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Sommer 1924. Bevor der Ernst des Lebens für Ludwig und Theo beginnt, brechen die Freunde zu einer Fahrradtour auf. Zur selben Zeit machen Gerüchte über einen Serienmörder in Hannover die Runde. Spielende Kinder finden einen Schädel am Flussufer, kurz darauf werden weitere Knochen entdeckt und ein vermeintlicher Unfall entpuppt sich als Mord. Plötzlich ist auch Theo verschwunden. Verhaftet wird Fritz Haarmann, ein stadtbekannter Altkleiderhändler. Hat er all diese Menschen - auch Theo - unter den Augen der Öffentlichkeit ermordet?
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Seitenzahl: 320
Franziska Steinhauer
Der Werwolf von Hannover – Fritz Haarmann
Biografischer Kriminalroman
Warte, warte nur ein WeilchenSommer 1924. Kurz bevor für sie Studium oder Lehre beginnen sollen, brechen die Freunde Ludwig und Theo zu einer Fahrradtour auf. An der Leine entlang soll es gehen, Richtung Hannover. Noch vor ihrer Abreise erreichen sie Gerüchte über Leichenfunde aus der Stadt. Die beiden beschließen, sie zu umfahren. Doch plötzlich ist Theo verschwunden. Monate später beginnt der Prozess gegen den Hannoveraner Kaufmann Fritz Haarmann. Die Anklage lautet auf Mord in mehreren Fällen. Während des Prozesses kommen immer mehr schauerliche Details der Taten ans Licht. Der Beschuldigte räumt nach und nach die Tötung von immer mehr jungen Männern ein. Das Schicksal von Ludwigs Freund jedoch bleibt ungeklärt. Theos Eltern reisen nach Hannover, um unter den Kleidungsstücken, die bei Haarmann und dessen Kunden sichergestellt wurden, nach denen des vermissten Sohnes zu suchen. Ein schrecklicher Verdacht steht im Raum: War Theo etwa Haarmanns letztes Opfer?
Franziska Steinhauer legte bei ihrem Pädagogikstudium Schwerpunkte auf Psychologie und Philosophie. Diese Kenntnisse ermöglichen es der Autorin den Lesern tiefe Einblicke in pathologisches Denken und Agieren zu gewähren. Ihr breites Wissen im Bereich der Kriminaltechnik erwarb sie im Rahmen eines Master-Studiums in Forensic Sciences and Engineering. Mit besonderem Geschick werden mörderisches Handeln, Lokalkolorit und Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft. Franziska Steinhauers Romane zeichnen sich durch gut recherchierte Details und eine besonders lebendige Darstellung der Figuren aus. Ihre Begeisterung für das Schreiben gibt sie als Dozentin an der BTU Cottbus weiter.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © ullstein bild – Bunk
ISBN 978-3-8392-5376-2
Warte, warte nur ein Weilchen,
bald kommt Haarmann auch zu dir.
mit dem kleinen Hackebeilchen
macht er Schabefleisch aus dir.
Aus den Augen macht er Sülze,
aus dem Hintern macht er Speck,
aus den Därmen macht er Würste
und den Rest, den schmeißt er weg.
In Hannover an der Leine,
Rote Reihe Nummer 8
wohnt der Massenmörder Haarmann,
der so manchen umgebracht.
Haarmann hat auch ein’ Gehilfen,
Grans hieß dieser junge Mann.
Dieser lockte mit Behagen
alle kleinen Jungen an.
»Haarmannlied« zur Melodie des Operettenliedes »Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt auch das Glück zu dir«. Es gibt unterschiedliche Varianten des Textes.
In den Jahren 1923 / 1924 wurde Hannover von einer Mordserie erschüttert, die schon Jahre zuvor unbemerkt begonnen hatte und deren Ausmaß den Menschen erst nach und nach bewusst wurde. Der Altkleiderhändler Fritz Haarmann, der manchen auch »Der beste Mann von Hannover« war und sich auch selbst so bezeichnete, hatte innerhalb dieser Zeit mehr als 20 Jungs und junge Männer ermordet, ihre Leichen zerstückelt und die Knochen in die nahe Leine geworfen. Er verschaffte sich mit einem Ausweis, der ihn als Mitarbeiter des Polizeipräsidiums erscheinen ließ, Zutritt zu den Wartesälen der 1. und 2. Klasse am Bahnhof, sprach dort allein reisende Jugendliche an, lud sie ein, die Nacht bei ihm zu verbringen, lockte mit der Aussicht auf leicht verdientes Geld und eine gute Mahlzeit. Arglos gingen viele mit ihm.
»Onkel Fritze«, der homosexuell war, nahm auch junge Männer mit, die sich als »Puppenjungs« verdingten und ihre Dienste an bekannten Orten in der Stadt dieser besonderen Kundschaft anboten, in der Hoffnung auf schnelles Geld.
Erst, als im Mai / Juni 1924 einzelne Schädel in der Leine entdeckt wurden und die Unruhe in der Bevölkerung deutlichem Protestmurren wich, die Bürger gar in einer Aktion zu Pfingsten selbst den Fluss nach Knochen abfischten, kam Bewegung in die Ermittlungen. Der Wasserpegel der Leine wurde abgesenkt. Eine Suchaktion der Polizei förderte, neben einer Vielzahl anderer Knochen, die Oberschenkelknochen von 22 verschiedenen Menschen zutage.
Die Opfer: allesamt männlich im Alter zwischen zehn und 25 Jahren. Man begann, die Homosexuellenszene Hannovers gründlicher zu überwachen. Fünf bis sechs der bekannten Homosexuellen gerieten in engeren Verdacht und wurden fortan beschattet, darunter auch Fritz Haarmann.
Durch einen Zufall ging er der Polizei ins Netz.
Am 23. Juni 1924 wurde er festgenommen.
Knapp zwei Wochen nach seinem letzten Mord.
1918 Ende September / Fritz Haarmann
Es war ganz einfach.
Diesmal habe ich es wirklich besonders geschickt eingefädelt!
Die beiden waren arglos und ich viel schlauer als sie.
