Gurkensaat - Franziska Steinhauer - E-Book

Gurkensaat E-Book

Franziska Steinhauer

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Beschreibung

Ein nebliger Novemberabend in der Lausitz. Kommissar Peter Nachtigall wird in das Herrenhaus der Unternehmerfamilie Gieselke gerufen. Maurice, der sechsjährige Enkel des Spreewälder „Gurkenkönig“ und Hobbyjägers Olaf Gieselke liegt tot im Arbeitszimmer - erschossen mit einem Gewehr aus dem Arsenal des Großvaters. Am nächsten Tag wird eine weitere Leiche entdeckt. Es handelt sich um den Naturschutzaktivisten Wolfgang Maul, der sich für die Wiederansiedlung von Wölfen in der Lausitz eingesetzt hatte. Nachtigall beginnt sich durch ein Gestrüpp aus Hass, Neid und dunklen Geheimnissen zu kämpfen …

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Seitenzahl: 453

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Titel

Franziska Steinhauer

Gurkensaat

Peter Nachtigalls sechster Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2010

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Daniela Hönig / Doreen Fröhlich,

Susanne Tachlinski

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart,

unter Verwendung eines Fotos von Lutz Eberle

ISBN 978-3-8392-3562-1

Der Wolf

Der junge, graue Wolfsrüde, den die Menschen Turk nannten, lag im dichten Unterholz und leckte seine Wunden.

Mit seinen 18 Monaten war er alt genug.

Von heute an würde er seinen eigenen Weg gehen, sich ein Revier suchen und vielleicht in absehbarer Zeit mit einer Partnerin ein eigenes Rudel gründen.

Ein wilder Schmerz in seinem Hinterlauf ließ ihn heftig zusammenzucken.

Dieser lange Riss würde ihn noch eine Weile beschäftigen und womöglich bei der Jagd behindern.

Seine auffallend großen Ohren bewegten sich hektisch.

Turk war sich der Tatsache bewusst, dass ein Teil des Rudels seine Verfolgung aufgenommen hatte. Er sollte nicht auf den Gedanken kommen, einen kilometerweiten Bogen zu laufen und in wenigen Tagen zu den anderen zurückzukehren. Nein, sie wollten sicher sein.

Als er nur die Geräusche des Waldes vernahm, beruhigte sich das Spiel seiner Ohren und er konnte sich erneut der Versorgung seiner Verletzungen widmen. Mit den Zähnen fuhr er vorsichtig durch das kurze Fell am linken Vorderlauf, um angetrocknetes Blut zu entfernen. Dabei ging er zu ungeduldig vor, die Verletzung riss erneut auf. Schnell leckte er das frische Blut auf. Der Duft könnte ihn sonst verraten.

Dieser Biss stammte von einem seiner Brüder, der sich innerhalb der Gruppe der juvenilen Tiere erfolgreich bis an die Spitze gekämpft hatte. Mit seiner rauen Zunge fing Turk geschickt erneut austretendes Blut ein, bevor es den Waldboden erreichen konnte.

Er winselte leise.

Als Jungwolf hatte er schon einige Kämpfe überstehen müssen, und es war auch nicht das erste Mal, dass er dabei Verletzungen davongetragen hatte. Bisher war es ihm stets möglich gewesen, selbst als Verlierer eines solchen Hierarchiegerangels im Rudel zu verbleiben und meist hatte selbst sein Gegner schnell wieder Turks Nähe gesucht und sogar mitgeholfen, die Wunden zu versorgen.

Aber diesmal war alles anders. Aus Spiel war bitterer Ernst geworden.

Wieder ruckte sein Kopf hoch.

Er witterte.

Das eigenartige, gleichförmige Geräusch war ihm bekannt, es bestand kein Grund zur Besorgnis.

Unmittelbar vor seinem Unterschlupf platschten dicke Wassertropfen auf die Erde, beim Aufprall losgelöste Spritzer trafen seine Nase und er zog sie unwillig kraus, begann zu knurren. Er wusste, dass er dieses Wasser nicht vertreiben konnte.

Nachdem er die vielen Bisse, Kratz- und Schürfwunden gereinigt hatte, rollte er sich zu einem engen Knäuel zusammen und schloss erschöpft die Augen.

Die jederzeit aufmerksamen Ohren würden seinen Schlaf überwachen.

Als er später aufschreckte, war der Regen weitergezogen. Die Vorahnung einer drohenden Gefahr hatte ihn geweckt und Turk starrte angestrengt in die heraufziehende Dämmerung.

Dort!

Am Rande seines Gesichtsfeldes bewegte sich etwas.

Das Wesen war laut.

Offensichtlich hatte es keine Feinde zu fürchten.

Das Brummen und Scheppern erstarb von einem Moment auf den anderen und das stinkende Ding spuckte zwei andere Wesen aus.

Scharf sog Turk ihren Geruch ein.

Die kannte er.

Sie gingen nur auf ihren Hinterbeinen, benutzten die Vorderläufe, um zwischen den Blättern auf dem Waldboden nach irgendetwas zu stöbern.

Angstvoll schob der junge Wolf sich tiefer in sein Versteck. Die Witterung, die er immer stärker wahrnahm, je näher diese Wesen kamen, implizierte Gefahr. Die Stimmen und Laute, mit denen sie kommunizierten, waren einem unmelodischen Bellen nicht unähnlich. Er wusste, dass man möglichst einen großen Abstand zu ihnen einhalten sollte, das Rudel hatte auf seinem Streifzug weite Distanz zum Unterschlupf dieser Wesen gehalten.

Für eine Flucht war es zu spät.

Und mit der verletzten Pfote wäre an ein Entkommen ohnehin nicht zu denken.

Blieb ihm nur, die Störer gut zu beobachten.

Was mochten die beiden nur im Laub suchen?

