Zu Großem berufen/Kleine Schwester - Dania Dicken - E-Book

Zu Großem berufen/Kleine Schwester E-Book

Dania Dicken

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zu Großem berufen: Der schüchterne Agarin führt mit seiner Mutter ein zurückgezogenes Leben. Wißbegierig, wie er ist, läßt Agarin sich von dem Gelehrten Lius aus der Nachbarschaft unterrichten. Lius ist es auch, der erkennt, daß Agarins Schicksal vorherbestimmt ist, denn der Junge hat immer wieder nächtliche Visionen. Doch das erkennt auch der König - und läßt Lius und Agarins Mutter töten. Der Junge flieht mit seinem Onkel über die Berge ... Kleine Schwester: Nach dem Tod ihrer Eltern sind die Schwestern Kayla und Kiana ein eingeschworenes Duo. Kayla liebt ihre ältere Schwester über alles und sieht schon mit Schrecken dem Tag entgegen, an dem Kiana heiraten wird und sie allein bei Onkel und Tante zurückbleibt. Doch dann wird Kiana ermordet und Kaylas Welt stürzt in sich zusammen. Erst ihr Vetter Valo schafft es, ihr wieder Zuversicht zu verschaffen - er lehrt sie das Kämpfen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

Zu Großem berufen

Megelion 1245

Das dumpfe Dröhnen der Trommeln hallte an allen Wänden wider. Unter lautem Krachen zerbarst das Stadttor Megelions und die finsteren Scharen Boruns strömten in die Straßen. Die Zirags schwangen schartige Krummschwerter und Streitäxte, mit denen sie auf jeden zustürmten, der sich ihnen in den Weg stellte. Sie spießten Soldaten auf und spalteten ihnen die Schädel, erschlugen Frauen, erstachen Kinder. Johlend bahnten die scheußlichen Kreaturen sich einen Weg durch die Straßen der elinitischen Hauptstadt. Diesem Ansturm war sie nicht gewachsen.

Der König stand erhobenen Schwertes vor der Statue. Sie war ein Ebenbild des Königs, der den Kristall der Könige in seiner Bedeutung erkannt und ihn in diese Statue eingelassen hatte. Seine steinernen Hände umschlossen die Kristallkugel schützend. Doch das Glühen, das der König von weit unterhalb der Festung erblickte, ließ ihn erkennen, daß kein Schutz von Dauer sein würde. Das flammende Rot des Dämons blitzte in der Kugel auf. Gleißend helles Licht ergoß sich in Sekundenbruchteilen über alles. Der König wurde beinahe zurückgeworfen, aber er versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schwankend blieb er vor der Statue stehen und umklammerte seinen Zweihänder wild entschlossen.

Die Erde bebte unter seinen Füßen. Also entsprach es der Wahrheit, der Dämon war mächtiger und furchteinflößender als alles, was sonst nur denkbar war. Bei jedem seiner Schritte erbebte die Erde in Furcht.

Der König zwang sich, standhaft zu bleiben. Er hörte das Elend seines Volkes, er hörte die Todesschreie und qualvolles, schmerzerfülltes Gejammer. Baladur war so mächtig, daß er sich gegen den Kristall der Könige stellen konnte. Wie mächtig würde dessen Macht ihn erst machen?

Die uneinnehmbare Hauptstadt von Elinas drohte zu fallen. Fliehende Soldaten berichteten von Bächen aus Blut, die über die Pflastersteine strömten. Geifernde Zirags schändeten die Leichen, fraßen an den toten Leibern, hinterließen eine Spur der Verwüstung. Zwischen ihnen hindurch bahnte Baladur sich einen Weg hoch zur Palastfestung. Im nächsten Moment traf den fassungslosen elinitischen König ein harter Windstoß. Die Druckwelle preßte ihn an die Statue zurück. Auf der inneren Mauer des zweiten Stadtringes hockte er und starrte mit seinen glühenden Augen direkt in die Richtung des zaudernden Königs.

Auf seinem Haupt trug er eine schwarzglänzende, gehörnte Krone. Lange Dornen ragten nach außen fort. Er hatte kein menschliches Gesicht, sondern eines, das ihn als Dämon nur zu deutlich kennzeichnete. Er hatte Wolfszähne und aus seiner Nase schlug Feuer. Unter seiner schwarzledrigen Haut zeichneten sich Knochen und Muskeln ab. In seiner Hand wirbelte er ein riesiges, viele Fuß langes Schwert mit Widerhaken. Blut klebte daran, soviel Blut, daß es in einem konstanten Faden herabfloß.

Der König umklammerte sein Schwert mit beiden Händen. Plötzlich bohrte sich etwas brennend schmerzhaft in seinen Kopf.

„Du entkommst mir nicht“, vernahm er die dämonische Stimme Baladurs. Ein gewaltiger Schauer überlief ihn. Baladur starrte ihn unbeweglich an und sprach allein durch die Kraft seiner Gedanken mit ihm.

„Komm nur!“ erwiderte er und ging in Stellung. Im nächsten Moment bereute er seine Worte. Mit einem machtvollen Sprung kam Baladur von der Mauer herab und baute sich mit einem donnernden Aufprall genau vor dem König auf. Er überragte ihn um die Hälfte und hob sein angsteinflößendes Schwert. Der König erstarrte in Angst und zuckte zusammen, als Baladur das Schwert in seine Richtung niedersausen ließ.

Ein knirschendes Geräusch war alles, was er vernahm, dann prasselten die ersten Gesteinsstücke auf ihn herab. Er riß sein Schwert empor und fing die verbliebene Kraft von Baladurs Schlag ab. Plötzlich jedoch klirrte etwas hinter ihm wie zersplitterndes, kreischendes Glas. Der König fuhr herum. Die Statue war bis auf den Grund ihres Sockels herab zerbrochen und mit ihr der Kristall der Könige. Ihm wurde schreckensheiß. Leuchtend und funkelnd lagen auf den Trümmern der Statue die Splitter des Kristalls.

Während der König noch fassungslos auf das zerstörte Wahrzeichen von Elinas, dem Land des Lichts, schaute, hob Baladur mit seiner langfingrigen, kralligen Hand eines der Splitterstücke auf und lachte hämisch.

„Ihr seid alle verloren!“ schnitt seine Stimme sich in den Kopf des jungen Königs. Dieser ging vor Schreck in die Knie und starrte auf die Splitterstücke. Baladur hob sein Schwert zum Todesstoß, doch der König reagierte schnell und griff in Todesangst blindlings nach einigen Splitterstücken. Mit der anderen Hand allein stemmte er sein Schwert schützend empor und fing den Todesstoß ab. Allerdings drohte er erneut zu verzagen, als er Baladur ansah. Er spürte die von ihm ausgehende Hitze und war beinahe betäubt vom abstoßenden Geruch, der von ihm ausging. Seine Kleidung starrte vor Blut, das vom Schwert des Dämons herabgetropft war. Aber noch war es nicht sein Blut.

Mit einem angsterfüllten Schrei schrak er aus dem Schlaf hoch und schlug panisch um sich. Er lag so nah an der Bettkante, daß er beinahe herausgefallen wäre. Er setzte sich aufrecht und starrte keuchend in die Finsternis seines Zimmers. Überall starrten ihn Baladurs glühende Augen an. Das reflektierende Mondlicht auf der an der Wand hängenden Schwertscheide mutete an wie flammende Blitze. Außerdem glaubte er, an sich selbst Blut zu spüren, obwohl es nur sein kalter Schweiß war.

Agarin war vollkommen verstört. Mit rasendem Herzen schlug er die Decke zurück und tapste schwankend aus seinem Zimmer. Als er bloß auf den Flur heraustrat, schrak er zusammen und schrie erneut auf, als er direkt vor sich einen Schatten sah.

„Agarin!“ rief seine Mutter und kniete sich erschrocken vor ihn. Am ganzen Körper zitternd stand er vor ihr und starrte sie mit geweiteten Augen an.

„Mama...“ Seine Stimme war tonlos, als er sprach.

„Agarin, hattest du einen bösen Traum? Ist alles in Ordnung?“

Er nickte langsam. Seine Mutter zog ihn in ihre Arme und ließ ihn gleich darauf wieder los.

„Als wärst du ins Wasser gefallen! Du bist ja ganz naß“, sagte sie und nahm ihren Sohn an der Hand, dann ging sie mit in sein Zimmer.

Agarin blickte sich gehetzt um. Er schien seine Angst buchstäblich zu riechen. Stechender Schweißgeruch lag in der Luft. Seine Mutter öffnete unverzagt seinen Schrank, griff nach einem frischen Hemd und einer Hose, dann machte sie sich an seinen schweißnassen Sachen zu schaffen. Agarin ließ es diesmal wortlos mit sich geschehen. Normalerweise haßte er es, wenn seine Mutter er Meinung war, ihm beim Anziehen behilflich sein zu müssen, doch diesmal hatte er keine Kraft, sich selbst zu bewegen. Reglos stand er da und half ihr nur mit dem Nötigsten beim Umziehen. Flink hängte sie seine nassen Sachen über den Stuhl, dann legte sie einen Arm um seine Schultern und nahm ihn mit in ihr Zimmer.

