst ihr noch? Das wir an der Spree gefunden hatten?«
Die Freunde nickten.
»Wenn ich da noch lange hingucken muss, wird mir schlecht!«, verkündete Kaspar. »Was machen wir denn jetzt?«
Das war ein echtes Problem. Eigentlich sollten die drei längst ihr Tagwerk begonnen haben.
»Meister Julius kriegt einen schrecklichen Wutanfall. Ich müsste schon seit einer ganzen Weile in der Backstube sein«, fiel Wilhelm ein und er schlug sich erschrocken mit der Hand gegen den Kopf.
»Dann sollten wir besser einem der Gärtner von dem Toten erzählen. So macht es im Dorf die Runde und bestätigt unsere Geschichte. Dein Meister wird Verständnis haben!«, behauptete Kaspar.
»Der Petzold wohl nicht!«, dämpfte Franz die Erwartungen des anderen. »Das gibt gewaltig Ärger. Der wird toben! Der Stall sollte zu dieser Zeit ausgemistet sein. Das setzt eine ordentliche Tracht Prügel!«, orakelte er dann. »Am Ende wirft er mich raus!«
Der erneut aufflackernde Wind griff nach dem Leichnam und wiegte ihn hin und her, wie in den letzten Schlaf.
Entgeistert stierten die drei Freunde auf den Arm des Toten, der sie heranzuwinken schien.
»Mein Gott! Lasst uns von hier verschwinden! Er will uns mit in sein Grab locken, wir sollen ihn begleiten. Bestimmt ist er ein Nachzehrer.«
»Oh, von denen erzählt mein Vetter Siegfried auch. Du weißt schon, der beim Totengräber arbeitet. Er meint, wenn man über den Friedhof geht, hört man sie in den Gräbern schmatzen!«, zischte Franz. »Solche wie er, die wollen errettet werden.«
»Und wovon? Wie?«, fragte Kaspar mit gesenkter Stimme.
Keiner hatte sich auch nur einen Schritt wegbewegt, es war, als stünden sie unter einem unheilvollen Bann.
»Wahrscheinlich liegen wir übers Jahr auch in der Grube!«, jammerte Wilhelm. »Vielleicht konnte er irgendeine Aufgabe nicht zum Abschluss bringen und will, dass wir für ihn …«
»Diese Nachzehrer winden sich in ihren Gräbern, kauen an ihren Leichentüchern und geben sich erst zufrieden, wenn ihnen andere in den Tod gefolgt sind!« Franz’ Stimme hatte einen unheimlichen Klang.
Als Wilhelm sich zu ihm umdrehte, glaubte er zu sehen, wie Franz’ borstige Haare sich sträubten und weit vom Kopf abstanden, als habe er versäumt, die Seife gründlich auszuspülen. Wie versteift. Das ist das Grauen, dachte er, weil er weiß, dass wir nun ebenfalls sterben müssen. Siegfried hatte ihm das sicher erklärt, so wie Wilhelms Großmutter ihren Enkel schon vor Jahren über das unheimliche Wesen der Nachzehrer aufgeklärt hatte.
Kaspar schüttelte sich, als könne er den Fluch damit vertreiben.
»Ich glaube nicht an so was. Mein Vater sagt, wer tot ist, der verrottet, und es dauert nicht lange, bis kaum mehr etwas übrig bleibt. Außerdem ist nichts zu hören, wenn man nachts über den Friedhof geht, bestenfalls irgendeine Eule.«
»Was sollen wir nun tun?«, fragte Wilhelm rasch dazwischen. Er wusste genau, wie leicht sich zwischen den beiden anderen eine Rauferei entwickeln konnte, und dazu hatten sie nun wirklich keine Zeit.
»Wir geben den Gärtnern Bescheid. Sollen die sich um die Angelegenheit kümmern. Im Grunde geht uns der Junge nichts an, wir kannten ihn ja nicht einmal!«, entschied Franz, sah vorwurfsvoll zu den Wolken auf. »Außerdem fängt es an zu regnen.«
Lang mussten die Freunde nicht suchen.
Die Gärtner waren nach dem verheerenden Sturm schon im anbrechenden Tageslicht unterwegs, um Schäden festzustellen und zu entscheiden, was zur Rettung der einzelnen Pflanzungen unternommen werden sollte.
So kam es, dass nur wenig später ein ratloser gesetzter Herr vor dem Leichnam stand und sich am Kinn kratzte. Er betrachtete den Körper, grunzte unzufrieden. Nach und nach kamen andere hinzu, blieben schweigend stehen.
