Brave Mädchen weinen nicht - Dania Dicken - E-Book

Brave Mädchen weinen nicht E-Book

Dania Dicken

0,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Grace ist sechzehn, als sie die dritte Ehefrau eines doppelt so alten Mannes wird. Auf sie wartet ein streng reglementiertes Leben in einer abgeschotteten fundamentalistischen Mormonensekte mitten in der endlosen Wüste Utahs. Doch Grace hat nicht vor, nach den Regeln zu leben, die andere ihr aufdiktieren. Mitten in der Nacht reißt sie aus und trampt nach Las Vegas, um das wahre Leben kennenzulernen.
Ein Traum, der ein jähes Ende findet, als ihr Ehemann Michael sie in der Wüstenmetropole ausfindig macht und gegen ihren Willen verschleppt. Verzweifelt versucht Grace, sich Michaels gewaltsamen Unterwerfungsversuchen zu widersetzen – nicht nur für sich, sondern auch für das Baby, das sie erwartet. Ihre größte Angst: Eine Tochter zu bekommen, die sie nicht vor den frauenverachtenden Glaubensgrundsätzen der Sekte beschützen kann ...
Vorgeschichte zur Thriller-Reihe über FBI-Profilerin Libby Whitman

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ERSTER TEIL: GRACE
Caliente, Nevada
Montag
Eine Woche später
Freitag
Drei Wochen später
Drei Wochen später
Elf Tage später
Am nächsten Tag
Drei Wochen später
Acht Monate später
ZWEITER TEIL: LIBERTY
Yucca Valley, Kalifornien: Dreizehn Jahre später
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Zwei Wochen später
Zwei Wochen später
Am nächsten Tag
Zwei Wochen später
Sechs Monate später
Dienstag
Sonntag
Freitag
Samstag
Mittwoch
EPILOG
Freitag
Nachbemerkung
Quellen
Impressum

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

 

 

 

Brave Mädchen weinen nicht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die einzige, wahre Freiheit der Frauen besteht darin, das heilige und göttliche Gesetz der Ehe zu befolgen, sich ihrem Ehemann und Oberhaupt zu unterwerfen und nach seinem Gesetz zu leben.

 

Rulon Jeffs

 

 

 

ERSTER TEIL: GRACE

Caliente, Nevada

 

„Wie wunderschön du bist!“, rief ihre Mutter verzückt aus, als Grace zur Salzsäule erstarrt vor dem Spiegel stand. „So schön, wie es sich für eine Braut gebührt.“

Darauf erwiderte Grace nichts. Neben ihrer Mutter hatten ihre Schwestern Stellung bezogen und bewunderten sie ebenfalls. Grace hasste es, so im Mittelpunkt zu stehen. Sie wollte es einfach nur hinter sich bringen.

„Gleich ist es so weit“, verkündete Lily aufgeregt.

„Gehen wir nach unten“, beschloss Mutter. Sie ging voraus und hielt die Tür auf, so dass Grace den Flur betreten konnte. Ihre Schwestern folgten ihr.

Sie hatte zwei ältere Schwestern, die beide schon verheiratet waren, und zwei jüngere. Heute sollte ihr großer Tag sein, denn gleich würde sie heiraten. In längstens einer Stunde war sie Grace Nichols, dritte Ehefrau von Michael Nichols, der mit 34 mehr als doppelt so alt war wie sie.

Wie in Trance folgte Grace dem Gang bis zu dem letzten Raum hinten rechts, der für die Trauungszeremonien des Tages vorbereitet worden war. Vor ihr hatten schon Katie Johnson und Melissa Steed geheiratet – und Grace beneidete sie beide, denn sie waren die ersten Ehefrauen ihrer Männer, die ähnlich alt waren wie sie. Sie hätte auch so gern einen Mann in ihrem Alter gehabt. Michael hatte schon zwei Frauen und sieben Kinder und Grace hatte keine Ahnung, wie sie sich ins Familiengefüge einfinden sollte.

Schließlich betrat Grace vor ihrer Mutter und ihrem neuen Mann den Raum, in dem bereits Michaels ganze Familie wartete. Sie hatten auf Stühlen in der linken Hälfte des Raumes Platz genommen, während die Angehörigen von Grace rechts Platz finden würden.

Den Stühlen gegenüber standen ein Sessel und vier separate Stühle. In dem Sessel saß Onkel Warren, der anstelle seines gebrechlichen Vaters, des Propheten Rulon, die Zeremonie vollzog. Ihm gegenüber hatte sich Michael postiert, ihr zukünftiger Ehemann, und zu seiner Rechten und Linken befanden sich seine anderen Frauen, Emily und Anna.

In diesem Moment war Grace sehr unbehaglich zumute. Alle starrten sie an, sie stand jetzt im Mittelpunkt.

„Komm zu uns“, sagte Onkel Warren mit seiner monotonen Stimme, die ihn immer ein wenig entrückt klingen ließ. In der Hand hielt er ein schwarzes Buch, Von Licht und Wahrheit: Kindererziehung nach der himmlischen Weisung der Familie.

„Bitte, Grace, stell dich zu Michael und nimm seine Hand“, sagte Onkel Warren und klappte das Buch auf. Grace tat es und hörte Onkel Warren mit Herzrasen zu, während er ihnen vorlas. Irgendwo hinter Grace räusperte sich jemand, sie hörte ein Rascheln.

Michael und Emily tauschten einen Blick, dann trat Emily vor und legte ihre Hände auf die der Brautleute. Onkel Warren nickte wohlwollend und begann mit der Zeremonie. Was er sagte, raste wie ein Zug an Grace vorbei, bis er zum wesentlichen Teil kam.

„Bruder Michael Nichols, nimmst du Schwester Grace Ann Jessop an der rechten Hand und empfängst sie als deine rechtmäßig angetraute Ehefrau, für alle Zeit und bis in alle Ewigkeit? Versprichst du mit diesem Bündnis in Gegenwart Gottes, der Engel und dieser Zeugen, alle Gesetze, Riten und Bräuche bezüglich eures heiligen Ehebundes in dieser neuen und ewigwährenden Verbindung zu erfüllen? Dann antworte mit Ja.“

„Ja, ich will“, sagte Michael. Er schenkte Grace ein ehrliches Lächeln, das sie kaum wahrnahm. Sie war nicht bloß aufgeregt, sie hatte Angst.

Onkel Warren machte eine kurze Pause, bevor er sich ihr zuwandte und fortfuhr.

„Schwester Grace Ann Jessop, nimmst du Bruder Michael Nichols an der rechten Hand und gibst dich ihm nach deinem freien Willen und deiner freien Wahl hin als seine rechtmäßig angetraute Ehefrau, für alle Zeit und bis in alle Ewigkeit?“

Grace schluckte und hoffte, dass weder Emily noch Michael das Zittern ihrer Hand bemerkten, als sie schließlich nickte. „Ja, ich will“, sagte sie leise.

„Schwester Emily Nichols, heißt du Schwester Grace Ann Nichols als deine Schwesterfrau willkommen?“

„Ja, das tue ich“, sagte Emily. Michaels erste Ehefrau war immer dazu angehalten, ihr Einverständnis zu seinen weiteren Eheschließungen zu geben.

Onkel Warren nickte wohlwollend. „Im Namen des Herrn Jesus Christus, und durch die Autorität des Heiligen Priestertums, erkläre ich euch hiermit rechtmäßig zu Mann und Frau, für jetzt und alle Ewigkeit.“

Emily lächelte Grace freundlich zu, doch Grace nahm es kaum wahr. Sie blickte bloß zu Michael, der sich vorbeugte und sie auf die Lippen küsste. Die Berührung elektrisierte sie, denn sie hatte noch nie zuvor einen Mann geküsst. Sie wusste gar nicht, wann sie zuletzt einen Mann auch nur berührt hatte.

„Und jetzt geht und vermehret euch und erfüllt diese Welt mit getreuen Kindern des Glaubens“, sagte Onkel Warren.

Die Gäste applaudierten, als Michael Grace erneut küsste. Weil Emily und Anna wohlwollend lächelten, entspannte Grace sich etwas. Das war das, was sie am meisten fürchtete – ihre Schwesterfrauen. Sie wusste um die Schwierigkeiten der Mehrehe, um die Sticheleien und Eifersüchteleien. Wenn man Glück hatte, wurden eine oder mehrere Schwesterfrauen zu Freundinnen, aber dieses Glück hatte nicht jede.

Während Onkel Warren den Raum verließ, blieben die Familien noch. Grace wurde von ihrer Mutter umarmt, von Harold, von ihren Geschwistern. Sie wurde auch von Michaels Eltern in der Familie Nichols willkommen geheißen. In diesem Moment fehlte ihr Vater ihr jedoch schrecklich.

Schließlich hatte Anna ihre Aufmerksamkeit. Sie griff nach ihren Händen und sagte: „Auch ich heiße dich herzlich willkommen in unserem Haus. Ich hoffe, dass wir gut miteinander auskommen werden.“

„Danke“, erwiderte Grace scheu.

Nachdem die Gäste dem Brautpaar ihre Glückwünsche überbracht hatten, machten sich alle auf den Rückweg nach Short Creek – sehr zum Erstaunen von Grace unternahm Michael jedoch nichts, um sich ihnen anzuschließen.