„So etwas Schlimmes habe ich noch nie geträumt“, sagte er, als er auf ihrem Schoß im Bett saß. Sie schlang die Arme um ihn und strich ihm beruhigend über den Kopf.

„Du hast auch noch nie so laut geschrien. Ich dachte, dir wäre etwas passiert! Du hast mich vielleicht erschreckt!“

„‘Tschuldigung“, murmelte er schüchtern.

„Ist doch nicht schlimm. Wir haben alle einmal böse Träume, weißt du? Willst du es mir denn erzählen?“

Er nickte, doch erst fand er keine Worte. In seinem Kopf war noch immer das dumpfe Trommeln, das von der Ziragarmee ausgegangen war. Überall sah er Blut.

„Da war dieser Dämon. Der, von dem Lius mir erzählt hat. Er hatte so böse Augen! Überall sind diese Augen...“

Sie seufzte. „Lius soll dir doch nicht immer so scheußliche Geschichten erzählen!“

„Das hat er gar nicht, Mama. Er hat mir gar nicht gesagt, wie Baladur aussieht. Aber ich habe heimlich in einem seiner Bücher gestöbert. Dort gab es ein Bild von ihm. Und er sah fast genau so aus in meinem Traum. So böse. Das habe ich noch nie gesehen!“

„Aber es gibt ihn nicht mehr. Er ist schon seit vielen Jahrhunderten tot!“ versuchte Amina, ihren Sohn zu trösten.

„Das weiß ich. Aber er sah trotzdem böse aus!“ Jetzt lachte Agarin beinahe wieder. Amina drückte ihn fest an sich.

„Möchtest du bei mir schlafen?“ fragte sie. Er nickte sogleich. So legten Mutter und Sohn sich nebeneinander ins Bett. Amina deckte ihn liebevoll zu, während er sich an sie schmiegte.

„Das ging besser, als du noch kleiner warst!“ stellte sie fest. „Aber jetzt ist mein Junge ja schon groß.“ Aber auch zehnjährige Jungen hatten noch böse Alpträume, wie sie sehen konnte. Sein schläfriges Lächeln verriet ihr jedoch, daß es ihm wieder besser ging. Langsam wurde er wieder warm.

Sie legte einen Arm um ihn und schloß ebenfalls die Augen. Ihr Sohn war ihr Ein und Alles und es war ihr größter Wunsch, ihn glücklich zu sehen.

Am nächsten Morgen war Agarin trotz allem recht unausgeschlafen. Lustlos zog er sich ein frisches Hemd über den Kopf und sprang in seine Hose. Er befestigte die Hosenträger und kämmte sich flüchtig die zerzausten, etwa kinnlangen Haare. Mit in den Hosentaschen steckenden Händen trottete er in Richtung der Küche, wo seine Mutter ihm gerade ein Glas frische Milch einschenkte. Im Korb lag ein frisches Brot aus der benachbarten Bäckersstube.

„Das Frühstück ist fertig“, sagte Amina an ihren Sohn gewandt. Agarin ließ sich auf seinen Stuhl fallen und zog das Käsebrett heran. Amina schnitt ihm zwei Brotscheiben ab und setzte sich zu ihm an den Tisch. Während Agarin zu schmausen begann, grinste er, als seine Mutter ihm fröhlich zuzwinkerte. Sie hatte ihr langes braunes Haar wie üblich geflochten und trug ein grünes Leinenkleid mit einer frischen weißen Schürze darüber. Sie war eine zierliche junge Frau und für ihn die hübscheste Frau auf der ganzen Welt. Er war unglaublich stolz auf seine Mutter. Sie hatte immer Zeit für ihn, brachte für all seine Nöte Verständnis auf und hatte ihn sehr lieb, das wußte er genau.

Er ließ sich sein Frühstück schmecken. Amina begann, die Küche auszufegen, doch auf einmal klopfte es an der Tür. Sie ging, um zu öffnen, und Agarin hielt neugierig lauschend inne.

„Guten Morgen, werte Dame! Ich bringe Euer Geld“, vernahm er die Stimme eines Mannes. Es war nicht derselbe wie beim letzten Mal, aber dennoch wußte Agarin sogleich, worum es ging.

„Vielen Dank“, sagte seine Mutter, schloß die Tür und kehrte in die Küche zurück. Wie erwartet hielt sie ein kleines Geldsäckchen in der Hand. Sie setzte sich an den Tisch, öffnete das Beutelchen und zählte wie üblich die Goldmünzen ab. Zwar war ihre Anzahl in all den Jahren noch nie falsch gewesen, aber sie wollte sichergehen.

„Vierzig Stück“, sagte sie. Das war der Sold, den Agarins Vater als königlicher Leibwächter in einem Monat mit nach Hause gebracht hatte. Ein guter Verdienst, der Amina und ihrem Jungen ein sorgloses Leben ermöglichte. Davon wäre die ganze Familie satt geworden. Agarin wußte, daß Amina oft um dieses Geld beneidet wurde, aber sie sagte immer, daß Blut und Tränen daran hafteten. Denn sie bekam es, weil Agarins Vater im Dienst des Königs sein Leben gelassen hatte.

Sie hatte Agarin die Geschichte oft erzählt. Als sie gerade achtzehn Jahre alt gewesen war, hatte sie Andrin getroffen und sich in ihn verliebt. Keine zwei Jahre später hatten sie geheiratet. Agarin hatte immer versucht, sich ein Bild von seinem Vater zu machen, dem Mann, dem er wohl wie aus dem Gesicht geschnitten war. Er war einer der jüngsten Wächter in der königlichen Leibgarde gewesen, als Drognans Vater noch regiert hatte. Im Jahre 1234 hatte Drognan dann nach seines Vaters Tod den Thron bestiegen. Er brachte ungeahnte Gesetzesänderungen auf den Weg und zog sich den Haß der Bevölkerung zu. Doch Agarins Vater hatte weiter im Dienste dieses Königs stehen wollen, denn genau zu dieser Zeit hatte er erfahren, daß er Vater wurde. Mit dem Sold eines Leibwächters konnte er Frau und Kind bestens versorgen.

Niemand hatte damit gerechnet, daß zwei Wochen nach Agarins Geburt ein Königsgegner einen Mordversuch an Drognan unternehmen würde. Andrin war es gewesen, der den tödlichen Pfeil abgefangen hatte. Bei Frau und Sohn war er an seiner schweren Verletzung gestorben.

Amina sprach oft voller Verbitterung über den elinitischen König. Die gesamte Leibgarde hatte der Bestattung beigewohnt, die engsten Gefährten ihres Mannes hatten ihr und ihrem Neugeborenen Hilfe versprochen. Doch vom königlichen Schreiber kam nur ein Brief, daß Drognan wohl mit höchster Anteilnahme vom Tod seines erst zweiundzwanzigjährigen Lebensretters erfahren hätte und daraufhin die Fortzahlung dessen Soldes an seine Familie veranlaßt hätte. So mußte Amina wenigstens nicht um ihren Lebensunterhalt fürchten, aber welcher Trost war das für eine gerade einmal einundzwanzigjährige Witwe und Mutter eines Säuglings? Doch sie hatte es geschafft. Sie hatte mit der Unterstützung der anderen Wächter und besonders der ihres Bruders und seiner Frau ein Auskommen gefunden und zog ihren Sohn allein groß. Ihr Bruder Agared, der vor einem Jahr selbst verwitwet war, war für Agarin wie ein Vater. Seitdem war er noch öfter für seine Schwester und ihren Sohn da. Doch Amina hatte es nicht leicht. Sie hatte erst nicht noch einmal heiraten wollen und inzwischen war es ihr unmöglich, noch einen Mann zu finden. In Elinas hatte sich vieles verändert. Es gab keinen Mann, der eine Frau mit dem zehnjährigen Sohn eines anderen Mannes wollte. Nicht in dem Land, in dem der König sich mit Geliebten umgab und diese umbringen ließ, wenn er die Nase voll von ihnen hatte.

Die junge Mutter hatte oft mit ihrem Nachbarn Lius über solche Dinge gesprochen. Lius der Weise war es, der Agarin seit Jahren lehrte und viel Zeit mit ihm und seiner Mutter verbrachte. Auch Lius war ein Verstoßener, der Lehrer am Hof des Königs gewesen war, bevor er sich Drognan zum Feind gemacht hatte. Er hatte Amina unzählige schauerliche Dinge über Drognan erzählt, der ihn seither beobachten ließ. Völlig unscheinbar lebte Lius über der Bäckerei im Nachbarhaus und wetterte gegen den König, was das Zeug hielt. Damit hatte er Amina schmerzhaft verdeutlicht, für wen ihr geliebter Mann sich eigentlich geopfert hatte, aber jeder Groll war umsonst. Zwar verabscheute sie Drognan aufgrund seiner Gesetze, aber was hätte ihr Mann sonst tun sollen? Er hatte seine Arbeit gemacht. Aus Liebe zu seiner Familie und aus Sorge um sie. Zwar wäre es Amina lieber gewesen, einen gescholtenen Leibwächter zum Mann zu haben als nun Witwe zu sein, aber diese Wahl hatte sie nicht gehabt. Ihr blieb nur ihr Sohn, das herzensgute Ebenbild seines Vaters. Und für Agarin war sie alles zu geben bereit. Er war ein kluger Junge, und sie war froh, daß Lius ihn unterrichtete. Sonst wäre Agarin sehr einsam gewesen.