»Was nun?«, fragte Christian Sommerfeld, der Obergärtner. »Kennt jemand den Jungen?«
Er drehte sich einmal um sich selbst und sah nur leere Gesichter und einheitliches Kopfschütteln.
»Wir haben ihn auch noch nie gesehen!«, beteuerte Wilhelm stellvertretend für die Freunde.
»Lukas, lauf zurück und hol die Karre. Wir können ihn doch nicht da hängen lassen. Es regnet!«, gab Sommerfeld Anweisung. »Bernd, du rennst zum Schloss und gibst dort Bescheid.«
»Das stört den nicht mehr«, flüsterte Franz in Wilhelms Ohr. Jetzt, wo sich so viele an diesem unheimlichen Ort eingefunden hatten, fürchtete er sich deutlich weniger.
Sommerfeld hatte das Geflüster gehört. Mit traurigem Blick wandte er sich den Freunden zu. »Einen Arzt braucht er nicht mehr, das stimmt sicher. Stellt sich die Frage, wie der Körper hierhergelangen konnte. Eine einfache Erklärung dafür will mir auf die Schnelle nicht einfallen!«
»Ungewöhnliche Haarfarbe.« Walter, ein Aushilfsgärtner, runzelte die Stirn. »Ich kann mich gar nicht erinnern, so jemanden in letzter Zeit gesehen zu haben.«
»Er muss ja nicht aus dem Ort stammen.«
Allgemeines Gemurmel. Erste Mutmaßungen machten die Runde.
»Bei den Sträflingen, da waren gelegentlich ein paar mit rotem Haar dabei!«
»Sind doch erst vor einer Weile zwei weggelaufen. Könnte sein, das ist einer von denen.«
»Der ist aber ziemlich jung, ich glaube nicht, dass der hier bei uns im Park gearbeitet hat. Bestimmt wäre mir der aufgefallen«, meinte Walter und zuckte bekümmert mit den Schultern.
Erneute Unruhe breitete sich über dem Park aus, als eine Gruppe sich vom Schloss her näherte.
»Der Fürst selbst ist dabei!«, wisperte Sommerfeld den Jungen zu, die beeindruckt ihr Getuschel beendeten und mit offenen Mündern der Gestalt im orientalischen Gewand, weißer Hose und Fez entgegenstarrten. »Bestimmt hat er wieder die ganze Nacht durchgearbeitet und war noch auf, als die Nachricht überbracht wurde.«
»Können wir an unsere Arbeit gehen?«, flüsterte Kaspar dem Gärtner zu, der nach kurzem Bedenken nickte. In der nächsten Sekunde waren der Gehilfe, Wilhelm und Franz verschwunden.
Schmunzelnd sah Sommerfeld ihnen nach. Ihre Namen waren bekannt, wenn er später noch etwas mit ihnen zu klären hatte, würde er sie zu finden wissen. Außerdem war ihm nur allzu bewusst, dass die zwei Freunde Kaspars zu spät zur Arbeit kamen und sie ganz sicher Ärger erwartete.
Wild gestikulierte der Obergärtner in Richtung der Gruppe, die unter Führung des Fürsten zügig näher kam.
Doch das aufgeregte Winken wäre gar nicht notwendig gewesen.
Was hier zu finden war, ließ sich nicht übersehen.
Als die Debattierenden die Gärtner fast erreicht hatten, wies Sommerfeld mit ausgestrecktem Arm auf das dem Erdreich entrissene Wurzelwerk.
»Dort hängt ein Knabe!«, rief er unnötig laut.
Schnell bildete sich ein stummer Halbkreis. Aller Augen waren auf das Unglaubliche gerichtet.
»Wie kann dieses leblose Kind zwischen die Wurzeln geraten sein?«, wollte der Fürst wissen. Seine Stimme verriet eine gewisse Überraschung, doch schwang eine gehörige Portion Zorn darin mit.
Christian Sommerfeld spürte mit unangenehmer Deutlichkeit, dass von ihm eine logische Antwort erwartet wurde. Ihm brach der Schweiß aus. Er räusperte sich: »Ich habe keine Erklärung. Als wir vor etwa zwei Wochen diesen Baum gesetzt haben, war nichts Ungewöhnliches im Pflanzloch zu bemerken.«
Hermann von Pückler machte eine unwirsche Handbewegung und schnitt Sommerfeld damit das Wort ab. Er trat vor, um den Leichnam genauer in Augenschein zu nehmen.