„Wir bleiben heute Nacht hier“, sagte er zu seiner neuen Ehefrau, während sie vor dem Eingang des Motels standen und allen winkten, die davonfuhren. Fragend und unsicher sah Grace ihn an.

„Dieser Abend gehört nur uns beiden. Zu Hause wären Anna und Emily ja doch immer in der Nähe.“

Grace fragte sich, warum das ein Problem war. Irgendwie behagte ihr der Gedanke nicht, jetzt ganz allein mit Michael zu sein. Das lag daran, dass sie keine Ahnung hatte, was sie eigentlich erwartete.

Sie gingen wieder hinein und Grace folgte Michael in ein Motelzimmer, das er extra für sie angemietet hatte. Über dem Bett prangte eine Girlande mit ihren Namen, die Decke war übersät mit Rosenblättern. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes stand eine Vase mit einem üppigen Rosenstrauß.

Staunend schaute Grace sich um. Im angrenzenden Bad gab es sogar eine riesige Badewanne. So etwas kannte sie von zu Hause gar nicht.

Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Ein Zimmermädchen kam mit einem Servierwagen, deckte den Tisch und servierte die Vorspeise ihres Hochzeitsmenüs, eine Suppe. Nachdem Grace und Michael sich an den Tisch gesetzt hatten, begannen sie zu essen.

„Ich freue mich sehr darüber, dass wir jetzt verheiratet sind“, sagte Michael zu ihr. „Gibt es etwas, das du dir von mir wünschst? Was geht dir durch den Kopf?“

„Vieles“, sagte Grace nach kurzem Zögern. „Vieles und gar nichts ... Vorhin habe ich darüber nachgedacht, wie es wohl sein wird, eine von drei Ehefrauen zu sein.“

„Deine Schwesterfrauen sind warmherzig und freundlich“, sagte Michael. „Was das angeht, habe ich großes Glück. Emily hat sich anfangs etwas schwergetan, als Anna dazukam. Inzwischen verstehen die beiden sich gut. Sie beaufsichtigen auch die Kinder der anderen, dahingehend vertrauen sie sich sehr.“

„Ich hoffe, wir werden Freunde“, sagte Grace.

„Das wird schon, sei unbesorgt.“

Sie lächelte scheu und löffelte weiter in ihrer Suppe. Als sie fertig waren, wurde ihnen der nächste Gang serviert. Grace war fasziniert, denn so vornehm hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gespeist. Sie hatten Steak mit Rosmarinkartoffeln und Buttergemüse. Beim Nachtisch musste Grace fast kapitulieren, aber sie hatte noch nie Mousse au Chocolat probiert und musste sie einfach versuchen.

Nachdem das Zimmermädchen alles abgeräumt hatte, stand Michael auf und streckte sich.

„Ich dachte, es ist vermutlich besser, wenn das Haus in unserer Hochzeitsnacht keine Ohren hat“, sagte er. „Manchmal können Schwesterfrauen sehr eifersüchtig sein und jedem ist klar, was heute Nacht passiert.“

Unsicher sah Grace ihn an. Jedem außer ihr war das klar, denn sie hatte keine Ahnung von ehelicher Nähe und dem, was zwischen Mann und Frau geschah. Sie hatte ihre Mutter gefragt, die sie darauf verwiesen hatte, dass ihr Mann es ihr zeigen würde, und ähnlich hatten sich auch ihre Schwestern geäußert.

„Zeigst du es mir?“, fragte sie leise.

„Du weißt nicht, wie es funktioniert?“, erwiderte Michael und sie schüttelte den Kopf.

„Das macht nichts. Natürlich zeige ich es dir. Es wird dir gefallen, du wirst sehen.“

Doch zunächst machten sie in der verebbenden Hitze des Tages einen kleinen Spaziergang um das Motel und unterhielten sich über ihre gemeinsame Zukunft.

„Wünschst du dir Kinder?“, fragte Michael seine Frau.

Grace nickte eifrig. „Ja, das tue ich. Ich weiß nicht, ob ich mich schon reif für Kinder fühle, aber ich hätte sehr gern welche.“

„Das wird schon. Da wächst man rein. Wenn ich mal überlege, wie aufgeregt ich vor meinem ersten Kind war ... und mittlerweile habe ich sieben.“ Er grinste stolz. „Aber ich freue mich darauf, dass ich auch mit dir Kinder haben werde.“

Grace lächelte scheu, hatte aber einen dicken Kloß im Hals. Die Unsicherheit machte sie nervös. Sie hatte Getuschel hinter vorgehaltener Hand gehört, das in ihrem Kopf keinen Sinn ergab. Man lag nackt mit dem Mann im Bett und sie würde sein Geschlechtsteil in sich aufnehmen. Aber wie sollte das funktionieren? Sie hatte keine Vorstellung davon.

Als sie den Rückweg ins Motel antraten, wusste sie, dass es jetzt ernst wurde. Michael nahm ihre Hand und lächelte, doch sie fühlte sich sehr unbehaglich und ihr Blick verlor sich in der Abenddämmerung über der Wüste. Bis sie im Motel eingetroffen waren, war die Nacht angebrochen. Michael führte sie in ihr Zimmer zurück und verschwand für einen Augenblick im Bad. Grace stand vor dem kleinen Spiegel neben der Eingangstür und musterte sich selbst.

Ja, sie war schön. Sie mochte auch ihr Hochzeitskleid, das ihre Mutter zusammen mit Mutter Diana geschneidert und bestickt hatte.

Jetzt war sie eine verheiratete Frau. Eigentlich fühlte sie sich noch nicht reif dazu.

Michael kehrte aus dem Bad zurück. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte doch keine Ahnung, was jetzt auf sie zukam. Sie fühlte sich zu jung dafür – am liebsten wäre sie weggelaufen.

„Die heutige Nacht gehört nur uns beiden“, sagte Michael. „Komm doch zu mir.“

Wie festgewurzelt stand Grace vor dem winzigen Fenster und starrte hinaus zu den Sternen. Für einen kurzen Moment erwägte sie, das Fenster aufzureißen und hinauszuklettern, doch das war keine Option. Die gingen ihr gerade aus.

„Grace“, sagte Michael unerwartet sanft. Das Bett knarrte, als er aufstand. Grace fuhr herum und erstarrte zunehmend, als Michael auf sie zu kam.

„Es wird dir gefallen, du wirst sehen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich will nicht.“

„Aber du weißt doch gar nicht, was dich erwartet.“

„Bitte lass mir noch ein wenig Zeit. Ich bin noch nicht so weit.“

„Jetzt hab dich nicht so.“ Forsch griff Michael nach ihrer Hand und zog sie ruppig zum Bett hinüber. Willenlos ließ Grace es mit sich geschehen. Zur Salzsäule erstarrt, blieb sie stehen und hätte fast geschrien, als sie spürte, wie Michael sich an dem Reißverschluss ihres Hochzeitskleides zu schaffen machte.

„Nicht“, wisperte sie kaum hörbar.

„Sei nicht so schüchtern.“

Langsam öffnete Michael den Reißverschluss und streifte Grace das Kleid von den Schultern. Ihre Haut kribbelte, als er sich daran machte, ihr das lange Unterhemd auszuziehen.

„Tut es weh?“, fragte sie.

„Ach was“, erwiderte Michael. „Nicht, wenn du dich mir bereitwillig hingibst.“

Sich ihm hingeben? Was sollte das denn bedeuten?

Michael streifte ihre lange Unterhose ab. Nun trug sie nur noch ihren BH. Ihre Angst wuchs, während er an dem Verschluss herumnestelte und ihr schließlich auch den BH auszog. Jetzt war sie vollends nackt.

Allein das machte sie nervös. Es war ewig her, dass jemand sie nackt gesehen hatte. Zuletzt eins der anderen Mädchen im Bad.

Michael trat vor sie und begutachtete sie von Kopf bis Fuß. Dann lächelte er. „Du bist wunderschön.“

Ihre Mundwinkel zuckten, aber sie brachte kein richtiges Lächeln zustande. Ihre Anspannung war zu groß.

Reglos beobachtete sie, wie Michael sich ebenfalls auszog. Das erschien ihr fast wie Blasphemie – sie war allein mit einem Mann und gleich waren sie auch noch beide nackt. Das war verrückt.

Sie betrachtete ihn nicht so eingehend wie umgekehrt. Dazu kam sie gar nicht, weil Michael ihre Hand nahm und sie dazu brachte, sich aufs Bett zu legen.

Er wusste, was er tat. Aber sie war ja auch schon seine dritte Frau. Diejenige, die ihm den Weg ins göttliche Königreich ebnen würde.

Mit einem Lächeln kletterte er aufs Bett und drückte ihre Beine auseinander. Er kniete sich dazwischen und beugte sich über sie. Plötzlich hatte Grace das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er wirkte so riesig und furchteinflößend über ihr. Was würde er jetzt tun?

Mit einer Hand fasste er ihr zwischen die Beine. Grace erstarrte am ganzen Leib und beobachtete, wie er sich da unten zu schaffen machte, ohne jedoch wirklich etwas zu sehen. Sie hatte keine Ahnung, was er tat, bis sie einen stechenden Schmerz spürte. Er wurde intensiver und führte dazu, dass sie sich nicht mehr rührte. Unwillkürlich krallte sie sich ins Laken unter ihr und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, doch es gelang ihr nicht.

Sie hatte ja keine Ahnung gehabt – und sie wünschte, sie hätte die auch nie haben müssen.

