Fluch über Rungholt - Franziska Steinhauer - E-Book

Fluch über Rungholt E-Book

Franziska Steinhauer

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Beschreibung

Schon seit geraumer Zeit beobachtet Pfarrer Roerd Asmus die Irrwege seiner Gemeinde mit Abscheu: Prügeleien, Saufgelage und Vergewaltigungen. An einem grauen Wintermorgen wird Arfst, einer der Torfsieder, in einem Bottich tot aufgefunden. Zu erkennen ist er nur noch an einer Tätowierung, die er sich vor vielen Jahren hatte stechen lassen. Der Mann hatte sich zuvor viele Feinde im Dorf gemacht. Die Bürger von Rungholt, einer kleinen Nordseeinsel, verdächtigen die Engelmacherin Silja.

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Seitenzahl: 364

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Franziska Steinhauer

Fluch über Rungholt

Historischer Roman

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

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www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jacob_van_Ruisdael_-_Rough_Sea_at_a_Jetty_-_Google_Art_Project.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:JBAM_078b.JPG

ISBN 978-3-8392-5278-9

Widmung

Für sie.

Ihr Tod reißt eine bleibende, schmerzende Wunde.

Gedicht

Und überall Friede, im Meer in den Landen.

Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden:

Das Scheusal wälzte sich, atmete tief.

Und schloss die Augen wieder und schlief.

Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen

Kommen wir rasende Rosse geflogen.

Trutz, Blanke Hans.

Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken.

Und Hunderttausende sind ertrunken

Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,

Schwamm andern Tags der stumme Fisch.

Heut bin ich über Rungholt gefahren.

Die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.

Trutz, Blanke Hans?

Zwei Strophen aus »Trutz, Blanke Hans« Detlev ­Freiherr von Liliencron, 1882

1. Kapitel

Die Wellen warfen sich brüllend gegen die Küste, der niedrige Himmel war durchgehend dunkelgrau und schwarze Wolken rasten vorbei, als versuchten sie, sich vor dem tobenden Wind in Sicherheit zu bringen. Die von Meer und Regen über das Land gepeitschten Tropfen bildeten eine schlierige Dunstwand über dem alten Moor.

Es war eisig kalt.

Die Menschen verkrochen sich am liebsten in ihren Häusern, wärmten sich am Feuer. Nur wer musste, wagte sich vor die Tür.

Roerd Asmus, Pfarrer von Rungholt, hörte das wütende Anrennen des Wassers und wusste, dass dieser Zornausbruch der Elemente nichts Gutes bedeuten konnte. Eifrig kratzte die Feder übers Papier. Seine Predigt für den nächsten Sonntag geriet zum flammenden Ausdruck seiner Bemühungen, den Menschen in Rungholt ihre Ausschweifungen und Sünden vor Augen zu führen, um Schlimmeres von der Insel und den Seelen der Bewohner abzuwenden. Der Sturm, die Brandung, die Missernte – alles mahnende Zeichen, deren Entschlüsselung ihm nicht sonderlich schwerfiel. Diesmal konnten sie sich seinen Worten nicht länger verschließen. Schwungvoll schrieb er von notwendigen Änderungen im Verhalten der Gemeindemitglieder, verdorbenen Charakteren, Verschwendungssucht, Eitelkeit und vielem mehr, für das die göttliche Strafe zu erwarten sei. Roerd wusste, wie er seine Forderung nach Reue und Umkehr mit der Aussicht auf Rettung verknüpfen musste: Verzicht würde letztlich reich belohnt. Der Tinte gelang es kaum mehr, mit seinen Gedanken Schritt zu halten.

Doch plötzlich ließ ihn die Erinnerung an ein zufällig mit angehörtes Gespräch innehalten. Es kursierten neue Gerüchte über Hans und den Kreis. Wartete er, Hans, der gnadenlose Mörder, nur auf eine neue Gelegenheit, seine Mannen erneut zu entsenden? Neulich hatte der Pfarrer in der Gemeinde flüstern hören, es sei hohe Zeit, der um sich greifenden Ketzerei erneut zu begegnen. Diesmal der Katastrophe vorzugreifen. Asmus war ein durchaus mutiger Mann, doch mit dem Kreis legte man sich besser nicht an. Was sollte er tun, wie sich verhalten? Wäre es gut, eine Warnung vor dem Aufflammen des Ketzertums auf Strand, insbesondere in Rungholt, in die Predigt einzuflechten? Oder war es nicht viel eher seine Aufgabe, mahnende Worte zu finden, die alle Gläubigen von Irrwegen der Verfolgung Unschuldiger abzuhalten vermochten? Selbst auf die Gefahr hin, selbst in den Fokus der Ketzerjäger zu geraten?

Aus dem Nebenraum drangen die ruhige Stimme seiner Wirtschafterin und das laute Schluchzen Wittas zu ihm herüber. Lenkten sein Denken in eine neue Richtung. Das arme Kind. Hatte gerade erst die Schwester verloren und konnte sich mit deren Tod nicht abfinden. Gerade Tilda!, hatte sie geschrien, was von uns bleibt, ist ein kalter Körper im Armengrab! Reingeworfen und vergessen!, heulte sie. Natürlich verstand er ihre Trauer. Die Schwestern hatten sich sehr nahegestanden. Und hätten doch unterschiedlicher nicht sein können. Tilda, die Schöne, die Anspruchsvolle, die Unbeugsame, Unbescheidene. Witta, die vom Schicksal verachtete, deren Gesicht grob und hässlich war und deren Seele ohnehin meist im Dunkeln wanderte. Immerhin war sie von körperlicher Belastbarkeit, was in Zeiten wie diesen ein Segen für die Familie war, die keinen Sohn mehr hatte. Er sah aus dem Fenster. Sicher, wenn junge Frauen starben, war das besonders tragisch und traurig. Ein schrecklicher Unfall. Das war zumindest die Sicht auf die Dinge, die er sich schließlich zu eigen gemacht hatte, um überhaupt ein Begräbnis zu ermöglichen. Andere sprachen gar von Selbstmord. Doch aus welchem Grund hätte die wilde, schöne Frau ihrem Leben ein Ende setzen wollen? Nein, nein, schloss er diese Überlegungen ab, ein Unfall war wahrscheinlicher. Witta musste eben lernen, den Schmerz zu überwinden.

Der Sturm heulte ums Haus, das Feuer brannte unregelmäßig, qualmte. Asmus rieb sich die tränenden Augen, kehrte mit neuer Konzentration zur Predigt zurück.

Bei diesem Wetter war selbstverständlich niemand, der noch klar denken konnte, ohne Kleidung unterwegs.

Deshalb war der ungebetene Anblick für Arne doppelt verstörend.

Helle Haut hob sich beinahe leuchtend von der Umgebung ab, die Haare, aus dem Zopf gelöst, wanden sich als wilde Mähne um den Kopf, bewegten sich lebhaft in der stehenden Lache, vom Wind gezaust, als seien sie ein lebendiger Teil des Körpers.

In diesem Fall der einzige lebende Part.

Arne stürmte ins Unterholz.

Erbrach sich hinter einem Baum, der bestimmt zwei Mal älter war als die Tote.

