4,49 €
Ein Unbekannter schickt Pakete mit Leichenteilen an die Polizei in der kalifornischen Hauptstadt Sacramento. Schäden am Gewebe weisen darauf hin, dass sie über längere Zeit gekühlt wurden. FBI-Profilerin Libby Whitman fliegt mit ihrer Kollegin Julie Thornton in ihre Heimat, um die Polizei bei der Suche nach dem Unbekannten mit einem Täterprofil zu unterstützen. Mit von der Partie: Libbys Mutter Sadie, ehemalige Profilerin des FBI. Schnell ist ihnen klar: Der Täter ist zwar psychisch schwer gestört, aber er weiß, was er tut. Zahlreiche vermisste Obdachlose und Prostituierte lassen die Ermittler befürchten, dass der Mörder schon länger tötet – doch es offenbaren sich ihnen Abgründe, mit denen keiner von ihnen gerechnet hat ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Dania Dicken
Das Gefühl von Leichenkälte
Libby Whitman 19
Thriller
Nach einer Idee von Daniel Baschista
Selbst die schönste Seele wird in einem Käfig voller Hyänen zur Bestie.
Jalel Toujani
Prolog
Schmerz war alles, was sie kannte. Er war immer da. Überall. In den verschiedensten Formen und Stärken.
Es gab körperlichen Schmerz. An den konnte man sich gewöhnen, denn er hörte wieder auf. Das Pochen, wenn sie sich eine Ohrfeige gefangen hatte, ließ schnell nach. Was länger weh tat, war das Brennen zwischen den Beinen, wenn Dean wieder Liebe mit ihr machte.
So nannte er das. Sie hatte vergessen, wann es angefangen hatte, aber er hatte ihr immer wieder gesagt, dass es sein musste. Dass es gut war. Sie hatte sonst nie jemanden fragen können, ob das stimmte. Er hatte es ihr verboten, hatte ihr gesagt, dass sie dann riesigen Ärger bekäme.
Sie hatte es ihm geglaubt.
Was am längsten hielt, war der Schmerz in ihrer Seele, der kam, wenn er sie beschimpfte. Wenn er getrunken hatte und ihr an den Kopf warf, dass sie hässlich und dumm war und eine kleine Schlampe, die kein Glück verdiente. In solchen Momenten wünschte sie sich Mum und weinte dann, wenn ihr klar wurde, dass Mum nicht mehr da war. Nie mehr.
Doch damit konnte sie jetzt besser umgehen. Inzwischen traf es sie nicht mehr so sehr, wenn Dean sie wieder beleidigte und demütigte. Sie hatte so etwas wie einen unsichtbaren Panzer errichtet, der sie vor Deans Attacken beschützte. Dann fühlte sie gar nichts, war innerlich wie taub. Dadurch verschwand auch die Angst.
Angst kannte sie nicht mehr. Das war vorbei. Die musste sie auch nicht mehr haben.
Die hatten jetzt andere.
Freitag, 23. August
„In den letzten zwanzig Wochen haben Sie unter Beweis gestellt, dass Sie zu den Besten der Besten gehören. Sie haben unzählige Paragrafen und Gesetzestexte gelernt, haben sich mit der Psychologie des Verbrechens beschäftigt, Fallstudien betrachtet – und Sie haben trainiert. Hart trainiert. Das alles haben Sie getan, weil Sie im Dienste unserer wunderbaren Nation stehen wollen. Sie glauben an das Gute im Menschen, ohne zu vergessen, dass es auch das Böse gibt. Sie sind jetzt befähigt, als Bundesagenten eigenständig zu ermitteln und dafür zu sorgen, dass die Bürger unserer Nation sicherer leben können.“
Applaus erfüllte den Raum. Als die ersten im Publikum aufstanden, erhob sich auch Libby. Owen wirkte peinlich berührt, aber er stand auch nicht gern im Mittelpunkt. Dabei hatte er allen Grund, stolz auf sich zu sein, denn er hatte die Ausbildung an der FBI Academy mit Bravour gemeistert und würde jetzt von FBI Director Stanley Burns seine Dienstmarke ausgehändigt bekommen.
Libby wusste, dass Burns nach Möglichkeit immer persönlich anwesend war, wenn neue Agents ihren Abschluss machten. Schaffte er es nicht, schickte er mindestens den stellvertretenden Director, aber heute war er selbst vor Ort.