„Du gibst dich mir nicht richtig hin“, sagte Michael streng. „Eigentlich sollte das nicht weh tun.“

„Tut mir leid“, wisperte Grace tonlos, vermied es aber, ihn anzusehen.

Für einen kurzen Moment verharrte er, bevor er sich ihr mit einem weiteren harten Stoß aufzwang. Ein Wimmern entrang sich ihrer Kehle.

„Bitte hör auf“, flehte sie leise.

„Du machst es falsch“, erwiderte Michael. „Gleich wird es besser, du wirst sehen.“

Erneut stieß er zu. Grace fühlte sich, als bohre er mit einem heißen Messer in ihren Körper – an einer Stelle, die nie zuvor jemand berührt hatte, nicht einmal sie selbst. Es fühlte sich falsch an.

Tränen liefen ihr über die Wangen, doch darauf nahm er keine Rücksicht. Nachdem er anfänglich selbst angespannt gewirkt hatte, erschien er nun etwas gelöster und zufriedener. Reglos lag Grace da und ließ es über sich ergehen, versuchte stumm, den Schmerz auszuhalten. Doch es gelang ihr nicht. Erneut wimmerte sie gequält und schüttelte den Kopf.

„Lass das, bitte. Du tust mir weh ...“

„Du musst das lernen, Grace. Du machst es falsch. Wenn du es richtig machst, tut es dir auch nicht weh.“

Er sah sie nicht an, während er das sagte, sondern machte einfach weiter. Grace fühlte sich benutzt und beschämt. Sie versuchte, still zu sein, doch es gelang ihr nicht. Sie weinte, während Michael fortfuhr und es sichtlich zu genießen schien. Er nahm keine Notiz von ihren Tränen, sondern legte irgendwann den Kopf in den Nacken und hielt zitternd inne. Gepeinigt wand Grace sich unter ihm und rutschte zur Seite, als er endlich von ihr abließ und vom Bett stieg. Zitternd griff sie nach der Bettdecke und zog sie über sich. Mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer ging Michael ins Bad. Sie hörte, wie er sich auf die Toilette setzte und zuckte schon beim bloßen Gedanken daran innerlich zusammen, denn zwischen ihren Beinen brannte alles wie Feuer. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich jemals wieder zu bewegen oder zu laufen.

Vermutlich hatte Michael Recht und sie machte es nicht richtig. Sie wollte nicht glauben, dass das immer so weh tat. Das konnte Gott doch nicht gutheißen – oder?

Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, war sie sich da auch nicht so sicher. Geburten taten auch weh. Wie die Hölle, wenn man danach ging, wie sehr manche Frauen vor Schmerzen schrien. Sie hatte ja schon Geburten zu Hause miterlebt.

Vermutlich wurden Frauen immer noch für Evas Erbsünde bestraft. So hatte Grace es noch an der Alta Academy gelernt.

Michael betätigte die Klospülung und kehrte zu ihr zurück, nachdem er sich die Hände gewaschen hatte. Grace hatte sich hektisch zugedeckt und von ihm abgewandt. Trotzdem erstarrte sie, als er sich neben ihr ins Bett legte.

„Das wird schon“, sagte er. „Deinen Schwesterfrauen ist das auch nicht unbedingt leichter gefallen und inzwischen gefällt es ihnen.“

Grace erwiderte nichts. Sie starrte einfach geradeaus, ihr Kopf war leer. Gerade fühlte sie sich nur wie eine Hülle. Wie etwas, das benutzt und weggeworfen worden war.

„Gute Nacht, Grace“, sagte Michael. „Ich bin dankbar, dich zu haben. Deinetwegen steht mir nun der Weg ins himmlische Königreich offen – und dir auch.“

Sie erwiderte nichts, denn sie war zu sehr damit beschäftigt, zu versuchen, nicht einfach loszuheulen. Gerade ertrug sie Michaels Gerede nicht.

Er löschte das Licht und drehte sich zum Schlafen um. Die Klimaanlage rauschte, um die Temperaturen einigermaßen erträglich zu halten. Die Vorhänge standen noch einen Spalt breit offen, so dass milchiges Mondlicht ins Zimmer schien. Grace schien es geradezu in sich aufzusaugen, denn es spendete ihr Trost.

Das sollte es jetzt sein? Ihr neues Leben? Sie würde morgen mit Michael nach Hause fahren, in sein Haus, und dann war sie seine dritte Frau. Sie war nicht sicher, wie sehr Emily und Anna sie willkommen heißen würden. Vermutlich warteten sie nicht gerade auf Konkurrenz.

Und dann würde sie Kinder bekommen, was der Wille Gottes war, und sie würde eine fügsame Ehefrau sein, was auch der Wille Gottes war.

Ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, um Michael nicht aufzuschrecken.

Sie ertrug diese Aussichten nicht. Um nichts in der Welt wollte sie das. Das konnte nicht alles sein.

Schon bald klangen Michaels Atemzüge tief und gleichmäßig. Grace war dankbar dafür, auch wenn für sie kein Denken an Schlaf war. Es fühlte sich an, als säße ein Elefant auf ihrer Brust.

Sie konnte morgen nicht nach Short Creek zurück. Das ging nicht. Dann war ihr Leben vorbei, bevor es richtig begonnen hatte.

Aber wo sollte sie hin? Sie war ganz allein, sie hatte nichts, sie konnte auch nichts. Sie war doch aufgeschmissen.

Für Stunden lag sie da und starrte die Decke an. Sie rang mit sich und ging ihre Optionen durch. Sie wollte doch leben ... In Short Creek konnte sie das nicht. Das ging einfach nicht. In Short Creek warteten auf sie nichts als Küche, Wäsche, Schwangerschaften und Babys. Viele Babys.

Sie würde keinem Beruf nachgehen. Manche Frauen taten das, manche unterrichteten an der Schule, andere verkauften Handwerkswaren. Aber Grace sah sich nicht als Lehrerin oder Handwerkerin.

Sie war erst sechzehn. Wenn sie noch etwas von der Welt sehen wollte, war das jetzt ihre beste Chance.

 

Der Wecker zeigte 0.58 Uhr an, als Grace sich langsam erhob und ihre lange Unterwäsche leise anzog. Im Bad lag noch ihr rosa Kleid, das war besser als ihr Brautkleid. Auf Zehenspitzen schlich sie hin und zwängte sich im Dunkeln in ihr Kleid. Vorsichtig verließ sie das Bad wieder, doch Michael schnarchte arglos. Er hatte nichts mitbekommen.

Auf seinem Nachttisch lag sein Portemonnaie. Grace hielt die Luft an, als sie hin schlich und es vorsichtig an sich nahm. Sie hatte gerade danach gegriffen, als Michael nach Luft schnappte und sich umdrehte, aber dann atmete er entspannt aus und schlief weiter.

Allmählich beruhigte ihr Herzrasen sich wieder und sie schlich rückwärts zur Tür. Dort standen ihre Schuhe, nach denen sie langsam griff, bevor sie ganz vorsichtig die Zimmertür öffnete. Licht vom Flur fiel durch den Spalt ins Zimmer, doch zum Glück stand das Bett in einer Nische. Grace huschte hinaus und hielt dagegen, als die Tür von selbst ins Schloss fallen wollte. Sie sorgte dafür, dass die Tür sich nur ganz leise schloss, bevor sie sich umschaute. Auf dem Flur war niemand zu sehen.

Rasch schlüpfte sie in ihre Schuhe und lief den Gang hinab, das Portemonnaie fest umklammert. Sie schaffte es bis zum Ausgang, verließ das Gebäude und wurde von nächtlicher Schwüle begrüßt.

Ein Truck fuhr auf dem nahen Highway vorüber. Sie waren von Norden gekommen, aber Grace wusste, in südlicher Richtung lag Las Vegas. Das war ihr Ziel. Dort konnte sie untertauchen.

Sie hatte es jetzt riskieren müssen. Das war die beste Chance, die sie hatte. Aus Short Creek schaffte sie es nicht heraus, aber hier hatte sie vielleicht Glück.

Im Motel war alles still, als sie über den Vorplatz zwischen den parkenden Autos hindurch zum Highway floh und sich vergewisserte, in welcher Richtung es nach Las Vegas ging.

Sie musste weg. Sie konnte nicht anders. Wenn sie jetzt nicht verschwand, würde sie es nie mehr schaffen – und sie erwartete doch noch so viel vom Leben.

Grace überquerte den Highway und lief an der Straße entlang bis nach Caliente hinein. Sie überquerte eine kleine Brücke über ein ausgetrocknetes Flussbett und blieb jedes Mal, wenn ein Auto kam, stehen und winkte. Doch das erste Auto fuhr vorüber und kurz darauf auch das nächste. Für kurze Zeit kam kein Fahrzeug, nur auf der anderen Straßenseite. Dann näherte sich ein Truck.

Erst fuhr er vorüber, doch dann bremste er schnaufend und blieb stehen. Grace war überrascht und wusste nicht, ob sie gemeint war, doch als die Beifahrertür aufgestoßen wurde, war sie sich sicher. Sie nahm die Beine in die Hand und rannte hinüber zu dem Truck.

„Hey“, rief eine warme Männerstimme aus dem Inneren. „Wo willst du hin? Bist du ganz allein?“

„Ja ... Ich will nach Las Vegas“, erwiderte Grace.