So sehr er sich auch anstrengte, außer Erde, kleinen Insekten und einem leichten Hauch von Verwesung konnte er nichts bemerken.

Nahezu geräuschlos schob er sich noch ein paar Zentimeter tiefer ins Gehölz. Mit der Schwanzwurzel berührte er schon die Mitte des Buschs.

Sein Körper zitterte.

Viel später, als die Dunkelheit schon den Wald erreicht hatte und sich das fahle, kalte Licht des Mondes durch die Kronen der Bäume einen Weg suchte, hörte Turk in der Ferne das Heulen der Wölfe.

Seiner Familie.

Gern hätte er eingestimmt.

Doch er gehörte nicht mehr dazu.

Prolog

Der Tag, an dem Hanne Gärtner den Glauben an das Gute im Menschen verlieren sollte, begann täuschend normal. Später hatte sie sich oft gefragt, ob es nicht ein Zeichen gegeben hatte, irgendetwas, das sie bemerkt haben könnte.

Doch da war nichts gewesen.

Gar nichts.

Sie schloss beschwingt die Tür zu ihrem kleinen Laden auf.

Hannes Traum von der eigenen Existenz!

Natürlich wusste sie, wie viele Leute im Dorf hinter ihrem Rücken tuschelten. Andere belächelten ihre hochfliegenden Pläne und sahen sie mit einem mitleidigen Blick an, der nahelegte, sie wisse es eben nicht besser, dumm geboren, nichts dazugelernt …

»Du wirst so schnell pleite sein, dass es sich für dich eigentlich gar nicht lohnt, die Regale einzuräumen«, bekam sie wenig aufmunternd aus dem Mund ihres Vaters zu hören. »Und dann? Wo soll der ganze Krempel hin, für den du dich auch noch verschuldet hast?«

Doch Hannes Optimismus war eine stabile Größe. Über eine finanzielle Krise und deren Bewältigung würde sie nachdenken, wenn sie tatsächlich drohte – und keine Sekunde früher.

Fröhlich den Sommerhit des Jahres vor sich hin trällernd, hängte sie ihre Jacke über den Stuhl hinter der Kasse und schlüpfte in einen apfelgrünen Kittel. Zufrieden sah sie sich um. Im Regal stand Bürgelkeramik neben Honig von einem befreundeten Imker, getöpferte Figuren und Windlichter waren genauso zu finden wie Tischdecken aller Größen in Blaudrucktechnik. Stimmungsvolle Aquarelle ihrer Freundin Susanne, die nach der Scheidung von ihrem Traummann das bisher verschüttete künstlerische Potenzial entdeckt hatte, hingen an der Wand. Besonders beliebt waren ihre Darstellungen des Spreewaldes, des Pücklerschen Schlosses im Branitzer Park in Cottbus und der Seepyramide, unter der des Fürsten Herz bestattet war. Alkoholisches aus dem Spreewald stand in den Regalfächern weiter oben, außerhalb der Griffweite von Kindern. Künstler boten ihre kleinen Skulpturen von Sagengestalten und Trollen an, scharfe und milde Soßen mit Spreewälder Zutaten warteten neben der Kasse auf Käufer. Zu Weihnachten würde sie hier auch Quiltdecken und andere schöne Geschenkideen anbieten, nahm sie sich vor.

Die Gurken für ihren Spreewaldladen standen noch auf dem Hof. Hanne hatte sich für eine mittelgroße, ortsansässige Firma entschieden, eine, bei der die Gurken noch mit Liebe verarbeitet wurden. Die Gläser würde sie jetzt reinholen und ins Regal und den Kühlschrank einräumen – ein paar vielleicht auch im Schaufenster dekorieren. Gerade bei einem Ausflug gehörten gekühlte saure Gurken einfach dazu, dachte Hanne, lachte gluckernd und machte sich an die Arbeit. Was wäre denn ein Spreewaldladen ohne Spreewaldgurken? Schon Theodor Fontane war von dieser Spezialität begeistert gewesen! Liebevoll drehte sie jedes Glas so, dass es mit dem Etikett zum Kunden hin auf dem Brett stand.

Vielleicht hätte ihr zu diesem Zeitpunkt etwas auffallen müssen. Dass eine Kiste mit einem anderen Klebeband verschlossen worden war als die restlichen, zum Beispiel. Aber sie war einfach nicht in einer Stimmung, die Platz für Argwohn ließ. So traf der Schlag sie völlig unvermutet. Sprachlos starrte sie das Glas in ihrer Hand an, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Eines war wohl unbestreitbar: So etwas fiel nur jemandem ein, der ihr den Erfolg nicht gönnte.

»Warum tut man mir so etwas an?«, flüsterte sie tonlos. »Diese neidischen Miststücke!«

Zwischen den grünen Gurken zogen die Senfkörner an einem trüben, menschlichen Auge vorbei.

1

Auf leisen Sohlen schlich die Gestalt die Treppe hinauf. Tief sanken die Füße in den hochflorigen Teppich ein. Ohne zu zögern wandte sie sich auf dem Treppenabsatz nach links und erreichte nach wenigen Schritten das Arbeitszimmer des Hausherrn.

»Ach, du bist’s. Hast du mich vielleicht erschreckt!«

Die Gestalt hob das Gewehr bis zur Schulter und peilte sorgfältig ihr Ziel an.

Annabelle schrie.

So laut und durchdringend, wie es ihr nie jemand zugetraut hätte und derart kompromisslos, als habe sie beschlossen, nie mehr damit aufzuhören. Als ihre Großmutter endlich angelaufen kam, fand sie das Mädchen stocksteif in der Nähe des Fensters stehen, die Arme fest an die Seiten gepresst, die Hände zu blutroten Fäusten geballt, den Kopf in den Nacken geworfen und mit weit aufgerissenen Augen an die Decke starrend. Ihr Mund war weit geöffnet und sie schrie schrill, scheinbar ohne Atem zu holen. Noch lange Zeit später sollte sie anfangen zu wimmern, wenn sie in diesen Raum geführt wurde.