»Es ist dies nicht der erste Tote, dem ich in meinem Leben begegne. Und«, er ging noch näher heran, umrundete in engem Bogen die Grube im Boden, »ich kann mit Sicherheit sagen, dass dieses Kind kein Opfer eines Unfalls wurde. So sehen die Züge derer aus, die den Tod durch Erdrosseln erleiden mussten.« Er wandte sich an sein Publikum auf dem Weg: »In vielen Ländern der Erde eine durchaus übliche Methode der Bestrafung. Was allerdings nicht erklärt, wie er in meinen Park gelangen konnte!«
»Ein Händel zwischen Strauchdieben vielleicht«, rang sich Christian mühsam eine Vermutung ab. »Einer brachte den anderen zu Tode, verscharrte ihn hastig und machte sich mit dem erbeuteten Diebesgut davon.«
»Jene drei Knaben, die vor unserer Ankunft das Weite suchten, haben nichts mit der Angelegenheit zu tun?« Hermann von Pückler-Muskau sah seinen Obergärtner streng an.
Christian Sommerfeld empfand einen körperlichen Schmerz, als sich des Fürsten Blick in seine Augen bohrte. Ihm war, als könne dieser bis auf den Grund seiner Seele schauen. Der Obergärtner beeilte sich zu versichern, die drei Burschen kämen aus Branitz und hätten den toten Jungen nur zufällig entdeckt, eine Verstrickung in das Geschehen sei ausgeschlossen. »Sie kannten ihn nicht einmal«, schloss er seinen kurzen Bericht.
Der Fürst blieb argwöhnisch.
Misstrauen und anhaltende Verärgerung prägten sein Verhältnis zu den Branitzern, die seinen Bemühungen um die Gestaltung des Landschaftsparks um das Schloss oft nur wenig Verständnis entgegenbrachten.
»Verständigt Albert Bidault. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Ortspolizeibehörde fällt dieser Tote in seine Zuständigkeit. Er wird dafür Sorge tragen, dass sich ein Polizist aus Branitz das ansieht. Danach hängt ihr den Unglücksraben ab und bringt ihn dem Pfarrer. Wir versuchen, den Baum wieder aufzurichten. Bereitet Stützen vor, stabilere als die letzten, die ihn beim Sturm nicht zu halten vermochten. Dieses Mal versäumt nicht Metallanker durch die Wurzeln ins Erdreich zu schlagen! Hättet ihr das beim Setzen beachtet, wäre er wohl nicht umgerissen worden. Seile und Seegrasmatten zum Unterlegen. Sommerfeld! Sie beaufsichtigen die Arbeiten hier– wir gehen weiter«, entschied Pückler und setzte sich mit seinem Tross in Bewegung.
Doch für Branitz war die Sache noch lange nicht erledigt.
Kaum war der Fürst außer Sicht, näherten sich die ersten Neugierigen dem Baum.
Zwei Frauen mit Hauben und erdbeschmutzten Kleidern aus dunklem, derbem Stoff. Vielleicht kamen sie aus dem Küchengarten des Schlosses. Sommerfeld jedenfalls kannte sie bestenfalls vom Sehen und selbst dessen war er sich nicht sicher. Erfolglos versuchte er, sie an ihre Arbeit zurückzuscheuchen.
»Ach, herrje! Der arme Junge!«, jammerte die eine der beiden.
»So jung! Was für eine Tragödie für seine Familie«, setzte die andere hinzu, von der Sommerfeld zu wissen glaubte, dass sie Susanne hieß.
»Das kannst du doch gar nicht wissen!«, fuhr der Obergärtner die Frauen an, die erschrocken auseinanderstoben. »Vielleicht war er ein Nichtsnutz! Ein Taugenichts! Ein Dieb oder Wegelagerer!«, schrie er ihnen hinterher, als sie mit wehenden Röcken davonliefen.
Als er sich umdrehte, um zu sehen, wo denn Lukas mit der Schubkarre bliebe, traute er seinen Augen kaum: Ein Dutzend Leute kam herbeigeeilt, um den toten Jungen zu sehen. Empörend!, dachte er, einfach empörend!
»Aber ja! Wir haben ihn gefunden! Einen toten Jungen!«
»Du lügst mir hier was vor, um dein Zuspätkommen zu entschuldigen!«, wetterte der Bäckermeister. »Wie soll denn ein toter Bursche zwischen Baumwurzeln geraten?«
»Das haben sich sicher alle gefragt.«
»Und– wie lautet die Antwort?«, fragte der Meister süffisant. »Bestimmt weißt du es nicht!« Schwungvoll rammte der dicke Mann seinen Ellbogen in die Lende des Knaben, der beim Erzählen aufgehört hatte, den Teig zu kneten. Wilhelm stöhnte auf.
