Racheakt - Franziska Steinhauer - E-Book

Racheakt E-Book

Franziska Steinhauer

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Beschreibung

Cottbus wird von einer Mordserie heimgesucht. Junge Mädchen werden erschlagen und grausam verstümmelt. Kommissar Peter Nachtigall erkennt, dass er einen psychopathischen Mörder jagen muss, der seine Opfer nach Kriterien auswählt, die im Dunkeln bleiben …

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Franziska Steinhauer

Racheakt

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.gmeiner-verlag.de

© 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

1

Sie lauschte vorsichtig in sich hinein.

Zu ihrer eigenen Überraschung fühlte sie sich inzwischen recht wohl in ihrem Leben. Das war eindeutig mehr, als sie vor einiger Zeit noch erwartet hätte. Nicht, dass nun alles perfekt gewesen wäre, aber wer wollte das schon. Perfektion war Stillstand. Entwicklungsfähigkeit war das Schlüsselwort und sie fand, sie habe sich sogar unerwartet gut entwickelt.

In ihrem Leben würde es wahrscheinlich nie einen Mann geben – und wenn schon. War das wirklich von Bedeutung? Wie viele Frauen lebten in Beziehungen und waren kreuzunglücklich, das bewies doch wohl ausreichend, dass der Mann nicht das glückselig Machende für die Frau war! Männer! Sie dachte es nicht ohne leise Verachtung. Männer ließen sich immer blenden, manipulieren und waren für Frauen im Grunde leicht zu durchschauen. Sie lachte trocken. Illusionen hatte sie schon vor mehr als zwei Jahrzehnten begraben.

Sie kam sehr gut allein zurecht, stellte sie entschlossen fest. Nur schwache Charaktere neigten zu kindischen Einsamkeiten.

Zufrieden vor sich hin summend bog sie auf die Burger Ringchaussee ein. Der Heimweg zu Fuß war fester Bestandteil ihres neuen Sportprogramms, um das Joggen im Winter zu ersetzen, und sie empfand es als besonders angenehm, dass außer ihr um diese Zeit nur noch wenig Menschen unterwegs waren. Sicher, für Touristen und kinderreiche Familien bot der Spreewald im Sommer viel Natur und die Möglichkeit die Fließe zu befahren, die Seele baumeln zu lassen, Radtouren zu unternehmen und vieles mehr – aber jetzt im Oktober gab es kaum noch Urlauber hier.

Ihre noch feuchten Haare waren unter einer sportlichen Mütze vor der Kälte geschützt, das nasse Saunatuch mit dem eingerollten Badeanzug war im Rucksack über ihrer linken Schulter verstaut. Sie schritt zügig aus, um nicht auszukühlen und warf einen kritischen Blick zum Himmel.

Schon dunkel, dachte sie beiläufig. Nach diesem total verkorksten Sommer kam nun also auch noch ein viel zu früher Herbst. Na ja. Dank der neuen Therme, die vor vierzehn Tagen feierlich eröffnet worden war, konnte sie nun jedenfalls witterungsunabhängig Sport treiben.

Sport, das Allheilmittel gegen Schmerzen aller Art. Ihr Allheilmittel. Realitätserprobt und alltagstauglich.

An der Ecke folgte sie dem Schwung der Straße. Nun war es nicht mehr weit. Zu Hause warteten eine gute Flasche Wein und der BBC – Film Deep Blue, um den Abend abzurunden.

In dem Moment, als sie sich der seltsam verstohlenen Schritte hinter sich bewusst wurde, erkannte sie, dass er wohl schon seit einer Weile hinter ihr her war. Unbehagen machte sich breit. Kein Zweifel: Das war sie nun, die viel beschworene Situation, vor der Mütter ihre Töchter immer gewarnt hatten – oder machte sie sich nur verrückt, weil ein harmloser Spaziergänger den gleichen Weg hatte wie sie?

Es war zu spät, viel zu spät um im Ernstfall etwa noch auf Hilfe hoffen zu können – die letzten Häuser lagen schon weit hinter ihnen und neben der Straße, die im Sommer stark befahren war, jetzt aber völlig einsam dalag, wucherte dichtes Buschwerk bis kurz vor den Waldrand.

Ihr Atem ging schnell und ihr Puls raste. Unruhe kroch in ihr hoch, Adrenalin beschleunigte ihre Schritte. Bestürzt registrierte sie, wie auch die Verfolgerschritte schneller wurden, ihr forsches Tempo mühelos mithalten konnten, ja sogar näher zu kommen schienen.

Sie warf einen gehetzten Blick über die Schulter, konnte aber in der Dunkelheit niemanden erkennen. Unvermittelt rannte sie los. Der Rucksack, der rhythmisch gegen ihre linke Lende schlug, brachte sie bei jedem Schritt ein wenig aus dem Gleichgewicht. Und plötzlich waren die Schritte hinter ihr nicht mehr zu hören. Hatte sie ihn abgehängt? Verunsichert blieb sie stehen, hielt den Atem an, lauschte angespannt. Der in der Lausitz übliche Dauerwind raschelte mit dem trocknenden Laub der Bäume, als spiele er lüstern mit den Blättern, die sich ihm bald als willenloses Spielzeug würden überlassen müssen. Doch sonst herrschte um sie herum Stille.

Eiseskälte kroch in ihr hoch.

Sie spürte, wie ihre Knie zu zittern begannen.

Gehörte oder gelesene Verhaltensanweisungen jagten sich in ihrem Kopf: Mitmachen, damit der Täter nicht noch mehr in Rage geriet – auf jeden Fall heftig zur Wehr setzen, damit er nicht glaubte, sie sei eine Schlampe oder Hure – versuchen das wahre Motiv hinter der Tat zu erkennen. War es Machtstreben, Rache, blinde Wut …

Wie sollte man das in so einer Situation alles abschätzen können! Lächerlich!

Und wo zum Teufel war der Typ abgeblieben – sie hatte sich die verfolgenden Schritte doch nicht eingebildet.

Nervös zog sie die Schultern hoch und sah sich noch einmal hektisch um. Niemand.

Dann wirbelte sie herum und spurtete los.

Die Pranken schossen urplötzlich aus dem Gebüsch vor ihr, packten sie wie Schraubstöcke und rissen sie vom Weg. Alle Überlegungen gingen in diesem Bruchteil einer Sekunde in einem Albtraum aus Panik, Entsetzen und Wut unter, vermengten sich zu einem überwältigenden Ohnmachtsgefühl.

Eine raue Hand verschloss ihr den Mund und einen Teil der Nase, sie konnte weder schreien noch atmen. Ihr Rucksack wurde ins Gebüsch geschleudert. Wild schlug sie mit den Armen um sich, versuchte genug Luft durch die Nase zu bekommen, trat, kratzte – und wurde doch hilflos auf dem Boden herumgerollt, bis sie auf dem Rücken liegen blieb.

Der Mann mochte kaum größer sein als sie, aber seine Hände waren wie riesige Schaufeln. Er versuchte sein Opfer auf den Boden zu pressen, sie bäumte sich hoch auf, schüttelte ihn in einem wortlosen Ringkampf wieder ab, wild entschlossen in neu aufkeimendem Widerstand, sich nicht völlig kampflos diesem fremden Willen zu überlassen. Doch dann nagelte er sie mit seinem Knie am Boden fest. Schwimmbadwasser stieg ihr in den Mund, sie begann gegen die Pranke zu würgen.