Dann schlich er sich zurück. Streckte die Hand nach dem bleichen Körper aus. Versuchte, nicht die Brüste anzusehen, eine Begegnung mit den glanzlosen Augen zu vermeiden.

Kalt.

Alles, was er berührte, war frostig wie die Umgebung.

Natürlich kannte er die Frau.

Enken. Vom Brennerhof.

Man suchte bereits seit zwei Tagen nach ihr.

Und nun hatte er sie gefunden. Ausgerechnet.

Sie war nicht die Erste.

Vor wenigen Tagen erst hatten sie die andere entdeckt.

Nackt!

Wie jetzt Enken.

Mit einer kleinen Wunde in der Brust.

Arne warf einen letzten Blick auf den Körper.

Dann rannte er zurück zur Warft, um den anderen von der Toten zu erzählen.

2. Kapitel

»Vater? Entschuldigt die Störung, ich weiß ja, Ihr arbeitet um diese Zeit. Darf ich Euch etwas fragen?«

Der hochgewachsene, schlanke Mann sah von seinem Schreibtisch auf, rückte die weiche blaue Kappe zurecht und strich die Ärmel des blauen Mantels über die Ellbogen hoch.

Einen Moment lang starrte das Mädchen auf die sanften Locken in den braunen Haaren des Vaters, die weich bis auf die Schulter fielen. Solche lustigen Kringel hätte sie auch gern gehabt, sie beschloss die Zofe der Mutter danach zu fragen, wie man sie auch in ihre Haare würde zaubern können.

»Nun, Käthe, was ist denn so wichtig, dass du mich bei der Arbeit unterbrichst?«, erkundigte er sich freundlich und ein breites Lächeln nahm dem markanten Gesicht etwas der Härte.

»Verzeiht bitte, wenn ich Euch beim Schreiben störe. Aber, wisst Ihr inzwischen, wann die nächste Lieferung kommen wird?«, antwortete sie artig.

Joachim von Eichwald schüttelte mit bedauernder Miene den Kopf. »Tut mir leid, Käthe. Bisher habe ich keine Nachricht erhalten.«

Das blonde Mädchen stampfte bockig mit dem Fuß auf. Trampelte dann ungeduldig auf dem Boden herum, zupfte den Vater am Ärmel der Jacke. »Ich warte doch schon so unendlich lang!«

»Ungeduld ist keine Zier!«, mahnte der Vater und lächelte seine hübsche Tochter milde an. »Auch nicht in deinem Alter!«, ergänzte er schärfer und bedachte das Mädchen mit einem strafend-strengen Blick, wie es von einem guten Vater erwartet wurde. Seine dunklen Augen zogen weiter in Richtung Rute, die stets in Griffweite lag. Immerhin hörte die Kleine daraufhin mit dem Zappeln auf.

»Aber Vater! Es kann doch nicht sein, dass das Schiff noch immer nicht im Hafen liegt! Sollte es nicht schon vor Tagen einlaufen?« Trotzig schob das Kind die Unterlippe vor. »Ich möchte ihn doch so gern!«

»Das weiß ich ja«, beruhigte der Vater, hob seine Tochter auf den Schoß. »Im Alter von acht Jahren bewegt sich die Zeit nicht schnell genug, nicht wahr? Mir dagegen könnte alles ruhig etwas langsamer gehen. Das Wetter ist schlecht, die Schiffe kämpfen draußen gegen mannshohe Wellen. Es kann dauern.«

»Aber Vater, sie werden doch Vögel mitbringen?«

»Das denke ich schon. Wenngleich der Winter keine gute Jahreszeit dafür ist. Hoffen wir, dass es auf der Reise nicht allzu stürmisch und kalt war. Du weißt ja nun sehr gut, dass dein singbegeisterter Freund keine kalte Luft verträgt.«

»Ja.« Das Mädchen senkte den Blick. Schuldbewusst. »Ich habe das nicht mit Absicht getan. Das wisst Ihr doch. Noch einmal wird es nicht passieren, das verspreche ich!«

»Mit Versprechungen soll man vorsichtig sein, Käthe. Der so fröhlich singende Vogel ist gestorben, weil du eitel warst. Du hast ihn über dich selbst vergessen. So ist er in der eisigen Luft erfroren. Lass dir das eine Lehre sein.«

Tränen standen in den Augen der Tochter. Fast bereute der Vater seine harten Worte. Doch als ein listiger Zug über das Gesicht der Kleinen huschte, wusste er, dass er sie besser hätte richtig bestrafen sollen. Sie würde sich um ihr neues Spielzeug ebenso wenig scheren wie um das letzte.

»Euer Falke sitzt doch auch hier bei Euch. Nicht in der Nähe des Feuers, sondern neben Eurem Tisch. Ich ahnte ja nicht …«

»Mein Falke ist ein hiesiger Vogel. Er ist an die wechselnde Witterung gewöhnt. Selbstverständlich jagt er auch im Winter draußen. Dein Vogel jedoch kam aus einer wärmeren Region.« Der Vater erhob sich, trat neben die Sitzstange des Raubvogels, strich zärtlich und mit grenzenlosem Besitzerstolz über die Schwingen des Tieres, das sich diese Art von Zuwendung offensichtlich gern gefallen ließ. Wohlig schmiegte es sich in die warme Hand. »Dieser Falke ist mir wichtig. Deshalb sorge ich dafür, dass es ihm an nichts fehlt, Käthe. Weder an Nahrung noch an Wärme und Schutz.«

Als er sich unerwartet umwandte, bemerkte er die trotzigen Blitze aus den Augen der Tochter, ihre Wut, ihre Ungebärdigkeit, die knapp unter der Oberfläche auf einen Ausbruch zu lauern schienen.

»Geh zu deiner Mutter und sieh, ob du ihr bei etwas behilflich sein kannst!«, forderte er mit harter Stimme.

Das Kind trollte sich widerwillig.

»Natürlich, natürlich«, murmelte der Vater unzufrieden, »es ist ein wenig zu früh, wirklich eine Ehe zu stiften. Aber ich sollte zusehen, dass sich recht rasch eine Haube für sie findet. Vielleicht der Sohn von Eckehard aus Husum … Als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er sich ganz gut entwickelt. Sicher, auch er braucht noch Zeit, eine gute Weile zum Reifen. Aber dennoch. Ich könnte einen unverbindlichen Brief an Eckehard schreiben, ein bisschen über die Familie erfragen. Mit etwas Glück wünscht auch er sich eine baldige Verbindung. Immerhin ist der Knabe nun schon fast ein Mann. Und unsere Geschäfte würden sich gar wunderbar ergänzen … Gerade jetzt, wo die Handelsbeziehungen zu Kiel sich so gedeihlich entwickeln. Wohin das führt, wird sich erweisen, schließlich paktierte man dort bis vor Kurzem mit Piraten. Aber man wird sich gewiss mühen, denn die Hanse ist für ehemalige Freunde der Seeräuber verschlossen. Ja, ja. Nun handeln sie eben mit uns!«

Entschlossen griff er nach Papier und Feder.