»Stell dich nicht so an. Einen kleinen Knuff wirst du schon vertragen. Also?«
»Solange ich die Stimmen noch hören konnte, hatten sie keine Lösung des Rätsels gefunden. Der Fürst hat angeordnet, den Polizisten zu verständigen und den Jungen dann abzuhängen. Man sollte ihn zum Pfarrer bringen.«
»Zum Pfarrer. So so. Zum Reden brauchst du deine Hände nicht! Mach mit dem Kneten weiter! Das ist noch keine glatte Masse.«
»Der Fürst hat festgestellt, der Junge sei ermordet worden. Kein Unfall!«, berichtete der Lehrling weiter und zwang sich, den Teigklumpen weiter zu bearbeiten. »Ich habe den Fürsten noch nie von so nah gesehen. In der Kutsche ist er mal an mir vorbeigefahren. Aber so, noch nie«, murmelte der Junge fast ehrfürchtig. »Er sieht seltsam fremdartig und faszinierend aus.«
»Kein Unfall? Hm. Und du bist sicher, dass du ihn nicht kennst?«
»Was soll ich sagen? Sein Gesicht, nun ja, es war nicht mehr vollständig. Da ist es schwer, jemanden zu erkennen. Tot war er, das haben wir gleich gesehen.«
»Aber du glaubst«, Meister Julius dehnte das Wort deutlich, »du bist ihm nie zuvor begegnet?«
Wilhelm nickte.
»Ich kenne niemanden mit rotem Haar.«
»Wer hat rote Haare?«, durchschnitt die Stimme von Anna, der Bäckersfrau, unangenehm die friedliche Atmosphäre der Backstube. »Wer?«
»Der tote Junge aus dem Schlosspark«, erklärte der Meister unbehaglich.
»Ein Kind des Teufels! Hier bei uns?«, kreischte Anna entgeistert und verschwand schneller, als sie aufgetaucht war.
»Jetzt läuft sie rüber zum Schneider«, murrte ihr Mann. »Statt Brot zu verkaufen, muss sie dessen Frau Ulrike nun vom Teufelsbraten erzählen. Du wirst sehen, es dauert keine zwei Stunden und jeder hier in Branitz weiß Bescheid.« Die Worte des Bäckers bezeugten seine Lebenserfahrung. Doch diesmal hatte er sich getäuscht. Es dauerte keine Stunde, bis die Nachricht sich verbreitet, jedes Haus erreicht und sich wie ein Lauffeuer auf den Weg nach Cottbus gemacht hatte.
Der herbeigeeilte Dorfpolizist, Siegfried Hausmann, warf einen langen, sehr nachdenklichen Blick auf den weißen Körper des Getöteten.
»Erdrosselt. Kein Zweifel.« Er hielt Abstand zu Baum und aufgerissenem Pflanzloch, ruckelte immer wieder sein Koppel zurecht, verschränkte danach die Hände erneut auf dem Rücken und ging geschäftig auf und ab. Klein und dick, wie er war, wirkte das auf die Umstehenden nicht überzeugend.
»Und rote Haare hat er! Eher untypisch für unsere Gegend!« Hausmann spürte die Blicke der Neugierigen in seinem Rücken und beschloss nun doch, sich dem Leichnam zu nähern, um nicht feige zu wirken. Mit spitzen Fingern zog er das Hemd des Jungen etwas auseinander. »Da sind noch mehr Verletzungen! Blaue Male. Als habe er sich heftig geprügelt.«
»Meine Jungs sind auch ständig in irgendwelche Händel verstrickt. Ich glaube nicht, dass man dem zu viel Bedeutung beimessen sollte«, erklärte der neugierig herbeigelaufene Kutscher mit amüsiertem Spott. »Meist geht es um Weibergeschichten!«
Die Versammelten kicherten leise.
Wandten sich dabei ab von dem grauenvollen und dennoch elektrisierenden Anblick, als könne ihr Gelächter den Toten erzürnen.
»Nun, dieser Schal könnte durchaus einer wohlhabenden Frau gehört haben«, versuchte Hausmann, seine Wichtigkeit zu behaupten.
»Was sagst du da? Eine Frau hat ihn getötet? Eine Frau? Bei meinem Seelenheil, wie entsetzlich!«, kreischte eine der jungen Zofen und sank in die starken Arme der Köchin.