Die Absolventen wurden in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen. Adam, DJ und Amaya waren weit vor Owen an der Reihe, doch endlich war es so weit.
„Special Agent Owen Young“, las der Assistent des Directors vor und Owen ging nach vorn. Libby strahlte übers ganze Gesicht und lachte, als DJ begeistert auf zwei Fingern pfiff. Von der Seite konnte sie sehen, dass Owen kurz grinste, aber als er bei Director Burns auf der Bühne stand, hatte er sich wieder im Griff. Der Director schüttelte ihm die Hand, überreichte ihm die Dienstmarke und posierte kurz mit ihm für ein Foto, das ein eigens dafür abgestellter Fotograf von ihnen schoss.
In diesem Moment wirkte Owen verdammt stolz und strahlte eine große Selbstsicherheit aus. Er war dort, wo er sein wollte. Noch vor einem halben Jahr hatte es sich nicht so angefühlt, da war noch alles in der Schwebe gewesen und vom Gefühl her der Niederlage näher als dem Sieg. Owen hatte nicht nur seinen Job beim MPDC, sondern auch fast sein Leben verloren. Libby wusste, was für ein Glücksfall es war, dass er wieder gesund war und jetzt beim FBI die Chance bekam, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Owen verließ die Bühne mit seiner Dienstmarke in der Hand. Er hatte sich in Schale geworfen und trug seinen besten Anzug, der ihm wirklich verdammt gut stand.
Nach ihm waren nur noch zwei weitere Rekruten an der Reihe und als auch sie ihre Ehrung entgegengenommen hatten, war der offizielle Teil der Veranstaltung vorüber. Im Vorfeld hatten Owen und seine Kameraden beschlossen, ihren Abschluss in einer Bar in Dale City zu feiern, deshalb machten sie sich gleich dorthin auf den Weg.
„Kommt Amaya mit?“, fragte Libby, nachdem sie ins Auto gestiegen war.
„Ja, das schon. Ich weiß, dass sie heute Morgen ihre neuen Papiere bekommen hat, aber das will sie sich heute nicht nehmen lassen“, erwiderte Owen.
Libby nickte verstehend. An Amayas Stelle hätte sie ähnlich gehandelt.
Zwanzig Minuten später waren sie am Ziel angekommen und kurz darauf trafen auch die anderen ein. Es war bereits später Nachmittag und die Bar hatte gerade geöffnet, deshalb gingen sie hinein und sicherten sich einen guten Tisch. Sie waren die ersten Gäste.
„Endlich – ich kann es nicht fassen“, sagte DJ und ließ sich demonstrativ in seinem Stuhl hängen. „Ich will diese Seminarräume und vor allem die Yellow Brick Road nie wieder sehen!“
„Ich auch nicht“, stimmte Adam ihm zu. Sie wurden von der Kellnerin unterbrochen und gaben ihre Bestellung auf. Amaya bestellte sich einen alkoholfreien Cocktail, worin Libby sich ihr anschloss. Auf sie wirkte Amaya in diesem Moment etwas unsicher, was sie aber auch aufgrund ihrer Gesamtsituation verstehen konnte.
Vor etwa zwei Monaten war Owen zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, als Amaya beinahe von ihren Brüdern verschleppt worden wäre. Das Ziel: Eine Zwangsheirat in Pakistan – oder der Tod. Beides hatte Owen verhindert, indem er Amaya verteidigt hatte. Leider hatte er dabei auch ihren Bruder Hamza erschießen müssen, was für ihn folgenlos geblieben war – aber ihr zweiter Bruder Nadeem war noch auf freiem Fuß und hatte seine Schwester weiter mit dem Tod bedroht. Anfangs hatte Amaya für einige Tage bei Libby und Owen übernachtet, war dann aber in die FBI Academy zurückgekehrt. Seitdem hatte sie sie so gut wie nie verlassen, denn dort war sie sicher – aber das änderte sich jetzt.
„Owen sagte mir, du hast vorhin deine neuen Papiere bekommen?“, richtete Libby sich an die junge Agentin.
Amaya nickte. „Ja. Ganz schön seltsam, dass ich nun unter neuem Namen leben soll.“
„Ist das denn wie im Zeugenschutzprogramm?“
„Nein, nicht ganz. Es ist ja im Idealfall nur vorübergehender Natur ... so lange, bis Nadeem gefasst ist. Wo auch immer er sich herumtreibt.“ Amaya rollte mit den Augen und seufzte.