Die Großmutter, die durch das Geschrei aus tiefstem Schlaf gerissen worden war, versuchte zunächst, das Mädchen in die Arme zu schließen, um sie zu trösten, denn zu diesem Zeitpunkt glaubte sie noch, ihre Enkelin habe sich beim Spielen verletzt. Doch das Kind blieb wie versteinert stehen und ließ sich nicht beruhigen. Ratlos sah sich die Großmutter im Raum um. Dabei entdeckte sie das Grauenvolle, das Annabelle so erschüttert hatte. Frau Gieselke ächzte entsetzt. Sie mobilisierte eine Stärke, von der sie nichts geahnt hatte, hielt dem Mädchen mit einer Hand die Augen zu, umfasste mit der anderen den schmächtigen Körper und hob das noch immer markerschütternd kreischende Kind hoch. Schleppte es aus dem Zimmer. Weg von dem sich rasant ausbreitenden Blutfleck auf dem Teppich, der sich unter der kleinen Leiche ihres Bruders gebildet hatte – ausgehend von der Stelle, an der eigentlich sein fröhliches Jungengesicht hätte sein sollen.

2

Kriminalhauptkommissar Peter Nachtigall hielt sich fit. Er hatte die Erwärmung bereits abgeschlossen und war damit beschäftigt, die Gerätschaften für die nachfolgende Trainingseinheit zusammenzusuchen. Bei den Sportmatten traf er auf Conny. Sie lächelte ihm verschwörerisch zu und tätschelte liebevoll seinen Bauchansatz.

»Übertreib’s bloß nicht. Du weißt, ich liebe jeden Zentimeter an dir – und da wäre es doch jammerschade, wenn du dir was davon wegtrainieren würdest.«

»Ich werde nur das schwabbelige Fett in feste, pralle Muskelmasse umwandeln«, versprach er in feierlichem Ton, »denn sonst würdest du mich ja am Ende immer weniger lieben und das werde ich auf gar keinen Fall riskieren.«

»Du weißt doch: Frauen lieben Männer mit Substanz!«

Darauf wollte er gerade eine schlagfertige Antwort geben, als er spürte, wie das Handy in der Tasche seines Jogginganzugs vibrierte. Mobiltelefone waren im Fitnessstudio eigentlich nicht erlaubt, aber er hatte eine Ausnahmegenehmigung bekommen. Dennoch war es ihm im Ernstfall ausgesprochen unangenehm. Schnell nickte er Conny zu und floh auf den Gang hinaus.

»Ja!«

»Wir haben eine Leiche im Herrensitz der Familie Gieselke. Das ist diese Gurkendynastie. Das Opfer wurde erschossen«, informierte ihn Albrecht Skorubski, Kollege und Freund.

»Okay. Bin gerade beim Sport. In zehn Minuten bin ich draußen. Wer wurde denn erschossen – Herr Gieselke?«

»Nein – sein Enkel. Sechs Jahre alt.«

»Unfall. Wie furchtbar. Warum verständigen sie …?« Eine ältere Dame schob sich mit ihrem Rollator vorbei und warf dem telefonierenden Sportler einen missbilligenden Blick zu.

»Wir wurden gerufen, weil die Kollegen vor Ort sich nicht sicher sind, ob es sich tatsächlich um einen Unfall handelt!«, unterbrach ihn der andere.

»Was? Fahrlässige Tötung? Mord? Wer sollte denn einen Sechsjährigen ermorden?«, fragte Nachtigall entgeistert.

»Fremdverschulden wohl in jedem Fall. Ob Mord oder eine andere Variante … Lass uns erst mal hinfahren. Ich hole dich ab.«

Als er das Telefon in die Tasche gleiten ließ, beugte er sich zu der alten Dame hinunter und meinte: »Ich darf das. Ich bin von der Polizei.«

»Ja, ja – das sagen sie alle«, antwortete sie bloß übellaunig.

Das große Herrenhaus lag weitab der Straße, einsam und idyllisch. Die strahlend weiße Fassade des eckigen Bauwerks wurde knapp unter dem Dach von einer Kante begrenzt, die den Eindruck verstärkte, es handle sich um eine Burg. Die hohen Fenster waren streng symmetrisch angeordnet. Aufgelockert wurde die Komposition durch einige Rundbogenfenster, kleine, schmale und große, hohe. Zum Eingangsportal führte eine Treppe, die Tür selbst lag geschützt in einem halbrunden Vorbau.

Die zuckenden Lichter der Polizeifahrzeuge und des Rettungswagens warfen bizarre Schatten an die Hauswände. Ein Streifenwagen parkte direkt in der Einfahrt, um Neugierige vom Grundstück fernzuhalten, die dunkle Limousine des Bestattungsunternehmens verbarg sich diskret hinter einem üppigen Busch.

Peter Nachtigall schaute auf seine Armbanduhr. Halb sechs. Die Dunkelheit brach bereits herein und ein Fremder wäre im Park des Anwesens schon nicht mehr auszumachen gewesen.

»Wann genau wurde der Junge gefunden?«

»Wir wurden gegen 16 Uhr alarmiert«, gab der Kollege Peddersen Auskunft.

»Hm. Da war es noch hell, na ja, bei dem Wetter eher dämmrig. Ein Flüchtender, der über die Wiese in Richtung Tor läuft, wäre aber sicher noch zu sehen gewesen«, murmelte der Hauptkommissar vor sich hin. Dann erkundigte er sich: »Staatsanwalt Dr. März wurde schon verständigt?«

»Ja. Er steht auf der Autobahn im Stau, kommt aber so schnell er kann«, erklärte Peddersen und verschwand im Haus.