Erst hatte ich den einen angesprochen, dann schickte der mir auch noch seinen Freund vorbei. Besser hätte es kaum sein können.
Nicht wie damals, als der blöde kleine Widerling nach Hause gelaufen ist, um seinem Vater zu erzählen, dass ich ihn angesprochen hätte und mit in mein Zimmer nehmen wollte.
Bloß gut, dass ich die Sache vor Gericht noch klarstellen konnte! Alles nur ein Missverständnis. Der Junge muss da was in den falschen Hals gekriegt haben. Kommt ja gern vor in dem Alter.
Ins Gefängnis musste ich dennoch! Immer wieder! Nicht so schlimm, wie man meinen könnte. Inzwischen kenne ich mich da gut aus. Und die anderen haben mich auch gleich wiedererkannt. Stammen ja viele aus meinem Viertel. Ist wie in einer Familie, wo man ja den einen oder anderen Verwandten auch mal längere Zeit nicht zu Gesicht bekommt.
Ehrlich: Diesmal war es so einfach, unglaublich.
Er kam brav mit, tat, was ich mir von ihm wünschte. Alles.
War immer willig, gab nie Widerworte. Fragte nicht.
Natürlich ging es von seiner Seite aus nur um Geld.
Geht es fast immer, liegt an den schweren Zeiten – ist mir auch gleichgültig.
Ich zahlte. Und zwar gut. Beschenkte sie auch. Keiner, der bei mir über Nacht bleibt, muss etwa hungrig oder durstig in mein Bett kommen. Frühstück inklusive.
Er war ja nicht zum ersten Mal mit bei mir, wusste genau, was ich von ihm erwartete. Und auch ihn habe ich bei jedem Besuch gut versorgt. Ist eben so meine Art.
Und er war schön!
Alles war wunderbar.
Bis ich dann plötzlich aufgewacht bin. Wohl, weil sich etwas falsch anfühlte, sonst schlafe ich nämlich immer gut, tief und traumlos.
Der arme kleine Schatz – tot!
Blut war nicht zu sehen – aber ich spürte einen metallischen Geschmack in meinem Mund, schwer und widerlich. Als hätte ich mal wieder Nasenbluten gehabt.
Und der Anblick!
Seine zarte, bleiche Kehle … schauderhaft.
Zahneindrücke.
Zu beiden Seiten des Halses.
Alles bläulich-violett, wie bei den Lutschflecken.
Schnell deckte ich ihn zu.
Doch dann kamen mir Zweifel. Also hob ich die Decke noch einmal an, sah gründlich nach, ob ich mich vielleicht getäuscht habe.
Nein!
Mir war auf einen Schlag kotzübel.
Was konnte ihm nur zugestoßen sein?
Wie war das nur möglich, ein so junge Kerl, voller Lachen und Lebenslust – ganz plötzlich kalt und leblos? Und der Hals?
Er hatte wenige Stunden zuvor einen vollkommen gesunden Eindruck gemacht – und doch – es war nicht zu übersehen, gab nicht den geringsten Zweifel, er war tot.
Ich sprang entgeistert aus dem Bett.
Von allein war ihm das nicht passiert! Unmöglich! Unvorstellbar!
Konnte es sein? Ich war schuld? Hatte etwa ich ihn getötet? Ich? Im Rausch, sexueller Gier?
Ausgeschlossen!
So etwas war ja noch nie vorgekommen!
Lautlos hastete ich zur Tür.
Überprüfte die wahrscheinlichste Variante: Es war jemand hereingekommen, während wir geschlafen hatten! Ganz bestimmt!
Abgesperrt!
Von innen. Der Schlüssel im Schloss.
Mir war schwindelig, ich musste mich an die Wand lehnen. Abwarten, bis die Welt anhalten wollte.
Wir waren also allein geblieben – die ganze Zeit!
Ich! Meine Schuld!
Wie ich es auch hin- und herwendete, es sah so aus, als hätte ich ihn umgebracht.
Das Unbegreifliche meiner Tat erreichte nur langsam mein Denken, das nichts davon wissen wollte und nicht erinnerte, wie all das geschehen sein sollte. Wie auch?
Die Stimme meiner Mutter bohrend in meinem Kopf »Fritz, sag mir, wo ist der Junge? Los, sag es mir! Wo ist dein Junge?« Unscharfe Erinnerungen. War es möglich? Dieser ist nicht der Erste?
Doch, behauptete ich mich gegen die Stimme, so etwas gab es noch nicht.
Aber wenn ich ehrlich war, konnte ich das nicht mit letzter Sicherheit sagen.
Mein Körper zitterte, als ich das Leichtgewicht aus dem Bett hob und auf den Boden legte. Tränen rannen über mein Gesicht – nein – die Wahrheit ist, ich weinte bitterlich wie ein geprügeltes Kind.
Und wusste, dass etwas geschehen musste!
Hier auf dem Boden zwischen Bett und Tisch konnte er schließlich nicht liegen bleiben. Sein Körper musste verschwinden. Und zwar am besten so, dass er für immer unsichtbar bliebe. Schon bald würde man nach ihm zu suchen beginnen. In dem Alter werden sie häufig noch von den Eltern vermisst, wenn sie nicht zum Abendessen nach Hause kommen.
Später, wenn sie etwas älter sind, lässt das schnell nach.
Der arme kleine Kerl.
In einem Stück war er nicht aus dem Zimmer zu bringen. Das Risiko war viel zu groß, dass es jemandem in der Nachbarschaft auffallen könnte. Viel zu auffällig. Und wenn man mich mit einem toten Kind über der Schulter anträfe, wäre ich schließlich um eine kluge Antwort verlegen.
Kleinteilig müsste es gehen.
Wahrscheinlich vier oder fünf Gänge, überschlug ich mit Blick auf den Jungen. Das sollte reichen, um ihn in kleinen Portionen abzuwerfen.
Ich schluchzte noch immer.
So ein hübscher Junge!
Eine Schande!
Vorsichtig breitete ich meine Decke über ihn und schob ihn so weit unters Bett, wie es nur möglich war. Bei einem flüchtigen Blick über die Einrichtung konnte einem der Leichnam entgehen.