Er trank die Milch in einem Zug und stand auf. „Ich bin drüben bei Lius.“

„Ist in Ordnung. Bis später!“

Er nickte und verließ das Haus. Lustlos trottete er an der Bäckersstube vorbei in den kleinen Hausflur und ging die Treppe hinauf. Er war immer noch müde und außerdem hatte er vergessen, zu fragen, was es zum Mittagessen gab. Mit seiner kleinen Faust hämmerte an Lius‘ Tür und wartete. Auf der anderen Seite schlurften langsame Schritte näher, dann öffnete die Tür sich.

„Guten Morgen, mein Junge! Komm nur herein“, forderte Lius ihn auf. Agarin schlüpfte durch den Türspalt und sah sich in der mit Bücherregalen vollgestopften Stube um. Wenig enthusiastisch ließ er sich auf das Sofa vor dem Fenster sinken.

„Nicht gut gelaunt heute?“ erkundigte der alte Mann sich. Auf seinen Stock gestützt ging er zum Sessel hinüber und setzte sich.

„Ich bin müde“, tat Agarin wortkarg kund.

„Na sowas, hast du schon wieder zu lang gelesen?“

„Nein. Ich habe nur nicht besonders gut geschlafen.“

„Kein Grund, so mürrisch zu sein! Möchtest du einen Früchtetee, bevor wir anfangen?“ erkundigte Lius sich. Agarin hob den Kopf und nickte. „Soll ich ihn kochen?“

„Nein, laß nur“, erwiderte der Alte. Seine Augen blitzten freundlich und lebendig. Es war mühselig für ihn, wieder aufzustehen, aber für seinen Nachbarsjungen nahm er das gern auf sich. Agarin war der aufrichtigste Bursche, den er in seinem langen Leben je gekannt hatte.

Der Junge sah ihm nach. Lius hatte sich eine kleine Wolldecke um die Schultern gelegt, die so grau war wie sein schütteres Haar. Er war wohl einst ein großer, kräftiger Mann gewesen, aber inzwischen ging er gebeugt und hatte tiefe Falten in seinem offenen Gesicht. Er war Agarins einziger Freund.

Der Alte werkelte nachdenklich in der Küche herum. In einer Kiste fand er noch Plätzchen, die von der netten Bäckerstochter stammten, einem aufgeweckten Mädchen. Das würde Agarin schon aufmuntern. So mürrisch hatte er den Jungen selten erlebt, aber wenn der ihm nichts darüber sagen wollte, fragte er auch nicht nach.

Seit mittlerweile drei Jahren lehrte er den Jungen. Das Lesen, Schreiben und Zählen hatte seine Mutter ihm bereits beigebracht, doch Lius war es, der Agarin mit Lesestoff fütterte. Er hatte ihm Karten von Maronna gezeigt und ihm erzählt, welche Wesen in den verschiedenen Landstrichen lebten. Eigentlich war das überhaupt kein Unterricht, wie er ihn aus seinen jungen Jahren kannte, aber mit Agarin machte es auch viel mehr Spaß. Denn der Junge wollte lernen und Wissen anhäufen. So viel, daß es Lius beinahe unheimlich wurde.

Dann hatte er ihm von der Geschichte Maronnas erzählt. Besonders viel hatte er den Jungen natürlich über Elinas gelehrt und ihm auch verraten, daß Drognan gar nicht der rechtmäßige König war. Eigentlich war er nur der Stellvertreter, denn die Königslinie war nach dem Kristallkrieg abgerissen. Und doch nannte er sich König.

Im Zuge seiner Erzählungen waren sie auf die Alte Sprache gestoßen, aus der alle Namen stammten, die in der Geographie Maronnas zu finden waren. Auch andere Namen gingen darauf zurück, und Agarins Neugier hatte soweit geführt, daß Lius ihn die Alte Sprache bruchstückhaft gelehrt hatte. Er lehrte ihn alles, was er wußte, weil der Junge für ihn etwas ganz Besonderes war. Er gab ihm eine Aufgabe. Agarin hatte bereits den halben Buchbestand von Lius gelesen. Immer wieder nahm er Bücher mit und las, bis ihm die Augen schmerzten und Lius sich fragte, warum der Junge so wißbegierig war. Doch das wußte Agarin selbst nicht.

An diesem Vormittag fragte Agarin Lius über den Kristallkrieg aus. Lius wunderte sich, daß Agarin unbedingt etwas über die unglückbringende Schlacht vor vierhundert Jahren hören wollte, aber er erzählte ihm alles. Baladur und seine Scharen waren aus Borun gekommen und hatten Megelion erstürmt. Viele Menschen hatten den Tod gefunden und Baladur hatte den Kristall der Könige in seiner Statue zersplittert. Einen Splitter hatte er gestohlen, dann hatte der junge König ihn in die Flucht geschlagen, nachdem er die anderen zehn Splitterstücke an sich genommen hatte.

Agarin fragte sich, warum er ausgerechnet vom Kristallkrieg geträumt hatte. Zudem hatte er Dinge gesehen, von denen Lius ihm noch nicht einmal jetzt erzählte. Und er hatte nichts durcheinandergebracht, wie es sonst so oft in Träumen der Fall war.

Sie vertrieben sich die Zeit bis zum Mittag. Agarin verabschiedete sich und ging zu seiner Mutter herüber. Sie war bereits allein auf dem Markt gewesen und hatte frisches Gemüse und Fleisch gekauft. Darüber freute Agarin sich sehr. Zwar konnten sie sich oft Fleisch erlauben, aber diesmal hatte sie besonders gutes gekauft.

„Heute Nachmittag kommt Agared uns besuchen“, sagte sie beim Mittagessen. „Ich habe ihn auf dem Markt getroffen. Ich soll ihm das Loch in einer Hose stopfen. Hattest du nicht etwas, worum du ihn bitten wolltest?“

„Ja. Mein Stuhl wackelt. Vielleicht weiß er, woran es liegt!“ erklärte Agarin. Amina nickte. Nach dem Mittagessen half Agarin ihr beim Abwasch und räumte gemeinsam mit ihr auf. Er hatte diesmal keine Lust, zu lesen, und starrte von seinem Bett aus nachdenklich auf das Schwert seines Vaters. Als kleines Kind hatte er den Zweihänder beim Stöbern entdeckt und seine Mutter hatte ihm die gefährliche Waffe erst wegnehmen wollen, aber dann hatte Agared eine Halterung hoch an der Wand angebracht und das Schwert in Agarins Zimmer gehängt. Niemand wußte genau, warum es nicht zurück in die Bestände des Palastes gegangen war, aber ebenso hatte niemand vor, es zurückzubringen. Aber es war Agarin egal, daß es auf dem Knauf das Wappen Drognans trug und in Rot beschlagen war, der Farbe, die der Grund eines jeden königlichen Wappens war. Denn es war das Schwert seines unbekannten, aber geliebten Vaters. Amina hatte ihm so oft erzählt, wie sehr Andrin sich über die Geburt seines Sohnes gefreut hatte. Er hatte seinen Jungen geliebt. Und so hatte Agarin wenigstens etwas von seinem Vater.

Er kramte aus seiner Schublade die halbfertige Figur eines kleinen Ritters hervor. Dann nahm er sein Schnitzermesser in die Hand und fuhr damit fort, die kleine Figur aus dem Holzstück herauszuarbeiten. Solche Arbeiten hatte Agared ihm gezeigt.

Als es an der Haustür klopfte, lief er mit Messer und Figur in der Hand die Treppe hinunter. Amina bgrüßte ihren Bruder und ließ ihn eintreten.

„Agarin! Schön, dich zu sehen!“ rief sein Onkel und schloß den Jungen in die Arme. Für den kinderlosen Mann war Agarin wie ein eigener Sohn.

„Komm doch mit in die Stube“, sagte Amina. Gemeinsam gingen sie hinüber und er reichte ihr die Hose, die am Knie ein Loch hatte. Während sie zu flicken begann, folgte Agared seinem Neffen hoch in sein Zimmer und besah sich den wackligen Stuhl. Aus der Abstellkammer holte er Hammer und Nagel, machte sich an die Arbeit und wenig später war der Stuhl wieder stabil.

Agared blieb bis zum Abend und ließ sich auch überreden, zum Essen zu bleiben. Danach setzten Agarin und seine Mutter sich zusammen und Agarin erzählte ihr, daß Lius ihm von dem berichtet hatte, was in seinem Alptraum gewesen war.

„Du hast also den Kristallkrieg gesehen?“ fragte Amina irritiert.

„Ja. Lius hat mir von allem erzählt, was ich in meinem Traum auch gesehen habe. Ich habe wirklich vom Kristallkrieg geträumt!“

„Du bist mir ja einer“, sagte Amina kopfschüttelnd und lächelte. Schließlich brachte sie ihn ins Bett und wünschte ihm eine gute Nacht. Wenn er nur nicht wieder einen solchen Alptraum hatte!