»Der Junge liegt oben«, informierte sie ein junger Beamter der Schutzpolizei mit leiser Stimme und Nachtigall fiel sofort auf, wie blass er war.

»Sehr schlimm?«

»Viel schlimmer.«

Bedrückt folgte Peter Nachtigall dem Kollegen ins Haus. Etwas atemlos erreichte auch Michael Wiener, der jüngste Mitarbeiter in Nachtigalls Team, die beiden und schloss sich ihnen an. »’S Navi ist kaputt. Ich hab mich verfahre«, japste er entschuldigend.

Den Schluss bildete Albrecht Skorubski, der insgeheim hoffte, er könne sich mit den Kollegen des Erkennungsdienstes etwas abseits vom Tatort unterhalten, um keinen intensiven Blick auf das Opfer werfen zu müssen.

»Links.« Peddersen dirigierte das Team am oberen Treppenabsatz zum Tatort. Wenige Schritte später standen sie dort, wo vor Kurzem Annabelle und ihre Großmutter Maurice entdeckt hatten.

Peter Nachtigall schluckte hart und trat näher an den schmächtigen Körper des Jungen heran. Es kostete ihn große Mühe, seine professionelle Haltung zu wahren und nicht davonzustürzen. Neben sich hörte er Wiener leise ächzen und wusste, diesmal würde selbst der sonst recht unerschütterliche Kollege Schwierigkeiten haben, sich auf seine Notizen zu konzentrieren. Das Kind konnte kaum 1,30 Meter groß sein. Zarte, fast weiße, wächsern erscheinende Arme und Beine schauten unter der Kleidung hervor. Nachtigalls Herz schlug bis zum Hals, als er in die Hocke ging, um besser sehen zu können. Ein Unfall oder tatsächlich Mord? Sollte er wirklich glauben, dass jemand absichtlich einen Sechsjährigen erschossen hatte? Er konnte sich mit diesem Gedanken nur schwer vertraut machen.

»Wie heißt er?«

»Maurice.«

»Wo ist der Arzt? Ist der bereits wieder weg?«

»Nein, nein. Der kümmert sich um den Rest der Familie.«

Nachtigall nickte.

Maurice Gieselke lag ausgestreckt auf dem Rücken. Die Wucht des Geschosses hatte die linke Gesichtshälfte vollständig zerstört, und auch von der anderen war kaum etwas geblieben, was als Gesicht zu identifizieren gewesen wäre. Der Körper dagegen schien weitgehend unversehrt.

»Nur ein Schuss?«

»Nein. Es müssen mehrere gewesen sein. Abgegeben aus dem Jagdgewehr dort drüben auf dem Schreibtisch.«

Nachtigall entdeckte den Lauf einer Waffe, der wie ein kalter, schwarzer Finger in den Raum hineinragte.

»Woher wisst ihr, dass dies auch die Tatwaffe ist?«

»Der Lauf«, antwortete Peddersen, als sei das Erklärung genug. Nachtigall verzichtete darauf, den verstörten Beamten näher zu befragen und erschloss sich, dass der Lauf noch warm gewesen sein musste, als die Kollegen zum Tatort kamen.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Seine große Schwester.«

»Mein Gott. Wie groß?«, hakte der Hauptkommissar nach.

»Zehn Jahre alt. Der Notarzt ist mit ihr im Wohnzimmer. Natürlich steht sie unter Schock.«

Wie furchtbar musste es für das Mädchen gewesen sein, eine solche Entdeckung zu machen, dachte Nachtigall und bekämpfte eine hartnäckig aufsteigende Übelkeit, die ihn an Tatorten wie diesem regelmäßig überfiel. Ob sich die Kleine überhaupt von so einem Schock erholen konnte?

»Michael? Der Fotograf soll jetzt die Bilder machen, die uns noch fehlen. Also auch eine Aufnahme vom Blick durchs Fenster in den Garten, du weißt schon. Dann sehen wir, ob wir mit der Familie reden können. Wo ist eigentlich Albrecht?«

»Der spricht mit einem Kollegen.«

»Draußen?«

»Im Treppenhaus – er ist gar nicht mit uns hier reingekommen.«

Nachtigall sah sich gründlich im Raum um. Die Einrichtung sorgte für eine düstere, beklemmende Atmosphäre. Dunkelbraune, deckenhohe Schränke zogen sich an der Wand entlang. Der massige Schreibtisch, ebenfalls aus dunklem Eichenholz gefertigt, stand schräg, der breiten Fensterfront zugewandt. Papiere stapelten sich zu beiden Seiten auf ihm, einige Blätter waren zu Boden gerutscht. An der einzigen freien Wand hingen Hirsch- und Rehschädeldecken mit Geweihen, ein Wildschweinkopf sowie zwei Marderhundköpfe. Im Regal entdeckte er ein komplett präpariertes Hermelin. Angewidert schaute Nachtigall zur Seite.

»Wessen Zimmer ist das hier – und wer ist der Jäger? Ich denke, die Familie betreibt eine Gurkenfabrik?«, fragte der Hauptkommissar und erhob sich vom Boden. Schnell erfasste er, dass das Opfer vom Schreibtisch verdeckt wurde. Von der Tür aus war der Körper nicht zu sehen.

»Es ist das Arbeitszimmer des Großvaters, Olaf Gieselke. Er ist auch der Jäger. Hobbyjäger. Es handelt sich um sein Gewehr. Er hat angegeben, es befände sich normalerweise im stets gut verschlossenen Waffenschrank und er habe keine Erklärung dafür, wie es hier auf seinen Schreibtisch käme. Er sitzt in der Küche«, erläuterte Peddersen.