Dann zog ich mich an. Verließ das Zimmer. Beschloss, zunächst bei meiner Schwester unterzukriechen, Emma Burschel. Bei ihr könnte ich in Ruhe planen, wie ich nun vorgehen würde.
Schlafen konnte ich nicht mehr in dem Zimmer, über seinem Körper.
Nein! Ausgeschlossen!
Denken auch nicht, wenn ich wusste, dass er mir dabei zuhört.
1924 im Juni
Theodor Lamm war unzufrieden.
Mehr als das, wenn er es genau bedachte. Heißer Zorn traf seine Gefühlslage besser.
Der letzte Sommer in Freiheit, so empfand er es wenigstens, lag nun vor ihm, nur noch ein paar Wochen und er musste den Betrieb seines Vaters übernehmen.
Gerade jetzt nicht eben eine verlockende Aussicht.
Nachkriegszeit. Besatzungszeit. Unsicherheiten und Unwägbarkeiten.
Wer hatte schon genug Geld, um sich neue Möbel schreinern zu lassen? Im Moment kauften die Leute am liebsten gar nichts – und die Dinge des täglichen Bedarfs erstanden sie auf dem Schleichmarkt.
Theodor seufzte schwer.
Er war das einzige Kind, hatte schlicht keine andere Wahl. Dabei wäre er so viel lieber Schauspieler geworden. Talent war bei ihm ohne Frage vorhanden! »Nach der Schreinerlehre«, hatte der Vater versprochen. Dann! Er bekäme die Möglichkeit sich auszuprobieren. Wenigstens für einige Zeit.
Und nun?
Nichts! Der Vater erlitt im Februar einen schweren Sturz und arbeiten war eine schier unlösbare Herausforderung. An manchen Tagen schaffte er es nicht einmal, die Werkstatt zu erreichen. So entschied sich, er, der Sohn, habe den Betrieb zu retten. Jetzt und sofort!
Was für eine bittere Enttäuschung! All seine Pläne – nur noch Makulatur.
Immerhin gelang es ihm, dem Vater ein paar Wochen Ferien abzutrotzen.
Ab kommendem Montag.
Doch was konnte er in der freien Zeit unternehmen?
Unschlüssig spazierte er an der Leine entlang, die hier an dicht bewachsenem Ufer vorbeizog. Ein idyllischer, geheimer Ort für Verliebte.
Damit war es allerdings erst mal vorbei.
»Seine Sabine« poussierte mit einem anderen, hatte ihn wissen lassen, sie wolle ihn nicht mehr treffen.
Natürlich sollte er eigentlich wütend auf sie sein.
Vielleicht sie sogar hassen.
Aber wenn er ehrlich zu sich war, tat es einfach nur verflixt weh!
Wie wunderbar hätten die zwei freien Wochen mit ihr an seiner Seite sein können!
Er seufzte sehnsuchtsvoll.
Rieb ein wenig Feuchtigkeit aus den brennenden Augen. Blinzelte vorwurfsvoll in die Sonne, als sei sie schuld an den Tränen gewesen.
»Theo!«, rief ihn plötzlich jemand an. »Na, das ist ja eine Überraschung! Was für ein Zufall!« Ein junger Mann sprang sportlich von seinem Rad und rannte die letzten Meter auf ihn zu.
Theo kniff die Augen zusammen.
»Ludwig? Bist du das wirklich?«, jubelte er dann glücklich und nahm den Freund aus Schultagen fest in die Arme. Klopfte ihm auf den Rücken. »Mensch Ludwig! Was tust du denn hier? Deine Mutter hat meiner erzählt, du wärst in Göttingen an der Universität!«
»Stimmt ja, immerhin fast. Ich beginne dort mit dem Medizinstudium. Aber bis dahin ist noch ein bisschen Zeit.« Das Strahlen war aus seinen Zügen wie ausradiert, als er hinzusetzte: »Das Ende der Freiheit ist nah. Das Studium soll straff und hart sein, danach muss ich in der Praxis meines Vaters mitarbeiten, sie später ganz übernehmen.«
»Oh, dann wirst du unser neuer Hausarzt!«
»Gut möglich! Wenn ich euch als junger Arzt frisch von der Uni vertrauenswürdig genug bin!«, freute sich der junge Mann sichtlich über das Zusammentreffen. »Und du? Was machst du?«
Nun verdüsterte sich Theos Miene schlagartig.
»Ach, es ist halt, wie es ist«, fiel die Antwort traurig und etwas kryptisch aus.
»Und das heißt?« Ludwig ließ nicht locker, strich sich das seitlich gescheitelte Haar nach hinten.
»Na, ich bin fertig mit der Lehre. Geselle. Das Meisterstück entsteht gerade. Und nun soll ich Vaters Tischlerei und Schreinerbetrieb übernehmen«, maulte der Freund, und seine dunklen Augen bekamen einen finsteren Schimmer.
»Das ist doch das Schlechteste nicht!«, tröstete Ludwig. »Handwerker finden auch in schweren Zeiten wie diesen ihr Auskommen. Oder stimmt das nicht?«
Die jungen Männer setzten sich an den Rand des Weges. Das Rad lehnte geduldig an einem Busch.
»Der Boden des Handwerks ist nur dann golden, wenn die Kunden auch was ausgeben können. Und im Moment sieht es damit wahrlich nicht gut aus. Es wird schon weitergehen. Irgendwie.« Er schwieg. Ludwig wartete ruhig ab. Als Theo weitersprach, klang seine Stimme seltsam belegt. »Dabei wollte ich doch Schauspieler werden! Ein richtig guter! Möglich, dass ich berühmt geworden wäre. Einer, von dem man auf den Straßen spricht. Talent sei genug vorhanden, hat man mir gesagt. Lichtspielhäuser oder Theater, ich könne es überall schaffen! Tja. Nun ist es vorbei – ausgeträumt!«
Ludwig sah den Freund nachdenklich an.