„Blöde Situation“, sagte Libby.
„Allerdings. Aber du weißt ja, wie das ist. Du hattest das ja schon so ähnlich.“
Libby lachte kurz. „Ja, stimmt. Bei mir zog sich das auch über vier Monate und ist trotz aller Vorsicht total eskaliert, wie du weißt ... das bleibt dir hoffentlich erspart.“
„Das hoffe ich auch. Leider sieht es ja nicht danach aus, als wäre Nadeem zwischenzeitlich mal zur Vernunft gekommen.“
Libby nickte. Sie wusste, dass ihr Bruder Amaya immer wieder gedroht hatte – nicht persönlich, weil er nicht an sie herankam, sondern nur auf seinem Facebook-Profil. Allerdings machte es das nicht besser.
„Und wie soll es jetzt beruflich weitergehen? Darfst du überhaupt darüber reden?“
„Ja, sicher ... wie gesagt, es ist nicht wie im Zeugenschutz. Sie haben mir heute den Vorschlag gemacht, dass ich mit in Owens Abteilung komme.“
Überrascht zog Libby die Brauen hoch. „Und, willst du das machen?“
„Ich denke, schon. Sie hätten mich natürlich am liebsten in der Abteilung, die auch islamistische Gefährder beobachtet, aber da würde Nadeem mich natürlich zuerst suchen. In der Abteilung für Kinderpornografie sucht er wohl nicht unbedingt.“
„Wollten sie dich nicht in einen anderen Bundesstaat versetzen?“
„Doch, den Vorschlag haben sie mir gemacht. Aber das will ich nicht. Ich betrachte das gerade als vorübergehende Maßnahme. Um Islamismus-Themen kann ich mich auch jetzt in Washington schon inoffiziell kümmern und wenn alles ausgestanden ist, will ich auch wieder unter meinem richtigen Namen leben – und vielleicht auch die Abteilung wechseln. Aber für den Anfang ist es so wohl am besten.“
„Worüber redet ihr gerade?“, fragte Owen, der Amayas Blick auf sich spürte.
„Über dich“, erwiderte sie und lachte. „Zumindest teilweise.“
„Ach so?“
„Ich bin vorhin noch nicht dazu gekommen, dir zu sagen, was heute Vormittag beschlossen wurde.“
„Nein. Erzähl.“
„Ich habe mich mit der Rekrutierungsabteilung darauf geeinigt, unter meinem neuen Namen mit in deiner Abteilung zu arbeiten.“
Owen machte ein überraschtes Gesicht. „Bei mir?“
„In der Hoffnung, dass du einverstanden bist ... ich wollte mit dir noch darüber sprechen, das war mir lieber, als dass die es tun.“
„Wieso das?“
„Weil sie ein wenig darauf setzen, dass du dann auch ein Auge auf mich hast ... und ich weiß, dass das viel verlangt ist. Ich wollte dich persönlich fragen, ob du dazu überhaupt bereit bist.“
„Puh“, machte Owen und lachte verlegen. „Ja, natürlich bin ich das. Ich meine, ich war auch schon zur Stelle, als deine Brüder da im Wald aufgekreuzt sind. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Und da ich vorhin mit halbem Ohr zugehört habe, würde ich dir darin zustimmen, dass es ja bestenfalls nur vorübergehend ist.“
Amayas Augen begannen zu leuchten. „Das ist wirklich okay für dich?“
„Selbstverständlich. Ich habe ähnliche Situationen schon mit Libby erlebt. Eigentlich könnte ich zwar drauf verzichten, das zu wiederholen, aber wir bekommen das schon hin.“
Libby sagte nichts dazu, denn sie stand der Angelegenheit mit gemischten Gefühlen gegenüber. Sie war stolz auf Owen und fand, dass ihn seine Einsatzbereitschaft sehr ehrte, aber sie hoffte auch, dass sich das nicht rächte und ihn irgendwie in Mitleidenschaft zog.
Ihre Getränke wurden gebracht und plötzlich zeigte Amaya Libby unter dem Tisch einen aufgeschlagenen Reisepass. Libby erkannte ein Foto von Amaya, doch der Name, auf den der Pass ausgestellt war, lautete Samina Rahman.
„Also fortan Samina?“, fragte Libby.