»Aha. Ich spreche mit ihm. Michael, lass dir diesen Waffenschrank zeigen und überprüfe, ob die anderen Gewehre und die Munition an ihrem Platz sind. Vielleicht wurde der Schrank ja aufgebrochen. Wo finden wir das gute Stück denn?«

»Im Keller«, wusste der Kollege Hans Schmidt von der Spurensicherung.

Der Fotograf erschien und tänzelte vorsichtig um das Opfer herum. Seine bizarren Verrenkungen würden dafür sorgen, dass das Team Tatortfotos aus allen relevanten Perspektiven erhielt. Nachtigall beobachtete ihn gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen.

Michael Wiener verschwand mit Schmidt in einen Keller, der so unglaublich sauber und aufgeräumt war wie noch keiner, den er gesehen hatte. Der Waffenschrank befand sich in einem der am meisten entlegenen Räume und entpuppte sich als wahrer Waffentresor. Korpus und Tür bestanden aus Stahl, die Türen schlossen lückenlos, das Schloss war unbeschädigt. Michael Wiener stieß einen überraschten Pfiff aus. Er zog am Türgriff. Der Schrank war verschlossen. Der Schlüssel steckte.

»So ein Leichtsinn!«

»Dabei müsste doch jeder wissen, wie gefährlich es ist, Waffen für Kinder und Jugendliche zugänglich zu verwahren! Die jüngsten Vorkommnisse haben das doch wohl deutlich gezeigt!«, bestätigte ihm sein Kollege.

Wiener nickte. Er wusste, was Hans Schmidt meinte: Er dachte an die jüngsten Amokläufer und ihre Opfer. So lange lag Winnenden nicht zurück. Der Erkennungsdienst würde Schrank und Schlüssel nach Fingerspuren untersuchen.

»Vielleicht hat der Großvater den Schlüssel beim letzten Mal versehentlich stecken lassen. Wo wird der denn normalerweise aufbewahrt?«

Der Kollege zuckte mit den Schultern.

»Danach müssen wir ihn also fragen.«

Wiener zog einen kleinen Block aus der Tasche und notierte sich diesen Punkt. Als er wieder aufsah, entdeckte er ein amüsiert-nachsichtiges Lächeln auf den Lippen des Kollegen.

»Stimmt was nicht?«

»Barnaby geguckt?«

Wiener grinste gutmütig. »Immerhin hat der seine Fälle gelöst, oder?«, gab er freundlich zurück.

Kriminalhauptkommissar Peter Nachtigall saß derweil dem Großvater des Opfers am Küchentisch gegenüber. Er schätzte Olaf Gieselkes Alter auf Ende 60. Das schlohweiße Haar stand wirr von seinem großen, breiten Schädel ab, die grauen, ungewöhnlich weit auseinanderstehenden Augen huschten ziellos hin und her. Immer wieder wischte er verstohlen eine Träne von der Wange. Auch er war sehr blass und Nachtigall bemerkte, dass die farblosen Lippen des alten Mannes zitterten.

Der Tee vor ihm wirkte unberührt und ein öliger Film auf der Oberfläche der bräunlichen Flüssigkeit bewies, dass er inzwischen kalt sein musste.

»Sie haben den Schuss nicht gehört?«

»Nein«, antwortete Gieselke mit erstickter Stimme, »wir halten um diese Zeit unseren Mittagsschlaf. Das Schlafzimmer befindet sich am anderen Ende des Hauses. Gut gebaut, dickes Mauerwerk – kein Ton ist zu hören.«

»Sie haben die Tatwaffe als eines Ihrer eigenen Gewehre identifiziert.«

Der alte Mann nickte traurig.

»Können Sie erklären, wie jemand in den Besitz dieser Waffe kommen konnte?«

Der Großvater schluchzte auf. »Nein! Ich schließe die Gewehre immer in den Waffenschrank ein. Immer! Aber vielleicht wurde mein Gewehr gar nicht abgefeuert, sondern nur auf dem Tisch abgelegt.«

»Unsere Ballistiker finden heraus, ob ein Schuss aus diesem Gewehr Ihren Enkel getötet hat. Bisher wissen wir nur, dass es zweifelsfrei vor Kurzem abgefeuert wurde. Ob es sich auch um die Tatwaffe handelt, werden die weiteren Untersuchungen zeigen.«

»Immer! Ich schließe sie immer weg! Das müssen Sie mir glauben! Meine Frau wird das bestätigen. Und gerade wenn die Kinder im Haus sind, kontrolliere ich besonders sorgfältig. Meine Frau nennt es hysterisch. Aber ich weiß doch, was für eine Faszination für Kinder von Gewehren ausgeht. Der Schlüssel liegt in meinem Arbeitszimmer – versteckt! Weggeschlossen im Safe.«

Ein heftiges Zittern ergriff seinen gesamten Körper. Nachtigall hörte, wie Olaf Gieselkes Schuhe rhythmisch auf den Boden schlugen und seine Zähne klapperten. Er musterte ihn besorgt, sprang auf und alarmierte den Notarzt, der noch immer mit Großmutter und Enkelin im Wohnzimmer beschäftigt war.

Während Dr. Manz, ein dynamischer junger Mann mit dunklen Locken, den Nachtigall schon von früheren Tatorten kannte, mit Herrn Gieselke über ein Beruhigungsmittel diskutierte, warf er dem Hauptkommissar einen langen, ausgesprochen missbilligenden Blick zu. »Sie stellen ihm jetzt besser keine Fragen mehr.«

»Ich lasse mir von irgendeinem dahergelaufenen Quacksalber keine Spritze geben!«, wehrte sich der Großvater mit schwacher Stimme.