»Manches erweist sich erst mit der Zeit, Theo. Du kannst auch ein wirklich guter Schreiner und Tischler sein, von dem man mit Hochachtung spricht. Wer weiß, möglich, dass du einen Stuhl oder eine Couch entwirfst, die weltweit für Aufsehen sorgen. Später wird es vielleicht Bücher über deine überaus kunstvoll gestalteten Möbel geben! Und wer weiß denn schon, was die Zukunft bringt – am Ende wird dein Traum doch noch wahr! Ihn aufzugeben, ist es viel zu früh!« Dann fragte er plötzlich aufgeregt: »Wann sollst du den Betrieb denn übernehmen? Dein Vater ist doch nicht im richtigen Alter für ein Sich-zur-Ruhe-Setzen.«
»Er kann nicht mehr gut arbeiten – hatte einen Unfall. Deshalb soll ich jetzt sofort einspringen. Ich konnte gerade noch eine freie Zeit von etwa zwei Wochen aushandeln.«
»Beginnen die zwei Wochen vielleicht in den nächsten Tagen?«
»Ja. Eigentlich wollte ich …«, er seufzte wieder, »aber die Weibsleute, na ja. Du weißt schon.«
»Gut. Wenn du jetzt keine Planung mehr hast, dann hätte ich vielleicht eine gute Idee für uns beide. Komm, wir gehen ein Stück den Fluss entlang.«
So spazierten die Freunde nebeneinander her, waren vertraut, als habe es die zeitliche Trennung durch Schule und Lehre nie gegeben. Ein jeder machte seinem Herzen Luft, und Ludwig skizzierte seine Überlegungen für die kommenden beiden Wochen.
Theodor war sofort Feuer und Flamme.
»Mit Rad und Zelt? Wunderbar! Ich bin dabei!« Nach kurzem Überlegen: »Ich habe allerdings weder das eine noch das andere!« Nach einer weiteren Pause: »Aber ich weiß, wo ich es bekommen kann!«
Er schlug ein, und Ludwig versprach, am nächsten Tag wiederzukommen, um die – wie er es nannte – Feinabstimmung zu besprechen.
1918 September / Fritz Haarmann
Als ich am nächsten Tag wiederkam, hing schon ein lästiger Geruch über dem Laden neben der Kammer. Auf dem Flur war noch nichts davon zu bemerken, aber das würde sich ändern, es war nur eine Frage der Zeit.
Irgendwie rechnete ich – völlig wider den gesunden Menschenverstand – fest damit, von ihm angesprungen zu werden, als ich die Tür langsam ein wenig aufschob. Besorgt durch den Spalt blinzelte.
Alles ruhig.
Er lag, wie ich ihn verlassen hatte. Zugedeckt, so gut wie möglich unter dem Bett verborgen.
Und er war längst nicht mehr allein.
Fliegen!
Nun, das überraschte mich nicht. Ich dachte daran zu lüften, unterließ es dann zunächst. Musste aber später doch das Fenster öffnen, weil … na ja. Blut und Zersetzung. Keine gute Mischung. Und eine, die den anderen Mietern im Haus besser verborgen blieb.
Eine halbe Stunde saß ich wohl einfach da und sah ihn an.
Ich wollte nicht mit dem beginnen, was letztlich unausweichlich sein würde.
Tatsächlich war er noch immer schön. Und er sah friedlich aus.
Solange der Hals nicht zu sehen war, konnte man glauben er schlafe tief, sei vielleicht ein wenig blass.
Das galt schließlich für viele, deren Ernährungslage schlecht war, hatte in der Regel nicht mehr als das zu bedeuten.
Allerdings zeigten sich bei ihm schon an einigen Stellen hässliche, anklagende violette Flecken.
Nach einer weiteren Stunde, in der ich ruhelos auf und ab gegangen war, begann ich die Dinge zu richten, die ich wohl benötigen würde.
Das kleine Küchenmesser, mit dem ich normalerweise Kartoffeln schälte, zog ich energisch über den Wetzstahl, damit es gut durchs Gewebe fahren würde. Das Gleiche tat ich mit der Schneide des etwas größeren Exemplars. Ich legte beide in einen Eimer, deckte ein Tuch darüber und gönnte mir eine Pause. Es strengt durchaus an, sich solche Handlungen vorzustellen und dabei noch den Überblick zu behalten. Jeder Fehler … ein Kopf ist schnell verloren, wenn man bei so etwas erwischt wird.
Mein kleines Beil würde ich auch brauchen, Papier, um die Päckchen zu packen, die Wachstuchtasche, um alles wegzubringen. Zur Leine. Der Fluss würde den Rest erledigen.
Ich müsste zuvor probieren, was von ihm schwimmen würde.
Fleischstücke auf dem Wasser könnten verraten, was hier entsorgt wurde, das ging also nicht.
Was, wenn ich beim Füttern der Fische beobachtet würde?
An der Brückmühle zu gefährlich.
Hinter jedem Fenster Augen, die neugierig Ausschau hielten.
Morgen.
Morgen würde ich wiederkommen und austesten, was schwamm und was nicht.
Für heute war es nun wirklich genug.
Als ich ging, die Tür sorgfältig hinter mir verschloss, war ich unendlich traurig.
Meine Schwester, Frau Burschel, fragte mich, warum ich so bleich sei. Etwa wieder krank? Und der seltsame Geruch meiner Kleidung? Woher ich käme? Ob ich mal wieder in Schwierigkeiten steckte? Was ausgefressen hätte? Sie hatte grundsätzlich viele Fragen, wenn ich bei ihr unterschlüpfen wollte.
Nein, beruhigte ich sie, alles in Ordnung. Ich war beim Schlachter, aber der hatte nicht viel im Angebot. Und blass sei ich ja öfter.
Die altbekannten Kopfschmerzen eben. Mit Übelkeit.
Sie nickte nur, drang nicht weiter in mich. Mir schien, sie war froh, dass ich nicht mit ihr sprechen wollte, wandte sich ab und ging summend ihrem Tagwerk nach.
Ich dagegen stellte mit vor, wie sie reagieren würde, wenn ich nun gesagt hätte, das mit dem blassen Aussehen liegt an dem toten Jungen in meinem Zimmer, der schon stinkt und den ich irgendwie loswerden muss, damit nicht der Henker mich holt. Liegt an dem bedauernswerten Kerl, den ich getötet habe – nicht mit Absicht – aber tot ist er dennoch.