Der Reiter beugte sich tiefer, während sein gehetztes Pferd immer schneller zu laufen begann. Als er sich umschaute, mußte er sehen, daß seine Verfolger immer näher kamen. Sie durften ihn nicht erwischen. Im gestreckten Galopp sprengte das Pferd über die weitläufige, hitzeflimmernde Steppe. Plötzlich sirrte ein erster Pfeil an Reiter und Pferd vorbei. Der junge Bursche drehte sich erneut um und tätschelte sein Pferd. Weitere Pfeile flogen an ihnen vorbei, bis kurz darauf einer traf. Das Pferd wieherte gequält. Sein Reiter fand den Pfeil in seiner Flanke steckend. Das Tier begann zu lahmen.

Bevor es zu spät war, brachte er das Tier zum Stehen und zog sein Schwert. Er würde sich diesen Hochverrätern unverzagt gegenüberstellen! Doch darauf waren diese nicht sonderlich erpicht. Sie zählten ein halbes Dutzend und sahen sich zweifelsohne in der überlegenen Position, aber dennoch wollten sie sich inen Kampf ersparen. Einer visierte den jungen Mann über seine Pfeilspitze an und schoß. Die Wucht des auftreffenden Pfeils warf den Reiter beinahe aus dem Sattel. Er starrte auf den in seiner Brust steckenden Pfeil und ließ sein Schwert fallen.

Sie hatten ihn. Er saß in der Falle und würde nicht mehr entkommen. Zwei der Reiter hielten weiterhin auf ihn zu. Einer saß ab, als sie den hilflosen jungen Burschen erreicht hatten.

„Ich bin der Bote des Königs“, stieß dieser leise hervor.

„Das wissen wir. Deshalb sind wir hier!“ erwiderte der Kerl, der genau vor ihm stand. Er zog sein Schwert und zielte damit auf die durchbohrte Brust des verletzten Boten.

„Wir verlangen das Schreiben des Königs!“ zischte er.

„Nur über meine Leiche“, erwiderte der Bote. Mit eiskaltem Blick bohrte der Mann dem Boten von unten herauf das Schwert in die Lunge und riß ihn damit vom Pferd. Mit einem dumpfen Aufprall ging der Bote neben seinem Pferd zu Boden. Er spuckte Blut, dann sackte sein Kopf zur Seite und er schloß die Augen. Der junge königliche Bote war tot.

„Das kann er doch gern haben“, murmelte sein Mörder und kniete sich neben die Leiche. Er klopfte die Taschen des Toten ab und zog einen Brief heraus. Sogleich öffnete er ihn, beide Männer lasen ihn, dann steckte der Mörder ihn ein.

Noch vor Einbruch der Dämmerung warf er den Brief mit dem königlichen Siegel ins Lagerfeuer. Doch die Reise der Männer war noch nicht beendet. Sie führte durch die Darlinodpforte zurück nach Elinas und dort in ein kleines Dorf, das keinen Tagesritt von Megelion entfernt lag.

Eine Bauernfrau kniete neben dem Wäschetrog mitten im Hof und war mit dem Reinigen von Kleidung beschäftigt, als sie den Blick in Richtung der eintreffenden Reiter hob. Sie hielten genau auf sie zu. Zögerlich stand sie auf und trocknete die Hände an ihrer Schürze. Die Reiter kamen genau auf sie zu. Sie wollte etwas sagen, sich erkundigen, ob sie helfen konnte, doch der erste der Männer saß in diesem Augenblick ab und zog sein Schwert. Damit kam er genau auf sie zu.

In Panik wandte die junge Bauernfrau sich ab und rannte wie von einem Dämon gehetzt ins Innere des Gebäudes. Sogleich folgten die Männer ihr. Sie jagten die Frau, die in Todesangst um Hilfe schrie. Sie schien zu wissen, warum diese Männer gekommen waren. Eigentlich hatte sie seit beinahe fünfzehn Jahren auf diesen Tag gewartet. Eines Tages hatten sie kommen müssen.

Als sie um eine Flurecke hastete, blieb sie wie erstarrt stehen und schrie auf. Vor ihr stand mit erhobenem Schwert einer der Männer, der einen anderen Eingang benutzt hatte. Er zielte mit seiner Schwertspitze auf ihre Kehle und drängte sie an die Wand zurück.

„Wo ist dein Sohn?“ zischte er düster.

„Er ist nicht da, ich weiß es nicht...“ stammelte die junge Frau ängstlich.

„Sag schon! Du mußt wissen, wo er ist! Sprich und ich verschone dich!“

„Ich weiß es wirklich nicht!“ rief sie. Im nächsten Moment sah sie in den Augen des Mannes, daß er Ernst machte. Sie wollte noch schreien, als sie schon den grenzenlosen Schmerz der sie durchbohrenden Klinge spürte.

„Ich finde ihn auch so!“ drohte der Mann, während die Bauersfrau blutspuckend zu Boden sank und tot liegenblieb.

Die Männer verließen das Haus. Alles wurde still, für Stunden regte sich nichts. Eine Blutlache hatte sich irgendwann unter der toten Frau ausgebreitet, die unbemerkt dort lag. Als es jedoch zu dämmern begann, öffnete sich eine Tür. Ein Schrei gellte über den Flur.

„Mutter!“ Es war die Stimme eines vierzehnjährigen Burschen, der schluchzend neben seiner toten Mutter in die Knie sank. Auf der Wange in ihrem sonst so friedlichen Gesicht war Blut getrocknet.

Mit einem Schrei fuhr Agarin hoch und warf dabei unabsichtlich seine Decke zurück. Es war finster in seinem Zimmer. Regentropfen prasselten an die Scheiben. Keuchend versuchte er, sich zu beruhigen. Das war ein Alptraum genau wie vor wenigen Tagen. Er hatte sterbende Menschen gesehen und wußte nicht, warum.

Das Herz in seiner schmalen Brust hämmerte wie verrückt. Schweißnasse Haare klebten in seiner Stirn. Ihm war eiskalt.

Sollte er seine Mutter wecken? Er lauschte in die Stille hinaus, aber er hörte nichts. Diesmal schlief sie wohl noch. Aber er würde nicht wieder einschlafen können.

Er schlang die Arme um den Leib und schlich zur Tür, ging über den Flur und öffnete die leise quietschende Tür zum Zimmer seiner Mutter. Er wünschte sich nichts sehnlicher als ein wenig Trost von ihr. Lautlos trat er vor ihr Bett, hob ihre Decke und zwängte sich neben sie auf die Matratze. Davon wachte Amina schließlich auf.

„Agarin! Was machst du denn hier?“ fragte sie schläfrig.

„Ich hatte einen bösen Traum“, sagte der Junge leise.

„Schon wieder? Du Armer“, sagte sie tröstlich und schloß ihn in die Arme. „War es sehr schlimm?“

Er nickte. „Da waren böse Männer, die... die jemanden umgebracht haben. Eine Frau. Sie hatte einen Sohn. Er hat sie gefunden, als sie tot war.“

Amina machte große Augen und küßte Agarin liebevoll auf die Stirn. Daß er sich vorstellen mußte, wie es war, seine eigene Mutter tot zu finden, konnte sie gut verstehen. Das hatte ihn sicher sehr erschreckt.

„Mir geht es gut“, sagte sie sogleich. „Geht es dir jetzt auch besser?“

„Ein bißchen“, sagte er und schmiegte sich an sie.

„Du bist wieder ganz verschwitzt. Und du frierst ja! Komm, zieh dich besser um“, schlug Amina vor, aber Agarin schüttelte den Kopf. Er würde nicht von der Seite seiner Mutter weichen! Nachher passierte ihr auch noch etwas Schreckliches...

„Wirklich nicht?“ hakte Amina nach.

„Nein. Ich will bei dir bleiben“, flüsterte Agarin und schloß die Augen. Bei Mama fühlte er sich immer geborgen. Ehe er es sich versah, war er wieder eingeschlafen. Verwirrt schaute Amina auf die schemenhaft erkennbaren Gesichtszüge ihres Sohnes. Auf einmal sah er wieder ganz friedlich aus. Aber warum hatte er ständig diese Alpträume?

Am nächsten Morgen sprachen sie nicht davon. Agarin frühstückte, dann trottete er gähnend hinüber in den Flur des Nachbarhauses und schlich unwillig die Treppe zu Lius hinauf. Verhalten klopfte er an der Tür, hinter der er sogleich die schlurfenden Schritte des Alten vernahm.

„Guten Morgen, Agarin! Komm nur herein, hier ist es gemütlich an diesem regnerischen Tag! Und so etwas schimpft sich Sommer“, mokierte Lius sich und ließ Agarin eintreten.

„He, warum hast du denn so kleine Augen? Wieder schlecht geschlafen?“

„Ja“, war alles, was Agarin darauf erwiderte.

„Na sowas. Woran liegt das denn? Hast du groben Unfug geträumt?“

„Na ja. Ich habe gesehen, wie jemand getötet worden ist“, sagte Agarin, als wäre es selbstverständlich, und ließ sich aufs Sofa sinken.

„Wie bitte?“ Lius verharrte in seiner Bewegung, denn eigentlich war er auf dem Weg in die Küche. Langsam drehte er sich um und schaute Agarin fragend an.

„Wer ist denn getötet worden?“

„Ein königlicher Bote. Und eine Bäuerin in einem kleinen Dorf.“

„Kanntest du sie?“

„Nein. Der Bote war auch gar nicht in Elinas. Seine Mörder haben ihm woanders aufgelauert. Aber der eine Tod hatte etwas mit dem anderen zu tun“, erzählte Agarin sachlich. Lius machte kehrt und setzte sich gleich neben Agarin aufs Sofa.