»Aber es bringt Ihnen Erleichterung. Es ist doch nur ein winziger Einstich.«

»Nehmen Sie bloß Ihre verdammte Nadel weg!«

»Vielleicht als Tablette?«, fragte Dr. Manz den unbeugsamen Patienten. »Sie nehmen eine, legen sich hin und in wenigen Minuten fühlen Sie eine deutliche Besserung. Dauert nur länger. Mit der Spritze käme die Wirkung wesentlich schneller.«

Mit hochgezogener Augenbraue nahm Gieselke die Filmtablette in die Hand. »Das ist Flunitrazepam. Rohypnol«, erklärte Dr. Manz zu Nachtigall gewandt.

»Mit einem Schluck Tee wird’s schon gehen«, ermutigte der junge Arzt den widerspenstigen Mann. Der Großvater griff nach der Tasse.

»Erzählen Sie mir etwas über Oma und Enkelin«, forderte Nachtigall flüsternd und zog Dr. Manz außer Hörweite Gieselkes.

»Die Kleine heißt Annabelle. Sie hat die Leiche ihres Bruders gefunden. Das ist schon für uns alle ein fürchterlicher Anblick. Wie entsetzlich muss es erst für ein so kleines Mädchen sein. Sie hat einen Schock.«

»Befand sie sich noch im Arbeitszimmer, als Sie kamen? Oder hatte sie den Raum längst verlassen – war vielleicht rausgerannt?«

»Nein, rausgerannt ist sie nicht. Frau Gieselke fand das Kind im Arbeitszimmer vor. Sie erzählt, Annabelle habe ununterbrochen markerschütternd geschrien und sei nicht vom Platz wegzubewegen gewesen. Sie sah sich gezwungen, das Mädchen aus dem Zimmer hinauszutragen. Jetzt allerdings sagt die Kleine kein Wort mehr, sie schreit auch nicht, stiert nur vor sich hin und ist ganz steif. Das Gesicht ist völlig ausdruckslos. Maximaler Muskeltonus. Posttraumatische Schockreaktion, Mutismus.«

»Sie meinen, sie braucht psychologische Betreuung.«

Dr. Manz nickte zufrieden. Der Hauptkommissar hatte offensichtlich verstanden, was zu tun war. Er würde das Mädchen nicht mit unnötiger Fragerei belasten.

»Eine Befragung ist demnach ausgeschlossen.«

»Sie wird Ihnen nicht antworten. Jedenfalls nicht im Moment.«

»Wie lange hält so etwas an?«

»Das kann niemand voraussagen. Manchmal ist es nach ein paar Stunden überstanden, manchmal dauert es aber erheblich länger. Und in diesem Fall sollten Sie nicht davon ausgehen, schnell zu einer Zeugenaussage zu kommen.«

»So«, wandte er sich daraufhin erneut dem Großvater zu, »ich bringe Sie jetzt ins Bett. Sie werden ein paar Stunden schlafen. Wenn Sie aufwachen, wird sich Ihr Hausarzt weiter um Sie kümmern.«

»Sprechen Sie nicht in diesem herablassenden Ton mit mir!«, herrschte Olaf Gieselke den jungen Arzt an, der nervös seine Brille auf der Nase zurechtschob. »Schließlich bin ich nicht dement. Ich kann sehr gut allein für mich sorgen!« Mit schleppenden Schritten machte er sich auf den Weg, stützte sich an der Wand ab und verschwand um eine Ecke.

Dr. Manz zuckte mit den Schultern. »Der Hausarzt ist bereits verständigt. Eigentlich sollte er längst hier sein. Aber er war gerade zu einem Notfall unterwegs – ging wahrscheinlich länger, als er erwartet hatte.« Damit machte er kehrt und war ebenfalls verschwunden.

Peter Nachtigall sah den Gang entlang und fragte sich, wie er diesen Fall aufklären sollte, wenn seine einzige Zeugin nicht mit ihm sprechen konnte.

3

Das Mädchen saß kerzengerade auf dem Sofa, wie eine Puppe, die man in der Hüfte einknicken konnte, die Beine steif ausgestreckt, und starrte auf einen Punkt an der Wand. Sie reagierte weder auf den großen Fremden, der das Zimmer betrat, noch auf die freundlichen Worte, mit deren Hilfe er ein Gespräch einzuleiten versuchte.

»Lassen Sie die Kleine, sie will nicht!«, wisperte die Großmutter, eine magere, grobknochige Frau. Sie schien vollständig in die Polsterung des Sessels eingesunken zu sein. Ihr Gesicht war aschfahl und die grauen, langen Haare hingen kraftlos bis über die Schultern hinunter. Nachtigall registrierte den weichen Hausanzug, der ihr einige Nummern zu groß war, und erinnerte sich daran, dass Frau Gieselke aus dem Mittagsschlaf geschreckt worden war.

»Es ist sinnlos. Annabelle spricht nicht«, wiederholte die Großmutter trostlos.

»Die beiden Kinder wollten die Ferien bei Ihnen verbringen?«

»Ja. Sie kommen gern. Mein Sohn … er kommt auch sofort … ich habe … telefoniert …«, ihre Stimme torkelte und verstummte plötzlich vollständig.

»War es für einen Fremden möglich, unbemerkt ins Haus einzudringen? Oder verfügen Sie über eine Alarmanlage?«

»Natürlich haben wir so ein Ding. Aber wir aktivieren es nur nachts oder wenn wir das Haus verlassen. Bisher fühlten wir uns hier ausgesprochen sicher.«

»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Etwas Merkwürdiges?«

Die alte Dame starrte ihn entgeistert an. »Mein Enkel ist tot! Das ist wohl auffällig genug!« Ihre Stimme überschlug sich hysterisch und Nachtigall zuckte zusammen.

»Nun, ich denke dabei an das Zuschlagen einer Tür, obwohl alle im Zimmer waren. Oder Sie fanden ein Fenster geöffnet vor, das normalerweise geschlossen ist. So etwas zum Beispiel«, präzisierte der Hauptkommissar.

»Nein! Allerdings beschäftigt mich im Moment nicht die Frage nach geöffneten Fenstern! Maurice ist …« Frau Gieselke sah ihre Enkelin verzweifelt an. Tränen standen in ihren Augen.