Die Kleine war in die Gemächer der Mutter gelaufen, wie der Vater ihr aufgetragen hatte.

»Na, hast du ihn gefragt?«, erkundigte sich die knochige Frau am Frisiertisch unfreundlich.

Kopfnicken.

»Antworte mir anständig! Oder habe ich einem zu großen Huhn das Leben geschenkt?«, fuhr die große Frau sie an, sah im Spiegel zu, wie die Zofe die langen, zu Zöpfen geflochtenen blonden Haare ihrer Herrin zu Widderhörnern wickelte.

»Ja, Mutter. Wie Ihr es mir geraten habt.«

»Und?« Das strenge Gesicht wurde noch eine Spur kantiger, der Blick aus den grauen Augen stechend wie Eissplitter.

»Es wird eine neue Lieferung geben, wenn das Wetter es zulässt. Und er trug mir auf, beim nächsten Vogel achtsamer zu sein. Was ich ihm auch versprach.« Käthe setzte ihre Worte ordentlich, um die Mutter nicht weiter zu erzürnen. Mit unabsehbaren Folgen für ihren eigenen Tag, wie Käthe nur zu gut wusste.

Ein rascher Blick der Mutter zur Seite hätte die Bemühungen der Zofe beinahe zunichtegemacht. »Ach? Das hast du?«

Der drohende Unterton entging dem Kind nicht.

Es schrumpfte förmlich, schnurrte auf die Hälfte der Größe zusammen.

»Ja.«

»Nun, beim letzten Mal auch schon, nicht wahr? Du bist ein böses kleines Ding! Redest deinem Vater zum Munde, um deine Wünsche erfüllt zu bekommen! Ihn magst du täuschen, mich jedoch nicht.« Die mit Schwung geführte Rute verfehlte den Arm der Tochter nur knapp. Käthe zuckte zusammen. Nicht zu heftig, das hätte den Zorn der Mutter nur angefacht.

Die Zofe warf dem Kind einen warnenden Blick zu.

Steckte dann das zum Horn gewickelte Haar auf der linken Seite ebenfalls fest, reichte ihrer Herrin die Rise.

»Eigentlich schade, dass ich nun die ganze Pracht unter so viel Stoff verstecken soll, nur weil ich verheiratet bin«, seufzte die Mutter und beobachtete, wie die Zofe geschickt alles arrangierte, die Rise vor dem Hals drapierte. »Mein Hals ist lang und ebenmäßig. Dennoch verstecke ich ihn vor den Blicken anderer. Wahrlich schade. Schließlich ist sein Anblick keine Beleidigung fürs Auge wie der meiner Amme. Krötig und faltig.« Sie verzog angewidert das Gesicht.

Die Miene der Bediensteten blieb ausdruckslos. Schließlich gehörte es nicht zu ihren Aufgaben die mangelnde Wahrnehmung der Realität durch ihre Herrin zu kommentieren.

»Das blaue Kleid? Oder habt Ihr Euch doch für das rote entschieden?«

»Nun, Liese, wir bekommen Besuch. Ich werde also tragen, was zum Wams meines Gatten passt.«

»Er trägt Blau.« Die Zofe knickste.

»Gut, so werde ich auch das blaue Kleid wählen. Es ist von schwerer Qualität, wird also auch wärmen. Darunter das weiße Oberteil und ein passendes Tuch. Und gib mir das Band, das mein Gemahl mir von seiner letzten Schiffsreise mitbrachte. Diese Schläfenringe, die man dort bei den Slawen trägt, sind so wundervoll gearbeitet, wir werden auf jeder Seite zwei davon in die Schlaufen hängen. Das erfreut mich bei den langweiligen Gesprächen, denen ich beiwohnen muss. Geschäfte! Nun ja. Ich muss nur gelegentlich nicken und ansonsten die Aufgaben der Gastgeberin tadellos erfüllen.«

Liese reichte ihrer Herrin die Schläfenringe, deren kleine glitzernde Einhänger für funkelnde Effekte sorgen würden, und legte Frau von Eichwald das Band an.

»Und, Liese, ich werde dazu die Kette mit den großen Edelsteinperlen und den Schellenanhängern anlegen. Schließlich kommen hochrangige Partner, da darf es ein wenig mehr Schmuck sein.«

Die prächtige Kette wog schwer in der Hand der Zofe.

Voller Bewunderung ließ sie die linsenförmigen Perlen durch ihre Finger gleiten, strich zart über die kleinen Glöckchen und die Verzierungen der Lunula-Anhänger.

»Nun mach schon!«, fuhr die Hausherrin sie an. »Wir haben keine Zeit zu vertrödeln! Es sind noch einige Dinge zu regeln, damit es ein perfektes Essen wird!«

»Jawohl!«, Liese knickste.

Käthe beobachtete die Szene aufmerksam. Überlegte, ob es wohl gelingen konnte, ungesehen aus dem Raum zu verschwinden. Leise schob sie sich an der Wand entlang.

»Der Kamin im Esszimmer ist bereits angeheizt?«

»Jawohl, Herrin. Das wurde bereits heute bei Tagesanbruch veranlasst.«

»Käthe! Versuche es gar nicht. Ich sehe alles!«

Enttäuscht verharrte das Mädchen bewegungslos, ließ dann die Schultern hängen, fügte sich in das Unvermeidliche.

»Besser ich hätte statt deiner einen Sohn geboren. Du verursachst nur Ärger und bist niemandem eine Freude!«

Käthe schluckte bitter.

Als sie aufsah, begegnete sie dem tröstenden Blick Lieses. Wenigstens Liese mag mich leiden, dachte das Kind trotzig, sonst wäre ich wohl vollkommen verloren.

»Die Köchin weiß Bescheid, sie habe ich bereits vorgestern in die Folge der Speisen eingewiesen.« Elisabeth von Eichwald hatte sich der Zofe wieder zugewandt, die Tochter bereits vergessen. »Den Wein hat mein Gatte ausgewählt, den noch lebenden Fisch wird man heute direkt aus dem Fass auf dem Markt erwerben – er wird wirklich fangfrisch zubereitet und sehr wohlschmeckend sein. So ist denn alles wohlgeordnet.« Ihr kaltes Auge streifte Käthe, die sofort erstarrte. »Bleibt nur noch dieses Problem zu lösen. Sie soll uns nicht im Wege sein, Liese. Sie stört bei diesen Gesprächen nur. Und da heute Markttag ist, wünsche ich nicht, dass Käthe das Haus verlässt. Du weißt, dass sie stets nur Unsinn im Kopf hat. Kümmere dich darum, dass sie unter Aufsicht bleibt – zu jeder Zeit. Du besorge mir Thymian und Majoran zum Kauen bei der dicken Kräuterfrau, du weißt schon, welche ich meine, nicht wahr? Es ist kaum mehr als ein Rest in der Dose.« Sie zog die Lippen auseinander, warf einen Blick auf die teilweise schwarz verfärbten Zähne. »Ich möchte heute wohlriechend den Gast begrüßen. Das wird den Rest vollkommen aufbrauchen. In der Zeit deiner Abwesenheit überlasse Käthe auf gar keinen Fall der Köchin, die verwöhnt sie nur, steckt ihr Leckereien zu. Gib sie der Waschfrau an die Hand, die kann Kinder nicht ausstehen. Dort ist sie sehr gut aufgehoben.«

Die Tochter senkte den Kopf. Kämpfte gegen aufsteigende Tränen. Die Waschfrau war eine grantige Person, die keine Gnade kannte und deren steinernes Herz sich nicht erweichen lassen würde.