„Ein eigenartiges Gefühl, finde ich. Aber ja, so wird es jetzt erst mal sein. Ich habe jetzt auch zwei Dienstausweise, einer auf jeden Namen.“
„Das ist doch gut.“
„Ja, finde ich auch. Mal sehen, wie es weitergeht. Ich habe jetzt eine Wohnung drüben in Arlington und werde sehen, dass ich mit meinem ganzen Zeug morgen dort einziehe.“
Libby bot ihr Hilfe an, doch Amaya lehnte ab. Sie war zuversichtlich, damit allein zurechtzukommen.
Die Männer ergingen sich derweil in Geschichten aus ihrer Ausbildung und sie überlegten, sich etwas zu essen zu bestellen, als die Tür aufging und Julie und Kyle die Bar betraten.
„Hallo, alle zusammen“, sagte Kyle und begrüßte sie nacheinander mit Handschlag. Auch Julie hieß sie willkommen und beglückwünschte sie herzlich zur bestandenen Abschlussprüfung. Nachdem sie Owen umarmt hatte, musterte er sie neugierig und nickte anerkennend.
„Wird ja langsam“, sagte er und meinte ihren Bauch.
„Ja, klar. Es ist ja auch schon Halbzeit“, erwiderte Julie und lächelte. Libby freute sich sehr darüber, ihre Freundin so glücklich zu sehen und fand, dass die Schwangerschaft Julie ganz ausgezeichnet stand.
Sie rückten zusammen, so dass genug Platz für alle war. Libby freute sich, dass die beiden gekommen waren, um mit ihnen zu feiern und dachte kurz an Emma, die gerade mit Gracie zu Hause saß und nicht dabei sein konnte, doch sie hatte behauptet, dass das nicht so schlimm sei.
„Vor dir bin ich ja ab sofort nirgends mehr sicher“, sagte Kyle mit Augenzwinkern zu Owen.
„Nein, jetzt wirst du mich absolut nicht mehr los! Könnte ja auch gut sein, dass sich Schnittpunkte unserer Arbeit ergeben.“
„Sicher ... Kinderpornografie ist für mich mit das Schlimmste und ich ziehe meinen Hut vor dir, dass du dir das echt antun willst. Das kann ich mir irgendwie überhaupt nicht vorstellen. Vor allem nicht, wenn ich demnächst selber Vater bin ...“
Owen zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob es das noch schlimmer macht. Klar ist aber, dass jemand diese Arbeit machen muss. Ich halte sie für absolut wichtig und sinnvoll.“
„Das auf jeden Fall, keine Frage! Trotzdem ist das kein Pappenstiel. Ich hoffe, das wird alles so, wie du es dir vorgestellt hast.“
„Das klappt schon. Wir haben ja auch regelmäßig Supervision.“
Amaya wollte sich schon ins Gespräch einklinken, doch da wurde die Tür geöffnet und herein kam Benny Morgan. Owen stand auf und ging ihm entgegen, um ihn willkommen zu heißen.
„Hey ... wie schön, dass du gekommen bist! Das weiß ich wirklich zu schätzen“, sagte Owen zu seinem früheren Kollegen.
„Na klar! Hey, zeig mal deine Dienstmarke, darauf freue ich mich schon den ganzen Tag“, sagte Benny. Owen machte einen Schritt zurück, denn inzwischen hatte er die Dienstmarke schon am Gürtel befestigt. Benny betrachtete sie eingehend und nickte anerkennend.
„Als ich Correll heute gefragt habe, ob ich früher wegkann, wollte er natürlich wissen, warum. Ich habe ihm dann gesagt, dass ich mit dir den bestandenen Abschluss feiern will, was auch einige Kollegen mitbekommen haben – die Gesichter hättest du sehen sollen! Das war absolut göttlich.“
Owen grinste breit. „Das kann ich mir gut vorstellen. Die sind bestimmt geplatzt.“
„Sie waren kurz davor! Das ist einigen wirklich ein Dorn im Auge, dass ausgerechnet du als Störenfried jetzt beim FBI bist.“
„Karma, würde ich sagen“, erwiderte Owen schulterzuckend und lachte.