Mutter hätte mich verstanden. Sie wusste, dass ich nie mit Absicht … und wenn etwas aus Versehen geschah, war man im Grunde nicht schuld, so hat sie mir das erklärt. Gott versteht das auch, dass es da einen Unterschied gibt.
Dem Jungen war das jetzt natürlich egal.
Tot ist tot.
1924 im Juni
»Ludwig und ich werden eine Radtour machen. An der Leine entlang Richtung Hannover und dann ein Stück weiter, je nachdem, wie viel Zeit dann noch bleibt. Möglich, dass wir weiter kommen, als gedacht und mit dem Zug nach Hause fahren!«, erzählte Theodor begeistert beim Abendessen.
»Aber Junge! Du hast doch gar kein Rad!«, meinte die Mutter und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. »Wie soll das dann gehen?«
»Ich habe mir einen alten Drahtesel von Caroline geliehen. Sie braucht ihn nicht und hat mir erlaubt, ihn aufzumöbeln. Den Rost putze ich mit einer scharfen Bürste ab, ein bisschen Öl – und schon sieht das Rad gut aus und läuft ohne Schwierigkeiten. Und ein Zelt hat mir Jakob gegeben. Gehört seinem Onkel. Armeezelt. Da passen Ludwig und ich gemeinsam rein, so viel Platz!«
»Im Zelt?« Die Mutter war entgeistert. »Und wenn es regnet? Dann werdet ihr schnell keinen trockenen Faden mehr am Leib haben. Und die Sachen zum Wechseln sind dann auch nass. Den Tod werdet ihr euch holen!« Sie räumte laut klappernd das Geschirr in den Spülstein, wandte dem Sohn demonstrativ den Rücken zu. Sollte er ruhig sehen, wie übel sie ihm diese Planung nahm. Als der Junge schwieg, setzte sie weinerlich hinzu: »Und wovon wollt ihr leben? Es ist nicht einfach, sich Nahrungsmittel zu besorgen, wenn man fremd in der Gegend ist und nicht weiß, wo man sie bekommen kann«, ergänzte sie ihre Bedenken.
»Wir dachten, wir nehmen einen Grundvorrat mit und finden dann vor Ort heraus, wo wir was einkaufen können.«
»Richtung Hannover, ja?«, fragte der Vater grantig nach.
»Ja. Immer an der Leine lang. Und irgendwann machen wir kehrt und fahren zurück. Ich werde schon pünktlich wieder vor der Tür stehen!«
»Ja, das bezweifle ich ja auch gar nicht. Aber deine Tante hat mir vor ein paar Tagen einen Brief geschickt – und dort steht, man habe an der Leine schon mehrere Totenschädel gefunden. Die Polizei rätselt noch, wie die wohl in den Fluss gelangen konnten.«
»Ach, Junge!« Die Mutter weinte leise, wischte dann hastig die Tränen mit dem Zipfel der Schürze fort. »Es ist gefährlich da draußen.«
»Aber Mutter, ich bin ja nicht allein! Der Ludwig ist doch mit mir! Und wir sind schnell wieder zurück. Sie werden kaum bemerken, dass ich fort bin.« Theo spürte Ärger in sich aufsteigen. »Ich bin ja kein kleines Kind mehr! Und wenn wir nur den Frühsommer genießen, was soll uns da schon passieren?«
Zu seinem Vater gewandt ergänzte er: »Schädel in der Leine! Du liebe Güte! Die können ja von Selbstmördern stammen! Warum sollen wir uns fürchten, wenn sich jemand seiner Schwierigkeiten wegen im Fluss ertränkt?«
»Ich verstehe dich, aber die Leute in Hannover machen sich schon länger Sorgen. Es verschwinden so viele Menschen, tauchen nie mehr auf, man hört kein Wort von ihnen. Und tatsächlich gibt es Gerüchte darüber, dass sie nicht verschwunden, sondern ermordet worden sind. Sollte es finstere Gestalten in der Stadt geben, die wahllos töten, so betrifft es Ludwig und dich eben doch!«, gab der Vater aggressiv zurück.
Theo wusste, wann er solche Gespräche besser beendete.
Er stand auf und ging.
Auch Ludwig stieß bei seinen Eltern nicht nur auf schiere Begeisterung.
»Ach, Ludwig. Was, wenn ihr euch verletzt? Krank werdet?«
»Dann nehmen wir den nächsten Zug nach Hause und lassen uns vom Vater kurieren«, lachte der unbeschwerte junge Mann. »Was soll uns schon krankmachen? Wir sind jung und widerstandsfähig. Keine Sorge, es wird nichts geschehen.«
»Aber mit dem Rad. Da ist man schnell gestürzt. Und wenn es regnet, werdet ihr nass. Erkältungen kann man nur mit Ruhe und Wärme vertreiben – beides wird euch bei einer Fahrt mit dem Rad abgehen.«
Ludwig zeigte sich unbeeindruckt. »Wir wollten nicht bis Afrika kommen! Nur bis Göttingen vielleicht oder ein kleines Stück weiter. Wenn das Wetter gut ist, fahren wir etwa zehn oder zwölf Tage lang, schaffen es bis Hannover und nehmen den Zug für den Rückweg. Das haben Theo und ich schon besprochen.«
1918 Anfang Oktober / Fritz Haarmann
Damit er nicht bei dem zusehen musste, was ich nun seinem toten Körper antun würde, legte ich ein Tuch über seine inzwischen milchig trüben Augen.
Ehrlich gesagt, auch wegen des Gewürms, das sich schon munter tummelte.
Aus der Küche holte ich ein weiteres Tuch, damit ich das Blut aufnehmen konnte, überprüfte auch die Schärfe der Messer und des Beils, um eine unnötige Unterbrechung der Arbeit ausschließen zu können.
Die Sache duldete nun keinen Aufschub mehr, wollte ich vermeiden, dass jedermann ihn riechen konnte.
Der Tote womöglich aufkam.