Hermann Fürst von Pückler hatte in der Zwischenzeit die Inspektion des Geländes fortgesetzt. Wenn er sich bis zu diesem Moment noch eine gewisse Hoffnung bewahren konnte, die Schäden könnten sich in Grenzen halten, sah er nun ein, dass viel zusätzliche Arbeit nötig wurde, um Bäume zu stützen und angebrochene Äste zu schienen oder zu entfernen. Andere mussten eingesammelt werden, einige, wie zum Beispiel der zwei Männeroberschenkel dicke, der als unüberwindliche Barriere die Zufahrt zum Schloss blockierte, mussten an Ort und Stelle zersägt und abtransportiert werden. Ihre Arbeit wurde ein ganzes Stück zurückgeworfen.
Verzögerungen wollte der Fürst nicht hinnehmen.
Er hatte keine Lebenszeit mehr zu verschenken!
Von Ferne sahen sie über die Wiese hinweg, wie sich die Gruppe um Hausmann stetig vergrößerte.
Stimmengewirr drang bis zu ihnen hinüber. Christian Sommerfeld, der sich nach dem Eintreffen des Polizisten einer Gruppe von Gärtnern angeschlossen hatte, musterte die Versammlung besorgt.
»Die Menschen sind aufgeregt«, stellte er überflüssigerweise fest.
»Das sind sie die meiste Zeit ihres Lebens!«, gab Pückler unwirsch zurück. »Hauptsache, die Unruhe behindert nicht die Arbeit im Park.«
»Wenn Sie nicht möchten, dass die Branitzer noch widerständiger werden als bisher, wäre es vielleicht eine gute Idee, ein Zeichen zu setzen«, riet der Obergärtner.
»Wie sollte das wohl aussehen? Die Polizei wird sich des Falles annehmen. Es ist Zufall oder Unglück, dass dieses Kind im Schlosspark gefunden wurde. Mit uns hat dieses Verbrechen nichts zu tun«, widersprach der Fürst und wusste doch, wie recht Sommerfeld hatte. »Die Unruhe wird bleiben. Ein toter Junge ist nun mal nicht wegzudiskutieren.«
»Das stimmt natürlich. Aber es könnte die Leute beruhigen, wenn Sie Ihren Arzt bitten würden, sich den Leichnam genauer anzusehen. Ganz nebenbei signalisieren Sie Ihren guten Willen, an der Aufklärung mitzuwirken.«
»Der Junge ist nicht mehr zu retten, so viel ist gewiss. Dennoch ist die Idee nicht schlecht. Ich werde ihn bitten, sich den toten Burschen genauer anzusehen«, stimmte der Fürst unfreundlich zu. »Schon um auszuschließen, dass er irgendeine ansteckende Seuche in sich trug. Am Ende bringt er Typhus über Branitz.«
Sommerfeld verneigte sich leicht.
Hermann von Pückler hielt das Thema damit für erschöpfend besprochen und beendet. Sein besorgter Blick richtete sich gen Himmel. Neue, finstere Wolken schoben sich über Westen heran.
»Die Gärtner sollen sich sputen. Alle gelockerten Bäume müssen gefunden und gekennzeichnet werden. Nach Möglichkeit müssen sofort Maßnahmen zur Stabilisierung eingeleitet werden. In diesen Wolken ist noch deutlich mehr Sturm verborgen!«
Noch am selben Vormittag entkleidete Dr.Priest, ein Arzt, der für seine eigenwillige Forschung an leblosen Objekten berühmt und berüchtigt war, den unter so eigenartigen Umständen gefundenen Leichnam und unterzog ihn einer gründlichen Untersuchung. Deren Ergebnis war für alle Anwesenden schockierend.
»Es handelt sich um einen unterernährten Knaben im Alter von 14-16 Jahren. Frische und ältere Narben belegen, dass er zu Lebzeiten des Öfteren mit einer Peitsche gezüchtigt wurde. Was entweder auf seinen eigenen schlechten oder zumindest schwierigen Charakter schließen lässt oder auf eine unbändige Freude an körperlicher Bestrafung von Seiten des Erziehers«, hielt der Arzt fest. »Der Körper ist übersät mit Bisswunden. An delikaten Stellen zeigen sich erhebliche Verletzungen. Handgelenke und Fußknöchel weisen Spuren von energischer Fesselung auf.«
»Gestorben ist er aber durch Erdrosseln?«, versicherte sich Hausmann, der bei dieser Aufzählung immer nervöser geworden war.