„Da hast du absolut Recht.“ Benny setzte sich und bestellte etwas zu trinken, dann sagte er: „Ich bin ehrlich: Du fehlst mir. Ich habe ganz lange gedacht, es war richtig, dich in deiner Aussage nicht zu unterstützen, weil ich ja gesehen habe, welche Konsequenzen es für dich hatte. Dabei hätte ich es gerade deshalb tun müssen. Dass du jetzt nicht mehr da bist, geschieht mir sozusagen recht ... das habe ich mir selbst eingebrockt.“
„Mir tut es auch leid“, sagte Owen. „Dich zum Partner zu haben war ein absoluter Glücksfall und ich muss zugeben, dass du ja nicht Unrecht hattest. Ich hatte auch Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob es wohl so sinnvoll war, mich allein gegen alle zu stellen. Du hast das realistischer eingeschätzt als ich, da muss ich ehrlich sein. Klug wäre es wohl gewesen, mit dir zu sprechen, bevor ich allein zu Correll gegangen bin.“
„Ich weiß nicht ... ich hätte wahrscheinlich versucht, es dir auszureden. Keine Ahnung, ob ich da den Mumm gehabt hätte, dich zu unterstützen.“
„Es sollte da gar keinen Mumm brauchen“, sagte Kyle. „Das ist ein Fehler im System. Ich bin froh, dass es letztlich ein gutes Ende für Owen genommen hat.“
„Und ich erst“, stimmte Libby ihm zu.
„Wann ergeht denn das Urteil gegen Brogan?“, fragte Kyle.
„Die Urteilsverkündung ist in zwei Wochen angesetzt. Da wäre ich gern dabei“, sagte Owen, was Libby gut verstehen konnte. Erst zwei Wochen zuvor waren sowohl Owen als auch Benny als Zeugen vor Gericht gewesen, um gegen Gerry Brogan auszusagen. Owen war Hauptbelastungszeuge, zumal Brogan auch auf ihn geschossen hatte, aber diesmal hatte er die Unterstützung von Benny bekommen, die zuvor gefehlt hatte. Owen hatte auch darauf verzichtet, eine Zivilklage gegen Brogan anzustrengen, weil er der Ansicht war, dass die Strafe, die ihn erwartete, empfindlich genug ausfallen würde. Er wollte nichts von Gerry Brogan, er wollte einfach nur seinen Frieden.
„Wie kommst du denn mit deinem neuen Partner zurecht?“, erkundigte Libby sich bei Benny.
„Es ist okay, aber er ist eben nicht wie Owen. Wir kommen gut miteinander aus – er kennt auch die ganze Geschichte, die habe ich ihm irgendwann erzählt. Steve hatte ja mit der Angelegenheit nichts zu tun, die ganze Abteilung wurde durchmischt und er kommt aus Detroit, ist also gänzlich unbefangen – und selbst einiges gewohnt.“
„Hat er denn in den Medien nichts mitbekommen?“, fragte Julie.
Benny schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Steve hat sich hinterher über die Sache informiert und tatsächlich würde er dich gern mal kennenlernen, Owen.“
„Ehrlich?“ Das überraschte Owen sichtlich, aber schließlich nickte er und sagte: „Warum eigentlich nicht. Es spricht ja nichts dagegen.“
„Ich kann mich ja mal mit ein paar Terminvorschlägen melden, dann gehen wir zu dritt was trinken.“
Damit war Owen einverstanden. Sie saßen fast den ganzen Abend gemütlich zusammen, ließen es sich gut gehen und redeten. Auf dem Heimweg setzte Libby sich hinters Steuer, denn Owen hatte sich zur Feier des Tages ein wenig Bier gegönnt. Betrunken war er nicht, im Gegenteil – er war eher nachdenklich.
„Ist es eigentlich okay für dich, dass ich Amaya vorhin zugesagt habe?“, fragte er. „Ich würde verstehen, wenn du Bauchschmerzen deshalb hättest.“
„Ja ... aber nicht mehr als wegen der Tatsache, dass du jetzt FBI-Agent bist und vorher Polizist warst. Wir führen beide kein langweiliges, risikoarmes Leben und wenn du Amaya helfen kannst, dann mach das. Das fällt doch gar nicht weiter ins Gewicht.“
Ungläubig sah Owen sie an und schüttelte grinsend den Kopf. „Du bist unglaublich.“
„Wieso? Das ist doch eine Tatsache. Wir machen beide gefährliche Jobs. Nadeem El Hamoud beunruhigt mich da nicht nennenswert.“
„Der hätte jeden Grund, wütend auf mich zu sein. Ich habe seinen Bruder erschossen.“
„Ja, aber das hat nichts damit zu tun, dass du ein Auge auf Amaya haben kannst. Selbst wenn du das nicht tun würdest, hättest du Hamza El Hamoud erschossen. Das lässt sich ja nicht mehr ändern – und bislang sieht es ja nicht so aus, als würde er sich für dich interessieren.“
„Nein, warum auch immer ...“
„Ich glaube, er projiziert seine ganze Wut auf seine Schwester. Für ihn wird Amaya an allem schuld sein. Er will sie bluten sehen für das, was passiert ist – insofern ist es sicher ganz gut, wenn jemand ein Auge auf sie hat.“ Libby wandte kurz den Blick von der Straße zu Owen und lächelte, was er erwiderte.