„Das weißt du alles? Wieso träumst du denn so scheußliche Sachen?“

„Das weiß ich nicht. Vor einigen Tagen hatte ich doch auch schon diesen Alptraum. Ich habe dich doch nach der Schlacht des Kristallkriegs gefragt. Davon habe ich nämlich geträumt, und zwar genauso, wie du es mir erzählt hast.“

„Tatsächlich? Du hast dich so genau daran erinnert?“

„Ja. Ich habe Baladur gesehen. Er war so schrecklich! Aber der Traum heute nacht war auch schrecklich. Die tote Bauernfrau hatte einen Sohn. Ich mußte mir vorstellen, daß ich das bin! Es war, als hätte man meiner Mama etwas getan“, sagte Agarin leise. Lius legte einen Arm um ihn und drückte ihn kameradschaftlich.

„Unsinn. Es war doch jemand, den du gar nicht kennst. Aber erzähl doch mal, wo war denn der Bote, den du gesehen hast?“

„In einer einsamen Gegend. Da war es heiß und überall wuchs nur Gras. Er wollte eine königliche Botschaft nach Elinas bringen, aber man hat ihn getötet und die Nachricht verbrannt. Dann haben diese Männer die Bäuerin in dem Dorf umgebracht, aber ihren Sohn haben sie nicht gefunden.“

Diese Kurzform der Geschichte genügte Lius bereits. Er konnte sich ein ganzes Bild von der Situation machen.

„Soso. Du träumst also von solch wilden Geschichten und vom Kristallkrieg?“

„Ja. Warum?“

„Nun, das ist seltsam. Man träumt doch nicht von solchen Sachen, wenn sie nichts mit einem selbst zu tun haben! Hast du wieder zuviele wüste Sachen gelesen?“ fragte Lius augenzwinkernd.

„Nein. Nichts von toten Bäuerinnen und dem Krieg. Gar nichts“, erwiderte Agarin achselzuckend.

„Nicht? Seltsam. Du hast ja vielleicht Flausen im Kopf!“ murmelte Lius langsam und sah den Jungen nachdenklich an.

„Ja. Ich weiß. Aber warum ist das so seltsam?“ fragte Agarin gezielt und erwiderte Lius‘ nachdenklichen Blick. Das brachte den Alten sofort in Verlegenheit.

„So etwas träumen Kinder doch nicht!“ sagte er.

„Ich schon“, erwiderte Agarin. Lius runzelte die Stirn und schalt sich innerlich einen Narren. Natürlich klang das, was der Kleine hier erzählte, nicht unbedingt nach gewöhnlichen Träumen. Aber gleich zu glauben, daß mehr dahintersteckte... niemals. Das war völlig ausgeschlossen.

„Komm, wir fangen an. Hoffen wir, daß du keine schlimmen Träume mehr hast!“ wechselte Lius das Thema, aber er war die ganze Zeit über kaum bei der Sache. Agarin merkte davon nichts, er war bald wieder guter Dinge und konnte wieder lachen. Dennoch war Lius erleichtert, als er mittags ging.

Natürlich war der Junge sehr aufgeweckt, klug und wunderbar ehrlich, aber darin mehr hineinzuinterpretieren war mehr als wagemutig! Zwar beeindruckte Agarins Scharfsinn den Alten, ebenso war er erschreckend kompromißlos und hatte einen hohen Begriff von Ehre, aber... nein. Und doch hatte Lius niemals jemanden gekannt, der mehr Liebe im Herzen trug als Agarin. Trotz allem, was as Leben ihm bereits an Steinen in den Weg gelegt hatte, war der Junge ein wunderbarer, großherziger Mensch, der seinen wenigen Freunden alles Erdenkliche an Liebe entgegenbrachte.

Je mehr Lius versuchte, sich seine wirren Ideen auszureden, umso mehr Argumente fand er für die Richtigkeit seiner Vermutung. Agarin war dafür geboren. Wenn nicht er, wer sonst sollte denn all die Voraussetzungen in sich vereinen, die für diese Berufung vonnöten waren?

Und dieser Junge spazierte seit Jahren direkt vor seiner Nase herum und er merkte es nicht?

Er mußte unwillkürlich an einen Satz als dem alten Reim denken, der den meisten Menschen inzwischen unbekannt war. Der jung schon in alten Werten gelehrt, sieht, was nur im Traum zu sehen. Aber was hatte Agarin da gesehen? Wenn er das herausfand, wußte er, ob dieser Satz wirklich auf Agarin zutraf.

Was konnte das nur gewesen sein? Er hatte in all den Jahren als königlicher Lehrmeister nie sicher herausfinden können, wie sich vor vierhundert Jahren alles zugetragen hatte. Allerdings wurde seine Vermutung immer stärker, daß Agarin ihm vor nicht einmal drei Stunden gesagt hatte, was damals geschehen war. Er schien das geträumt zu haben, von dem die Weisen immer angenommen hatten, daß es sich so zugetragen hatte.

Und das konnte ein Zehnjähriger nicht wissen. Lius hatte ihm doch nie davon erzählt!

Er sinnierte den ganzen Tag über die Möglichkeiten, die sich nun ergaben. Allerdings konnte er nicht glauben, daß er tatsächlich diesen Jungen kannte, ihn lehrte, ihn seinen Freund nannte.

Er beschloß, auf einen weiteren Hinweis zu warten. Zwar klang das, wovon Agarin berichtet hatte, nicht nach einem normalen Traum, aber vielleicht täuschte dieser Eindruck. Vielleicht hatte es nichts zu bedeuten, daß diese Träume von außergewöhnlicher Klarheit gewesen waren.

Vielleicht aber doch.

Er versuchte, sich die nächsten Tage über nichts anmerken zu lassen. Am nächsten Tag fuhren sie wie gewohnt mit dem Unterricht fort. Auch am übernächsten und dem darauffolgenden Tag ereignete sich nichts mehr, doch es war nichts anderes als dieser eine Gedanke in Lius‘ Kopf. Er konnte es nicht abwarten, zu erfahren, ob noch mehr geschah.

Und zwei Tage später wurde seine Geduld belohnt. Agarin kam, anders als die beiden ersten Male, unverhofft die Treppe hinaufgestürmt und hämmerte vehement an die Tür.

„Lius! Ich muß dir etwas erzählen!“ rief er schon von draußen. Lius öffnete, er war sehr aufgeregt, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

„Mein Junge! Komm herein! Warum bist du denn so aufgeregt?“

„Ich habe schon wieder etwas geträumt, Lius! Aber diesmal war es nicht schlimm!“ platzte Agarin sofort mit der Sprache heraus.

„Tatsächlich? Das mußt du mir erzählen!“ bat Lius sogleich und setzte sich mit Agarin.

„Da war ein Mann, Lius, der sehr krank war. Er hatte so seltsame rote Pusteln auf seinem Körper. Er lag in einem Zelt und überall waren Menschen. Alle haben ihn angesehen. Der Mann sah aus, als wüßte er gar nicht, was um in herum passiert. Alle waren sehr ernst und haben davon gesprochen, daß er sterben würde. Immer müssen alle sterben! Und der Mann hat überhaupt nichts gesagt. Ich habe mich schon gefragt, ob er überhaupt sprechen kann, aber dann hat er doch noch gesprochen. Er hat ganz seltsame Dinge gesagt, und alles, was er sagte, hat sich aufeinander gereimt. Wie ein Gedicht, weißt du? Er hat von Kristallsplittern gesprochen, von einem König und sogar von Borun! Den Rest weiß ich nicht mehr.“

Lius lauschte zur Salzsäule erstarrt. Er wußte, wer der Mann war, von dem Agarin sprach.

„Bist du da ganz sicher?“ fragte er vollkommen aufgewühlt.

„Ja. Weißt du, wer der Mann war?“

„Ja, ich glaube, ich weiß, wer der Mann war. Ich weiß auch, was er gesagt hat.“

„Ehrlich? Was denn?“ rief Agarin neugierig.

„Es ist eine sehr alte Prophezeiung, Agarin. So lautet sie:

Kristalle versteckt, verborgen, bewehrt

von keinem zu finden als dem

der jung schon in alten Werten gelehrt

sieht, was nur im Traum zu sehen.

Seine Wege durch Liebe geebnet

von Weisheit und Ehre erfüllt

mit Treue und Hoffnung gesegnet

obwohl auch Haß ihm noch gilt.

Borun wird zum Kampf ihn zwingen

selbst einen König hat er zum Feind

wird die Freunde in Gefahr bringen

und hat sie doch mit sich vereint.“

Lius verfiel in ehrfürchtiges Schweigen, während Agarin ihn ungläubig anstarrte.

„Das ist genau, was er gesagt hat! Wie konntest du das denn wissen, Lius? Warum weißt du das alles?“

„Der Mann war der letzte wahre König von Elinas. Er ist in Rimonas gestorben, weil er Typhus hatte. Das ist eine ganz schlimme Krankheit. Und auf seinem Sterbebett hat er die Prophezeiung über den Kristall der Könige ausgesprochen“, erklärte Lius.