Er lockerte seinen Griff und während sie sich übergeben musste, flüsterte er ihr ins Ohr:

»Wenn du auch nur einen Mucks machst, erwürg ich dich eben vorher – oder ich stech dich mit meinem Messer ab. Ich treib’s auch mit einer, die fast noch lebt. Da bin ich nicht zimperlich.«

Sein Atem stank nach Alkohol und faulenden Zähnen.

»Siehst du das Messer hier? Mit dem schneide ich dir notfalls den Kopf vom Hals! Also – mach lieber keinen Mucks!«

Vorsichtig bewegte sie den Kopf als Zeichen dafür, dass sie ihn verstanden hatte. Sie würde nicht schreien.

Der harte Griff lockerte sich etwas und er schwang sich triumphierend rittlings auf ihre Körpermitte. Zentimeter für Zentimeter schob er sich abwärts, bis er schwer auf der knöchernen Erhöhung zwischen ihren Beinen saß. Mit der linken Hand packte er ihre Bluse und zog sie lustvoll seufzend in Zeitlupentempo aus ihrer Jeans. Reflektorisch versuchte sie, sich unter ihm hervor zu winden.

»Jaaaaahhhh. Gib’s mir Süße, lass mich reiten!«, stöhnte er vornüber gebeugt oberhalb ihres Nabels.

Sie zwang ihren Körper zur Bewegungslosigkeit.

Mit dem Messer schnitt er Knopf für Knopf ab, arbeitete sich an der Leiste entlang.

Ein gewaltiges inneres Zittern breitete sich über ihren gesamten Körper aus. Selbst die Zähne und das Nagelbett unter den Zehennägeln schienen mitzubeben.

Er keuchte. Sie roch seinen Schweiß. Ihre Augen saugten sich an seinem Gesicht, seinem Körper, seinen Haaren fest. Alles, ausnahmslos alles würde sie sich einprägen. Er würde nicht davonkommen! Diesmal würde sie es richtig machen.

Jedes Mal, wenn er ein Teilstück auf dem Weg nach oben überwunden hatte, breitete er den Stoff sorgfältig aus, beugte sich über das entblößte Stück Körper und küsste es gierig, glitt mit seiner rauen, spitzen Zunge darüber. Seine Haare waren borstig, sie bekam eine Gänsehaut, was ihn offensichtlich freute.

»Siehst du – jetzt macht es dir auch Spaß! Ich wusste doch, wir verstehen uns.«

Wer soll sich schon für eine wie dich interessieren, höhnte die Stimme ihrer Schwester in ihrem Kopf. Warum versuchst du nicht wenigstens ein bisschen wie eine Frau auszusehen?

Er hatte inzwischen seine Hose geöffnet und ließ seinen erigierten Penis über ihren Bauch streichen. Prostataflüssigkeit trat aus und zog lange, klebrige Fäden. Sie konnte sein Sperma schon riechen. Erneut begann sie heftig zu würgen.

Unvermittelt griff er nach dem Steg ihres BHs, hob ihn an und zerschnitt ihn geil aufstöhnend mit der scharfen Klinge.

Dann ging alles ganz schnell. Von einer Sekunde zur nächsten war er schon unartikuliert schreiend auf die Beine gesprungen und rannte den Weg entlang, als werde er von Furien gehetzt.

»Du Flachwichser!«, brüllte sie ihm in einer Mischung aus Erleichterung und Wut hinterher. »Du geiles Arschloch! Das wäre ja auch das erste Mal seit über zwanzig Jahren gewesen, dass mich einer anfasst!«

Schluchzend sammelte sie ihren Rucksack ein. Sie war noch mal davongekommen. Ihre Hände fanden einen harten Gegenstand. Sie starrte ihn sekundenlang an.

Ein Schweizer Taschenmesser.

2

2. November

»Onkel Tom! Onkel To-om! Nun komm schon her! Es ist kalt, es regnet. Komm, lass uns ins Warme gehen!«

Sie lauschte. Hatte da nicht was gemaunzt?

»Onkel Tom? Was soll denn das Versteckspiel? So was kann man im Sommer machen – aber doch nicht im November! Onkel Tom! Ich friere!«, rief sie nun schon ungnädiger.

In der Hand hielt sie eine Pappschachtel mit Trockenfutter, die sie kräftig schüttelte. Onkel Toms Lieblingsgeräusche hatten alle etwas mit Essen zu tun. Besonders liebte er das leise Schmatzen beim Öffnen der Kühlschranktür. Doch das Rascheln in der Packung lockte ihn sonst auch zuverlässig an. Wo steckte der Kater nur?

In ihre Besorgnis mischte sich zunehmend auch eine gehörige Portion Ärger. Sie arbeitete sich ein Stück durch das Unterholz in die Richtung, aus der sie das Maunzen gehört zu haben glaubte. Irgendwo musste Onkel Tom doch stecken! Im Grunde war er doch bei Regen auch nicht gerne draußen – und schon gar nicht über Nacht. Schließlich war er kastriert, da konnten auch verfrühte hormonelle Schübe keine Rolle spielen!

Der Schirm verhedderte sich in den tief hängenden Zweigen der Bäume und in ihr keimte der Verdacht, das geschmeidige rot-getigerte Raubtier könne unter einem der Büsche sitzen und sie womöglich belustigt bei ihrer erfolglosen Suche beobachten. Wie im Sommer, als er mit gemütlich untergeschlagenen Vorderfüßen interessiert zugesehen hatte, wie sie versuchte die kleine Maus zu fangen, die er in ihrem Wohnzimmer hatte laufen lassen. Schade, dass man nicht hören konnte, wenn Katzen lachen, denn er hatte sich bestimmt vor Lachen ausgeschüttet, als er sie bei ihren insuffizienten Versuchen beobachtete, diesen winzigen Nager einzufangen ohne ihn zu verletzen.

»Onkel Tom! Vergiss nicht, ich bin es, die deine Dosen aufmacht! Nun komm schon! Ich muss mich doch noch fürs Kino umziehen!«, verlegte sie sich aufs Betteln und schüttelte erneut die Trockenfutterpackung.

Mit der kleinen Taschenlampe, die sie mitgebracht hatte, leuchtete sie in alle Richtungen.

Da – hatte sich dort nicht etwas bewegt? Vielleicht war Onkel Tom ja verletzt, dachte sie besorgt und schämte sich über den zuvor empfundenen Ärger.

Füchse, Marderhunde – in dem Waldstück bei Madlow gab es eine ganze Menge wilder Tiere, und Kinder, die zu derben Späßen aufgelegt waren, wohnten schließlich nur zwei Häuser weiter.

Sie wandte sich um und versuchte mit zusammengekniffenen Augen etwas zu erkennen, als sie sich plötzlich mit dem linken Fuß unter einem Hindernis verhakte. Mit einem kleinen Aufschrei stürzte sie zu Boden, Schirm und Taschenlampe taumelten neben ihr auf die Erde. Ein stechender Schmerz im Knöchel ließ sie zusammenfahren, als sie sich ungeschickt aufrappelte. Sie griff nach der Lampe und leuchtete den Boden ab, um zu klären, was sie zu Fall gebracht hatte. Doch im Lichtkegel der kleinen Lampe konnte sie zunächst nicht erkennen, was dort vor ihr lag. Langsam glitt der Lichtstrahl über die gesamte Erhebung.