»Ja. Eindeutig. Hier am Hals findet sich eine tiefe Furche. Das ist die Spur, die eine Drossel hinterlässt. In diesem Fall ist es mir gelungen, Fasern zu entdecken. Der Farbe und Konsistenz nach zu urteilen, handelt es sich um Sisal oder eine vergleichbare Pflanze.« Der schlanke Arzt sah Hausmann direkt in die Augen. Der Polizist fühlte sich versucht, die Lider zu schließen, um diesen kalten, grauen Blick auszusperren, widerstand diesem Impuls jedoch im letzten Moment. Dr.Priest trat näher an ihn heran und setzte fort: »Wenn Sie sich beeilen, finden Sie womöglich die Fesseln auf dem Grund des Pflanzlochs! Sie sollten keine Sekunde mehr verstreichen lassen!«
Das tat Hausmann auch nicht.
So schnell er sein Gewicht bewegen konnte, rannte er durch den atemraubenden Sturm zum Fundort zurück. Keinen Augenblick zu früh. Die Gärtner waren gerade im Begriff, den umgestürzten Baumriesen mittels einer speziellen Vorrichtung wieder in die Senkrechte zu ziehen.
»Halt!«, brüllte er gegen das Windheulen an. »Sofort aufhören! Halt!«
Die Gärtner hörten ihn nicht. Oder taten zumindest so.
Als er endlich, nach Luft ringend, schwitzend und rotgesichtig, bei ihnen ankam, fehlte ihm die Kraft zum Rufen. Also gestikulierte er wild, ruderte mit den Armen und gewann schließlich ihre Aufmerksamkeit.
Kaspar zog den Gärtner neben sich an der Jacke und wies auf Hausmann.
Ärgerlich grunzend, übergab der Mann sein Seil an den Nachbarn und ging hinüber.
»Und?«, fragte er und reckte dabei kampfeslustig den Kopf in den Nacken. Er würde seine Arbeit hier nicht sinnlos unterbrechen, hieß das wohl, und er hoffe, der Polizist habe gute Gründe für die Störung.
Siegfried Hausmann blieb unbeeindruckt.
Er griff nach Spaten und Rechen, die auf der Wiese lagen, sprang wenig behände in das flache Loch und begann mit der Suche.
»Dass jetzt bloß keiner loslässt!«, drohte er mit dem Zeigefinger über den Rand.
Zornbebend sahen die Gärtner ihm zu.
Zum Glück dauerte es weniger als eine halbe Stunde und Hausmann kletterte ungelenk wieder auf die Wiese zurück. In der Hand hielt er triumphierend mehrere Stücke Sisaltau. Hellbraun und blutverschmiert.
»Danke!«, rief der Ortspolizist den Männern zu und ging nachdenklich seiner Wege. »All das erklärt nicht, wie die Leiche in den Wurzelballen gelangen konnte. So verwoben, dass man einzelne kappen musste, um den Toten herauszulösen«, murmelte er vor sich hin, strich gedankenverloren über seinen imposanten Bauch, merkte nicht, dass er dabei seine Uniform mit Erde beschmutzte. »Ob der Wind einen Körper herbei- wehen und tief in die Wurzeln zwingen kann? Immerhin hat der Arzt festgestellt, der Knabe sei unterernährt gewesen. Also besonders leicht.«
Das Unwetter hatte mit gewaltiger Kraft gewütet, nicht nur im Schlosspark, auch im Ort waren Schäden zu beklagen. Hausmann erinnerte sich, gehört zu haben, in solch einem Sturm sei es schon einmal dazu gekommen, dass Schweine und Kühe erfasst und weggeweht worden waren. Es war gar nicht lange her, dass er beobachten konnte, wie gestandene Männer von einer heftigen Böe zu Boden geworfen wurden, andere mussten sich an Bäume klammern. Da war es doch sicher kein Problem, ein Kind mit sich fortzureißen!
Voller Tatendrang schob er seinen rechten Daumen ins Koppel.
Jetzt würde er erst mal herausfinden, wohin der Knabe gehörte!
Anna, die Frau des Bäckers, berichtete mit hochroten Wangen, was sie im Park über den Toten in Erfahrung bringen konnte.
»Bisse! Der ganze Körper übersät davon!«, keuchte sie aufgeregt und verzog dabei angewidert das Gesicht.
Die Narbe, die quer über ihre Wange und nur knapp am Auge vorbei verlief, glänzte dunkelrot, leuchtete förmlich. »Sie sagen, der Junge wurde totgebissen und zerfleischt! Und«, sie dämpfte ihre Stimme und beugte sich zu ihrem Mann hinüber, »sein Gemächt wurde abgebissen! Wenn das nicht eindeutig genug ist!«
Meister Julius verdrehte die Augen.