„Aber wie konnte ich denn davon träumen, Lius? Ich kannte die Prophezeiung doch gar nicht!“

„Das kann ich dir nicht sagen“, behauptete Lius. „Ich werde aber gleich gehen und versuchen, es herauszufinden. Einverstanden?“

„Das heißt, wir machen keinen Unterricht? Ist das denn so wichtig?“

„Vielleicht ist es das, Agarin. Ich werde es dir erzählen, wenn ich etwas weiß! Das verspreche ich dir.“

Agarin nickte, dann verabschiedete er sich von Lius, der sogleich sehr geschäftig in seiner Stube herumlief und sich angemessen kleidete, um vor die Tür zu gehen. Auf seinen Gehstock gestützt, stieg er langsam die Treppe hinab und trat auf die Straße hinaus. Noch wußte er nicht, wo er zuerst nachsehen sollte und wie er sich überhaupt Zutritt zu den königlichen Archiven verschaffen sollte, aber dann ging er unverzagt los. Irgendetwas würde ihm schon einfallen.

Es war kein weiter Weg bis hoch in den zweiten Stadtring, wo die königlichen Archive hinter einer unscheinbaren Tür verborgen lagen. Lius öffnete sie und betrat die Vorhalle. Zwei Wächter empfingen ihn. An einem Tisch saß der ihm wohlbekannte Bibliothekar. Alle sahen ihn interessiert an.

„Ihr dürft hier nicht herein“, sagte sogleich einer der Wächter und versperrte ihm mit seiner Lanze den Weg.

„Was? Warum nicht? Ich bin in den Archiven schon ein- und ausgegangen, als du noch überhaupt nicht geboren warst!“ empörte sich Lius gespielt aufbrausend. Irritiert sahen die Wächter einander an, doch dann trat der Bibliothekar hinzu.

„Erkennt ihr nicht Lius den Weisen? Er war einst ein wichtiger Mann am Hofe des Königs! Das war noch zu guten Zeiten“, mischte er sich ein.

„Tatsächlich?“ fragte der andere Wächter.

„Ihr seid wirklich ein Pöbel, daß ihr Lius nicht kennt! Komm, alter Freund, und berichte mir von deinem Begehr!“ sagte der Bibliothekar einladend und schleuste Lius an den Wächtern vorbei.

„Danke“, sagte Lius, als sie außer Hörweite waren. „Darf ich hier tatsächlich nicht mehr herein? Ich habe es noch nie versucht!“

„Nein, eigentlich darfst du wirklich nicht. Wenn Drognans Spitzel davon erfahren, daß du hier warst, bekomme ich gewaltigen Ärger. Aber wenn du hier schon auftauchst, hast du doch ein besonderes Anliegen!“

„Drognan ist ein verzogener Bengel. Er wäre strohdumm, wenn ich ihn nicht gelehrt hätte, und so dankt er mir das!“ grollte Lius. „Nun, aber es ist nicht sein Problem, was ich hier tun will. Sag, gibt es irgendwo Aufzeichnungen über das Leben des letzten Königs, Eirion?“

Der Bibliothekar runzelte fragend die Stirn. „Vom König wird Drognan wirklich nicht gern hören...“

„Wenn du ihm nichts davon sagst, wird er gar nicht davon hören!“ entgegnete Lius augenzwinkernd.

„Du bist eine wahre Landplage, Lius! Was willst du genau über ihn wissen? Ich habe alle Aufzeichnungen über seine Geburt, die Krönung, seine Taten in der Schlacht, seine Reise durch Maronna bis zu seinem Tod in Rimonas...“

„Nichts von diesen offiziellen Daten. Was ist mit dem Mädchen, vom dem die Rede war? Dem Bauernmädchen?“

„Oh, du meinst seine Mätresse! Darüber gibt es doch keine Aufzeichnungen!“ sagte der Bibliothekar kopfschüttelnd.

„Seltsam, und warum wissen wir dann vierhundert Jahre später noch von ihr?“

„Sie ist ein hartnäckiges Gerücht, Lius! Das weißt du so gut wie ich! Es hat sie nicht gegeben und vor allem nicht das Kind, von dem immer die Rede ist!“

„Erzähl mir keinen Unsinn. Es muß Aufzeichnungen über sie geben! Es gibt über alle Mätressen Aufzeichnungen, warum nicht auch über sie?“ beharrte Lius.

„Weil es sie nicht gab! Wenn es sie gegeben hätte, wüßte ich das!“

Lius stöhnte. Die Vertuschungspolitik der Statthalter hatte Früchte getragen. Er glaubte, daß der Mann wirklich nicht von ihrer Existenz überzeugt war, aber er war es.

„Du würdest mir helfen, wenn du mir alle Aufzeichnungen geben würdest, die aus der Amtszeit seines Vaters und aus seiner eigenen stammen. Ich will wissen, wann welche Statue in Auftrag gegeben wurde und wann der König seinem Sohn den Hintern versohlt hat!“

„Du spinnst“, sagte der Bibliothekar kopfschüttelnd, aber er führte Lius hinab in den kalten, trockenen Keller, in dem die besonders wichtigen Schriftstücke lagerten. Gemeinsam gingen sie die Regale durch. Bücher und Schriftrollen lagen säuberlich sortiert darin, aber sie waren aufs Äußerte verstaubt. Die beiden Männer störten sich nicht daran. Der Bibliothekar reichte Lius alles, angefangen bei den Chronologien des königlichen Geschichtsschreibers, der jeden Festtag und alle hohen Feiertage protokolliert hatte bis über das Stammbuch des Königshauses, in dem jede Ehe, jede Geburt und jeder Todesfall notiert waren. Bei den Schriftrollen, die königliche Einkäufe, Kriegsinvestitionen, Bedienstetenakten und selbst die Viehbestände beinhalteten, hörten sie auf.

„Viel Vergnügen“, wünschte der Bibliothekar, als Lius sich vor einem immensen Berg an Schriften wiederfand. Sie türmten sich beinahe mannshoch, wie sie auf dem Tisch lagen, aber er ließ alle offiziellen Schriften gleich beiseite. Die Schriftrollen des Verwalters waren weitaus interessanter, denn darin stand geschrieben, wer wann welche Ausgaben getätigt hatte. Auch die Aufzeichnungen der Wache und des sonstigen Personals ging er durch. Ihm fielen jedoch bei den Dienstmädchen, Mägden, Küchengehilfinnen und Waschfrauen keine Besonderheiten auf.

Hatte Agarin nicht von einem Dorf gesprochen? Er hatte von einer Bäuerin erzählt. Das Vieh! Vielleicht wurde er dort fündig. Er überprüfte jeden Viehhandel, kontrollierte die Verkäufer, prüfte Örtlichkeiten nach. Er fand nichts, keinen Namen, der ihm ins Auge stach.

In den Aufzeichnungen der Wache entdeckte er jedoch endlich viele Notizen, die Aufschluß über die häufigen Ausritte Prinz Eirions gaben. Als er gerade das heiratsfähige Alter erreicht hatte, war er an jedem freien Tag in Begleitung eines Knappen und eines Wächters außerhalb Megelions zu Pferde unterwegs gewesen. Und tatsächlich fand Lius Hinweise auf ein Dorf in der Nähe der elinitischen Hauptstadt. Die Männer waren auffällig oft dort gewesen, und das über viele Jahre hinweg.

Ihm fiel zwischendurch ein Gesetzbuch aus dieser Zeit in die Hand. Darin waren viele alte Regeln durchgestrichen und als ungültig erklärt worden, aber eine fand Lius, bei der die Anmerkung auf den persönlichen Erlaß König Eirions seltsam vorkam.

Der Erlaß befaßte sich mit den Heiratsrechten der Herrscher. Lius wußte, daß der König und alle anderen Fürsten seit Jahrhunderten Bürgerliche ehelichen konnten, doch nun erfuhr er, daß Eirion dieses Gesetz erlassen hatte.

Dann mußte er einen Grund dazu gehabt haben. Lius grinste siegreich.

Er wühlte weiter in den Aufzeichnungen des Verwalters herum. Zu Zeiten der Amtszeit von Eirions Vater fand Lius einen monatlichen Vermerk über eine in seinen Augen beachtliche Summe, zu der seltsame Angaben gemacht worden waren. Vertraulich einem Boten zu überreichen, Verwendung bekannt.

Ihm war die Verwendung des Geldes aber nicht bekannt, deshalb forschte er in den Schriften der königlichen Boten und ihrer Botengänge nach, bis er schließlich auf den Namen eines Boten stieß, der monatlich in das kleine Dorf nahe Megelion geritten war. Auf dieser Schriftrolle entdeckte Lius zum ersten Mal einen Namen: Mirelia. Sie war als Empfängerin eingetragen.

Der Prinz hatte über seinen Verwalter in aller Heimlichkeit einer jungen Bauerntochter Geld zukommen lassen. Das fand Lius hochinteressant. Für gewisse Liebesdienste hätte er niemanden je bezahlen müssen - aber wofür bekam sie dann das Geld?