„Trifft sich gut, dahin will ich auch. Spring rein.“

Grace konnte es nicht fassen. Dankbar kam sie der Aufforderung nach und kletterte hinauf ins Fahrerhaus des Trucks. Nachdem sie sich gesetzt und die Tür zugeschlagen hatte, fuhr der Fahrer weiter.

„Ich bin James“, sagte er und hielt ihr eine fleischige Hand hin, doch Grace lächelte nur scheu.

„Ich heiße Grace.“

James musterte sie von Kopf bis Fuß. „Woher kommst du? Von hier?“

Grace schüttelte den Kopf. „Nein ... ich bin nicht von hier. Ich komme von einem Ort, an den ich nicht zurückwill.“

„Würde ich auch nicht wollen, wenn man da so altmodische Sachen trägt.“ James lachte laut und klang dabei ein bisschen wie ein Bär. „Kommst du aus Utah? Von den Mormonen?“

Zunächst zögerte Grace, aber dann nickte sie doch. „Ist das so offensichtlich?“

„Ich hab da mal was drüber gelesen, dass es irgendwo so eine Mormonenkirche gibt, wo die Leute noch so herumlaufen wie früher, mit so altmodischen Sachen.“

„Ja“, erwiderte Grace bloß, weil ihr nichts Besseres einfallen wollte.

„Und die Männer dort heiraten mehrere Frauen“, fuhr James fort.

„Ja ...“

Nach kurzem Zögern sagte James: „Du musst nicht mit mir darüber reden, das geht mich auch gar nichts an. Aber ich würde es verstehen, wenn du dort herkommst und jetzt wegwillst. Du siehst noch so jung aus.“

Grace nickte bloß und schaute aus dem Fenster. Im Radio spielte leise Musik, die sie noch nie gehört hatte, aber sie gefiel ihr.

„Wie weit ist es bis nach Las Vegas?“, fragte sie.

„Von hier? Noch etwa zwei Stunden. Gibt es einen bestimmten Ort, an den du dort willst?“

Grace schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich war noch nie dort.“

„Dann sehe ich mal zu, dass ich dich nicht gerade am Strip absetze“, sagte James und lachte schallend.

Sie ließen Caliente hinter sich und wurden von der Wüste verschluckt. Um sie herum war es stockfinster. Immer wieder blickte Grace in den Seitenspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand folgte. Sie konnte nicht fassen, dass es ihr tatsächlich gelungen war, wegzulaufen. Michael hatte nichts gemerkt.

Sie schuldete diesen Leuten nichts. Gar nichts. Keinem von ihnen. Seit sie aus Salt Lake City hatte wegziehen müssen, fühlte sie sich entwurzelt und heimatlos. Sie war doch nie darüber hinweggekommen, ihren Vater und ihre Heimat zu verlieren, nur weil ihr Vater sich nicht gottgefällig genug verhalten hatte. Und dann noch Onkel Warrens panische Angst vor dem Weltuntergang, der jedoch ausgeblieben war ...

„Ich habe eine Tochter“, erzählte James. „Sie ist sieben und lebt bei ihrer Mutter in Salt Lake City. Da komme ich her. Ich bringe eine Ladung nach Las Vegas.“

„Und dann fahren Sie hier entlang?“, sagte Grace erstaunt.

„Ja, ich hatte hier noch Zwischenstopps. Ich mag es, durch die Wüste zu fahren. Hier ist es so ruhig, auf der Interstate ist ja immer was los.“

„Ich kann die Wüste nicht mehr sehen“, brummte Grace.

„Willst du deshalb nach Las Vegas?“

„Ich will dorthin, weil man mich dort nicht finden wird.“

„Das ist wahr. Kennst du denn jemanden dort?“

Grace schüttelte den Kopf. „Nein, niemanden. Ich will einfach nur nicht wieder nach Hause zurück.“

„Hast du denn Geld?“

„Ein bisschen, ja.“

„Du wirst dich ja irgendwie durchschlagen müssen.“

„Das schaffe ich schon“, murmelte Grace.

James erwiderte nichts mehr. Grace war ihm dankbar dafür, denn sie hätte gar nicht gewusst, worüber sie mit ihm reden sollte. Er war ja ein netter Mann, aber eigentlich war sie nur froh, dass er sie mitnahm.

Sie merkte nicht, dass er überlegte, wie er ihr helfen konnte. Immer wieder warf er ihr verstohlene Blicke zu, doch Grace war ganz in sich versunken. Ihr Blick verlor sich in der finsteren nächtlichen Wüste, die im Mondschein silbrig beleuchtet wurde. Einsame, kahle Hügel zeichneten sich gegen den Himmel ab, nur gelegentlich kam ihnen ein Auto entgegen.

„Hat man dir Gewalt angetan?“, fragte James unvermittelt.

Überrascht sah Grace ihn an und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich ... ich will nur einfach frei sein. Ich kann da nicht mehr leben.“

„Wie alt bist du?“

Grace zögerte kurz, bevor sie antwortete. „Achtzehn.“

„Noch so jung“, erwiderte James. „Ich habe überlegt, wohin ich dich bringen kann – ob ich dich zur Polizei oder in ein Frauenhaus bringen soll. Aber ich glaube, ich setze dich bei der Heilsarmee ab.“

Das sagte Grace nicht viel, aber es klang nicht verkehrt. Der Highway richtete sich schließlich nach Süden und Grace lauschte ganz fasziniert der Musik im Radio, die während ihrer Fahrt für ein bisschen Lebendigkeit sorgte. Gottlose, weltliche Musik – aber sie klang so fröhlich.

Gelegentlich passierten sie kleine Orte mitten in der Wüste, doch das einsame Gefühl, das Grace hatte, blieb. Ein Schild verriet ihnen schließlich, dass es noch siebzig Meilen bis Las Vegas waren. Siebzig Meilen bis zur Freiheit.

Sie konnte es kaum erwarten.

Trotzdem war sie auch nervös. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. War das wirklich so eine gute Idee? Sie öffnete Michaels Portemonnaie und zählte die Geldscheine. Insgesamt waren 230 Dollar in dem Geldbeutel. Das war besser als nichts.

Während sie weiter durch die Wüste fuhren, kämpfte Grace gegen die aufsteigende Müdigkeit. Irgendwann war es so weit, dass sie einnickte und ihr Kopf zur Seite sackte, denn der ruhig dahinfahrende Laster brummte so beruhigend und einschläfernd.

In ihrem Kopf verschwammen das Brummen und die Musik aus dem Radio. Sie dachte an nichts mehr, war ruhig und ganz bei sich.

„Hey, aufwachen. Wir sind bald da“, riss James’ Stimme sie aus ihrem Schlummer. Irritiert blinzelte Grace, doch als sie geradeaus blickte, fiel ihr Blick auf ein Lichtermeer, das sich von links nach rechts in dem Talkessel vor ihnen erstreckte.

„Darf ich vorstellen? Las Vegas“, sagte James und lächelte.

„Wir sind schon da?“, fragte Grace erstaunt. Sie gähnte und streckte sich und saugte alle Eindrücke in sich auf. Die Stadt war riesig. Sie lag mitten in der finsteren Wüste und erhellte sie. Die Lichter flimmerten in der Ferne, im Zentrum wirkten sie bunt.

„Es wird dir sicher gefallen“, sagte James. Grace erwiderte nichts. Zu sehr staunte sie über die Metropole, deren Außenbezirke sie inzwischen erreicht hatten. Es war faszinierend. Sie staunte über jedes Schild, jede Leuchtreklame, die vielen Autos. Hier herrschte auch mitten in der Nacht noch Verkehr. Als sie näherkamen, fiel Grace ein hoher Aussichtsturm auf, der hell angestrahlt wurde und oben blau leuchtete. Außerdem sah sie ein gigantisches Riesenrad und viele hohe, bunt erleuchtete Gebäude, sogar eine Pyramide. Sie hatte schon viel darüber gehört, aber nie geglaubt, dass es tatsächlich stimmte.

„Das ist unglaublich“, murmelte sie.

„Las Vegas ist etwas Besonderes – auf seine Art“, sagte James. Sie fuhren immer weiter in die Stadt hinein, die so hell erstrahlte, dass Grace kurz vergaß, wie spät es eigentlich war.

Es dauerte nicht mehr lang, bis James mit dem Truck den Freeway verließ und rechts abbog. Sie folgten einer breiten, mehrspurigen Straße, bis er erneut zweimal abbog. Hier standen Wohnhäuser, die Gegend war ruhig, auf den Straßen war niemand unterwegs.

„Hier müsste es sein“, sagte James schließlich und hielt am Straßenrand. Grace blickte hinaus auf ein flaches, weitläufiges Gebäude, vor dem ein Kruzifix gen Himmel ragte.

„Hier wird man dir sicherlich helfen können“, sagte James in die Stille hinein.

„Danke. Das vergesse ich Ihnen nicht“, erwiderte Grace.

„Ich bin sicher, du wirst deinen Weg finden.“

Grace lächelte und nickte ihm zu, bevor sie aus dem Truck stieg. Der Truck fuhr gleich wieder an und bog an der nächsten Kreuzung ab, dann war er verschwunden.

Ratlos schaute Grace sich um. Es war noch immer finster, sie war ganz allein in der Gegend. Gleich gegenüber lag das verlassene Gelände einer Schule.