Bemühte sich um Nachsicht. Seit das Pferd seiner Frau ins Gesicht getreten hatte, war sie nicht mehr wie früher.
»Überall siehst du Gespenster!«, beschwerte er sich. »Glaub mir, am Ende ist es ein Junge aus Cottbus, der mit jemandem in Streit geraten ist. Möglich, dass er beim Stehlen erwischt wurde.«
»Und totgebissen?« Annas Stimme überschlug sich.
»Ach, Anna! Das ist nur Gerede! Jemand wollte sich wichtigmachen. Der Fürst hat gesagt, der Fremde wurde erdrosselt. Und der kennt sich mit solchen Dingen besser aus als unsereiner!«
»Nein, nein, Julius! Er hat feuerrote Haare! Er ist des Teufels und in der gestrigen Nacht traf er im Sturm auf seinen höllischen Meister. Mag sein, Satan selbst stürzte den Baum um und entstieg genau an dieser Stelle dem Reich der Finsternis! Der Rothaarige forderte ihn heraus! Natürlich war Satan, als Ausgeburt des Bösen schlechthin, dem Knaben an Kraft und Kampfesfähigkeit überlegen. Blitz und Donner erfüllten die Luft. Das ist das Zeichen!«, wisperte sie ängstlich.
Der Bäcker musterte seine Frau besorgt.
Breitete seine Arme aus und umfasste die knabenhafte Gestalt seiner Anna, drückte sie an seine bemehlte Schürze.
Auch wenn sie in letzter Zeit launisch und unzufrieden wirkte, gab es für ihn keinen Grund zur Klage. Sie versah ihre Arbeiten im Haushalt zuverlässig und ihre mangelnde Schönheit sorgte dafür, dass, selbst wenn sie nach einem anderen schielte, dieser niemals zurückgezwinkert hätte. Ihre eheliche Treue stand außer Zweifel. Und so wie damals, als er um sie gefreit hatte, sah er auch nicht mehr aus. In Gedanken räumte er ein, dass frühes Aufstehen und gutes Essen auch an ihm unübersehbare Spuren hinterlassen hatten. Falten im Gesicht und einen Bauch wie ein Fass.
Anna hatte einfach Pech im Leben gehabt.
Der Tritt des alten Gauls in ihr Gesicht, der ihre Züge nun schief aussehen ließ, war nur das vorläufige Ende einer langen Serie von Unfällen. Schon im Alter von wenigen Wochen war sie zum Opfer einer Attacke des Hofhundes geworden. Ein Stück der Nase und Teile der Oberlippe zerbiss das Tier, bevor es dem Vater gelang, den Hund zu erschlagen. Niemand konnte begreifen, was dieses Verhalten ausgelöst hatte, Oskar war bis zu jenem Tag ein besonders friedlicher Hund.
Beim Melken saß sie eines Tages ungeschickt. Der Schwanz der Kuh schleuderte sie vom Schemel, der Eimer stürzte um, die Milch ging verloren und Annas Gang wurde um ein seltsames Schwanken reicher.
Die Katze, die den Hof hinter der Backstube von Mäusen freihielt, über ein sanftes Gemüt und große Langmut verfügte, schlug gelegentlich nach der Hausherrin, zerkratzte ihr Beine, Hände und sogar das Gesicht, wenn sie etwas davon erwischen konnte. Julius musste einsehen, dass Tiere Anna nicht mochten. Manchmal war er froh darüber, keine Fische im Teich bei der Wiese zu haben. Wer wusste schon, ob die nicht extra ans Ufer kröchen, um sich an Annas Haut festzusaugen oder zu verbeißen.
»Du solltest keine Vermutungen anstellen«, mahnte er jetzt vernünftig, »solange du nur Gerüchte kennst und nicht mehr als die Haarfarbe des Toten sicher weißt.«
»Aber Ulrike sieht das auch so!« Anna löste sich aus seiner Umarmung und klopfte sich den weißen Staub ab.
Ulrike war die Schönheit, die vor vielen Jahren den Schneider geheiratet hatte. Und, dachte der Bäcker nicht ohne Schadenfreude, trotz ihres engelsgleichen Äußeren war es Ulrike ebenso wenig wie seiner Anna gelungen, einen Nachfolger fürs Geschäft zu gebären. Er seufzte schwer.