Er war auf der richtigen Fährte, das wußte er genau. Aber jetzt mußte er etwas über Mirelia herausfinden. Ungerührt stöberte er weiter in den verwalterlichen Aufzeichnungen herum, bis sie unter Eirions Regierung vorgenommen worden waren. Monatlich wurde weiterhin derselbe Betrag einem Boten ausgehändigt, doch diesmal stand Mirelias Name deutlich dabei angegeben. Aber nicht nur das. Er entdeckte noch einen weiteren Namen: Kelion.

„Interessant“, murmelte Lius in seinen Bart. Er sah sich um und stellte fest, daß er noch immer allein war. Leise rollte er diese kleine Schriftrolle zusammen, dann hüllte er die ältere Schriftrolle des königlichen Verwalters darum und steckte noch das Schriftstück aus dem Bestand der königlichen Boten dazu. Er ließ die Aufzeichnungen unter seinem Mantel verschwinden und erhob sich langsam. Langsam stieg er die Treppe empor und ging zum Bibliothekarstisch herüber.

„Gibt es hier auch amtlich-bürgerliche Aufzeichnungen?“ erkundigte er sich ohne Umschweife.

„Was, meinst du Geburten- und Todesaufzeichnungen? Nein. Da mußt du schon unten in der Korbmachergasse ins Amtshaus gehen. Dort gibt es solche Aufzeichnungen. Hast du denn gefunden, was du suchst?“

„Nein“, log Lius, „deshalb sehe ich jetzt dort nach!“

„Viel Erfolg“, wünschte der Bibliothekar. Lius verließ die Archive und machte sich auf den Weg in die Korbmachergasse. Er war nur noch eine Nasenspitze von seinem Beweis entfernt, und dann wußte er, ob die Geschichte von Elinas neugeschrieben werden würde.

Vor dem kleinen, windschiefen Haus, über dessen Tür „Amtsmann“ angeschlagen stand, blieb er kurz stehen und ging dann hinein. Von einem Flur ab ging eine Tür, die in das Zimmer des Amtsmannes führte.

„Wer da?“ rief dieser. Lius trat ein und verneigte sich höflich.

„Mein Name ist Lius, werter Herr. Ich bedarf Eurer freundlichen Hilfe!“

„Worum geht es denn? Habt Ihr Neuigkeiten für das Amtsbuch?“

„Ihr habt vielleicht Neuigkeiten für mich. Ich suche Aufzeichnungen aus einem Dorf nahe der Stadt von vor vierhundert Jahren“, erklärte Lius ohne Umschweife.

„Vor vierhundert Jahren? Ob es das hier überhaupt noch gibt?“ rief der Amtsmann und kratzte sich am Kopf. „Da muß ich nachsehen.“

„Ich bräuchte auch das Amtsbuch von Megelion in den Jahren 1200 bis 1240“, fügte Lius hinzu.

„Das ist einfacher. Nun, wir wollen erst einmal sehen, was ich hier so habe! Im Keller liegt das alte Zeug“, erklärte der Amtsmann grinsend und ging voran. Lius folgte ihm etwas langsamer in die feuchten, modrig riechenden Katakomben, denn als Keller war das riesige Gewölbe unter dem Haus nicht mehr zu bezeichnen.

„So. Wie heißt denn besagtes Dorf?“ erkundigte der Amtsmann sich.

„Dragalon“, antwortete Lius.

„Ah! Das ist wirklich nicht so weit. Wo könnte das stehen? Hier sind Orte mit B... Ihr habt Glück, daß ihr nicht nach Dragalon reiten müßt, um das Amtsbuch einzusehen. Alle Aufzeichnungen, die älter als zweihundert Jahre sind, liegen hier, aber das sind gar nicht so viele!“

Lius runzelte die Stirn angesichts des riesigen Raumes, der mit deckenhohen Regalen vollgestopft war. Er fand, daß das sehr viele Amtsbücher waren.

„Hier! Daras, Derkon, Diron... Doluon... Dragalon! Hier ist das Amtsbuch“, rief der Amtsmann und holte ein riesiges, unglaublich dickes, schweres und grau verstaubtes Buch aus dem Regal. Lius staunte nicht schlecht. Sie gingen wieder nach oben, um bei Tageslicht darin zu suchen.

„Ich werde sehen, ob ich euch helfen kann. Aus welcher Zeit sucht ihr Aufzeichnungen?“

„Zwischen 800 und 830“, erwiderte Lius.

„So. Da hätten wir 700-750, 750-800... hier. Viel Erfolg!“ wünschte der Amtsmann und setzte sich an die andere Seite seines Tisches. Lius fuhr mit dem Finger über die unzähligen Eintragungen. Es waren Kinder geboren, die Leute hatten geheiratet, es waren Alte und Junge gestorben - es waren unglaublich viele Aufzeichnungen. Allerdings fand er im Jahre 804 einen Vermerk über die Geburt eines Bauernmädchens namens Mirelia. Das mußte sie sein, das Alter stimmte. Sofort blätterte er weiter bis ungefähr fünfzehn Jahre später. Viel früher konnte er keinen Vermerk über die Geburt ihres Sohnes Kelion finden. Im Jahre 821 wurde er fündig, Kelion war als Mirelias Sohn eingetragen, der Vater war als unbekannt angegeben.

Er hatte es gewußt! Es war tatsächlich so, wie er vermutet hatte. Jetzt mußte er nur weiter nach Kelion suchen, der hoffentlich im Dorf geblieben war. Dann fiel ihm jedoch ein, daß Mirelia 835 gestorben sein mußte, und tatsächlich fand er ihren Namen dort eingetragen. Von Unbekannten getötet stand noch dahinter.

Das hatte Agarin ihm ja bereits gesagt. 839 fand Lius die nächste Aufzeichnung über Kelion, der ein Mädchen aus dem Dorf geheiratet hatte. Zwei Jahre später stand ihr erstes Kind eingetragen, eine Tochter. Ihren Namen verfolgte Lius weiter. Er suchte nach den Namen und Daten vieler Menschen und es waren unzählige Generationen, die er in unterschiedlichen Dörfern und damit verschiedenen Amtsbüchern fand. Er mußte zuletzt sogar umgekehrt suchen, weil ein Bindeglied verloren gegangen war, aber dann fand er endlich den letzten Eintrag, der alles miteinander verband.

„Der elfte April: die Heirat Ragnors, geboren 1155, und Minira, geboren 1157.“

Das war es. Lius begann am ganzen Leib zu zittern. Er kratzte mit beinahe tauben Fingern den letzten Namen in die Wachstafel und legte dann beide vor sich. Ihm wurde beinahe übel, weil er nicht glauben konnte, was er sah.

Er hatte lückenlos Agarins Abstammung bewiesen. Die Wachstafeln waren übersät mit Namen und dazugehörigen Geburtsjahren. Er hatte es geschafft. Die Erstgeborenenlinie war intakt und damit vor jedem Gesetz gültig. Lius fuhr sich über die Stirn. Seine Finger waren eiskalt.

„Ihr seid ganz bleich!“ entfuhr es plötzlich dem Amtsmann, als er Lius‘ weiße Gesichtsfarbe bemerkte.

„Keine Sorge“, sagte Lius tonlos. „Es geht mir gut. Ich hätte nur nicht damit gerechnet, daß ich wirklich fündig werde.“

„Was habt Ihr denn gemacht, wenn ich fragen darf?“

„Ich habe eine Abstammungslinie über vierhundert Jahre zurückverfolgt. Mein Verdacht hat sich bestätigt. Es besteht eine Erstgeborenenabstammung!“

„Das hört sich spannend an. Welche Bedeutung hat das denn?“ Der Amtsmann war ahnungslos, womit Lius gerechnet hatte, denn so wagte er überhaupt nur, ihm Auskunft zu erteilen.

„Eine große. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie sehr Ihr mir geholfen habt!“ sagte Lius und klappte das Amtsbuch zu.

„Wenn Ihr die Wachstafeln noch benötigt, könnt Ihr sie mitnehmen. Ihr müßt die Abstammungslinie sicher vorzeigen!“

„Ja, wahrscheinlich muß ich das. Habt vielen Dank, mein Herr, ich bin unendlich dankbar für Eure Hilfe!“ sagte Lius und steckte die Wachstafeln zu den aus den Archiven gestohlenen Aufzeichnungen. Dann verließ er zitternd das Amtshaus. Er fühlte sich erst besser, als er an die frische Luft hinaustrat. Es dämmerte bereits. Er hatte den ganzen Tag mit seinen Nachforschungen verbracht und nicht einmal zu Mittag gegessen. Dementsprechend schwach fühlte er sich auch. Er überlegte, was er nun machen sollte, und kehrte erst einmal nach Hause zurück. Hunger verspürte er eigentlich nicht, weil er viel zu nervös war. Eigentlich gab es nur eins, was er tun konnte. Er mußte mit Amina sprechen. Sie mußte wissen, wer ihr Sohn war und warum er Alpträume hatte. Denn das waren eigentlich keine Träume, das waren Visionen, denn sie befaßten sich mit Dingen, die Agarin nicht wissen konnte.

Es war einer der schwersten Wege seines Lebens. Er wußte nicht, ob die junge Mutter ihm glauben würde. Unentschlossen klopfte er an die Tür. Es war Agarin, der ihm öffnete.