»Oh, Gott!«, ächzte sie dann und wandte sich schnell ab. »Um Himmels willen!«

Sie torkelte zu einem Baum in der Nähe, lehnte sich keuchend an seinen Stamm und fand mit zitternden Fingern ihr Handy in der Hosentasche.

»Du bist ein großes Mädchen, eine zupackende Frau, die auch die unglaublichsten Situationen souverän meistern kann. Hysterisch werden kannst du nachher immer noch«, sprach sie sich Mut zu, atmete tief durch und wählte die Nummer des Notrufs.

Onkel Tom musste warten.

3

Hauptkommissar Peter Nachtigall stand unter der Dusche. Kritisch inspizierte er seine Körpermitte, grunzte missbilligend. Zwischen Daumen und Zeigefinger zog er ein Fettröllchen zusammen und begutachtete es nachdenklich. Hatte er nicht gerade gelesen, dass man übergewichtig sei, wenn dieses Röllchen über zwei Zentimeter breit war? Der Hauptkommissar legte den Kopf schief und schätzte: Bei oberflächlicher Betrachtung konnten das gut so drei bis vier Zentimeter sein! Unsanft kniff er in seine muskulösen Oberschenkel und spannte den Bizeps an. Alles in allem gar nicht übel für einen Beamten im Polizeidienst, der keine vierzig mehr war. Er würde eben im Sommer wieder mit dem Rad zum Dienst fahren – da strampelte sich das ein oder andere Glas Wein sicher wieder ab.

Und außerdem gab es da ja auch noch die Theorie, dass erst dann wirklich von Übergewicht die Rede sein konnte, wenn man beim Heruntersehen am Körper nicht mehr feststellen konnte, ob man männlich oder weiblich war – und das war schließlich bei ihm noch kein Problem.

Seit das mit Birgit passiert war, hatte er sich etwas in die Breite entwickelt. Waschbär statt Waschbrett, zog Jule ihn manchmal auf. Aber er fand, die stattlichere Figur passte ganz gut zu seinem Typ. Er war immerhin einsachtundneunzig groß, da durfte es schon etwas mehr Mann sein. Seit damals trug er grundsätzlich schwarz. Vielleicht zunächst wirklich als Ausdruck tiefer Depression; heute eher, weil es immer gut angezogen wirkte und er blind in den Schrank greifen konnte: Alles passte zu allem.

Wieder im Einklang mit sich und der Welt griff er nach dem Shampoo, das seine Schwester ihm neulich von einem Shoppingbummel in Berlin mitgebracht hatte und begann sich die noch immer dichten, langen Haare einzuschäumen, die er während der Arbeit mit einem Gummi zu einem Zopf zusammenband. Sein Blick fiel beiläufig auf das Etikett, das seine Schwester daran gehängt hatte: »Cool mind, clear head« las er, schnupperte prüfend und lachte. »Pfefferminzshampoo!«

Erstaunt registrierte er etwas, was tatsächlich einem kühlen Luftzug am Kopf vergleichbar war. Seine kleine Schwester war eben immer für eine Überraschung gut!

Das Telefon schrillte.

»Das wird Sophie sein!«, rief seine Tochter Jule fröhlich aus dem Flur. »Ich geh schon!«

Peter Nachtigall musste sich eingestehen, dass er seine pubertäre Tochter in diesem – wie leider auch in manch anderen Punkten – nicht recht verstehen konnte. Da verbrachte sie ihren gesamten Schultag an Sophies Seite, traf sich mit ihr am Nachmittag zu einem Stadtbummel und bis zum Abendessen waren schon wieder so viele Neuigkeiten aufgelaufen, dass man sie in endlosen Telefonaten in aller Ausführlichkeit besprechen musste. Er seufzte. Da würde er wohl mal wieder ganz allein kochen müssen.

Vielleicht gefüllte Omelette, überlegte er, mit Hackfleisch und Pilzen für ihn und für seine vegetarische Tochter mit einer Gemüsemischung. Hmm, ihm lief das Wasser im Mund zusammen, er würde die Füllung in die Omelette einrollen und dann das Ganze mit Käse überbacken.

»Papa! Für dich! Dein Herr Wiener«, Jule öffnete die Badezimmertür einen Spalt breit. »Er klingt ziemlich aufgeregt. Sicher ein Einsatz!«, flötete sie.

»Nachtigall!«, meldete er sich Sekunden später zackig und seine Tochter bedeutete ihm im Vorbeigehen, sein feuchter Handtuchlook sei überaus sexy. Er zog eine Grimasse. Jule schenkte ihm ein maliziöses Lächeln und verschwand mit wiegenden Hüften.

»Ja, Wiener hier. Ich bin auf dem Weg zum Badesee Madlow. Eine Frau hat uns ag’rufe, sie hätt hier drauße am Madlower Badesee eine Frauenleich g`funde. Im Wald. Fein säuberlich aufgebahrt. Die Kollege drauße meine, es sähe sehr nach Sexualmord aus – der Täter hätt sei Opfer sogar grausig verstümmelt. Also ehrlich – ich hab’ überhaupt noch nie eine verstümmelte Leich g’sehe.« Die knabenhafte Stimme des Kollegen klang unsicher. Wenn er aufgeregt war, vergaß er auch regelmäßig Hochdeutsch zu reden.

»Mensch, wir haben doch heute gar keinen Dienst! Wieso haben die nicht das Team informiert, das heute dran ist, also Hansen und Wolf?«

»Die sinn net erreichbar gewese. Vielleicht ein Funkloch. Un ich hab halt no im Büro am Computer g’sesse.«

»Pech also. Michael, Sie haben mich aus der Dusche geklingelt, ich hatte noch keine Zeit mich abzutrocknen und gegessen habe ich auch noch nichts – ergo ist meine Stimmung so richtig schlecht. So! Das wäre geklärt! Dann schießen Sie mal los!«, fauchte Peter Nachtigall und ließ sich mürrisch weitere Einzelheiten geben.

Eine Viertelstunde später stieg er zu seinem Kollegen Skorubski ins Auto. Die gelöste Feierabendstimmung hatte sich längst vollständig verflüchtigt.

»Eine verstümmelte Leiche am Badesee Madlow.«

Skorubski nickte ernst.

»Ich hab schon über Funk davon gehört. Auf dem Heimweg vom Einkaufen.«

»Hannes und Wolf waren nicht erreichbar«, klärte Hauptkommissar Nachtigall seinen Partner auf.

»Ja, ja ich weiß schon«, grummelte der und meinte dann: »Eine verstümmelte Frauenleiche! Ich kann mich nicht erinnern, dass wir hier schon mal so was hatten.«

»Aus dem Badesee haben wir ja schon öfter mal einen Toten rausgefischt«, Peter Nachtigall zog die Jacke fester und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Klar. Einen Suizidanten oder einen Besoffenen, den seine genauso abgefüllten Kumpel in den See geworfen haben – aber doch keine verstümmelte Leiche.« Al­brecht Skorubski, 1,78 groß, hager, mit grünen, weit auseinander stehenden Augen, Nickelbrille und wollener Schirmmütze, die seine weit fortgeschrittene Glatze verbergen sollte, dachte nicht zum ersten Mal, es sei eine falsche Entscheidung gewesen, sich in das Team von Peter Nachtigall zu bewerben. Jugendfreund hin oder her– bei den Kollegen von der Steuerfahndung wäre ihm so manches erspart geblieben. Er seufzte. Schweigend steuerte er durch den prasselnden Regen und schüttelte unwillig den Kopf.