Widerspruch war zwecklos, könnte die Lage nur verschlimmern.

Ihre Mutter war nicht zögerlich und würde sehr schnell beide schlagen, die Zofe und die Tochter, sollte sich eine von ihnen nicht an die Anordnung halten.

3. Kapitel

Der Mann, der sich meist diskret im Halbdunkel hielt, beobachtete die Menschen, die den Schankraum mit ihm teilten, lauschte auf ihre Gespräche. Hörte die Würfel über den Tisch kollern, den Streit der Männer über Gewinne und Verluste. War angespannt und aufmerksam.

Eine tote Frau im Moor.

Die zweite Frauenleiche innerhalb kurzer Zeit erregte auch die sonst gleichgültigsten Gemüter.

Er selbst hatte sie schon gestern gefunden, aber aus gutem Grund darauf gewartet, dass ein Rungholter sie entdeckte. Schließlich war sein Erscheinungsbild durchaus ungewöhnlich und mochte dem einen oder anderen sehr fremdländisch und allein deshalb suspekt vorkommen. Da war es allemal besser, nicht aufzufallen. Er kannte diese Art Situation zur Genüge.

Ein Blick in die Scheibe, vor der es wegen der aufgezogenen Unwetterwolken fast so dunkel war, als sei die Nacht hereingebrochen. Die einzige noch verbliebene Glasscheibe. Die anderen waren im Laufe weniger Wochen bei Prügeleien zu Bruch gegangen und von Eichwald würde seine Großzügigkeit nicht noch einmal an die ungehobelten und undankbaren Gäste der Schänke verschwenden. Sie wurden durch Tierhäute ersetzt.

Neugierig musterte er sein Spiegelbild.

Schon seine Augen.

Fast schwarz. Unergründlich. Geheimnisvoll.

Die feinen Züge, das schmale Gesicht, die feingliedrigen Hände, die schlanke Gestalt – all das unterschied ihn unübersehbar von den »Ureinwohnern«.

Hellhäutig und blond war er natürlich auch nicht.

Rätselhaftes würde womöglich einen Verdacht auf den Besucher lenken. Vorsicht schien angebracht.

Jedes Mal, wenn jemand die Tür öffnete, wehte der Hauch des Winters herein. Das prasselnde Feuer konnte nicht schnell genug Wärme nachliefern. An den groben Tischen hockten derbe Kerle, die sonst die Kähne abluden. Heute waren allerdings nur zwei Schiffe angekommen, da gab es nicht ausreichend Arbeit für alle, wenngleich nach dem großen Sterben starke junge Arme an allen Orten eher fehlten. Shahid mochte die Gerüche nicht, die in der Gaststube hingen. Schweiß, Meerwasser, Dreck und Kälte. Manche dünsteten auch Zwiebel- und Knoblauchgestank aus. An einigen Tagen war es so stark, dass er mit Übelkeit zu kämpfen hatte.

Er fror.

Rauchschwaden waberten durch den Raum, wenn der Wind die Wolken zu sehr in den Abzug drängte. Der Qualm legte sich schwer auf die Brust, machten das Atmen schwer. Allgemein setzte dann wildes Husten ein. Manch einen trieb es gar vor die Tür, um Luft zu bekommen.

Lautes Johlen. Gelächter, Stühlerücken. Shahid sah nicht hin. Er wusste, dass einer der Würfelspieler alles verloren hatte, den gesamten Einsatz.

»Hallo, Shahid, da seid Ihr ja! Hätte ich mir gleich denken können, dass Euch diese Art Wetter nicht angenehm ist.« Ein eher grobschlächtiger Mann hatte den Schankraum betreten, seine schiere Größe und seine Statur zogen die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. Nach einem nervösen Blick auf den Neuankömmling wandten sie sich eilig wieder ihrem Essen zu, froh, dass er sich nicht um sie scherte.

»Oh, Hauke! Nun, was soll ich sagen? Regen und Sturm. Mein Gemüt bevorzugt Sonne und Wärme. In meiner Heimat regnet es höchst selten – und wenn es stürmt, braust Sand über den Boden, färbt gelegentlich die flirrende Luft gelb. Doch mit Licht und Wärme ist bei Euch um diese Jahreszeit nicht zu rechnen. Das wusste ich natürlich.«

»Ist ein raues Land. Aber insgesamt lebt es sich doch wirklich gut hier!« Hauke grinste, war offensichtlich hoch zufrieden.

Shahid nickte zurückhaltend. »Bettwärmer. Ein Wort, dass mir bis Rungholt nicht geläufig war«, lachte er dann. »Heiße Steine unter der Decke!«

»So erweitert unser Wetter Euren Wortschatz. Bestens. Ich habe gerade einen der Hafenarbeiter aus der Schänke kommen sehen. Wieder einer von denen, die ihre gesamte Kleidung beim Wirt verpfändet hatten. Eine mitleidige Seele hatte ihm eine Decke geliehen, damit er nicht völlig nackt nach Hause laufen muss. Das Glücksspiel treibt so viele in den Ruin!« Das grobe Gesicht Haukes verzog sich angewidert. Die auffallend wulstigen Lippen verzogen sich abschätzig und die klobige Nase ruckte auf- und abwärts. Seine grauen Augen, die in deutlichen Fettfalten lagen, funkelten übellaunig. Würfelspiele waren nicht nach seinem Geschmack. Als Geschäftsmann wusste er, dass man die mühsam verdienten Gelder zusammenhalten musste, und so war sein Verständnis für die Spieler sehr gering.

Der gewichtige Mann plumpste endlich auf einen der Wirtshausstühle und sein Gegenüber befürchtete einen Moment, das ächzende Möbelstück könne unerwartet alle viere von sich strecken. Eine Wolke aus dem Geruch nach nasser Wolle und rauem Winter wehte den Gelehrten aus dem Orient an, der unauffällig den Atem anhielt.

Hauke beugte sich zu Shahid vor, senkte die Stimme. »Sie haben eine Leiche gefunden. Wieder eine tote Frau. Enken. Ihr wisst, dass man sie schon suchte. Sie lag im Moor, sah aus, als schlafe sie friedlich. Nackt. Sagt Arne.« Dabei unterstrich er seine Worte gestenreich mit den Pranken. »Er war der Erste, der sie entdeckte.«

»Keine Verletzungen?«, erkundigte sich der fremdländische Besucher, beugte sich seinerseits ebenfalls neugierig über den Tisch und seine Augen brannten sich in die des Dicken.