Die Jungs hinter dem Café »Kröpke« erzählten gestern, ein Mann habe sich nach dem Verbleib seines Sohnes erkundigt. Friedel heiße der, und der Vater zeigte sogar ein Foto herum. Die Jungs sind bei diesen Nachfragen von Natur aus immer wortkarg, sind doch viele von ihnen entlaufene Fürsorgezöglinge – und man wusste ja nie, wer da tatsächlich fragte. Konnte ja jeder behaupten, er sei der Vater.
Eile war also geboten.
Aufschieben ging nicht mehr.
Ich begann mit den Beinen.
Schnell gelang es mir, die Unterschenkel aus den Kniegelenken zu lösen.
Ich legte sie zur Seite.
Begann dann sofort mit dem Trennen der Oberschenkel aus der Hüftpfanne.
Mein kleines Messer war willig, und wo es nicht weiterkam, half das Hackebeilchen.
Natürlich tat ich all das mit Grausen und Entsetzen.
Es war eine widerliche Aufgabe, die Stunden dauern mochte, vielleicht Tage.
Einfach eklig.
Wenn ich mich zurückerinnere glaube ich, ich habe mich mehrfach in einen kleinen Eimer übergeben, weil es so schrecklich war.
In den Eimer habe ich später auch das zerschnittene Gekröse geworfen. Schließlich sollte das ja durch den Abort …
Die Arbeit war aber nicht nur abstoßend, sie strengte mich sehr an. Derartig, dass ich mich immer wieder hinlegen und ausruhen musste.
Sobald es mir besser ging, machte ich weiter. Beeilen musste ich mich damit. Nicht auszudenken, wenn jemand gekommen wäre und ihn dort am Boden entdeckt hätte.
Die Schnitte über die gesamte Körperlänge führte ich mit dem Messer aus – ich wusste ziemlich genau, wie sie zu setzen waren.
Die Rippen – kein Problem.
Die Arme drückte ich weit nach oben, löste sie aus den Schultergelenken.
So wanderte Stück für Stück …
Es ging gut, wenn ich erst mal alle Knochen herausgelöst hatte.
Was blieb war nicht mehr als seine Hülle, die sich gut zerteilen ließ. In schmale Streifen und dann quer in winzige Quadrate.
Die Größe der Stücke richtete sich nach ihrer Schwimmfähigkeit. Waren sie schwer genug, versanken sie sofort, das Leichte, das oben schwamm, durfte nur in geringer Menge in den Fluss gelangen. Das musste besser in den Eimer.
Der Kopf. Wenn ihn jemand fand, konnte er erkennen, wem er zu Lebzeiten gehört hatte? Dem zuvorkommenden und willigen Freund meines Hübschen, dem fiele womöglich ein, wo man manchen Nachmittag und Abend in den letzten Wochen zubrachte. Dieses Risiko! Zu hoch!
Erst die Haare – das erledigte sich nach Art der Indianer.
Ich schabte alles Weiche ab, warf es ebenfalls in den Eimer.
So verfuhr ich auch bei den Knochen.
Die passten in eine Tasche aus Wachstuch.
Den Eimer kippte ich, wie geplant, in den Abort. Damit niemand eine Blick auf seinen Inhalt werfen konnte, deckte ich einen Lappen drüber, als ich damit über den Hof ging.
Die Knochen landeten in der Leine.
Blieb noch immer der Schädel.
Nach dem Lüften, Putzen und Aufräumen wickelte ich ihn in Zeitungspapier ein, stopfte das Päckchen in die Tasche, die mir schon zuvor gute Dienste geleistet hatte, und schob sie hinter den Ofen.
Insgesamt war ich viel unterwegs an jenem Tag und nun rechtschaffen müde.
Und das Zimmer gehörte wieder mir allein!
Glück im Unglück: Die Polizei, die mein Zimmer später durchsuchte, fand nur einen Freund des vermissten Jungen in meinem Bett. Der war ja quicklebendig.
Wegen der Unzucht gab es ein peinliches Verhör.
Den Schädel hinter dem Ofen entdeckten die Beamten aber nicht.
Hat eben keiner in die Tasche geguckt.
Wie sollten sie auch wissen, dass sie den Hübschen nie mehr lebendig finden konnten!
1924 Presseclub im Restaurant »Falkennest«
Eine Gruppe Zeitungsreporter traf wie üblich im »Falkennest« zusammen.
Einem kleinen, sauberen Restaurant in der Nähe des Bahnhofs, dessen Wirtin einen soliden Eindruck machte und für jeden Gast ein freundliches Wort hatte.
Schnell kam das Gespräch auf den Schädelfund in der Leine.
»Heute haben sie wieder einen gefunden. An der Brückmühle! Wieder mit ein paar Halswirbeln dran.« Ahab, der ein Holzbein hatte, hieß im wahren Leben Franz Kraus.
»Ja, das habe ich auch gehört! Und es soll sich um zwei Selbstmörder handeln. Bei der Zersetzung geht der Schädel schon mal verloren«, wusste ein anderer.
»Ne! So ist das nicht. Es waren ja an beiden noch Halswirbel! Da hat sich nichts gelöst. Und meine Quelle bei der Polizei erzählte mir, die Wirbelsäule sei im Nacken scharf durchtrennt worden. Dekapitieren sich selbst! Komische Selbstmörder dieser Tage, was?«, lachte der Pirat rau und ließ das Gummiband seiner Augenklappe gegen die Schläfe schnalzen.
»Ach, Gustav, was bist du zynisch! So werden es wohl Unfallopfer sein.«
»Was soll das denn für ein Unfall gewesen sein? Arbeiteten beide für Carl Gröpler und wurden beim Putzen des Richtblocks vom heruntersausenden Fallbeil überrascht?«, lachte der Pirat Gustav Kieslinger kehlig. »Montag der Erste, dann der, den man damit beauftragt hatte, die Schweinerei zu beseitigen!«
»Also wirklich, das ist jetzt aber richtig geschmacklos!«, beschwerte sich Richard Schulz und der Pirat versuchte, dem Kollegen in das Auge zu sehen, das nicht aus Glas war. Schwere Entscheidung.