»Nicht alles, was Ulrike erzählt, ist klug. Du solltest Schönheit nicht mit Schlauheit verwechseln!«
»Und was, wenn sie diesmal recht hat?«
Hildegard, zahnlos und vom Alter gebeugt, saß vor ihrer baufälligen Hütte am Waldrand und frohlockte.
Eingeweihte hätten diese für Hildegard unübliche Gefühlsregung am unkontrollierten Zucken in ihrem faltigen Gesicht erkennen können, doch im Moment war niemand hier.
Wenn man von Salome absah.
»Sie werden kommen, meine Schöne!«, vertraute die Alte ihrer schneeweißen Katze an. »Bald schon. Und mein Rat wird so begehrt sein wie Sonnenschein im November. Sie werden uns verwöhnen wie nie zuvor.«
Ihr weißes, spärliches Resthaar hatte sich zu kleinen oder größeren Inseln vereint und fiel von dort bis zur Hüfte. Die milchig-grauen Augen, sonst eher stumpf, erstrahlten in neuem Glanz. Salome sprang anmutig auf die wackelige Bank und machte es sich auf Hildegards knochigem Schoß so bequem wie möglich. Die dürren Finger der Frau fuhren durch das samtweiche Fell der Katze und Salome schenkte ihr ein wohliges Schnurren.
»Oh ja. Sie werden kommen. Unsere Hilfe brauchen sie jetzt mehr denn je«, keckerte die selbsternannte Heilerin, die, strenggenommen, eher einer Hexe glich. Das hielt erfahrungsgemäß die Ratsuchenden nicht von einem Besuch ab.
Hildegard, die eigentlich Heide hieß, woran sich im Dorf niemand mehr erinnerte, genauso wenig wie an ihr tatsächliches Geburtsdatum, was nach Meinung der Alten ein Glück war, gab es doch Gerüchten neue Nahrung, wonach sie weit über hundert Jahre alt war, klatschte erfreut in die Hände.
»Eine Seife werden wir kochen, eine Salbe ansetzen. Oh, Salome, ich glaube, mit der Seife beginnen wir am besten noch heute Nacht! Lass uns mal überlegen: Rosmarin ist da, Thymian auch, einige getrocknete Rosenblätter müssen noch in der Schublade liegen. Wohlriechend sollte sie schon sein, nicht wahr? Allerdings nicht zu süßlich– wenn man den Zweck bedenkt. Der Seife sollte ruhig auch ein fauliger Geruch anhaften. Ach, ich bin ja so neugierig, wer zuerst kommen wird! Lavendelblüten wären nicht schlecht, was denkst du? Wir haben noch ein paar Sträußchen, die verwenden wir sparsam. Und den fauligen Geruch? Lass uns mal überlegen…«
Salome gab sich den Anschein tiefen Grübelns und nutzte die entstandene Pause zu ausgiebiger Fellpflege.
»Oh, Salome! Endlich ist das Böse wieder zurück in unserer Gegend. Ein rothaariges totes Kind hat es geschickt. Das Ende der Langeweile ist in Sicht. Apropos rothaarig! Wir nehmen ein totes Eichhörnchen, mein Schatz! Du wirst es fangen, nicht wahr? Wie wunderbar das passt!«
Auch der Schlachter und Metzger Balthasar Bode war zufrieden.
Wieder zufrieden, nachdem er seinen ersten Schock überwunden hatte, als man ihm von dem schrecklichen Fund im Schlosspark berichtete.
Der erste Gedanke, der ihn durchzuckte, war: das kann doch nicht sein, nach all der Mühe, die ich mir gegeben habe!, doch das erzählte er besser niemandem. Zum Glück galt er allgemein als besonders mitfühlende Seele, und die Anwesenden werteten sein jähes Erbleichen als Empathie. Es gelang ihm, das starke Zittern seiner Hände zu verbergen, indem er mit den Kunden diskutierte und die Arme in Bewegung hielt. Erst als nach und nach immer mehr Informationen die Stadt erreichten, entspannte er sich etwas.
Ein Knabe! Rothaarig zudem! Kein Grund mehr zur Sorge.
Eigentlich.
Dennoch blieb Bode eine gewisse Grundnervosität über den gesamten Tag erhalten, was auch einigen seiner Kunden nicht verborgen blieb. Sie waren es schließlich nicht von ihm gewohnt, falsche Lieferungen zu erhalten. So wunderte sich die wohlhabende alte Frau Kaus über ein Päckchen mit vier Kilo Rinderbraten, wo sie doch eine solche Menge Fleisch bestenfalls übers Jahr verzehren konnte.
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