Sie wandte sich wieder dem Gebäude der Heilsarmee zu und betrachtete das Kruzifix skeptisch. Eigentlich hatte sie alles hinter sich lassen wollen, was mit Gott zu tun hatte. Gott hatte ihr bis jetzt nichts Gutes gebracht.

Sie betrat das Grundstück und ließ ihre Blicke über das Gebäude schweifen. Es lag dunkel und verlassen da. Das war auch nicht schlimm, denn irgendwie behagte es ihr nicht. Hier würde man doch zuerst nach ihr suchen. Wenn sie sicher sein wollte, dass niemand sie fand, war sie hier verkehrt.

Was sollte sie jetzt tun?

Sie hatte keine Ahnung. Für den Anfang waren 230 Dollar nicht schlecht, aber wie weit kam sie damit? Sie würde sich etwas suchen müssen, wo sie Geld verdienen konnte. Sie brauchte einen Platz zum Schlafen. Sie brauchte neue Kleidung. Eigentlich hatte sie nichts.

Was sie hatte, war Hunger. Sie erinnerte sich daran, dass sie zuvor auf einer Seitenstraße an einigen Fast-Food-Läden vorbeigekommen waren und beschloss, dorthin zu gehen. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

Sie folgte der Straße zurück bis zur nächsten Kreuzung und ging nach rechts. Das Einkaufszentrum, das sie zuvor gesehen hatte, ragte vor ihr auf, alle Leuchtschilder waren eingeschaltet. Der Parkplatz war leer, niemand war dort. Es gab ein Schuhgeschäft, einen Optiker, ein mexikanisches Restaurant und einen Bagel-Shop, der um sieben Uhr öffnen würde. Grace hatte keine Ahnung, wie spät es im Augenblick war, aber das war gerade ihre beste Option. An der Eingangstür hing ein Schild: Freundliche Bedienung gesucht.

Wenn sie dort frühstückte, würde sie sich danach erkundigen. Vielleicht konnte man ihr dort Arbeit geben. Vielleicht konnte man ihr auch sagen, wo sie bleiben konnte. Denn sie brauchte einen Ort, an dem sie bleiben konnte. In der nächsten Nacht wollte sie wieder in einem Bett schlafen.

 

Mit knurrendem Magen hatte Grace den Sonnenaufgang beobachtet. Im Bagel Shop war schon lang vor der Ladenöffnung Bewegung, aber die Tür wurde erst um kurz vor sieben geöffnet. Grace saß unweit der Eingangstür auf dem Boden und beobachtete, wie der Parkplatz sich allmählich füllte. Niemand nahm Notiz von ihr, doch dafür war sie nicht undankbar.

Nachdem eine Frau den Bagel Shop betreten und mit einer Tüte wieder verlassen hatte, riskierte auch Grace es, hineinzugehen. Sie setzte sich an einen Tisch in der Ecke und wurde von der jungen Frau hinter der Theke mit einem Lächeln begrüßt. Hungrig schaute Grace in die Speisekarte und staunte darüber, was man hier alles bestellen konnte.

„Guten Morgen“, begrüßte die Bedienung sie, nachdem sie vor dem Tisch stehengeblieben war. Sie trug ein T-Shirt, eine Hose, darüber eine Schürze und hielt einen Notizblock in der Hand. An ihrem T-Shirt verriet ein Namensschild, dass sie Betty hieß.

„Was kann ich dir bringen?“, fragte Betty.

„Kann ich einen Bagel mit Ei und Käse bekommen?“, bat Grace.

„Sicher kannst du. Noch ein Getränk dazu?“

„Orangensaft bitte.“

„Sehr gerne. Kommt sofort.“ Mit einem Lächeln verschwand Betty und kehrte kurz darauf mit der Bestellung zurück, nachdem sie noch einen Mann abgefertigt hatte, der an der Theke zum Mitnehmen bestellt hatte.

Sie stellte ein Tablett vor Grace ab, auf dem sich ein Teller mit dem Bagel und ein Glas mit Orangensaft befanden.

„Danke“, sagte Grace. „Eine Frage hätte ich noch.“

„Klar“, erwiderte Betty gleich.

„An der Tür hängt ein Schild, dass hier eine Bedienung gesucht wird.“

Betty nickte. „Der Chef ist noch nicht da, der kommt erst um zehn. Wärst du interessiert?“

„Ja, ich ... ich brauche unbedingt einen Job.“

Für einen Moment stand Betty schweigend da und musterte Grace. „Du bist nicht von hier, oder?“

Grace schüttelte den Kopf. „Nein, ich ... ich komme aus Utah.“

„Oh. Langer Weg.“

„Ich bräuchte auch noch einen Ort, an dem ich bleiben kann. Ein günstiges Motel. Wirklich günstig, meine ich.“

Betty stemmte die Fäuste in die Hüften. „Bist du aus Salt Lake?“

Grace schüttelte den Kopf. „Nein, warum?“

„Weil ich mich frage, wo man so altmodische Sachen trägt wie die, die du anhast.“

Grace senkte den Kopf. „Ja, neue Kleidung bräuchte ich auch.“

„Pass auf – bleib einfach hier sitzen, bis Carlos kommt. Ist kein Problem. Dann fragen wir ihn mal, ob du hier arbeiten kannst. Okay?“

„Okay“, erwiderte Grace. Betty warf ihr noch ein Lächeln zu, bevor sie wieder hinter dem Tresen verschwand. Schon bald wurde es voller im Laden, während Grace ihren Bagel verspeiste. Sie hätte gern noch mehr bestellt, aber sie wusste nicht, ob es so eine gute Idee war, jetzt schon so viel Geld auszugeben. Sie hatte doch fast nichts.

Als es zwischendurch kurz ruhiger war, kam Betty wieder zu ihr, um abzuräumen.

„Kann ich dir noch was bringen?“, fragte sie, nachdem sie das Tablett schon hochgenommen hatte.

„Nein, ich ... danke.“

Betty holte tief Luft. „Du siehst aus, als könntest du wirklich Hilfe gebrauchen.“

Grace errötete vor Scham. „Ist das so offensichtlich?“

„Wo kommst du her? Du siehst aus, als wärst du von einem Wildwest-Festival abgehauen.“

„Ein was?“, fragte Grace und lachte verlegen.

„Na, dieses Kleid. Das hat man doch zuletzt vor zweihundert Jahren vorm Saloon getragen, oder nicht?“

„Bei uns trägt man das so“, erwiderte Grace leise.

„Und wo ist das?“

„In meiner Kirche.“

„Ah“, machte Betty. Sie setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Grace und stellte das Tablett wieder ab. „Was für eine Kirche ist das?“

„Eine Mormonenkirche.“

„Okay“, sagte Betty unbefangen. „Von Mormonen hab ich keine Ahnung. Wie alt bist du?“

„Warum fragst du?“, wich Grace aus. Sie wollte ihr nicht anvertrauen, dass sie erst sechzehn war.

„Weil du wahnsinnig jung aussiehst. Warum haut jemand, der so jung ist wie du, ganz allein von zu Hause ab? Wie bist du eigentlich hergekommen?“

„Mit einem Trucker“, sagte Grace.

Betty machte große Augen. „Du bist getrampt? Das ist wahnsinnig gefährlich.“

„Irgendwie musste ich ja.“

Betty seufzte. „Hat man dich dort nicht gut behandelt?“

Grace schluckte und studierte die Maserung des Tisches. „Ich konnte einfach nicht mehr dort leben. Es ging nicht.“

„Hey.“ Betty beugte sich vor und überlegte kurz. „Du hast hier niemanden, den du kennst?“

Kopfschüttelnd sagte Grace: „Ich bin ganz allein.“

„Wie viel Geld hast du dabei? Ich meine, wie lang kannst du dich hier über Wasser halten?“

Grace zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich brauche unbedingt Arbeit.“

Betty nickte und stand wortlos wieder auf. Sie nahm das Tablett mit, verschwand hinter der Theke und ging zu einem Telefon. Angespannt beobachtete Grace, wie Betty telefonierte, doch weil im Anschluss zahlreiche Kunden in den Laden kamen, hatte Betty keine Zeit, wieder zu ihr zu kommen. Abwartend saß Grace einfach da, bis etwa eine halbe Stunde später ein kleiner, dunkelhaariger Mann aus der Küche kam und begann, mit Betty zu reden. Die beiden blickten zu ihr hinüber und schließlich kam Betty zu ihr.

„Das ist Carlos, mein Chef. Er möchte dich kennenlernen“, sagte sie.

Grace nickte bloß und folgte Betty hinter die Theke. Carlos begrüßte sie mit einem Lächeln und sagte: „Komm mal mit in mein Büro.“

Scheu folgte Grace ihm durch die Küche in einen Nebenraum, ein winziges Büro, das mit hohen Aktenschränken vollgestellt war. Ein Bildschirm stand auf dem kleinen Schreibtisch. Carlos bat sie, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen und setzte sich selbst dahinter auf einen Schreibtischstuhl.

„Betty sagte mir, du suchst dringend Arbeit“, begann er. „Wie heißt du?“

„Mein Name ist Grace“, erwiderte sie zaghaft.