»Na, müssen ja keine Selbstmörder gewesen sein«, bemühte sich Alfred Schubert um ein Glätten der Wogen. »Mein Bekannter bei der Polizei meint, es könnten auch Typhusopfer sein. Oder freigespülte Leichenteile aus dem überschwemmten Friedhof.« Hans zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche. »Hier, ich hab’s mir aufgeschrieben.«
»Ich hab gehört, es könnte sich auch um einen Scherz der Studentenschaft in Göttingen handeln. Frisch aus dem Sektionssaal in die Leine. Aber das weiß natürlich auch niemand genau. Man zählt wohl gerade nach, ob noch alle da sind«, wusste Ahab. »Gerüchte sind in diesen Zeiten wohlfeil.«
»Na, das wäre aber ein wirklich grober Scherz!«
»Sicher. Aber man weiß doch, wie die Studenten so sind. Gaudeamus igitur!« Der Pirat zog wieder am Gummiband.
»Kannst du das bitte mal lassen? Das macht mich ganz nervös.« Alfreds Stimme klang gereizt.
»Das beschleunigt das Denken. Solltest du bei dir auch mal versuchen! Kannst ja probeweise einfach mit dem Finger gegen die Schläfe schnippen, dir geht das Band ja ab«, grinste Gustav hämisch.
»Die Leute auf der Straße sind beunruhigt. Einige munkeln von Mord. Behaupten, in Hannover gäbe es Menschenfallen, in denen junge Leute gefangen werden. Weil so viele vermisst werden.«
»Und nun haben alle Mordbuben in der Gegend sich darauf verständigt, ihre Opfer in die Leine zu werfen?« Richard zeigte dem Sprecher einen Vogel.
»Ach, was für ein dummes Geschwätz. Hannover ist nun mal eine Stadt, die Kriminalität anzieht. Hier sammelt sich viel lichtscheues Gesindel. Sobald die Polizei zu nahe ran rückt, tauchen die Halunken ab und sind eben verschwunden.«
»Gestern war ein Vater bei mir, der seinen Sohn sucht. Er war bei der Polizei, hat eine Vermisstenmeldung gemacht, aber er hat nicht den Eindruck, jemand kümmere sich ernsthaft darum.« Gustav sprach plötzlich leise. »Ist schon schlimm genug, wenn dir der Sohn abhandenkommt. Aber wenn du dann auch noch denken musst, dass das so gar niemanden interessiert, nicht einmal die, die man von Staats wegen fürs Suchen bezahlt, ist es besonders schlimm. Der Mann war so verzweifelt. Sein Junge hat vielleicht als Puppenjunge ›gearbeitet‹, das hat man ihm jedenfalls hinter dem ›Kröpke‹ erzählt. Nun ist er ratlos.«
»Ist doch kein Wunder, dass sich so viele junge Männer von ihren Familien absetzen. In den Kriegsjahren waren alle anderweitig beschäftigt, erzieherisch wurde viel versäumt, und viele Eltern hatten auch einfach nicht mehr die Kraft, sich gegen jugendliches Ungestüm durchzusetzen. Die Knaben haben Oberwasser, trauen sich alles, sind leichtsinnig, viele auch arbeitsscheu, sie suchen Freiheit.«
»Gestern habe ich einen getroffen, der erzählte mir, er wolle zur See fahren. Von Hannover aus?, habe ich den gefragt. Die jungen Leute lernen in der Schule nicht richtig, und vom eigenen Land haben sie schon gar keine Vorstellung! Aber nein, der wollte weiter nach Hamburg. Sind nicht alle arbeitsscheu. Enttäuscht scheinen sie mir. Ich habe manchmal den Eindruck, dass hier eine durch und durch deprimierte Generation heranwächst.«
»Meine Schwester nennt das anders: faul! Arbeitsscheu und faul! Das scheint zumindest in Bezug auf meinen Neffen und seine Freunde zuzutreffen.«
»Ist doch schwierig in diesen Zeiten. Wann immer du etwas möchtest, ist es entweder nicht zu bekommen oder zu teuer. Da könnte der eine oder andere schon den Eindruck gewinnen, Verbrechen lohne sich durchaus und bringt schneller was ein als harte Arbeit.«
»Was, wenn wirklich ein Mörder in der Stadt sein Unwesen treibt? Wir warnen in der morgigen Ausgabe. Eltern sollen ihre Kinder besser beaufsichtigen, die Bewohner der Stadt verdächtige Vorkommnisse oder Beobachtungen sofort melden, die Polizei soll den Vermisstenanzeigen nachgehen!«
»Das sind aber verflixt viele soll und sollen. Wenn du da mal nicht aus dem Blick verlierst, dass so manche Eltern durchaus froh sind, wenn das eine oder andere Familienmitglied nicht mehr am Tisch Platz nimmt. Die werden das bei der Polizei gar nicht anzeigen.«
»Schon möglich. Selbst für die, denen es nicht an Geld fehlt, ist es schwierig genug, überhaupt einzukaufen, um alle Mäuler zu stopfen. Man läuft ja über Stunden herum, nur um eine Mahlzeit zu sichern!«
»Nun ja …«, druckste Ahab rum und murmelte dann leise, »es gibt schon einige Quellen.«
»Illegal!«
»Was ist daran illegal, wenn es doch in den normalen Läden gar keine Ware gibt! Sollen wir nun alle Hungers krepieren? Manchmal kommt es mir vor, als interessiere es niemanden mehr, ob der normale Bürger überhaupt noch überleben kann!«, echauffierte sich Richard, von dem man einen solchen Kommentar nicht erwartet hätte. »Da muss man eben dort kaufen, wo es was gibt!«
»Gemüse vielleicht, Altkleider – aber Fleisch? Im Moment kommt es mir so vor, als würde so ziemlich alles vertilgt, was essbar aussieht. Ratten sicher auch. Oder am Ende hat jemand Nachbars Katze verwurstet. Miezi, die ich immer so gern gestreichelt habe. Nein! Das ist hohes Risiko!«
»Oder Menschenfleisch. Dann verputzt du zum Abendessen einen der verschwundenen Jünglinge und trägst so dazu bei, dass man ihn nie finden wird.« Der Pirat lachte scharf auf, als er in lauter entsetzte Gesichter sah.