„Du hast Recht. Danke“, sagte er und griff nach ihrer Hand, die sie fest drückte. Im Augenwinkel sah Libby, wie Owens Dienstmarke an seinem Gürtel im Licht der vorüberhuschenden Straßenlaternen aufblitzte. Er hatte jeden Grund, diese Marke jetzt mit Stolz zu tragen – und auch Libby war verdammt stolz auf ihn. Er ließ sich niemals vom rechten Weg abbringen.
Montag, 26. August
Am Wochenende waren Owen und Libby zur Feier von Owens Einstand beim FBI auch mit Emma und Byron essen gegangen. Julie und Kyle hatten angeboten, in der Zeit auf die Kinder aufzupassen, worüber Libby sich sehr gefreut hatte. Sie wusste, dass sie immer auf ihre beste Freundin zählen konnte.
Als Owen am Morgen ins Auto stieg und wieder nach Washington fuhr, fühlte sich das auf eine Art seltsam und dennoch vertraut an. Sie wünschte ihm in Gedanken nur das Beste und machte sich mit Julie auf den Weg nach Quantico.
„Noch mal danke für Samstag“, sagte sie, als sie an einer Ampel vor der Freeway-Auffahrt standen.
„Ist doch kein Problem. Das war mir eine willkommene Gelegenheit zur Übung“, sagte Julie augenzwinkernd.
„So kann man das natürlich auch betrachten.“
„Ist doch so, oder nicht? Nein, im Ernst – ich fand die beiden ganz wunderbar. Es war toll.“
„Dann bin ich ja beruhigt.“
„Man hilft doch, wo man kann, oder?“
Libby lächelte ihr zu und fuhr auf den Freeway. Nach ihrer Ankunft in Quantico betraten sie das Büro und begrüßten die Kollegen. In der Kaffeeküche traf Libby auf Nick.
„Guten Morgen“, begrüßte er sie mit einem Lächeln. „Wie war es am Freitag? Ich wäre wirklich gern gekommen, aber es ging nicht.“
„Ist doch kein Problem. Ich meine, du weißt ja, wie das ist.“
„Sicher, aber ich hätte Owen gern selbst gratuliert. Schade, dass das nicht geklappt hat. Und das, wo ich ihm doch so lang in den Ohren gelegen habe!“
„Er ist hauptsächlich froh, es endlich geschafft zu haben. Und er ist stolz darauf, jetzt einer von uns zu sein.“
„Das kann er auch sein“, sagte Nick und ging mit seinem Kaffee in Richtung Tür. „Wir sehen uns gleich bei der Besprechung.“
Libby nickte und checkte noch kurz am Computer ihre Mails, bevor sie mit Julie und den anderen in den Meetingraum zur wöchentlichen Besprechung ging.
„Guten Morgen, ich wünsche uns allen einen guten Start in die neue Woche“, begann Nick und bat Alexandra, den Kollegen einen Überblick über die neuen Fälle zu verschaffen, die hereingekommen waren.
„Eine mit Sicherheit recht extreme Anfrage kam aus Sacramento, Kalifornien“, sagte Alex, nachdem sie schon zwei weitere Fälle vorgestellt hatte. „Die dortigen Ermittler vermuten, es mit einem Serientäter zu tun zu haben – und zwar mit einem von der ganz üblen Sorte, weshalb sie uns jetzt auch um Hilfe gebeten haben.“
Sie drückte eine Taste an dem Laptop, der vor ihr stand, woraufhin der Beamer ein Foto an die Wand warf. Es war ein Beweisfoto der Polizei, das zum Entsetzen aller ein abgetrenntes Ohr zeigte. Es wirkte blutleer und grau, nur die Wundränder schimmerten rot. Libby verzog angewidert das Gesicht. Im Ohrläppchen steckte noch ein kleiner silberner Ohrstecker.