„Lius! Oh, Lius, hast du etwas herausgefunden?“ fragte er. „Du warst ja den ganzen Tag fort!“

„Ja, Agarin, das stimmt. Ich habe auch etwas herausgefunden, aber ich möchte erst einmal allein mit deiner Mutter sprechen, bevor ich mit dir rede.“ Lius wußte nicht, ob er dem Jungen die Wahrheit sagen sollte. So, wie er Agarin kannte, konnte er damit eigentlich nur Schaden anrichten.

„Lius!“ rief in diesem Moment Amina, die in den Flur getreten war. „Wie schön, dich zu sehen! Was hast du denn so Wichtiges über Agarins Traum gesucht? Er hat mir so merkwürdige Dinge erzählt!“

„Darüber möchte ich mit dir sprechen, mein Kind.“ Lius trat ein und schloß die Tür hinter sich. Sein Magen knurrte, als er den köstlichen Essensgeruch aus der Küche bemerkte.

„Warst du das?“ fragte Agarin grinsend.

„Ja, mein Junge. Ich habe heute noch gar nicht zu Mittag gegessen!“

„Aber Lius! Das darf doch nicht wahr sein! Komm mit in die Küche, es ist noch ein wenig übrig!“ rief Amina und winkte ihn herbei.

„Das geht doch nicht!“ widersprach der Alte, aber Amina blieb stur, hieß ihn, sich zu setzen und deckte erneut den Tisch. Der Eintopf war noch warm. Sie reichte Lius Brot, während Agarin ungeduldig danebenstand.

„Es ist wirklich besser, wenn du kurz in dein Zimmer gehst“, wandte Lius sich an den Jungen. „Einverstanden?“

„Muß ich?“ quengelte er.

„Geh nur, Liebling“, stimmte Amina zu. Agarin trottete hängenden Kopfes aus der Küche und schloß die Tür hinter sich. Bevor Lius jedoch zu essen begann, holte er die Schriftstücke und Wachstafeln aus seiner Tasche hervor und legte sie auf den Tisch.

„Du machst mir beinahe Angst, weißt du das?“ sagte Amina.

„Das tut mir leid, Kind. Es besteht kein Grund zur Angst. Aber es ist eine ernste Sache, über die ich mit dir sprechen muß, und er ist noch zu klein, um es jetzt so zu hören, wie ich es dir erklären muß“, sagte Lius und begann, zu essen.

„Agarin sagte mir, daß du aufgrund seines Traums den Unterricht ausfallen gelassen hast. Stimmt das wirklich?“

„Das stimmt genau. Weißt du von seinen Träumen?“

„Vom letzten hat er mir erst heute Mittag erzählt. Er sprach von König Eirion und einer seltsamen Prophezeiung. Woher weiß er denn davon?“

Lius seufzte. „Das ist es gerade. Von mir wußte er es nicht. Er konnte es gar nicht wissen, aber hat die Prophezeiung im Traum vollständig gehört. Er hat außerdem in seinen letzten Träumen Dinge gesehen, die er gar nicht wissen kann. Jedenfalls nicht alle. Vor allem hat er mir erzählt, daß er sehr präzise, teils außergewöhnlich grausame, in jedem Fall aber faktisch richtige Dinge gesehen hat. Und das ist in einem normalen Traum nicht möglich.“

Amina zögerte kurz und dachte nach. „Was meinst du damit?“

„Der jung schon in alten Werten gelehrt, sieht, was nur im Traum zu sehen. Das ist ger augenblickliche Schlüsselsatz dieser Prophezeiung. Die Prophezeiung wird wörtlich seit Eirion tradiert, doch letzthin geriet sie in Vergessenheit. Und dieser eine Satz ist der Schlüssel zu Agarin. Unwissentlich habe ich dafür gesorgt, daß er bereits als Kind in den alten Werten gelehrt wird, und nun sieht er Dinge, die einzig ihm bestimmt sind. So sieht er sie im Schlaf als Vision.“

„Du willst mir also damit sagen, daß mein Sohn im Traum Visionen hat?“

„Ja, Amina. Er würde nie so grausame Dinge träumen, und vom Mord an der Bauernfrau wußte bis heute nicht einmal ich. Aber es hat ihn gegeben, und daß Agarin ihn gesehen hat, war für mich das Zeichen, daß er derjenige ist, von dem die Prophezeiung spricht.“

Amina schüttelte den Kopf. Sie lachte verunsichert. „Nein, Lius, gewiß nicht. Da verwechselst du etwas. Mein Sohn ist gewiß nicht der Kern einer Prophezeiung! Was besagt sie überhaupt?“

Lius sah sich gezwungen, ihr die ganze Prophezeiung aufzusagen. Verwirrt sah Amina ihn an. „Jetzt weiß ich auch nicht mehr! Aber wenn doch von ihm die Rede ist - er ist ein Kind, wie könnte er einen König zum Feind haben?“

Im nächsten Augenblick begriff sie und saß wie starr. Für einen Moment sagte sie überhaupt nichts.

Lius brach die Stille. „Das ist mein voller Ernst, mein Kind.“

Amina schüttelte stumm den Kopf und schlug die Hand vor den Mund. Der Schreck saß furchtbar tief.

„Ich würde es dir nicht sagen, wenn ich nicht absolut sicher wäre“, erklärte Lius. „Agarins Visionen haben mich Nachforschungen anstellen lassen, die all das bewiesen haben.“

„Das ist unmöglich, Lius! Eirion war kinderlos!“ rief Amina. Ihre Hände begannen zu zittern.

„Eben doch. Er war mit einer Frau verheiratet, die nicht fähig war, Kinder zu gebären. Das ist richtig. Aber bevor er sie geheiratet hat, war er bereits Vater eines unehelichen Sohnes. Sieh hier. Es gab ein Bauernmädchen, das einen Sohn von ihm geboren hat.“ Lius nahm die Schriftstücke und zeigte Amina, was er aus all diesen Aufzeichnungen herausgelesen hatte.

„Das alles ist vertuscht worden, weil die Stellvertreter die Macht an sich gerissen haben. Siehst du, Mirelia wurde umgebracht. Das hat Agarin im Traum gesehen, und er hat Kelion gesehen. Dieser ist davongekommen. Er wußte nichts über seinen Vater und es gab nur einen Beweis für ihn. Agarin hat von diesem Beweis geträumt. Ein Bote ist damals umgebracht worden. Daraufhin hätte Kelion selbst sterben sollen, aber er ist irgendwie davongekommen. Ich habe die Erstgeborenenlinie seiner Abkömmlinge verfolgt. Sieh es dir an. Über vierhundert Jahre ist es mir gelungen, sie ausfindig zu machen.“ Lius legte Amina die Wachstafeln vor. Fassungslos ging sie die Namen und Jahreszahlen durch.

„Es geht auf Andrin zurück. Er war ebenfalls ein Erstgeborener.“

„Aber... Lius, warum trifft es Agarin und nicht seinen Vater?“

„Er hatte vermutlich nie Visionen, oder?“ Als Amina nickte, fuhr Lius fort. „Die Prophezeiung spricht von einem bestimmten Menschen. Er muß verschiedene Eigenschaften in sich vereinen. Sieh dir deinen Sohn an: Er weiß, was Ehre ist, er kennt Liebe, er ist ehrlich, klug - ich könnte die Aufzählung endlos fortführen. Er ist erwählt worden, deshalb hat er die Visionen. Vermutlich wird eine seiner nächsten Visionen ihm das Versteck des ersten Splitters des Kristalls der Könige zeigen. Nur er wird sie finden können.“

„Und wenn er den Kristall findet...“, murmelte Amina.

„Agarin ist auf dem besten Wege, das zu schaffen.“

„Ich kann es nicht glauben“, sagte die verunsicherte Mutter. „Er ist ein ganz normaler Junge!“

„Er ist noch viel zu jung, um überhaupt davon zu erfahren. Denn er wird nach Borun gehen müssen, wo immerhin zwei Kristallsplitter zu finden sind. Außerdem wird er sich anschließend Drognan stellen müssen, aber so, wie ich unseren König kenne, wird er Agarin tot sehen wollen.“

„Wir dürfen es ihm nicht sagen!“ rief Amina sogleich. „Er stirbt vor Angst, wenn er es weiß!“

„Davon gehe ich auch aus“, erklärte Lius. „Drognan darf nicht von Agarins Visionen erfahren. Das wäre sein Todesurteil, und vermutlich auch das unsere.“

„Drognan weiß das alles?“

„Natürlich. Ich selbst habe ihm als Kind von der Prophezeiung erzählt. Wir müssen alle Verschwiegenheit bewahren.“

„Was soll ich Agarin denn sagen?“ fragte Amina. „Ich kann ihm doch nicht sagen, daß davon sein Leben abhängt!“

„Doch, das kannst du. Aber den Grund muß er nicht wissen. Ich kann auch gern mit ihm sprechen, wenn du es möchtest.“

„Nein.“ Amina schüttelte den Kopf. Sie ließ Lius essen, dann verabschiedete er sich von ihr. Allerdings sagte er ihr noch, daß sie mit jeglichen Sorgen zu ihm kommen sollte. Er würde sich darum kümmern, Agarin auf alles vorzubereiten. Denn für beide, das hatten sie wortlos festgestellt, stand außer Frage, daß Agarin es tun sollte. Er sollte König werden, wenn es sein Schicksal war.

---ENDE DER LESEPROBE---