Nachtigall, der ahnte, wie schwer es der Großmutter fiel, mit ihm über die Ereignisse des Nachmittags zu sprechen, blieb nichts anderes übrig, als dennoch weiterzufragen: »Es ist heute Entsetzliches geschehen. Und ich weiß, dass Sie mich ans Ende der Welt wünschen – doch ich bin es, der diesen Fall bearbeitet und dazu brauche ich Ihre Unterstützung, wenn ich schon Annabelles nicht bekommen kann.«

Die alte Dame senkte den Kopf.

»Wenn der Täter von außen kam, müssen wir herausfinden, welchen Weg er möglicherweise genommen hat. Wer verfügt über einen Schlüssel zu diesem Haus?«

»Wir. Mein Sohn. Ein Teil des Personals. Ein Schlüssel zur allgemeinen Verfügung liegt in einem Kästchen auf der Kommode im Eingangsbereich.«

»Zur allgemeinen Verfügung?«, echote Nachtigall irritiert.

Die Großmutter stöhnte. »Falls jemand unerwartet aus dem Haus muss«, erklärte sie gereizt. »Er legt ihn einfach zurück, wenn er wieder hereinkommt.« Ihre Stimme brach und sie wich dem Blick des Hauptkommissars aus.

Peter Nachtigall entschuldigte sich, zog sein Handy hervor und bat Michael Wiener zu überprüfen, ob in dem Kästchen tatsächlich ein Hausschlüssel lag.

»Sie legen sich jeden Tag mittags hin?«, fuhr der Ermittler wenig später mit der Befragung fort.

»Ja. Das ist nicht verboten!«

»Nein, natürlich nicht«, versuchte er, Frau Gieselke zu beschwichtigen. »Mich interessiert, was die Kinder normalerweise in dieser Zeit tun.«

»Sie schlafen ebenfalls, hören Musik, lesen«, zählte sie auf. »Sie beschäftigen sich leise.«

»Vielleicht stöbern sie aber auch im Haus herum? In diesem Alter suchen sie gerne nach Abenteuern«, gab Nachtigall zu bedenken.

»Wenn Sie damit andeuten wollen …«

»Ich möchte gar nichts andeuten.«

»Das brauchen Sie auch gar nicht. Mein Sohn hat uns schon Versager genannt!«, schrie sie auf und begann hemmungslos zu schluchzen. »Versager!«

Peter Nachtigall war ratlos. Das Gespräch mit der schockierten Großmutter gestaltete sich schwierig und erwies sich als wenig ergiebig. Beide Zeuginnen waren traumatisiert und er wollte ihren psychischen Zustand nicht durch Fragen nach dem Auffinden des Jungen am Tatort verschlechtern.

»Bisher haben die beiden immer friedlich in ihren Betten gelegen, wenn ich nach dem Mittagsschlaf bei ihnen reinschaute!« Jammernd schlug sie die Hände vors Gesicht. »Dieses Bild, die beiden so innig einander zugewandt – das werde ich nie wieder sehen!«

Nachtigall war direkt dankbar, als es klopfte. Ein jungenhaftes Gesicht mit dominierender runder Nickelbrille schob sich durch den Türspalt.

Die Erleichterung, die das Auftauchen des Mannes für Frau Gieselke brachte, war unübersehbar. »Dr. Auwald! Wie gut, dass Sie da sind!«

Mit zwei raumgreifenden Schritten hatte der Arzt die alte Dame erreicht und umfasste ihre zitternden Hände mit seinen muskulösen Fingern. »Was für eine Tragödie!«, rief er dabei empathisch und warf schwungvoll sein Haar in den Nacken zurück.

»Herr Dr. Auwald?«

»Oh, entschuldigen Sie. Ich bin der Hausarzt der Familie. Sie sind sicher von der Polizei, nicht wahr?«

Nachtigall, viel zu überrascht, um eine ausführliche Antwort geben zu können, nickte nur. Niemals hatte er einen so jungen Hausarzt erwartet! Eher einen weißhaarigen Mann kurz vor dem Ruhestand.

»Hallo, Annabelle. Das war ein wirklich schlimmes Erlebnis heute. Darf ich dich wohl mal ganz kurz an der Schulter anfassen?« Dr. Auwald streckte seinen Arm langsam nach dem Kind aus, das sofort zu wimmern begann. Rasch zuckte die Hand wieder zurück.

»Sie will das nicht. Sprechen auch nicht«, erklärte die Großmutter tonlos.

»Frau Gieselke, während die beiden Kinder hier wohnen, entscheiden Sie in allen medizinischen Belangen, oder?«

Die alte Dame sah den Arzt nachdenklich an, nickte dann vorsichtig.

»Ich glaube, es wäre klug, Annabelle in eine Spezialklinik bringen zu lassen. Weg von der Erinnerung. Sieht so aus, als bräuchte sie psychologische Betreuung.«

Frau Gieselke sah ihre Enkelin voller Schmerz an.

»Und Ihnen gebe ich eine Spritze. Danach werden Sie sich leichter fühlen und etwas schlafen. Einverstanden?«

Er begann, sich an seiner Arzttasche zu schaffen zu machen.

»Halt!«, mischte sich nun Nachtigall ein. »Bevor Sie die Zeugin vernehmungsunfähig machen, muss ich ihr noch ein paar Fragen stellen.«

»Vernehmungsunfähig ist sie schon jetzt. Lassen Sie die arme Frau in Ruhe. Kommen Sie einfach morgen wieder, vielleicht können Sie dann Ihre Fragen stellen.« Ohne sich beirren zu lassen, organisierte Dr. Auwald den Transport Annabelles und zog die Spritze auf.