»Hat Michael noch was Genaueres gesagt?«, fragte er dann.

»Es handelt sich wohl um ein sehr junges Mädchen. Dem Opfer wurden angeblich beide Brüste amputiert. In seinem sympathischen Badisch klingt das viel weniger scheußlich als bei mir.«

»Mensch, Peter. In Cottbus?«

»Warum überrascht dich das so? Weißt du noch zu Walpurgis? Da hat doch dieser junge Kerl ein Mädchen auf dem Spielplatz umgebracht. Drogendealer schießen sich bei uns gegenseitig tot – mitten in der Stadt oder in Erotikbars. Cottbus ist eine Großstadt. Lass uns erstmal einen Blick auf die Sache werfen. Dann sehen wir weiter«, meinte Peter Nachtigall zuversichtlich. Angespannt starrten sie durch die Schlieren, die die Wischerblätter auf der Windschutzscheibe hinterließen, ins Dunkel.

Schon von weitem sahen sie die flackernden Blaulichter auf dem Parkplatz beim Badesee. Polizeibänder sperrten große Bereiche des Waldes ab. Ein Team war damit beschäftigt Scheinwerfer aufzubauen und das gesamte Areal, in dem nach Spuren gesucht werden sollte, auszuleuchten.

Kaum hatten sie den Wagen abgestellt, als auch schon die dünne, alle Kollegen überragende Gestalt von Michael Wiener auf sie zustürzte.

»Gut, dass Sie da sinn«, begrüßte er die beiden Kollegen mit einem Stoßseufzer.

Der junge Mann, der in der Regel immer perfekt durchgestylt war, machte jetzt einen derangierten Eindruck und wirkte unnatürlich blass im Widerschein des Blaulichts. Seine sonst streng nach hinten geföhnten Haare hingen nass herunter und ließen sein schmales Gesicht noch spitzer wirken. Die Brille war beschlagen und die Regenjacke schief geknöpft.

»Haben Sie die Tote schon gesehen?«, fragte Peter Nachtigall und Michael Wiener nickte bedrückt, während er mit seltsam unrunden Bewegungen vor ihnen hereilte, um sie zum Fundort zu führen.

»Das ist mein zweites Mordopfer. Vielleicht nimmt mich das später nimmer so arg mit«, erklärte der junge Mann.

»Ich bin schon so lange dabei – und mich nimmt es immer noch mit. Sie sollten nicht darauf hoffen, sich an solche Anblicke zu gewöhnen. Außerdem wären Sie dann auch nicht der Richtige für mein Team«, antwortete Nachtigall und klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. »Emotionale Kälte friert das Denken ein.«

»Ist denn der Mediziner noch da?«, fragte Albrecht Skorubski kurzatmig und schüttelte den Regen von seinem Kragen um die Jacke fester um den Hals zu ziehen. Wiener nickte.

»Da drüben liegt sie«, presste er hervor, wies auf einen entfernter liegenden Platz tiefer im Wald und zeigte dann hastig auf eine kräftige rothaarige Frau im Jogginganzug, die abseits der Stelle auf dem Boden saß und fast verdeckt von einem Schirm mit einer Polizistin sprach.

»Und des isch die Frau, die die Tote gefunde hot. Eine Frau Mehlbrunner.«

»Aha. Wir sehen uns erst einmal die Tote näher an und sprechen mit dem Arzt. Vielleicht können Sie sich schon mit Frau Mehlbrunner unterhalten.« Peter Nachtigall stapfte zielstrebig auf die Stelle zu, die ihm der junge Mann gezeigt hatte und Michael Wiener wandte sich dankbar der Zeugin zu.

»Wie konnte sie hier die Leiche finden? Die Stelle liegt doch nicht direkt am Weg. Zufällig?«, rief Nachtigall Wiener im Gehen nach.

»Net so ganz zufällig. Sie hot nach ihrer Katz g’sucht. Die isch heut no net nach Haus komme. So isch sie ebe mit einer Taschenlampe bewaffnet losg`laufe um nach der Katz zu suche. Und als sie dann …«

Wiener sprach nicht weiter.

Zwei Schritte später sahen sie die Leiche.

Peter Nachtigall schnappte nach Luft. Ein Bild, von dem er glaubte, es sei das schrecklichste seiner Laufbahn, brannte sich fest in seine Seele ein. Wie sollte man sich auch gegen so etwas wappnen?

Sie lag, vollständig entkleidet, auf einer Art Altar, aufgeschichtet aus Laub und Moos. Der Täter hatte sie fast liebevoll drapiert, es sah sogar so aus, als wäre der Versuch unternommen worden ihren missbrauchten Körper noch mit Moos zuzudecken, das nun allerdings zum größten Teil auf den Boden geglitten war. Die Augen waren geschlossen. Die Kleidung der Toten war nicht zu sehen, nur ihre Schuhe standen neben dem Laubbett, sorgfältig nebeneinander, als sei sie mal eben herausgeschlüpft, um sich schlafen zu legen. Ihre blonden Haare waren rücksichtslos abgeschnitten und dort, wo die Brüste hätten sein sollen, fanden sich nur zwei tiefe, von geronnenem Blut dunkel gefärbte Krater. Aus einer Wunde am Kopf war Blut über ihr Gesicht gelaufen und dort zu einer bräunlichen Schicht verkrustet. Über die zartgliedrigen Hände waren Plastiktüten gezogen um eventuelle Gewebeproben unter ihren Nägeln zu sichern.

Du lieber Gott, dachte Peter Nachtigall, der sonst eher nicht himmlische Einflüsse zu Hilfe rief, womit haben wir es denn hier zu tun?

Dr. Berg, Arzt vom Dienst, kauerte neben dem toten Mädchen, und war gerade damit beschäftigt das Leichenthermometer abzulesen.

»Können Sie uns was sagen, Dr. Berg?« Sie kannten sich schon seit Jahren von den unterschiedlichsten Unglücksorten.

»Klar. Sie ist eindeutig tot«, fing Nachtigall einen bissigen Kommentar ab.

Er schwieg. An Tatorten wie diesem waren alle gereizt. Auch er wünschte sich manchmal, er hätte vieles von dem Schrecklichen, das er im Laufe seiner Dienstjahre gesehen hatte, nie zu Gesicht bekommen. Für Albträume hätten allemal schon viel harmlosere Bilder gereicht als solche, die ihn heimsuchten und schon seit Langem für unruhige Nächte mit wenig Schlaf sorgten. Er war Mensch geblieben – leidensfähig und verletzlich.

Aber bei ihm stellte sich auch rasch ein anderes Gefühl ein: Der Wunsch dieses Verbrechen aufzuklären und dem Opfer den wirklich letzten Dienst zu erweisen: den Täter zu fassen.

Jule hatte es auf den Punkt gebracht, als sie zu ihm sagte, sie sei froh, einen Vater zu haben, der ein gefühlsduseliger Jäger und kein eiskalter Bulle sei.