„Okay, Grace ... Wie alt bist du? Ich kann dich hier nur beschäftigen, wenn du mindestens achtzehn bist.“

Sofort nickte Grace eifrig. „Bin ich.“

„Hast du einen Führerschein?“

„Nein, leider nicht.“

„Okay ... hast du schon mal gekellnert?“

Grace schüttelte den Kopf. „Nicht direkt, ich meine ... ich komme aus einer sehr großen Familie. Ich bin daran gewöhnt, Mahlzeiten für viele Leute zuzubereiten, den Tisch zu decken und abzuräumen. Das alles kenne ich von zu Hause.“

Carlos kniff die Augen zusammen. „Woher kommst du überhaupt?“

„Aus Utah.“

„Von den Mormonen?“

Grace zögerte kurz, doch dann nickte sie.

„Von diesen Polygamisten, oder?“

Ihr wurde kalt und sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Als den Kopf einzog und den Blick senkte, setzte Carlos erneut an.

„Es ist okay, mir ist scheißegal, woher du kommst. Ich will nur wissen, wer du bist. Ob du hier gut arbeiten kannst. Und wenn du sagst, du hast Mahlzeiten für viele Leute zubereitet ...“

Grace nickte schüchtern. „Ja, damit kenne ich mich aus. Ich glaube, ich könnte gut kellnern.“

„Kann ich mir vorstellen. Ich will einfach nur keinen Ärger. Wenn du Arbeit brauchst – hier gibt es Arbeit. Du kannst morgen gern mal zur Probe arbeiten, aber dann brauchst du unbedingt normale Kleidung. Da kann Betty dir sicher helfen. Wenn du deinen Job hier gut machst – warum nicht?“

Grace konnte es nicht fassen. „Danke ...“

„Sei einfach fleißig, pünktlich und freundlich, mehr will ich gar nicht. Dann ist mir egal, wo du abgehauen bist und wieso. Wohnst du denn hier schon irgendwo?“

„Nein, ich bin vor ein paar Stunden erst hier angekommen.“

Carlos nickte. „Du kommst aus diesem Nest an der Grenze zwischen Utah und Arizona, oder? Davon habe ich mal gehört.“

„Ja“, sagt Grace. „Ich ... ich wollte da nicht mehr sein. Ich konnte nicht. Dort war es mir zu ... eng.“

Nun lächelte Carlos sanftmütig. „Kann ich verstehen. Mutig, dass du dann einfach verschwindest.“

Grace wusste nicht, was sie erwidern sollte. Dazu fiel ihr nichts ein.

„Also ... Betty wird sich um dich kümmern. Sie zeigt dir, wie das alles hier geht. Ich schaue mir das morgen an und wenn das klappt, kommst du in unser Team.“

„Danke ...“ Grace konnte es nicht fassen.

„De nada“, antwortete Carlos und nickte ihr zu. Gemeinsam kehrten sie in den Laden zurück, wo Betty gerade eifrig bediente, und Carlos rief ihr zu: „Was sie hatte, geht auf’s Haus. Du zeigst ihr morgen alles, okay?“

Betty blickte kurz von der Kasse auf und nickte. „Mach ich gern.“

„Und sieh zu, dass sie dann ... anders aussieht, okay?“

„Klar.“ Sie lächelte und bediente weiter. Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, setzte Grace sich wieder an den Tisch und schaute Betty zu. Zwischendurch kam Betty mit einem Glas Eiswasser zu ihr und sagte: „Wenn du magst, kannst du mit mir kommen, wenn ich hier Schluss habe. Wir gucken, dass du für morgen was Gescheites zum Anziehen bekommst und du kannst auch bei mir auf dem Sofa schlafen, wenn du willst.“

Ungläubig erwiderte Grace ihren Blick. „Das ... das kann ich nicht annehmen.“

„Ach was, klar kannst du. Wir machen uns eine schöne Zeit, du wirst sehen. Dann lernen wir uns ein bisschen besser kennen und morgen schauen wir, dass du hier gute Arbeit ablieferst. Du kannst mir ja jetzt noch ein bisschen zusehen.“

„Das ist eine gute Idee“, sagte Grace.

Betty grinste und verschwand wieder hinter der Theke. Tatsächlich war sie die einzige Bedienung im Laden und sie arbeitete ununterbrochen, bis der Laden am Nachmittag schloss. Nach der Mittagszeit wurde es ruhiger und Betty winkte Grace schon einmal zu sich heran, um ihr zu zeigen, wie die Kasse funktionierte. Als Betty schließlich die Eingangstür schloss, wirkte sie abgekämpft und müde.

„Es wäre toll, wenn du hier arbeiten könntest“, sagte sie. „Ich komme zwischendurch nicht mal wirklich dazu, aufs Klo zu gehen, wenn ich pinkeln muss. Meine letzte Kollegin hat einfach von heute auf morgen hingeschmissen und ist mit ihrem Freund rüber nach Texas. Nicht zu fassen, oder? Das ist jetzt drei Wochen her.“

„Und bis jetzt hat sich niemand gemeldet?“, fragte Grace, während sie Betty durch die Küche zur Hintertür folgte.

Betty schüttelte den Kopf. „Niemand, der Carlos zugesagt hätte. Ich hab ihm vorhin erklärt, dass du diesen Job wirklich brauchen könntest, und ich glaube, das gefällt ihm. Er denkt, dass du dann auch fleißig bist, und das ist ihm wichtig.“

„Ich kriege das hier schon hin“, sagte Grace. Gemeinsam verließen sie den Laden und landeten auf einem schlichten Hinterhof. Beim Verlassen des Gebäudes traf die Wüstenhitze Grace wie ein Hammer. Im klimatisierten Laden hatte sie gar nicht mitbekommen, wie es im Tagesverlauf draußen immer heißer geworden war.

Wortlos lief Grace Betty hinterher, die zielstrebig der Straße bis zur nächsten Querstraße folgte. Dort nahm sie Kurs auf eine Bushaltestelle und stellte sich in den Schatten, den das Dach des Wartehäuschens warf. Fragend musterte sie Grace.

„Bekommst du in den Klamotten keinen Hitzschlag?“

Grace grinste verlegen. „Es ist wahnsinnig unangenehm, aber ich habe nichts anderes. Das war bislang verboten.“

„Puh“, machte Betty und verdrehte die Augen. „Da wäre ich wohl auch abgehauen. Weißt du was? Wenn wir bei mir zu Hause sind, gucke ich mal, ob du nichts von meinen Sachen nehmen kannst. Du bist zwar ein bisschen größer als ich, aber ansonsten sind wir ja ähnlich gebaut. Vielleicht passt dir was.“

„Das ... das geht nicht ...“

„Na hör mal, du hast ja nicht so viel Geld und wenn wir jetzt anfangen, dir davon neue Kleidung zu kaufen, hast du gar nichts mehr. Es stört mich nicht, ehrlich.“

Grace holte tief Luft. „Warum bist du so nett zu mir?“

Betty scharrte mit der Spitze ihres Sneakers über den Boden und rollte eine Zigarettenkippe herum. „Weil ich weiß, wie hart es ist, irgendwo ein Bein auf die Erde zu kriegen. Ich werde demnächst zwanzig und ich bin zu Hause ausgezogen, so bald ich konnte. Meine Eltern sind geschieden, meinen Vater habe ich seit Jahren nicht gesehen und meine Mutter wechselt die Männer wie Unterhosen. Dumm nur, dass sie dabei dauernd an Typen gerät, die zu tief ins Glas schauen. Als ich achtzehn wurde, hab ich zugesehen, dass ich meinen Abschluss kriege und irgendwo einen Job bekomme. Das war bei Carlos. Ich arbeite jetzt bei ihm, um mich über Wasser zu halten und zu sparen für ein Studium. Mir hat keiner Starthilfe gegeben, als ich ausgezogen bin und mein Apartment einrichten musste. Monatelang hatte ich bloß eine Matratze, kein richtiges Bett. Der Herd in der Küche war kaputt, das war echt beschissen. Ich musste mir nach und nach alles kaufen und ich hatte wirklich nichts. Inzwischen geht es. Und wenn ich dich sehe ...“ Betty schüttelte den Kopf. „Du hast ja noch weniger.“

„Aber dann kann ich das unmöglich annehmen!“

„Klar kannst du. Sollst du auch. Ich kann dir nur alte, getragene Sachen geben, aber du kannst unmöglich länger so rumlaufen. Die Leute gucken schon.“ Betty prustete verstohlen und versuchte, sich wieder zusammenzureißen.

Grace lächelte schüchtern. „Danke.“

„Wir kriegen das schon hin. Ich hab keine Ahnung, wo du herkommst und warum du abgehauen bist – das erzählst du mir, wenn du bereit bist. Aber dazu gehörte eine Menge Mut und jetzt hast du auch Hilfe verdient.“

„Danke, Betty.“

„Ist doch klar.“

 

Der Bus war wenige Minuten später gekommen und Grace war froh, der Bruthitze der Wüste entkommen zu sein. Zwar hatte der Busfahrer sie irritiert angestarrt, als sie eingestiegen war und bei ihm für ihr Ticket bezahlt hatte, aber Betty hatte ihr gesagt, dass sie einfach drüberstehen und es ignorieren sollte.

Fasziniert hing Grace am Fenster und sog alle Eindrücke der Wüstenmetropole in sich auf. Nachdem sie den Freeway unterquert hatten, fuhren sie an einer riesigen Shopping Mall vorbei. Grace traute ihren Augen kaum. Kurz darauf hielten sie an einem großen Busbahnhof, danach ging die Fahrt weiter in ein Wohngebiet.