»Wir müssen die Eltern benachrichtigen, Frau Gieselke. Ich brauche Telefonnummer und Anschrift Ihres Sohnes.«

Der Hausarzt funkelte den Ermittler wütend an, während er den Ärmel seiner Patientin hochschob.

»Mein Sohn weiß es ja längst. Versager! Dr. Auwald, stellen Sie sich vor, er hat uns Versager genannt!«, heulte sie erneut auf. »Seine Handynummer liegt hier drüben auf dem Schreibtisch. Er wird Ihnen die Adresse der Mutter geben!«

»So – Sie haben nun, was Sie wollten, nicht wahr? Sie werden meine Patientin jetzt nicht mehr ansprechen!«

Unbeeindruckt beobachtete Frau Gieselke, wie eine klare Flüssigkeit aus dem Spritzenkolben in ihren Arm gepresst wurde.

»Am besten wäre, Sie würden sich jetzt hinlegen. Ihr Mann hat das auch schon getan«, empfahl Dr. Auwald.

»Erst, wenn die Kleine versorgt ist. Ich werde sie in dieser Situation doch nicht sich selbst überlassen! Der Vater muss gleich hier sein.«

Nachtigall, von dem niemand mehr Notiz zu nehmen schien, griff nach dem Zettel mit der Telefonnummer und verließ den Raum. Wenn der Vater ohnehin bereits auf dem Weg zu ihnen war, würde er die Zeit nutzen, um sich gründlich im Haus und auf dem Gelände umzusehen.

Der leitende Staatsanwalt Dr. März war auch noch immer nicht eingetroffen, stellte er fest. »Vielleicht ist die Autobahn ja gesperrt«, murmelte der Hauptkommissar unwillig vor sich hin.

Als er aus dem Haus trat, krallte sich eine Hand in seinen Ärmel.

»Das musste ja so kommen«, knatterte die Stimme des alten Mannes, dessen Finger sich in Nachtigalls Jackenstoff gegraben hatten. Ein hässliches Grinsen verzog die Lippen über seinem zahnlosen Mund. »Alle wussten es!«

»Was wussten alle?«

»Dass etwas Schreckliches im Hause Gieselke geschehen würde, natürlich! Die Todesvögel sind zurück. Ich höre sie seit Wochen!«

»Die Todesvögel?«, fragte Nachtigall irritiert, während er mit sanftem Druck versuchte, die Hand des Unbekannten von seinem Arm zu lösen.

»Aber ja! Sie fliegen wieder. Ihr schauerliches Geheul klingt weit über den Ort. Das ist ein Zeichen!«, wisperte der Mann aufgeregt.

»Opa! Opa! Wo bist du?«

»Man ruft nach Ihnen.«

»Ja, ja. Das tun sie ständig. Kaum fünf Minuten Ruhe hat man. Sobald sie mich nicht mehr sehen, werden sie nervös«, kicherte er. »Aber der alte Walter hat sich noch nie getäuscht! Die Vögel jammern den Tod eines Gieselke herbei! Es hat auch diesmal gestimmt. Denken Sie an mich, junger Mann!«

Der Hauptkommissar verkniff sich ein wehmütiges Schmunzeln. So hatte ihn schon lange niemand mehr genannt. Tja, dachte er, mit dem eigenen Altern verschiebt sich die Perspektive. Früher hatte er 30 bereits für die letzte magische Grenze vor der endgültigen Vergreisung gehalten, heute lag er deutlich jenseits der 30 und empfand sich gar nicht als alt. Na ja, korrigierte er sich, abgesehen von den Tagen, an denen er sich nach dem Aufstehen schon wie 80 fühlte.

Ein Jugendlicher kam auf sie zugehetzt. Nachtigall schätzte ihn auf etwa 14. Die Baggyhose behinderte ihn beim Laufen und er stolperte mehrfach über seine eigenen Füße, die locker in Sneakers steckten. Unter der geöffneten Jacke blitzte ein T-Shirt mit dem Abbild von Che Guevara hervor. Durch die aufgeregte Suche war der Junge erhitzt.

»Da bist du ja!«, keuchte der Teenager erleichtert und wischte mit dem Jackenärmel Schweiß von der Stirn.

»Vergessen Sie meine Worte nicht!«, mahnte Walter eindringlich. »Der Schrei des Todesvogels …«

»Du liebe Güte, Opa! Wir suchen schon überall nach dir!«, informierte ihn der Enkel vorwurfsvoll.

»Wenn schon endlich mal was in unserer Gegend passiert, werde ich wohl noch nachsehen dürfen, was genau los ist! Und hätte ich schnell gefunden werden wollen, hätte ich eine Spur mit Brotkrümeln für euch gelegt!«, meckerte Walter lautstark.

»Wie sind Sie überhaupt aufs Grundstück gekommen? Eigentlich wimmelt der Beamte vorne am Tor alle Besucher ab.«

»Ich habe ihm gesagt, ich sei der Bruder des Hausherrn. Da hat er mich passieren lassen.« Der alte Mann zwinkerte zufrieden.

»Komm jetzt, Opa. Ich begleite dich nach Hause«, drängelte der Enkel und Walter setzte sich widerstrebend in Bewegung. Dabei stützte er sich schwer auf einen knorrigen Stock.

Nachtigall sah dem ungleichen Gespann nach. Plötzlich drehte der alte Mann sich noch einmal um. »Denken Sie an meine Worte: Der Todesvogel fliegt wieder. Er wird noch mehr Opfer unter den Gieselkes fordern!«

4

Der Vater der Geschwister erwies sich als zorniger Mittvierziger. Johannes Gieselke war ohne den Umweg über sein Elternhaus direkt in die Klinik gefahren. Als Nachtigall ebenfalls dort eintraf, sprach er gerade mit den Ärzten, gestikulierte wild und wurde mit einem knappen Wink in den Wartebereich verwiesen.

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