»Möglicherweise war ein schwerer Schlag gegen die Schläfe die Todesursache. Mit einem Hammer oder einem Baseballschläger. Keine äußeren Verletzungen außer den Verstümmelungen und einer blutigen Stelle an der linken Schläfe. Sie ist noch warm – ziemlich genau 34°C. Es ist zwar heute Abend sehr kalt und sie ist völlig nackt, aber vor ungefähr zweieinhalb Stunden hat sie wohl noch gelebt. Doch das kann der Rechtsmediziner genauer feststellen.« Dr. Berg war ganz offensichtlich nicht in der Stimmung sich über weitere Details auszulassen. Seine Garderobe, die unter seinem Kittel hervorsah, wenn er sich bewegte, sah eher nach einem feierlichen Anlass als nach Dienstbereitschaft aus.

»Hat man Sie von einer Party geholt?«

Dr. Berg warf Peter Nachtigall einen genervten Blick zu und brummelte gleich bleibend unfreundlich: »Abschlussfeier für meine Tochter. Sie hat ihr Medizinstudium beendet und ist nur wenig älter als dieses Mädchen. Ich bin als Vertretung für Dr. Schwanitz hier. Der ist bei einem Unfall auf der Autobahn.« Er packte seine Utensilien in eine große, klobige Arzttasche und streckte Peter Nachtigall den Totenschein hin, wandte sich grußlos ab und stapfte, unter seinem beträchtlichen Körpergewicht ächzend, Richtung Parkplatz los.

»Dr. Berg!«, rief Peter Nachtigall ihm nach. Der Arzt blieb stehen und wandte sich mit ungnädigem Gesichtsausdruck um.

»Was ist noch? Sie werden mit Ihren Fragen auf das Ergebnis der Obduktion warten müssen! Bestimmt kommt der Kollege gleich morgen früh – dann haben Sie vielleicht am Nachmittag schon die ersten Erkenntnisse auf Ihrem Schreibtisch.«

»War sie schon tot, als er ihr das angetan hat?«

»Ich hoffe, ja. Wenn er sie bei lebendigem Leibe …« Dr. Berg schüttelte sich. »Es müsste eigentlich viel mehr Blut zu sehen sein, falls sie noch am Leben gewesen wäre.« Damit drehte Dr. Berg sich nun endgültig um, räusperte sich vernehmlich und verschwand in Dunkelheit und Dauerregen.

»Sie ist vielleicht gerade mal so alt wie Jule.« Fassungslos starrte Peter Nachtigall auf das tote Mädchen. »Was mag sie wohl hier gewollt haben? Die Badesaison ist längst vorbei und für kuschelige Rendezvous ist es im November zu feucht und zu kalt.«

»Können wir sie mitnehmen?«, fragte jemand im Vorbeigehen.

»Wenn der Fotograf fertig ist«, antwortete Nachtigall, drehte sich zu Albrecht Skorubski um und trat zur Seite um zwei Männer mit einem Metallsarg durchzulassen.

»Vielleicht wohnte sie hier hinten irgendwo. Falls sie mit der Bahn kam, musste der Typ nichts weiter tun, als ihr von der Straßenbahnhaltestelle aus hier entlang zu folgen und sie an einer passenden Stelle zu überwältigen. Oder er hat im Auto auf dem Parkplatz gewartet.« Skorubski atmete tief durch.

»Vielleicht ist sie auch selbst mit einem Auto zu einem Stelldichein gekommen oder mit dem Fahrrad und die Sache ist irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Streit zum Beispiel. Die Kollegen sollen die Halter von den beiden Privatwagen auf dem Parkplatz überprüfen.« Peter Nachtigall gab entsprechende Anweisungen – auch die Straßenbahnhaltestelle sollte gecheckt werden und die Kollegen wollten nach einem Fahrrad Ausschau halten.

»Hier fährt doch regelmäßig eine Streife durch. Die Kollegen sollen doch mal nachsehen, wer heute Dienst hatte. Vielleicht kommt der Streife ja nun im Nachhinein irgendetwas verdächtig vor.«

»Wahrscheinlich ist alles ganz schnell gegangen. Sie hatte wohl nicht einmal mehr Zeit zu schreien – sonst hätte doch sicher jemand was gehört. Sieh mal, wie nahe doch letztlich die Häuser sind.«

»Möglicherweise hat sie ja sogar geschrien. Das werden wir erst dann wissen, wenn die Leute befragt wurden.« Peter Nachtigall hatte die Stimme gesenkt, räusperte sich und fügte hinzu:

»Manchmal hören die Menschen etwas und reagieren nicht. Halten es für einen Spaß unter Jugendlichen. Und hier am Badesee wird sicher oft aus Jux um Hilfe gerufen– allerdings wohl eher nicht im November.«

Ein Mann in Schutzkleidung trat zu ihnen: »Der Täter hat ihr beide Brüste amputiert und im BH ins Geäst über ihrem Kopf gehängt. Auch die Haare hat er ihr abgeschnitten und wie Lametta in dem Baum hier verteilt, unter den er sie gelegt hat.« Nachtigall nickte ihm zu. Übelkeit stieg in ihm auf.

»Und diese Puppe lag neben dem Opfer«, der Kollege hielt einen transparenten Plastikbeutel mit einer Barbiepuppe hoch.

»Gleich ins Labor«, wies Nachtigall an.

»Yupp«, antwortete der junge Mann und wandte sich ab.

»Augenblick!«, hielt Nachtigall ihn zurück. »Es bleiben mindestens zwei Mann hier und sichern das Umfeld. Das gilt bis übermorgen. Wenn der FC Energie spielt, trampeln hier Hunderte durch die Anlagen. Dann ließe sich für uns nichts mehr finden! Es wird also von uns abgeriegelt und bewacht!«

»Yupp«, antwortete der Vermummte wieder und verschwand.

»Guten Abend, die Herren«, Staatsanwalt Dr. Julius März trat zu der Gruppe.

Schweigend starrte er auf das makabre Arrangement des Täters, sah, wie die Tote vorsichtig in einen dunklen Sack und danach in den Metallsarg gelegt wurde. Nach einer langen Pause fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als hätte er plötzlich massive Kopfschmerzen, drehte sich wortlos um und bedeutete den beiden Ermittlern ihm zu folgen.

»So was kenne ich nur aus amerikanischen Thrillern. Mein großer Sohn hat mir da neulich so ein Ding aufgeschwatzt. Einfach nur grausig«, er schüttelte den Kopf. »Was die Jugend heute so liest. Der Gerichtsmediziner wird gleich morgen früh obduzieren, ich habe schon mit Potsdam gesprochen. Dr. Pankratz wird sehr früh hier sein. Du lieber Himmel!« Er seufzte tief. »Den Kerl müssen wir aber ganz fix finden. Die Leute werden hysterisch werden, wenn sie davon erfahren. Haben Sie schon Hinweise auf die Identität?«

Der große, stattliche Mittvierziger strich sich ratlos über die raspelkurz geschnittenen Haare, die seit einigen Monaten von Dunkelgrau bis Weiß changierten. Er schob seine randlose Brille auf der Nase zu Recht, nahm sie dann ab um sie umständlich zu putzen. In seinem markant geschnittenen Gesicht mit den harten Zügen zuckte es.