„Du tust ja so, als hättest du so etwas noch nie gesehen“, stellte Betty fest.

Verschämt erwiderte Grace ihren Blick. „Habe ich auch nicht. Ich komme aus einer Siedlung, die mitten in der Wüste liegt. Eine Stunde von der nächsten Stadt entfernt – das ist St. George in Utah. Und eigentlich fährt man dort nie hin.“

„Du bist immer bloß dort geblieben?“

Grace nickte. „Bei meiner Familie. Bis vor kurzem bin ich zur Schule gegangen, aber das ist alles.“

„Warum hast du aufgehört? Wie alt bist du denn?“

Zögerlich erwiderte Grace: „Sechzehn.“

„Aber da ist man doch noch nicht fertig mit der Schule.“

„Nein, ich weiß. Ich wollte auch noch gehen, aber was ich will, hat leider niemanden interessiert.“

„Puh. Und du bist von dort hierher getrampt?“

„Nein ... von einem Motel hier in Nevada aus“, erwiderte Grace, ohne sich bewusst zu machen, dass das nur weitere Fragen aufwarf.

„Wie bist du denn da hingekommen?“

Betreten starrte Grace auf ihre Hände und schluckte. „Dort sollte ich heiraten. Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht mehr zur Schule gehen kann.“

Pikiert rümpfte Betty die Nase. „Ist ja total verrückt. Heiraten mit sechzehn? Bisschen früh, oder?“

„Hab ich auch gesagt ... hat aber auch niemanden interessiert.“

„Aber ... wen solltest du denn heiraten?“

„Das hat der Prophet bestimmt“, erklärte Grace.

„Oh Mann. Gut, dass du da weg bist.“

„Ich bin weggelaufen, weil ich so nicht leben kann“, fuhr Grace unerwartet fort. „Ich musste einen Mann heiraten, den ich kaum kenne und von dem ich nicht weiß, ob ich ihn mag. Ich bin seine dritte Frau ... diejenige, die er braucht, um ins göttliche Königreich zu kommen. Meine Aufgabe hätte jetzt darin bestanden, viele Kinder zu bekommen.“

Bettys Augen weiteten sich. „Heilige Scheiße. Ehrlich, du kannst so lange bei mir bleiben, wie du willst. Hauptsache, du musst nicht mehr dahin zurück.“

„Das will ich auch nicht ... das geht einfach nicht.“

„Nee, das würde ich auch sagen. Ist das denn überhaupt legal?“

„Was meinst du?“

„Na, dass dieser Mann dich heiratet, obwohl du erst sechzehn bist ... und ganz bestimmt ist es nicht legal, mehrere Frauen zu haben.“

„Keine Ahnung. Ich habe gelernt, dass das Gottes Wille ist.“

Betty schnaubte verächtlich. „Was manche Leute so alles glauben.“

„Ich bin damit groß geworden. Es hat sich nur nie richtig angefühlt.“

„Daran ist auch nichts richtig“, sagte Betty. „Das ist einfach total schwachsinnig.“

Grace erwiderte nichts. Dass Betty das so offen sagte, bestätigte und irritierte sie gleichermaßen. Sie fand ja auch, dass das falsch war – aber konnten denn ihre Familie und alle anderen so sehr irren?

„So, gleich sind wir da“, sagte Betty und drückte auf einen Knopf an der Haltestange hinter ihr. Anschließend stand sie auf und ging zur hinteren Tür, wohin Grace ihr folgte. Der Bus hielt vor einem weiteren Einkaufszentrum, wo auch andere Fahrgäste ausstiegen. Nachdem er weitergefahren war, überquerten sie die mehrspurige Straße und liefen in die nächste Querstraße hinein. Nach einem kurzen Stück hatten sie eine kleine Ansammlung von Apartmenthäusern erreicht. Ein abgewirtschafteter Pool lag gleich hinter einer Reihe von Parkplätzen, doch Betty ließ alles links liegen und erklomm schließlich eine Außentreppe in die obere Etage des zweigeschossigen Gebäudes. Sie liefen an einigen Fenstern und Wohnungstüren vorbei, bis Betty bei der vorletzten Tür Halt machte und sie aufschloss.

„Bitte entschuldige das Chaos“, sagte sie zu Grace. „Es ist absolut nichts Besonderes, aber immerhin ist es meins.“

Die Tür schwang auf und Betty ging voraus in ihr Apartment. Sie standen gleich mitten im Wohnzimmer, in dem ein Fernseher gegenüber einem zweisitzigen Sofa stand. Eine Kochnische war durch eine Wand abgetrennt, davor befand sich ein Tisch mit zwei Stühlen. Zwei Türen gingen noch von dem Raum ab und nachdem Grace die Eingangstür hinter sich geschlossen hatte, zeigte Betty ihr alles. Hinter einer Tür lag ein winziges Bad, das neben Toilette und Waschbecken bloß noch über eine Dusche verfügte, und hinter der anderen Tür befand sich ein Schlafzimmer. Darin hatte Betty neben ihrem Bett und einem Schrank noch einen kleinen Schreibtisch untergebracht. Die Küche und das Schlafzimmer waren nicht aufgeräumt und auch auf dem Tisch vor dem Sofa lag einiges herum, aber zumindest war es sauber.

„Das Sofa kann man ausziehen“, erklärte Betty. „Darauf kannst du gern schlafen, wenn du möchtest. Mal sehen, ich hab doch hier bestimmt auch noch ein Kissen für dich ...“

Mit diesen Worten begann sie, im Kleiderschrank herumzukramen. Sie warf ein Kissen hinter sich aufs Bett und eine Jeans und ein T-Shirt flogen hinterher. Die Jeans war verwaschen und das T-Shirt war ein wenig verschossen, aber für Grace waren es gerade die schicksten Kleidungsstücke, die sie sich vorstellen konnte.

Betty nahm das T-Shirt hoch und hielt es Grace vor. „Sollte eigentlich passen. Willst du es anprobieren? Dann kann ich drüben schnell ein wenig aufräumen.“

„Ja, danke“, sagte Grace und lächelte scheu. Betty erwiderte das Lächeln und zog die Tür hinter sich zu, nachdem sie das Schlafzimmer verlassen hatte.

Grace konnte es nicht fassen. Sie stand vor dem Spiegel an der Kleiderschranktür und musterte sich. Ihre Haare standen wirr aus ihrem Flechtzopf ab, sie wirkte müde und abgekämpft. Dennoch fühlte sie sich befreit – so befreit wie noch nie.

Sie zog ihr Kleid und ihre lange Unterwäsche aus und streifte Bettys Sachen über. Bettys Jeans saß ein wenig locker an ihren Hüften und auch das T-Shirt war zu weit, doch das störte Grace nicht. Ungläubig musterte sie sich im Spiegel und schlug die Hände vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken.

Sie trug eine Hose. Sie hatte noch nie eine Hose getragen. Das war verrückt, grenzte an Blasphemie.

Und sie liebte es.

Freudentränen standen ihr in den Augen, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Das war immer noch sie, Grace – und doch war sie ein völlig anderer Mensch.

Als sie das Schlafzimmer verließ, hörte sie, dass Betty in der Küche herumkramte. Sie ging hinüber und sagte: „Deine Sachen passen mir.“

Betty blickte auf und grinste breit. „Nicht schlecht. Und schon bist du ein anderer Mensch.“

„Ja, das habe ich mir auch gerade gedacht“, sagte Grace zustimmend.

„Fehlen bloß noch deine Haare“, sagte Betty.

„Oh“, machte Grace. „Es war nie gestattet, dass wir die Haare offen tragen.“

„Siehst du, und genau deshalb wirst du das jetzt tun. Warte.“

Betty rannte ins Bad und kehrte Augenblicke später mit einer Bürste zurück. Sie bat Grace, sich vor ihr auf einen Stuhl zu setzen und machte sich daran, ihren Zopf langsam zu lösen und ihr Haar zu bürsten.

„Wow, wie lang deine Haare sind“, staunte Betty. „Einfach toll.“

„Wir durften unsere Haare nicht schneiden“, erklärte Grace.

Betty hielt beim Bürsten inne. „Durftet ihr überhaupt irgendwas? Alles, was du mir erzählst, dreht sich darum, was du nicht durftest.“

Grace legte den Kopf in den Nacken, um Betty anzusehen. „Was der Grund ist, weshalb ich weggelaufen bin.“

„Ja, das glaube ich dir ...“ Kopfschüttelnd machte Betty weiter. „Und du bist jetzt schon verheiratet?“

„Ich habe gestern geheiratet, in einem Motel in Caliente. Und heute Nacht ... da konnte ich nicht einschlafen. Ich habe mich gefragt, ob das alles sein soll, was ich vom Leben zu erwarten habe. Das Leben als dritte Ehefrau von Michael Nichols.“

„Puh. Klingt traurig“, fand Betty.

„Ja, oder? Man heiratet, soll viele Kinder kriegen ... und das war es dann. Man bringt uns bei, dass die Außenwelt böse ist. Aber wenn dem so wäre, hättest du mir dann geholfen?“

„Klingt ja nach ziemlicher Gehirnwäsche, wenn du mich fragst.“

„Gehirnwäsche?“ Diesen Begriff hatte Grace noch nie gehört, aber er erschien ihr durchaus passend. „Ja, schon irgendwie. Alles dreht sich um Gott und den Propheten und darum, dass man lieb und fügsam sein soll. Aber ich dachte die ganze Zeit, dass das doch nicht alles sein kann.“

„Ist es auch nicht. Ich meine, du bist hier in Las Vegas, hier heißt es: The Show must go on. Soll ich dir nachher mal den Strip zeigen?“

„Puh, ehrlich gesagt ... ich habe heute Nacht fast nicht geschlafen, ich bin verdammt müde“, erwiderte Grace.