„Das Ohr erreichte die Polizei in einem Paket, das normal durch die Post zugestellt wurde. Die Kollegen haben ein DNA-Profil erstellen lassen, jedoch ohne Treffer in der Datenbank. Auf dem Karton konnten zwar Fingerabdrücke gesichert werden, aber auch die blieben ohne Treffer. Und schon waren sie am Ende mit ihrer Weisheit.“
„Kann man ihnen nicht verübeln“, sagte Ian.
„Fingerabdrücke könnten ja auch von Postmitarbeitern stammen“, wandte Dennis ein und die anderen nickten zustimmend.
„Wer schickt denn abgetrennte Ohren an die Polizei?“, murmelte Jesse.
„Das fragt die Polizei sich auch. Die Ermittler haben ein Foto vom Ohrring veröffentlicht – bislang erfolglos“, sagte Nick. „Vor drei Wochen hat die Polizei dann noch ein Paket erhalten, diesmal mit einem Finger.“
Das Foto an der Wand wechselte und zeigte nun einen abgetrennten Finger. Julie rümpfte die Nase.
„Damit hat der Fall an Fahrt aufgenommen, denn auch hier gab es einen passenden Fingerabdruck an der Briefmarke – und nicht nur das, der Fingerabdruck stimmt mit einem überein, der am Paket des Ohrs sichergestellt werden konnte.“
„Also besteht ein Zusammenhang“, sagte Dennis.
„Ja, der Fingerabdruck beweist es. Ohr und Finger gehören jedoch nicht zur selben Person, deshalb geht die Polizei von einem Serientäter aus. Allerdings stammen beide Körperteile jeweils von Frauen und der Pathologe hat bei der Begutachtung etwas Interessantes festgestellt, nämlich Kälteschäden am Gewebe.“
„Kälteschäden? War der Finger eingefroren?“, fragte Jesse.
„Gekühlt, ja. Allerdings so kühl, dass es Schäden hinterlassen hat, und nach Mutmaßungen der Polizei auch entsprechend lange.“
„Also möchte er seine Opfer über längere Zeit behalten, auch nach ihrem Tod“, murmelte Libby.
„So sieht es aus“, sagte Nick. „Ich habe den Kollegen vom Sacramento PD zugesagt, dass jemand von uns vorbeikommt und die Ermittlungen unterstützt. Und da es in der Bay Area von San Francisco ist, habe ich schon so eine Ahnung, wer das vielleicht machen möchte.“ Mit diesen Worten blickte Nick zu Libby, die verlegen grinste.
„Oder traust du dir einen Fall mit diesen Merkmalen nicht zu?“
„Ich traue mir gerade einen Fall mit diesen Merkmalen zu“, sagte Libby entschlossen.
Nick wandte sich an Julie. „Wäre es für dich ein Problem, jetzt noch zu fliegen?“
Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht.“
„Ich fürchte nur, ich kann euch niemanden zur Seite stellen, der euch begleiten würde. Wir haben so viele Anfragen und offene Fälle, dass wir niemanden sonst erübrigen können.“
„Nicht schlimm“, behauptete Julie und tauschte einen zufriedenen Blick mit Libby. Das würden sie auch allein schaffen.
Nick gab ihnen grünes Licht, um Flüge zu buchen, was sie auch nach der Besprechung gleich in die Tat umsetzten. Mit der zuständigen Kollegin suchten sie nach Flügen und entschieden sich für eine Verbindung nach San Francisco, die früh am nächsten Morgen startete. Anschließend holten sie sich bei Nick die Kontaktdaten der verantwortlichen Ermittler in Sacramento und beschlossen, sie anzurufen. Es handelte sich dabei um die Detectives Federica Montoya und Grant Fields.
„Sacramento PD, Detective Montoya“, meldete sich die Polizistin.
„Guten Morgen, Detective, hier spricht Special Agent Julie Thornton von der Behavioral Analysis Unit in Quantico. Bei mir ist meine Kollegin, Special Agent Libby Whitman“, begrüßte Julie die Frau.