»Nein. Vielleicht wohnte sie hier hinten und war auf dem Heimweg. Kann natürlich auch sein, dass sie eine Freundin besuchen wollte oder mit ihrem Freund hier verabredet war. Ist alles denkbar. Wir wissen noch nicht einmal, ob sie hier gestorben ist, oder vom Täter hierher gebracht wurde.«

Der Staatsanwalt warf noch einen letzten Blick auf die gespenstische Szene: Mitarbeiter des Erkennungsdienstes in weißen Schutzanzügen liefen mit langsamen Schritten durch das Waldstück, den Blick fest auf den mit Scheinwerfern ausgeleuchteten Boden gebannt und sammelten mit langen Stangen, an deren Ende Greifer waren, Fundstücke vom Waldboden auf, drehten Blätter um und hoben vorsichtig herumliegendes Geäst an, um darunter zu suchen. Dazwischen bewegte sich geschmeidig eine andere Gestalt, die mit blendend weißem Licht Tatortfotos machte und über dem Ganzen zuckte das unruhige Blaulicht der Streifenwagen.

»Herr Wiener?«, fragte der Staatsanwalt übergangslos.

»Kommt ganz gut klar. Ist natürlich für das zweite Mal ein wirklich schauriger Tatort, und ich werde sehen, wie er damit umgehen kann. Er ist tatsächlich eine Bereicherung fürs Team und zwar nicht nur seiner Computerfertigkeiten wegen. Im Moment spricht er mit der Zeugin.«

»Und der Dialekt?«

»Ist okay. Wir verstehen uns. Und er bemüht sich um etwas mehr Hochdeutsch, allerdings mit wechselndem Erfolg. Wenn er aufgeregt ist zum Beispiel, hat er sich nicht so im Griff. Aber die Zeugen verstehen ihn im Großen und Ganzen problemlos.«

»Badisch klingt ja auch eigentlich ganz nett. Und spätestens seit dem Wahlkampf wissen wir ja alle, dass unsere Schlauesten aus dem Süden kommen. Warum sollten wir das dann nicht für uns nutzen.«

»Damit hat der Stoiber aber nur seine Bayern gemeint. Von denen halten sich gute Badener fern, wie ich von Herrn Wiener gelernt habe.«

»Und die Badener werben damit, dass sie alles können außer Hochdeutsch«, murmelte der Staatsanwalt abwesend.

Dr. März sah sich ein letztes Mal nervös um, rieb sich die Oberarme als wolle er sich aufwärmen, zog dann die Schultern hoch, nickte den Kriminalbeamten zu und kehrte langsam mit gesenktem Kopf zum Parkplatz zurück.

Eine Stunde nach ihrem Eintreffen am Badesee machten sich die drei auf den Weg ins Büro. Frau Mehlbrunner hatte ihrer ursprünglichen Beschreibung nichts Neues hinzufügen können. Das Opfer kannte sie nicht und auch bei ihrer Suche nach Onkel Tom hatte sie nichts gehört oder etwas Besonderes bemerkt. Michael Wiener hatte in einigen der umliegenden Häuser geklingelt und überall die Auskunft bekommen, es sei eine sehr ruhige Wohngegend und hätte jemand um Hilfe gerufen, wäre es mit Sicherheit nicht unbemerkt geblieben.

»An einige vo dene Häuser klebt au dieses Zeichen vo der Cottbuser Zuflucht. Also die wolle scho zum Teil öffentlich demonstriere, dass ihnen die andere net gleichgültig sin«, erklärte der junge Kollege. Die Streife hatte sich gemeldet, konnte aber auch nur über eine Kontrollfahrt ohne besondere Vorkommnisse berichten. Der Täter war unbemerkt gekommen und genau so wieder verschwunden.

»I hann grad vor ein paar Woche ei Buch über Serietäter g’lese.« Michael Wieners Augen leuchteten vor Begeisterung. »Da wurd au vo solche Mördern berichtet. Also solchen, die ihre Opfer verstümmeln. Das war ei unglaublich interessantes Buch – un die Mörder erwiese sich letztlich alle als psychisch krank«, meldete sich Michael Wiener aus dem Fond auf dem Weg ins Büro.

»Serientäter! Das fehlte uns gerade noch: dass da draußen ein Verrückter rumläuft und gleich noch mehr Morde begeht! Herr Wiener!«

»Aber die Idee ist nicht so ganz verkehrt«, verteidigte Peter Nachtigall den jungen Mitarbeiter und erntete einen vernichtenden Blick seines Partners. »Vielleicht sollten wir das mal checken. Michael, sie versichern sich über VICLAS, dass es nicht ganz ähnliche Fälle gegeben hat.«

Michael Wiener nickte eifrig.

»Aber wenn solch ein Verbrechen irgendwo anders auch schon begangen wurde, dann wüssten wir das doch längst«, gab Albrecht Skorubski zu bedenken. »Schließlich würde bei einem ähnlich bestialischen Mord auch das Fernsehen berichtet haben. Und auch im Computer war schon seit Monaten keine Fahndung nach einem perversen Täter. Nichts in der Art jedenfalls. Ich denke, wir werden eher einen verlassenen Freund finden oder einen abgewiesenen Möchtegernlover.«

»Ja, vielleicht wurde sie ja von einem Stalker belästigt.«

Das Funksprechgerät rauschte: »Wir haben hier in einem Mülleimer einen Rucksack gefunden – Papiere sind aber nicht drin.«

»Gut. Kommen Sie damit gleich ins Büro«, wies Peter Nachtigall den Mann an und meinte gepresst: »Wenn wir einen Hinweis auf ihre Identität finden, müssen wir gleich noch ihre Eltern informieren«, er zog die Schultern hoch, als müsse er sich vor einem Nackenschlag schützen. Das war sein ganz privates Horrorszenario: Es klingelte an der Tür, als er gerade ein schönes Abendessen für sie beide komponierte und zwei völlig Fremde überbrachten ihm die Nachricht, Jule sei gerade bei einem Unfall ums Leben gekommen. Das wäre das Ende. Er zuckte zusammen und holte tief Luft um sie dann geräuschvoll in seine verschränkten Hände zu blasen als wolle er seine klammen Finger wärmen. Lange starrte er vor sich hin. Seine privaten Ängste gingen schließlich niemand was an.

Schweigen breitete sich aus.

»Wenn es wirklich der Rucksack des Opfers ist, hat der Täter nicht ernsthaft versucht, die Identität der jungen Frau so lange wie möglich geheim zu halten. Sonst hätte er den Rucksack doch eher im See versenkt. Schließlich war doch vorhersehbar, dass wir die Umgebung gründlich absuchen würden«, überlegte Albrecht Skorubski laut.

»Nicht nur das – er hat sein Opfer auch nicht versteckt, um die Tat zu vertuschen. Spätestens morgen früh wäre die Tote von einem Jogger oder einem Hundebesitzer entdeckt worden. Also auch kein Versuch Zeit für die Flucht zu schinden. Entweder war er so geschockt, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und ist so schnell wie möglich geflohen – oder es war ihm egal, dass wir sie schnell finden könnten«, sagte Nachtigall.

»Des Opfer war sicher kaum jünger als meine Freundin. Die isch letschte Woch dreiunwanzig geworre. Ihre Töchter sinn doch au so in dem Alter? Verdammt scheiße, so was«, meldete sich Wiener von der Rückbank jugendlich derb voller Empathie. »Belastet Sie denn so ein Fall nicht sehr?«

»Doch«, Peter Nachtigall wandte sich abrupt zum Fenster um.

Er schwieg, bis sie den Parkplatz vor dem Präsidium erreicht hatten.