»Nun ja, so mancher der Männer spricht von einer kleinen Wunde in der Brust. Aber Blut hat keiner gesehen. Also kann die Verletzung wohl nur ein Kratzer gewesen sein. Mag sein, sie haben nicht so genau hingesehen ob ihrer Hüllenlosigkeit.« Hauke drehte seine Wollmütze in den klobigen Fingern. »Vielleicht ist sie gestürzt und hat sich am Gestrüpp die Haut aufgerissen. Ihr wisst schon, straucheln und dann mit der Hand abfangen. Da kommt man schon mal mit dem harten Zweig von irgendeinem Busch in unangenehm heftigen Kontakt.«

Shahids Mundwinkel zuckten.

Waren hin und her gerissen zwischen abschätzigem Grinsen und freundlich aufforderndem Lächeln.

»Sie war nackt, hat Arne gesagt? Hat man die Kleidung gefunden? Oder glaubt Ihr, sie sei ohne aus dem Haus gegangen?«

Diesmal lief Hauke puterrot an. »Nichts«, flüsterte er dann. »Keine Faser am Leib. Und nichts etwa als Stapel oder gar wild verstreut in der Nähe.«

»Bei der Kälte ohne Kleidung? Wie kann das zugegangen sein? Ich weiß ja, es gibt im Norden Völker, die im Winter in beheizten Hütten sitzen und dann nackt in den Schnee laufen. Aber das ist mir bisher in dieser Gegend gar nicht aufgefallen. Gibt es diesen Brauch hier ebenfalls?«

»Nein. Es ist nicht üblich. Manche möchten es einführen – aber bisher …« Der Sprecher zuckte mit den Schultern. »Ist nicht die Weise der Rungholter, gemeinsam so, wie der Herr sie erschaffen hat, in heißen Holzhütten zu kauern. Wir bleiben lieber angezogen. Aber ich habe gehört, dass dieser Ritus sehr gesundheitsfördernd sei.«

»Wie erklärt man sich dann, dass Enken vollkommen unbekleidet war?«, kehrte der andere hartnäckig zu diesem rätselhaften Aspekt zurück. »Sie wird wohl kaum gewürfelt und verloren haben.«

»Nein, nicht doch! Bei uns würfeln Frauen nicht.« Hauke war der ironische Unterton völlig entgangen. »Und selbst wenn, käme wohl niemals eine auf den Gedanken, ihre gesamte Kleidung zu verpfänden. Das ist ausgeschlossen. Bisher wissen wir dieses Rätsel noch nicht zu lösen. Wäre sie ein Torfstecher, so könnte man denken, ein bisschen zu viel Alkohol habe dieses Verhalten verschuldet. Aber Enken? Nein! Eher ist zu befürchten, dass sich plötzlich ihr Verstand verwirrte. Bei ihrer Großmutter trat das auch auf, sie musste im Haus eingesperrt werden, damit sie sich nicht leichtfertig in Gefahr für Leib und Leben begeben würde.« Hauke nickte vehement, um seine Worte zu bekräftigen. »Sie fing an, mit Verstorbenen zu sprechen, und behauptete, riesige Tiere säßen draußen vor dem Fenster und starrten ins Haus hinein. An manchen Tagen versteckte sie sich unter dem Stroh, damit die Tiere sie nicht sehen konnten. Es muss eine schlimme Zeit für die Familie gewesen sein.« Er seufzte schwer. »Nach dem großen Sterben haben viele Rungholter den Verstand verloren. Das Leid wegen der vielen Toten, das Elend, weil die Ernährer oder Mütter fehlten. Bei einigen wurde es mit der Zeit besser, bei anderen blieb die Besserung aus.«

»Bleiben wir einstweilen bei Enken. Wenn sie bekleidet aus dem Haus ging – wovon Euren Worten nach also auszugehen ist –, muss ihre Kleidung zu finden sein. Entweder in der Umgebung des Fundorts oder anderswo.« Bei ihrem Mörder, dachte Shahid, schwieg aber noch zu diesem Verdacht.

»Wir werden die Familie fragen müssen, wenn Ihr meint, dieser Punkt sei von besonderer Bedeutung. Bisher hat das ja niemand getan. Selbstmörderinnen treiben mitunter sonderbare Dinge. Tilda trug auch nichts am Leib.«

Tilda, wusste der Besucher, war der Name der ersten Toten, die man vor wenigen Tagen gefunden hatte.

»Und sonst? Gab es andere Auffälligkeiten?«

»Ist auch wie bei Tilda. Wir wissen nicht, wie die beiden gestorben sind. Es gab kein Blut. Enken lag im Moor – ist nicht irgendwo runtergestürzt. Das Wasser nur knöcheltief. Tilda haben wir nur ein kleines Stück weiter nördlich gefunden, ebenfalls in einer seichten Pfütze.« Hauke kratzte sich am Kopf, brachte seine spärlichen Haare in heillose Verwirrung.

»Manchmal kann das Blut aus einem Körper vollständig im Untergrund verschwinden.« Shahid hob abwehrend die Hände, als Hauke protestieren wollte. »So habe ich es in meiner Heimat gehört. Ärzte erzählten es, die Kriegstote gesehen hatten. Im Sand.«

Der andere schwieg nachdenklich.

»Hm«, machte er dann, »soll das bedeuten, die Männer, die dort Torf stechen, stehen während der Arbeit womöglich in Enkens Blut?«, flüsterte er schließlich und wurde kreidebleich. »Tragen es an ihren Füßen bis in ihre Häuser?«

»Denkbar wäre es schon«, räumte Shahid ein, starrte blicklos auf seinen Teller. »Diese Wunde, die Ihr erwähnt habt, stammte sie von einem Messer?«, bohrte er schließlich nach.

»Ich selbst habe sie noch nicht gesehen. Von einem wahren Messerstich habe ich niemanden sprechen hören. Die Männer glauben, sie habe sich eher irgendwo verletzt. An einem dicken Ast. Wie gesagt, tief kann sie nicht gewesen sein – es gab ja kein Blut!« Den letzten Teil des Satzes betonte er nachdrücklich, als könne er so die Bilder vertreiben, die der andere in ihm geweckt hatte. »Alle glauben, sie habe sich selbst getötet.«

»Eine Stichwunde ohne Waffe? Von einem Ast? Dann hätte nicht einer der Männer über einen Stich gesprochen, nur über einen Kratzer. Nein, nein. Ihr hättet die Waffe finden müssen!«

»Ach, Ihr wisst ja: Das Moor gibt seine Beute nur ungern an die Lebenden zurück. Wenn es eine gab, mag sie längst versunken sein.«

»Aber es ist nicht sicher, dass es Beute gemacht hat, das Moor, nicht wahr?«, drängte Shahid weiter, legte den Finger in die offene Wunde des Rätsels.