„Hast Recht. Dann machen wir das morgen. Ich kann uns gleich Spaghetti mit Fleischbällchen kochen, wenn du magst, und wir lassen den Abend gemütlich auf dem Sofa vorm Fernseher ausklingen.“

„Au ja!“ Grace war begeistert. Sie beschloss, Betty nicht zu sagen, dass sie in ihrem Leben erst einmal ferngesehen hatte. Zwar war Betty verdammt verständnisvoll, aber sie wollte sich nicht am laufenden Band lächerlich machen.

Sie beschloss, Betty beim Kochen zur Hand zu gehen, und Betty ließ sie gewähren. Anschließend aßen sie gemeinsam und unterhielten sich über verschiedene Dinge. Betty erzählte, dass sie noch zwei Geschwister hatte, zu denen sie kaum Kontakt hatte. Auch bei ihrer Mutter meldete sie sich nur sporadisch.

„Immerhin kannst du sie anrufen, wenn du willst“, sagte Grace. „Dadurch, dass ich weggelaufen bin, habe ich diese Chance verwirkt.“

„Die verbieten dir, deine Mutter zu kontaktieren? Die verbieten wirklich alles“, murmelte Betty kopfschüttelnd und nahm noch einen Bissen.

Grace nickte langsam. „Ja, alles. Bei uns hat man auch kein Eigentum, alles gehört der Kirche. Man bekommt ein Haus zugewiesen, in dem man leben kann, und wenn es Streit in einer Familie gibt, kann es passieren, dass die Ehefrauen mitsamt ihrer Kinder einem neuen Mann zugewiesen werden.“

Betty ließ ihre Gabel sinken. „Und da bist du geboren? Ist ja furchtbar. Ich glaube, da wäre ich schon längst abgehauen.“

„Ich habe auch sehr lang darüber nachgedacht, aber ich hatte Angst. In der Kirche sind alle, die ich kenne. Meine Familie, meine Geschwister, meine Freunde – einfach alle. Ich kenne niemanden außerhalb. Und ... wovon hätte ich leben sollen, so ganz allein?“

„Und warum bist du dann jetzt weggelaufen?“

Grace überlegte kurz, bevor sie antwortete: „Weil ich mir nicht vorstellen konnte, mein Leben so zu verbringen. Gestern habe ich Michael geheiratet ... und ... ich wusste nicht, was mich erwartet. Mit einem Mann. Ich hatte keine Ahnung.“

Betty war wie erstarrt, als sie ihr zuhörte, sagte jedoch nichts.

„Ich mochte es nicht. Ich mochte es überhaupt nicht. Und als er dann noch sagte, dass es nur weh tut, weil ich etwas falsch mache ...“ Plötzlich schossen Grace Tränen in die Augen und sie wandte sich verschämt ab. Als sie Bettys Hand auf ihrer spürte, zuckte sie erschrocken zusammen und sah Betty wieder an.

„Er hat das mit dir gemacht, obwohl du das gar nicht wolltest?“, fragte Betty ungläubig.

„Ich wusste doch gar nicht, was es überhaupt ist! Es hieß immer, er zeigt es mir ...“

„Oh mein Gott. Grace, wie alt ist er?“

„Er ist vierunddreißig.“

„Und du bist sechzehn? Grace, wenn du das nicht wolltest, war das eine Vergewaltigung, ein Missbrauch Minderjähriger. Natürlich tut das weh! Das hat nichts damit zu tun, dass du etwas falsch machst. Er hat etwas falsch gemacht. Was er getan hat, war ein Verbrechen!“

„Wirklich?“, fragte Grace und schniefte.

„Ich bin froh, dass du weggelaufen bist, damit das nie wieder passiert. Das ist nämlich falsch! Und dann ist er auch noch so viel älter als du ...“ Betty schüttelte den Kopf. „Du könntest zur Polizei gehen, dann käme er dafür ins Gefängnis.“

„Was? Nein, ich ... ich will ja nicht, dass er ins Gefängnis geht. Das ist unsere Art zu leben, ich meine ... wir leben nach den Gesetzen Gottes.“

„Das ist ja ein tolles Argument. Die sollten vielleicht mal eher nach den Gesetzen des Staates Utah leben“, knurrte Betty und spießte entschlossen ein Fleischbällchen mit ihrer Gabel auf.

„Sie haben Angst, die Erlösung ihrer unsterblichen Seele zu riskieren, wenn sie sich nicht gottgefällig verhalten.“

„Was für ein Scheiß.“ Betty konnte es nicht fassen. „Du bleibst jetzt schön bei mir und dann sehen wir, dass du hier irgendwie auf die Beine kommst. Hauptsache, du musst nicht mehr zurück.“

„Das will ich auch nicht“, sagte Grace kopfschüttelnd. „Nie mehr.“

Die beiden tauschten einen Blick und lächelten einander an. In diesem Moment war Grace einfach nur glücklich und erleichtert, nicht irgendwo in der Hölle gelandet zu sein. Ihr Leben lang hatte sie geglaubt, dass alles außerhalb gottlos war und dass es draußen keine guten Menschen gab. Alles draußen war als ausnahmslos böse und durchtrieben bezeichnet worden.

Wie passte das zu Betty, die ihr Obdach und Nächstenliebe gewährte? Grace hatte schon immer verschiedene Dinge in der FLDS in Frage gestellt, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter. Ihr Vater war freier im Geist, aber genau das hatte auch zum Verlust seiner Familie geführt. Onkel Warren hatte ihm vorgeworfen, seine Familie nicht mit starker Hand führen zu können, als es immer wieder Streitigkeiten in der Familie gegeben hatte. Zwei Jahre zuvor war ihre Familie auseinandergerissen worden, ihr Vater hatte seine Frauen und Kinder verloren und das nur, weil er sich geweigert hatte, seinen Sohn Tyler seines Hauses zu verweisen. Tyler hatte bloß lautstark einige Grundsätze des Glaubens in Frage gestellt und war nach Colorado geschickt worden, wo er mit anderen rebellischen Jugendlichen schwere Arbeit hatte verrichten müssen, um zur Besinnung zu kommen. Das hatte allerdings nicht zu seiner Läuterung beigetragen – im Gegenteil.

Er hatte weiter offen rebelliert und als daraufhin eine der Schwesterfrauen von Graces Mutter bei Onkel Warren vorgesprochen hatte, hatte der von Vater verlangt, Tyler vor die Tür zu setzen. Weil Dad sich geweigert hatte, hatte Onkel Warren Tyler der Gemeinde verwiesen und Dad seinen Status als Haushaltsvorstand der Familie entzogen – was im Klartext bedeutete, dass seine Frauen mitsamt ihrer Kinder anderen Männern zugewiesen wurden. Für Grace, ihre Mutter und ihre Geschwister hatte das einen Umzug von Salt Lake City nach Short Creek bedeutet, wo ihre Mutter eine neue Frau von Harold Jessop wurde, und sie hatte Tyler und ihren Dad nie wiedergesehen. Sie wusste aber, dass Tyler in bitterer Armut in seinem Truck lebte und sich als Tagelöhner durchschlug.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt hatte sie Onkel Warrens Einfluss für sich in Frage gestellt, denn diese Ereignisse hatten ihre Familie zerrissen und ihr ganzes Leben verändert. Das sollte Gottes Wille sein? Der Wille desselben Gottes, den alle als gut und mildtätig betrachteten? So hatte Grace ihn nicht erlebt.

Es hatte sie entwurzelt. Sie war immer der Meinung gewesen, dass Tyler durchaus berechtigte Fragen gestellt hatte, nur hatte er es lautstark getan. In letzter Zeit kam es immer häufiger vor, dass rebellische Jungen auch schon für kleinere Vergehen der Gemeinde verwiesen wurden. Seit Onkel Warren sich um die Angelegenheiten seines gebrechlichen Vaters kümmerte, hatte es immer mehr zugenommen. Schon vor Tylers Ausschluss aus der Gemeinde hatte Dad geglaubt, dass es vor allem darum ging, die Anzahl der Männer zu reduzieren, damit die älteren, ehrenhaften Gemeindemitglieder mehr Frauen hatten, die sie heiraten konnten. Grace hatte es ihm geglaubt.

Nachdem Grace und Betty aufgegessen hatten, spülten sie gemeinsam ab und setzten sich dann zusammen vor den Fernseher. Grace konnte es kaum glauben – sie war frei. Sie konnte fernsehen – eine Comedyserie mit dem Namen Friends. Betty saß im Schneidersitz neben ihr und amüsierte sich prächtig, während Grace noch über das staunte, was sie da sah. Junge Menschen, die Jeans trugen, die Mädchen hatten ihr Haar offen, eine trug ein bauchfreies T-Shirt. Gottlos hätte Onkel Warren es genannt.

Aber Onkel Warren war zum Glück nicht hier. Grace hatte seinen Einflussbereich verlassen – und war frei. Einfach frei.

In diesem Moment bereute sie nichts.

 

Montag