Albrecht Skorubski warf seinem Freund einen prüfenden Blick zu. Seine eigene Tochter wohnte schon seit einigen Jahren nicht mehr zu Hause. Sie studierte in Hamburg, lebte ihr eigenes Leben. Aber, erinnerte er sich, solange sie daheim wohnen, fühlten sich die Eltern immer verantwortlich, achteten auf das Schlagen der Tür, wenn das Kind nach der Disco zurückkehrte, hörten die Motoren der Autos, in denen Freunde sie nach Hause brachten.

Wenn er nur daran dachte, wie lange Peter es damals für sich behalten hatte, als er mit Jule plötzlich ganz allein dastand. Keiner hier am Bonnaskenplatz hatte auch nur das Geringste geahnt.

Ein Streifenwagen bog auf den Parkplatz ein, das Fenster versank in der Tür und der blond gelockte Schopf eines Polizisten wurde sichtbar.

»Wir bringen euch den Rucksack! War im Mülleimer an der Straßenbahn.«

4

3. November

Ich konnte schon immer problemlos Kontakte zu anderen Menschen knüpfen. Das ist eine wirkliche Stärke von mir. Ich gehöre nicht zu diesen armen, abgeschobenen Mauerblümchen, die verhuscht am Rande des Geschehens stehen und verzweifelt darauf warten angesprochen zu werden, während ihre Zeit abläuft und sie langsam und traurig vor sich hin welken. Nein, ich unterhalte mich gern, Fremde interessieren mich, ich finde schnell einen Einstieg in ein munteres oder ernsthaftes Gespräch. Dabei bleibe ich durchaus distanziert, behalte jederzeit den Überblick, lasse mich nicht aushorchen oder gar in Intrigen verwickeln. Alles bleibt harmlos. Unverbindlich.

Besonders bei Frauen fällt es mir leicht. Obwohl ich mich viel lieber mit Männern unterhalte, vertrauen mir Frauen ungebeten selbst ihre intimsten Geheimnisse an. Das scheint bei mir schicksalhaft zu sein.

So erzählte mir einmal eine ältere Dame, mit der ich in der hereinbrechenden winterlichen Dämmerung in der Einöde auf den Bus wartete, dass sie immer, wenn sie hierher käme um das Grab ihres Mannes zu besuchen, ihr Geld in ihren BH stecke, aus Angst, es könne ihr aufgelauert werden. Der Dieb mochte ihr dann zwar die Tasche aus den rheumatischen Händen reißen – aber später wäre er dann sicher enttäuscht, weil er darin nichts Wertvolles würde finden können.

Wir standen dort ganz einsam und allein und es wäre mir ein Leichtes gewesen, diese klapprige Gestalt einfach niederzuschlagen und ihr das Geld abzunehmen– aber solch eine Niedertracht traute sie mir offenbar auf keinen Fall zu. Grotesk aber wahr: Sie fühlte sich sogar beschützt. Ausgerechnet!

Und natürlich missbrauchte ich ihr Vertrauen nicht– schließlich weiß ich aus eigener leidvoller Erfahrung, wie weh das tut.

Es regnet nun schon seit Tagen. Das trübe und nasskalte Novemberwetter verwandelt viele einst Sonnenhungrige in blässliche Stubenhocker. Ist mir ganz recht. Denn so wird es auf den Straßen beträchtlich ruhiger.

Die junge blonde Frau ist mir schon vor einigen Tagen aufgefallen. Sie ist genau der richtige Typ. Unbekümmert stellt sie ihre makellose Schönheit zur Schau. Wahrscheinlich bemerkt sie dieses Auflodern von Neid in den Augen der anderen Frauen nicht, denen der ganze Feierabend durch den Anblick dieses perfekten Körpers und des harmonischen Gesichtes verdorben ist, das völlig ohne grelle Farben der Kosmetikindustrie auskommt.

Auch die gierig geifernden Blicke der Männer, die sich erst in ihren Haaren verfangen, sich von dort weiter über das Gesicht voran tasten, in ihre Augen versenken, dann an ihren Lippen festsaugen, ohne sich dort lange aufzuhalten schnell zu ihrem Busen finden, den sie hemmungslos mit den Augen betatschen, um sie dann auf ihrem knackigen Po wohlgefällig ruhen zu lassen. Widerlich und ekelhaft! Doch ihr scheinen sie nicht aufzufallen.

Und genau so passiert es dann! Sie verwirren den Geist der Männer, stürzen ganze Familien ins Verderben und am Ende, wenn nur noch Trümmer vom Leben der anderen übrig bleiben, mimen sie die Betroffenen, klagen darüber, wie leid ihnen das alles tut und wollen vorher gar nichts bemerkt haben! Ha! Gelogen! Alles gelogen. Sie legen es darauf an, die Männer in ihren Bann zu ziehen, diese willenlosen Opfer, von Biologie und Erziehung dazu verdammt der Schönheit zu folgen.

Ihr Blick gleitet teilnahmslos über die Männer hinweg und beleidigt die mit krampfhaft eingezogenem Bauch in Pose Gesprungenen durch perfekt gespielte Ignoranz.

An der Straße verabschiedet sie sich von einem ordinären Mädchen, das sie wohl begleitet hat. Kein Wunder, dass ich sie nicht bemerkt hatte, neben dieser berauschenden Eva geht jede andere unter. Es wird das Schicksal der anderen bleiben, nicht wahrgenommen zu werden. Ich kenne das Gefühl der Ohnmacht sehr gut, das eine Frau durchschnittlichen Aussehens ergreift, wenn so eine Attraktion am selben Ort auftaucht. Da möchte man am liebsten im Erdboden versinken und spürt die mitleidigen Blicke der Männer, die sich denken, das hässliche Entlein kann sich mühen wie es will, aber dieser Amazone wird es nie das Wasser reichen können!

Anmutig schüttelt meine Schöne ihr Haar, das in großen Locken bis auf ihre Schultern fällt. Es glänzt und funkelt im Licht der Straßenlaternen an der Straßenbahnhaltestelle vor der Stadthalle. Ihr macht der Regen anscheinend nichts aus. Offensichtlich sind ihre Gedanken weit fort von hier.

Vorsichtig rücke ich etwas näher an sie heran. Ein milder Duft nach Maiglöckchen umgibt sie und unterstreicht ihre Natürlichkeit. Eau d’été von Kenzo. Und sie summt leise vor sich hin. Vielleicht ist sie verliebt!

Der Gedanke erregt mich und ich habe plötzlich Mühe meinen Atem unauffällig flach zu halten. Ich werde sie besitzen, mir wird sie gehören und nie bekommt ein anderer etwas davon ab! Und schließlich würde auch niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben wollen, wenn ich mit ihr fertig bin. Oh, was für ein himmlisches Gefühl – und keiner außer mir ahnt auch nur ein bisschen davon.

Die Straßenbahn der Linie 3 nach Madlow hält und die Menschen drängen sich eilig hinein, um der ungemütlichen Feuchtigkeit zu entfliehen. Ich sehe sie alle an, diese bleichen und genervten Gesichter, die sich in den Scheiben widerspiegeln. Manche lehnen ihre Köpfe schwer gegen das kühle Glas. Alle schweigen, als gäbe es ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Unterhaltung in Straßenbahnen verbietet. Jeder ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass auch von mir keinerlei Notiz genommen wird.