»Einige sprechen von einem Untier. Es sei an Bord einer Kogge gekommen, nachts an Land geschlichen, von allen unbemerkt ins Moor gelaufen. Eine blutgierige Bestie. Ich habe gehört, wie manche berichteten, sie hätten grollendes Knurren aus dem Bauch des Handelsschiffes … Na ja. Es habe sehr böse geklungen. Der alte Bernulf weiß Geschichten von einem Tier zu erzählen, das Hunderte von Jahren ruht und plötzlich, von Gier nach Blut getrieben, durchs Moor streift, bis sein Durst gestillt ist. Dazu braucht es einige junge Frauen. Mit einer oder zweien ist es nicht zu befriedigen.«

»Ach was!«, wurde Shahid energisch. »So etwas gibt es nicht. Überall auf der Welt tischt man mir diese Geschichte auf, sobald man sich den Tod einiger Menschen nicht erklären kann! So ein Wesen gibt es nicht. Ich bin, wie Euch bekannt ist, weit in der Welt herumgekommen – und ich kann Euch sagen, wenn man die Tode untersucht, bleibt von dem Weibergewäsch nichts übrig. Geheimnisse, ja, die gibt es an jedem Ort – aber an keinem ein Untier.«

»Dann ist dieses also Euer erstes?«, erkundigte sich Hauke voller Schrecken und riss die Augen weit auf. Selbst die Hände stoppten mitten in der Bewegung.

Ich konnte es kaum glauben! So viel grenzenlose Dummheit in nur einem Hirn versammelt. Konnte oder wollte er nicht verstehen, was ich ihm erklärte?

Oh, da fällt mir auf, dass ich mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt habe.

Mein Name ist Shahid. Das bedetet Sänger. Tatsächlich gab es in meiner Familie viele Künstler aus dem musischen Bereich. So ist dieser Name wohl Ausruck der Hoffnung meiner Eltern, ich möge ebenfalls diesen Weg einschlagen. Doch ich wählte einen anderen. In meiner Muttersprache schreibt man Shahid so: .

Raum und Zeit spielen für mich nur eine untergeordnete Rolle – ich überwinde beide mit Leichtigkeit. Dafür würde mich manch einer beneiden – doch ist es ein Geheimnis, dass ich nicht mit jedermann teilen kann.

Ich bin niemandem verpflichtet, weder persönlich noch politisch – oder auf andere Weise. Das ermöglicht mir einen klaren Blick auf die Dinge, die um mich herum geschehen.

Und – ich bin eine Art Ermittler. Verhelfe der Wahrheit zu ihrem Recht, schütze die Unschuldigen vor Verfolgung und Strafe, spüre die wahren Übeltäter auf. Vielleicht sind Sie mir ja schon einmal begegnet, in einer anderen Zeit, einem anderen Land, einem anderen Fall. Menschen wie ich werden überall gebraucht.

Auf mich warten stets die besonders rätselhaften oder verstörenden Verbrechen – wie dieses zum Beispiel.

Natürlich ist Shahid eine wahre Person, ich lebe und habe eine Vergangenheit, hoffentlich auch eine Zukunft. Aber das kann ja niemand sicher wissen. Fest steht nur, dass wir endlich sind, doch den letzten Moment kennen auch wir nicht. Was gut ist, denn manchmal ist er einem näher als gedacht.

Shahids Gesprächspartner starrte ihn noch immer fassungslos an. »So ist es eine ganz und gar ungewöhnliche Erscheinung, die bei uns umgeht? Ein Wandelgänger oder – wie manche sagen – ein Hautwechsler womöglich? Oder gar ein Wesen, das direkt aus der Hölle kam? Eine Art Wiedergänger? Wenn nicht einmal ein Gelehrter wie Ihr die Bestie je zuvor zu Gesicht bekommen hat, muss es wohl so sein!«

»Nein«, korrigierte Shahid ungeduldig. »Es ist ein Trugschluss, Ihr versteht mich falsch. Ich meinte: Es gibt kein Untier oder Wesen aus der Hölle! Hier nicht und nirgendwo sonst!«

Wieder drehte Hauke seine Mütze in den dicken Fingern. Wirkte ganz und gar konzentriert auf sein Tun. Schwieg lange. Seufzte dann schwer. Als er den Blick langsam hob, erkannte der Mann aus dem Orient, dass man hier lieber an die Geschichten von Bernulf glauben würde, wenngleich Hauke anzusehen war, dass er sich mit einem Mal nicht mehr sicher war.

»Hm. Wäre es wohl zu viel verlangt, Euch zu bitten, den Leichnam einmal genauer anzusehen?« Wie erschrocken über seine eigenen Worte, schoben sich die Finger seiner Rechten über die Lippen. »Ich meine, weil Ihr doch schon so vieles auf Euren Reisen gesehen und erlebt habt. Ihr wisst so viel mehr als einer von uns, der Rungholt kaum jemals verlassen hat.«

Der Fremde nickte langsam.

»Wenn Ihr der Meinung seid, es könne helfen.«

»Aber sicher wird es das!« Hauke war die Erleichterung anzuhören und seine Miene entspannte sich. »Schon um sicherzugehen, dass wir es nicht doch mit einem großen Raubtier zu tun haben – oder eben Schlimmerem.« Er schluckte. »Wir haben sie vorhin in ihr Haus zurückgebracht.«

Der gelehrte Reisende verzichtete darauf, Hauke zu erklären, es sei sehr viel besser gewesen, die Tote im Moor zu lassen. Der möglichen Spuren wegen. Er zuckte nur mit den Schultern. Wahrscheinlich, grübelte er, lag die eilige Bergung daran, dass die Lebenden ihre Toten so schnell wie möglich wieder bei sich aufnehmen wollten, um Normalität und Gleichgewicht wiederherzustellen. Gesellschaften bedurften einer gewissen Ordnung. Er selbst kannte auch Völker, bei denen der Umgang mit Verstorbenen deutlich anders aussah. Aber auch dort war man darum bemüht die Dinge nach dem Tod schnell wieder in Balance zu bringen. Selbst wenn das bedeutete, den Toten so rasch wie möglich aus der Gemeinschaft zu verbannen und sein Eigentum zu vernichten.

»Jetzt gleich?«

»Nun – sobald Ihr die Mahlzeit beendet habt.«

»Und Eure Weberei? Bleibt heute ohne Aufsicht?«

»Das übernimmt Katharine.«

»Na, wenn das so ist, dann lasst uns sofort aufbrechen.«

Doch Hauke schielte begehrlich auf die Reste des dicken Eintopfs, die zurückbleiben würden, wenn sie nun einfach davonstürmten.

Shahid schob ihm den Teller zu.

»Ich kann gar nicht so viel essen, wie Euer Wirt mir auftischt. Ausgeschlossen«, behauptete er dabei.

Hauke erwies sich als hilfsbereit und vernichtete erfolgreich alle Reste.

Wenig später drängte der Webereibesitzer seinen Freund förmlich auf die Straße hinaus. Shahid blieb kaum Zeit genug, den Umhang vor der Brust zu schließen. Misstrauisch sah er sich um, prüfte, ob ihnen jemand aus der Schänke folgte. Er hatte schon seit Tagen das Gefühl, keinen Schritt mehr unbegleitet tun zu können.

Doch er konnte niemanden entdecken. Wie bei jedem Mal, wenn er versuchte, den Verfolger in den Blick zu bekommen. Kein huschender Schatten, kein um die Ecke wehender Umhangzipfel. Es war wie verhext.

Wind, Regen und beißende Kälte empfingen die beiden, der Geruch des Marktes umwehte sie. Fisch hing deutlich wahrnehmbar in der Luft. An der Ecke bog Hauke direkt in Richtung auf den zentralen Platz ab.