»Du denkst ja wirklich völlig pervers!«, beschwerte sich Hans Meister.
»Na, nun mal ehrlich: Wenn bei mir mal Fleisch auf dem Teller oder in der Suppe ist, dann quatscht das nicht mehr! Woher soll ich dann wissen, wes Fleisch da zwischen den Möhrenstückchen schwimmt?«, gab Gustav grinsend zurück.
»Gut. Es reicht jetzt!«, beendete Richard das unappetitliche und durchaus beängstigende Gespräch.
»Habt ihr das auch gehört?«, schaltete sich Ahab ein. »Hannover ist inzwischen zu der Stadt für Diebe, Hehler, Einbrecher und anderes zwielichtiges oder lichtscheues Gesindel avanciert. Am Ende zieht dir hier einer mit dem Totschläger über den Scheitel, nur weil er neue Schuhe braucht, und deine so schön sauber sind.« Richard warf Ahab einen dankbaren Blick zu und stieg bereitwillig in das neue Thema ein.
»Du übertreibst mal wieder maßlos!«
»Wir kommen jedenfalls morgen auf Seite 1 damit raus, dass die Menschen sich sorgen. Spielende Kinder finden bei uns normalerweise keine blanken Schädel beim Toben an der Leine«, stellte Richard klar.
Der Pirat schmunzelte. »Nun, so ganz blank sollen sie auch gar nicht gewesen sein …«
1924 im Juni
Ludwig stapelte auf dem Bett, was er brauchen würde.
Packte nur ein, was er für notwendig hielt.
Viel war es nicht.
Sie planten eine Zweiwochentour – und sicher gäbe es unterwegs die eine oder andere Gelegenheit, Wäsche zu waschen.
Plötzlich stand seine Mutter in der Tür.
Sie lächelte verlegen, hielt die Hände hinter dem Rücken verborgen.
»Nun, Mutter? Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Sohn und huschte einen zarten Kuss auf ihre Wange.
»Ach, Ludwig – wie wird mir die Zeit lang werden ohne dich. Niemand hier, der sich am Abend zu mir setzt und sich mit mir unterhält – oder wohlig mit mir schweigt.«
»Ach! Wir sind nach so kurzer Zeit wieder zurück, da fällt Ihnen gar nicht auf, dass ich weg bin.« Tröstend strich Ludwig, der die Mutter um anderthalb Köpfe überragte, über ihre faltige Wange.
»Sieh mal«, freute sich die Mutter und zog hervor, was sie bisher versteckt gehalten hatte. »Ich dachte, falls du irgendwo ausgehen möchtest. Da brauchst du doch was Anständiges!« Mit erwartungsvoller Miene sah sie ihn an.
Ludwig war im ersten Moment sprachlos. Als er sich gefangen hatte, keuchte er: »Aber das sollten Sie nicht!«, und schlüpfte schon voller Begeisterung in Weste und Jacke, strich mit den Fingern über den angenehm weichen Stoff. »Ist das schön! Das muss Sie ja ein Vermögen gekostet haben! Und so schnell fertig! Vielen Dank!« Stürmisch umarmte er die Mutter.
»So gefällt dir der Anzug! Da bin ich sehr froh. Eigentlich solltest du ihn zum Studienbeginn bekommen, aber ich denke, du könntest schon früher Bedarf haben.« Lächelnd reichte sie ihm auch die Hose und verließ das Zimmer.
Rasch schlüpfte Ludwig hinein.
Präsentierte sich dann in der Küche.
»Prachtbursche!«, kommentierte der Vater zufrieden. Und steckte für beide Männer eine Zigarre an. »Die Weibsleute werden dir nur so nachstellen. Komm mit!«
Das Gespräch unter Männern fand draußen im Garten auf einer Bank statt.
Ludwig unterdrückte ein Grinsen, als er dem alten Arzt zuhörte, der ihn über gute Umgangsformen aufzuklären versuchte.
»Die jungen Damen, weißt du. Wenn sie zu nett sind, ist Vorsicht geboten. Früher gab es Dirnen ja nur in der Stadt, aber heutzutage können sie überall arglosen Männern auflauern. Und diese Frauen, die tragen Krankheiten in sich, die man am Ende gar nicht mehr ablegen kann und die selbst die nachfolgenden Generationen noch treffen.«
Ludwig versprach, vorsichtig zu sein.
Er sah zur Sonne auf, nahm einen kräftigen Zug an der Zigarre und freute sich auf die unbeobachtete Zeit mit Theo.
Theo selbst ordnete ebenfalls sein Gepäck.
Mit Ludwig war bereits abgesprochen, wie viel unbedingt gebraucht würde. Zufrieden betrachtete er die schmale Auslage auf dem Tisch. Das würde problemlos Platz in Tornister und Fahrradkorb finden.
Als es klopfte, sah er überrascht auf.
»Vater! Sie sollten doch nicht die enge Stiege heraufkommen. Das tut Ihrem Rücken nicht gut.«
»Das lass mal meine Sorge sein. Der Rücken wird sich fügen müssen. Er wird mir helfen, in den kommenden Tagen für zwei zu arbeiten!«, knurrte der Schreiner.
»Ja«, antwortete Theo kleinlaut. »Ich weiß, es wird Ihnen nicht leichtfallen. Aber wenn wir zurück sind, können Sie sich schonen. So viele Aufträge stehen nicht im Buch, vielleicht kann der eine oder andere Kunde ja auch noch warten.«
»Es war ja kein Vorwurf! Ich gönne dir den Ausflug mit dem Freund. Mit Ludwig hast du einen guten Jungen zur Seite, der keine Dummheiten planen wird. Hoffe ich jedenfalls«, setzte er dann hinzu und keckerte wie ein wütendes Eichhörnchen.
»Ludwig ist kein Wirrkopf – war er nie. Er will studieren!«
»Theodor, ich möchte, dass du dies hier annimmst!« Damit zog der Vater ein kleines Paket hervor, das er vor der Tür abgestellt hatte. »Ich dachte, vielleicht kannst du es brauchen!«