Es ist nicht notwendig, dicht neben ihr zu sitzen. Ich kenne ihren Weg. Wir werden wie zufällig an der gleichen Station aussteigen, am Madlower Badesee. Zwei Fremde, auf dem Weg in den verdienten Feierabend.

Doch nur einer von uns beiden wird ihn wirklich erleben.

Während der Fahrt kann ich sie von meinem Platz aus in der Scheibe beobachten. Sie liest. Offensichtlich einen Kriminalroman. Wie passend, wo sie doch gerade selbst eine der Hauptfiguren in einer Kriminalhandlung ist – allerdings weiß sie noch nichts davon, denn aus nachvollziehbaren Gründen werde ich sie erst direkt vor ihrem Auftritt einweihen.

Meine Hände beginnen zu zittern und ein gewaltiges Kribbeln steigt in mir auf. Gleich ist es soweit – gleich.

Nur noch wenige Minuten und ihr Schicksal wird sich erfüllen: Durch mich umgeformt zu werden, meinen Vorstellungen nach gestaltet, ein unübersehbares Zeichen.

Mein Puls rast und die schillernden Punkte vor meinen Augen tanzen ein wildes, unbeherrschtes Ballett. Deutlich höre ich meinen Atem, der in meinen Ohren wie eine herannahende Dampfwalze klingt. Ich kralle meine Finger fest um die Oberschenkel, um mich zu beruhigen. Am Ende wird doch noch jemand auf mich aufmerksam! Ein rascher Blick in die Runde zeigt mir jedoch, dass sich, wie üblich, niemand für mich interessiert, und ich entspanne mich etwas.

An der Haltestelle Ottilienstraße steigt eine junge Mutter mit Kinderwagen zu. Der Wonneproppen zieht sogleich die Aufmerksamkeit vieler Mitfahrer auf sich, denn er plappert munter vor sich hin, während er seine Mutter durch das Auf-den-Boden-werfen von Spielzeug fit hält. Umso besser. Wenn sie weiter als bis Südfriedhof mitfahren, kann die Ablenkung der anderen gar nicht perfekter sein.

Geduld ist nie eines meiner Laster gewesen – eine Tugend ist es entgegen landläufiger Meinung jedenfalls nicht – und ich fiebere dem Moment entgegen, die Haltestelle am Badesee zu erreichen.

Endlich. Schon kann ich die Fußgängerampel sehen. Mit einer lasziven Bewegung klappt sie ihr Buch zu und verstaut es in ihrem dunkelblauen Rucksack, den sie lässig über die linke Schulter baumeln lässt. Sie schlängelt sich aus dem Sitz. Auf dem Weg zum Ausgang passiert sie mich. Doch noch ahnt sie nichts von meiner wichtigen Rolle in ihrem Leben und so streift mich ihr Blick nur desinteressiert.

Sie sieht sich nicht um, schleudert nur ihren Rucksack in die richtige Position und macht sich dann zügig auf den Weg, der sie durch ein Waldstück führen wird. Wie kann eine so junge und so schöne Frau nur so selbstbewusst undleichtsinnig sein? Jedes junge Ding weiß doch heute um die Gefahren, die im Wald lauern konnten. Aber ich will mich nicht beklagen – mir wird es die Arbeit ungeheuer erleichtern.

Sie hört mit Sicherheit meine schmatzenden Schritte auf dem nassen Weg hinter sich, dreht sich aber nicht um. Offensichtlich hält sie mich für einen harmlosen Nachbarn auf dem Weg zu Couch, Bier, Fernseher und Chips.

Eigentlich ist es fast schade, dass sie nun aus ihrem Fehler nicht mehr würde lernen können!

Fasziniert beobachte ich ihren wiegenden Schritt. Sie kann sich wirklich unglaublich aufreizend bewegen! Elegant schwingt ihr Becken hin und her. Wie bei einem Model auf dem Catwalk. Unter ihrem hautengen Rock zeichnen sich die Konturen ihres Slips deutlich ab. Tolle Figur!

Nur die derben Schuhe, die sie so gerne trägt, passen nicht zu ihrer elfenhaften Erscheinung – aber dieses Problem habe ich bedacht.

Ihre üppige blonde Mähne hüpft durch ihre dynamischen Bewegungen von einer Schulter zur anderen. Sehr sportlich und außerordentlich begehrenswert! Und für niemanden wird das je wieder von Bedeutung sein.

Kurze Zeit später erreichen wir die Stelle, die ich schon sorgfältig für uns vorbereitet habe. Mein Atem geht jetzt stoßweise und ich taste in meiner Manteltasche nach meinem kalten Helfer, umklammere ihn krampfhaft, um nicht zu früh zu handeln. Noch einen kurzen Moment Geduld. Oh, wie sehr man diesen Engel doch vermissen wird!

Rasch hole ich auf und verkürze die Strecke zwischen uns. Als ich praktisch gleichauf mit ihr bin, dreht sie sich doch noch um und sieht mich aus ihren wunderschönen, blauen Augen fragend an.

Der Stein in meiner Hand kracht hart gegen ihre Schläfe und mit dem Splittern der Schädelknochen sind alle Fragen ihres jungen Lebens mit einem Schlag beantwortet.

Jeder Künstler, der vom eingefahrenen Weg abweicht, hat Schwierigkeiten vom Publikum verstanden zu werden. Joseph Beuys zum Beispiel.

Er war eben seiner Zeit schlicht voraus.

Ich hatte daher durchaus mit einem gewissen Unverständnis gerechnet. Das blieb bei großem Publikum nun einmal nicht aus. Und ich habe ein wirklich riesiges Publikum. Doch leider alles Ignoranten. Sie nennen mich »Mörder«, »Monster« oder »Bestie«, doch das ist nur Ausdruck ihres Nicht-Begreifens! Meine Botschaft wurde offensichtlich nicht verstanden! Aber sie werden nicht umhin können sich mit meinem Werk auseinander zu setzen. Dafür werde ich eigenhändig sorgen! Sie können noch nicht deuten, was sie sehen. Es ist noch zu unscharf. Doch mit jeder Toten wird es deutlicher zu erkennen sein! Und dann werden sie mir dankbar sein – dankbar dafür, dass ich ihnen endlich die Augen geöffnet habe, sie aus ihrer Verblendung erlöste!

Ich bin jetzt immerhin schon beinahe berühmt. Das war und ist natürlich auch immer ein gutes Motiv für große Taten. Aber ich will mehr. Ich bin ein Wohltäter der Menschheit, die nun endlich wieder erkennen wird – dank meiner Mission. Es wird endlich wieder Gerechtigkeit herrschen.

Die Zeitungen berichten über mich, das Fernsehen auch. Das war der erste Schritt, um möglichst viele dieser Verirrten zu erreichen! Natürlich wird mein Name dabei nicht genannt, den werden sie nie erfahren! Aber ich bin sicher, es wird nicht lange dauern und sie werden mir einen neuen verleihen. Ein Pseudonym. Einen Künstlernamen. Einen Namen für die Geschichte, ja sogar für die Ewigkeit.

Leider schlafe ich trotz meines ersten Erfolgs weiterhin sehr schlecht. Die Träume sind wieder da, die Stimmen– vergessen geglaubte Versatzstücke aus der begraben geglaubten Vergangenheit.

Seit ungefähr vier Wochen geht das jetzt schon so.