Wieder sah Shahid über die Schulter zurück.

»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Hauke.

»Ach, ich glaube, ich bilde mir das nur ein. Kommt mir schon seit Tagen so vor, als folge mir jemand. Aber wenn ich mich umwende, ist nicht einmal ein Schatten zu sehen.« Er zuckte mit den Schultern, spürte Haukes fragenden Blick. »Wahrscheinlich liegt es nur daran, dass mir hier so viele Dinge und Gewohnheiten fremd sind. Es hört sicher bald auf.«

Zügig folgten sie der Straße. Wichen Fuhrwerken aus, machten Damen Platz, ließen eilig heranrennende Handwerker und Händler mit Armen voller Waren durch.

Shahid kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit.

Nicht alle der Düfte, die ihnen entgegenquollen, empfand er als verführerisch, der Fischdunst war beileibe nicht der schlimmste darunter.

Auf dem Markt waren unzählige Stände aufgebaut, um den Platz herum hatten Händler der Stadt ihre Geschäfte. Die großen Holzläden waren mittig quergeteilt, die obere Hälfte, schräg ausgestellt, schützte die Güter vor den Unbilden des Wetters, die untere diente zum Präsentieren der Waren. Shahids Blick wanderte über Lederbeutel und Gürtel, Schuhe und edle Kopfbedeckungen, Brotlaibe, Metallwaren aus der Schmiede wie zum Beispiel Sensen oder zu Bündeln geschnürte Nägel.

Ein Auge, leichtfertig durch eine Tür geworfen, fiel auf den Schlachter, der gerade gespültes Gedärm einer Ziege zum Trocknen aufhängte. Blut floss in einer Rinne in Richtung Marktplatz ab. Ein fahrender Händler pries seinen gesalzenen Fisch an, ein anderer seinen frischen Fisch aus dem Wasserfass, die Putzmacherin dekorierte die Spitzen auf der Auslage neu, der Beutelschneider bot jedermann seine Dienste an, hatte kleine Lederbeutel, aber auch große Säcke im Angebot, die man über die Schulter werfen konnte, der Kürschner schrie laut über den Markt, wie wunderbar weich und haltbar seine Pelze wären, streichelte dabei immer wieder einen weißen Pelzkragen, der einer schönen Frau gut zu Gesicht stehen würde, wie er beteuerte. Neugierig blieben einige Kundinnen bei ihm stehen, doch er wandte sich nur denen zu, die von Stand waren und kaufkräftig genug, das Stück Hermelin auch zu erwerben. Die anderen scheuchte er mit einer unduldsamen Handbewegung weiter.

An einem der Tische der angereisten Händler waren zwei Frauen in lauten Streit geraten. Shahid blieb stehen, starrte die beiden Keifenden verblüfft an.

»Was ist?« Hauke war ungeduldig. Er hatte nicht vor, ihrer beider Zeit auf dem Markt zu vertändeln.

»Frauen, die sich aufs Übelste beschimpfen. Sich beleidigen. Und niemand greift ein.« Der Reisende runzelte die Stirn.

»Nein«, lachte der Begleiter, »derjenige, der sich hier einmischte, wäre schlecht beraten, mein Freund. Der Zorn der beiden wendete sich sofort gegen den ungebetenen Schlichter. So etwas wird niemand riskieren.«

»Worüber lohnt es sich, derart in Zwist zu geraten?« Shahid schüttelte verständnislos den Kopf.

Hauke hörte einen Moment zu.

Bei dem allgemeinen Lärm, Geschrei und Gerufe war es nicht so einfach, die beiden zu verstehen.

»Oh, jetzt weiß ich es. Die eine glaubt, sie sei von der anderen übervorteilt worden. Die Händlerin habe ihr für den Stoff zu viel berechnet, behauptet die Kundin. Darüber streiten sie.«

»Gibt es nicht einen Stab, an dem der Stoff gemessen wird?«

»Aber doch, ja. Es wird dennoch mitunter betrogen. Die Händlerin führt die Bahn sehr schnell am Maß vorbei, zählt dabei die Ellen. Mag sein, sie hat nun bewusst falsch gezählt – oder die Elle entspricht nicht wirklich einer Elle. Die Kundin kann, wenn die Händlerin nicht einlenkt, vom Marktgericht prüfen lassen, ob man sie hier bewusst hintergangen hat. Hat es mit ihrer Klage seine Richtigkeit, kann eine Strafe verhängt werden«, erklärte Hauke.

»Aha. Seht Ihr, es ist so, dass ich an Markttagen nie hierherkomme. Es ist mir zu voll, zu laut – und die Gerüche … Nun ja. Ich liebe es nicht, dem Schlachter bei seiner Arbeit zuzusehen.« Shahid verzog das Gesicht wie in plötzlichem Schmerz.

»Da, seht Ihr?« Hauke wies in Richtung Kirche. »Dort wo der Weg zur Kirche abzweigt?«

Der Gelehrte nickte vage.

Was er dort sah, gefiel ihm nicht recht.

Eine Frau. Eingeklemmt in eine Vorrichtung aus Holz. Ihr Kopf wurde im Nacken gehalten, beide Hände steckten je in einem Loch auf jeder Seite des Blocks.

»Das ist das, was passieren kann, wenn das Marktgericht den Händler des Betrugs für schuldig befindet.«

Schrill schimpfende Kunden hatten einen Ring gebildet.

Bespuckten die Wehrlose.

Bewarfen sie mit stinkendem und verfaultem Gemüse, Straßendreck und anderem, was sie finden konnten. Gelegentlich hatte wohl auch ein Stein als Wurfgeschoss gedient. Blut rann der Verurteilten aus einer Platzwunde an der Stirn übers Gesicht.

»Was hat sie getan?«

Hauke grinste abschätzig. »Es ist nicht das erste Mal, dass sie erwischt wurde. Diese Frau mischt Eisenspäne ins Brot, erhöht so betrügerisch Gewicht und Preis. Natürlich ist es durch die Beimengung vollkommen ungenießbar. Einige Kunden haben sich Zähne ausgebrochen, anderen haben die Späne schlimme Wunden im Mund zugefügt, die nicht heilen wollten. Ich denke, dies ist ihr letzter Auftritt bei uns. Sie wird ein Verbot für diesen Marktplatz erteilt bekommen, wenn nicht gar Schlimmeres verhängt wird. Wegen fortgesetzter Betrügereien kann man schon mal im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf verlieren.« Hauke grinste erneut. »Schließlich macht es keinen guten Eindruck, wenn auf dem Rungholter Hauptmarkt unredliche Händler ihre Waren feilbieten dürfen.«

Zwei Hunde waren um einen Fetzen Fleisch in Streit geraten, knurrten sich böse an, begannen dann sofort eine wilde Rauferei, kugelten zwischen den Marktbesuchern umher, schnappten nach dem jeweils anderen – oder nach den Beinen der Menschen, die laut kreischend auseinanderstoben. Starke Männer gingen mutig dazwischen, versuchten, das gefährliche Fellknäuel auseinanderzuziehen. Anfeuerungen wurden hörbar. »Los, das schaffst du schon!« »Pass auf, die Töle wird dir den Arm abbeißen!« »Solche Schmarotzer, fangt sie doch endlich ein!« »Verjagt das Viehzeug!« Und ein vielstimmiges Lob ertönte, als die Hunde im Nacken gepackt und von den erfolgreichen Bändigern hochgehalten wurden. »Bravo! Das sind noch echte Männer!«

»Furchtlos und siegreich!«

»So hat sie also auch betrogen.« Shahid wandte sich wieder seinem Begleiter zu, nachdem der Trubel abgeklungen war.

»Ja. Oft hoffen die Verkäufer, sie könnten den Markt so schnell verlassen, dass ihre Tat erst auffallen würde, wenn sie über das Wasser geflohen sind. Aber, wie Ihr seht …«

Plötzliche Unruhe an einem der Stände lenkte die Freunde erneut ab.

»Haltet ihn! Haltet ihn!«, brüllte ein Mann und versuchte, nach einem wendigen Burschen zu greifen, der allerdings geschickt unter einem Verkaufstisch verschwand. Durch den Ruf alarmiert, machten sich die in der Nähe Stehenden umgehend an die Verfolgung.

»Da ist er! Packt ihn! Der ist sicher ein Dieb!«, schrie einer der Fleischpastetenanbieter und wies mit dem Finger auf den Knaben, der durch die schmale Lücke zwischen dem Töpferangebot und den Stoffballen zu entkommen suchte. Lautes Krachen, empörtes Schimpfen – die Verfolger waren weniger geschickt als der vermeintliche Übeltäter, schlitterten über den vom Regen nassen Boden und hatten beim Nachsetzen viel irdenes Geschirr zerschlagen.

»Dafür müsst ihr bezahlen! Das kann ja nicht sein, dass ich nun auf dem Schaden sitzen bleibe«, beschwerte sich der Handwerker empört, umklammerte einen der Männer mit festem Griff, die dem Jungen folgten, hielt ihm drohend seine beeindruckende Faust unter die Nase. »Das wird teuer!«

»Aber der Gauner! Dort rennt er!«

»Für meinen Schaden werdet Ihr aufkommen! Wo steht geschrieben, dass man bei der Hatz eines Diebes anderer Leute Hab und Gut zerkloppen darf? Hä?«

Shahid starrte mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination auf die Welle, die sich über den gesamten Platz bewegte. Lautes Schimpfen und Fluchen war zu hören, übertönte gar die Rufe der Marktschreier. Offensichtlich gelang es dem Jungen immer wieder, seinen Häschern zu entkommen.

Eine junge Frau mit Einkaufskorb ging an ihm vorüber, sah sich suchend um, machte lockende Geräusche. Wirkte nervös und verängstigt. Für einen kurzen Augenblick sah sie ihn direkt an – und Shahid spürte einen nie dagewesenen Stich in der Brust. Er keuchte vor Schreck, sah der Silhouette der Frau nach.

Hauke packte ihn.

Zog den Widerstrebenden ein wenig zurück. »So kommt doch. Es ist nur ein kleiner Dieb. Solche finden sich an Markttagen immer hier ein. Ist nun wirklich nichts Besonderes.«

»Aber …«, wollte Shahid protestieren, doch der andere erklärte: »Wir haben noch ein gutes Stück Weg zu gehen. Am Ende ist es dunkel. Zu dunkel.« Dabei nickte er dem Gelehrten aus dem Morgenland verschwörerisch zu. »Manchmal findet sich an solchen Tagen Gesindel vor der Stadt und man ist seines Lebens nicht mehr sicher.«

Gerade als Shahid sich umwenden wollte, um Haukes Rat zu folgen, tauchte wie aus dem Nichts eine magere, zerlumpte Gestalt am Rand des Platzes auf, warf sich Shahid zu Füßen. Zeitgleich erreichte ihn auch die junge Frau, deren Anblick ihn so berührt hatte, fiel vor ihm auf die Knie und umklammerte den Knaben mit einem Arm.

»Oh, guter Herr, bitte tut ihm nichts zuleide!«, flehte sie mit Tränen in den Augen. »Es ist gewiss alles nur ein Missverständnis.«

»Aber …«, stammelte Shahid überrascht und ratlos. Warf Hauke einen fragenden Blick zu.

»Nun, Euer Ruf als gelehrter und gebildeter Mann reicht Euch weit voraus«, murmelte der Freund. »Man sucht Euren Rat und Schutz.«

»Wohl eher Euren Schutz«, gab Shahid rasch zurück. »Ihr überragt hier die meisten.«

»Er hat sicher nichts Unrechtes getan. Er ist gelegentlich ein wenig tollpatschig. Seid nachsichtig, ich flehe Euch an!«

Was für Augen! Groß, grün und geheimnisvoll! Eine schmale Nase, wohlgeformte, geschwungene Lippen, die süße Stunden und sanfte Küsse versprachen. Shahid spürte erneut diesen sonderbaren Schmerz im Herzen. Erschrocken fuhr seine Hand zu der Stelle auf der Brust. Die junge Frau, die wohl fürchtete, geschlagen zu werden, zuckte heftig zusammen, wich aber nicht zurück.

Er beugte sich zu ihr hinunter, zog sie sanft auf die Füße. An seinen Waden spürte er die zitternden, kalten Finger des Knaben.

»Fürchte dich nicht vor mir.«

Erst in diesem Moment registrierte er, dass er sich in der Mitte eines Kreises aus Leibern befand.

Feindselig starrten ihn die Leute an.

Schweigend.

Der feiste Händler, der die Hatz veranlasst hatte, deutete mit seinem dicken Finger auf den Jungen. »Da ist ja das Bürschchen! Ein Dieb!«

»Kannst du deine Behauptung beweisen?«, erkundigte sich Shahid freundlich.

»Natürlich. Ich habe gesehen, wie er nach dem Beutel am Gürtel meines Kunden greifen wollte«, pumpte der Mann.

»Aber genommen hat er ihn nicht.«

»Nun, dazu kam es wohl nicht mehr, da ich aufmerksam genug war.«

Der Kunde trat neben den Händler, präsentierte seinen Beutel. »Nein, genommen hat er ihn nicht. Nicht einmal zum Anfassen ist er gekommen.«

»Nun, wie kann einer ein Dieb sein, wenn er gar nichts genommen hat? Es nicht einmal versuchte?«

Lautes Murren aus dem Rund antwortete dem Fremden.

»Vielleicht wollte der Knabe Euch um eine Spende anbetteln?«

»Sicher nicht!«, empörte sich der Händler. »Er hat ja kein Wort gesagt!«

»Genau, das ist mir Beweis genug!«, mischte sich ein anderer ein. »Bettler jammern immer wortreich! Dieser wollte lieber gleich den ganzen Beutel!«

»Er kann nicht sprechen«, behauptete Shahid unerschrocken und Hauke ächzte leise, stellte sich aber demonstrativ neben seinen Freund. »Nicht ein Wort!«, bekräftigte der Orientale noch einmal.

»Woher wisst Ihr das? Ihr kennt den Kerl doch gewiss überhaupt nicht!«