„Oh, warten Sie kurz. Grant? Ich habe das FBI am Telefon. Agent Thornton, ich stelle Sie auf Lautsprecher.“
Es knackte einmal in der Leitung, dann hörten sie eine Männerstimme. „Hallo, hier spricht Detective Grant Fields.“
Julie und Libby stellten sich erneut vor, bevor Julie erklärte: „Ihr Fall wurde uns gerade vorgestellt und wir wollten erst einmal Kontakt mit Ihnen aufnehmen, bevor wir Flüge buchen.“
„Ich bin ehrlich – das erleichtert mich“, sagte Fields. „Dieser Fall ist etwas, was uns alle hier ziemlich sprachlos gemacht hat. Mit brutalen Morden haben wir hier öfter zu tun, aber nicht mit Serienmördern, die uns Körperteile schicken.“
„Daran ist einiges außergewöhnlich. Deshalb würden wir gern vorbeikommen und Ihnen vor Ort unter die Arme greifen“, erklärte Libby.
„Sehr gerne“, erwiderte Montoya. „Darüber würden wir uns sehr freuen. Wann können Sie kommen?“
„Wir haben einen Flug morgen früh ins Auge gefasst, allerdings nach San Francisco. Die Flüge nach Sacramento landen alle erst abends, da verlieren wir ja einen ganzen Tag.“
„Ist überhaupt kein Problem, wir holen Sie auch gern in San Francisco ab“, sagte Fields. „Besser, als wenn Sie erst abends kämen. Wann würde der Flug dann morgen landen?“
Julie nannte dem Detective die Zeit und er versprach, mit Montoya dort zu sein, um sie abzuholen.
„Wir schauen uns dann heute die Fallakten schon mal etwas genauer an, damit wir morgen gleich starten können“, sagte Libby.
„Das hört sich gut an. Wir sind sehr froh darüber, dass Sie uns unterstützen. Dieser Fall hat eine Dimension, die uns Sorgen macht. Abgetrennte Gliedmaßen, die irgendwo gekühlt wurden ... korrigieren Sie uns, wenn wir falschliegen, aber wir gehen von einem sadistischen Frauenmörder aus, der garantiert nicht aufhören wird, wenn wir ihn nicht stoppen“, sagte Fields.
„Nein, darauf deutet in der Tat einiges hin“, sagte Libby. „Deshalb kommen wir auch nach Sacramento. Dieser Täter ist gefährlich und ich denke nicht, dass wir Erfolg haben, wenn wir von hier aus ein Profil erstellen. Das wird nicht reichen.“
„Dann sind wir froh, dass Sie kommen“, sagte Montoya.
Libby konnte ihm seine Erleichterung nicht verdenken. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie es hier mit einem Fall zu tun hatten, der den Erfahrungshorizont auch vieler bewährter Mordermittler einfach sprengte – und auch das Vorstellungsvermögen. Aber dazu waren die Profiler schließlich da.
Nachdem sie sich von den Polizisten verabschiedet hatten, suchten sie aus ihren Mails die Fallakten heraus, die Alex ihnen zuvor geschickt hatte. Erneut überlief ein Schauer Libby, als sie sich die Fotos anschaute. Das abgetrennte Ohr mit dem Ohrring widerte sie dabei fast noch mehr an als der Finger.
„Warum macht der Täter das?“, überlegte Julie laut. „Will er die Polizei verhöhnen? Seine Überlegenheit demonstrieren?“
„Davon würde ich auch ausgehen“, stimmte Libby zu. „Und er weiß auch genau, dass man ihm nichts anhaben kann, sonst würde er das ja nicht riskieren. Wann kam das erste Paket?“
„Vor sieben Wochen. Das zweite kam vor drei Wochen ... da ist bald wieder eins fällig, wenn das ein Muster ist.“
Libby nickte langsam. „Wäre möglich. Ich gehe auch davon aus, dass er noch mehr Opfer hat ...“
„Denkbar. Wenn es heißt, die Körperteile waren gekühlt, wäre es ja nicht abwegig, dass er noch einiges irgendwo versteckt.“
„Ich möchte es mir gar nicht vorstellen“, sagte Libby und lachte unangenehm berührt.
„Ich mir auch nicht ... manchmal frage ich mich wirklich, warum wir diesen Job machen!“ Nun lachte Julie ebenfalls.
Sie tauschten einen vielsagenden Blick, bevor sie sich wieder in die Fallakten vertieften.
„Wenn er die Leichen irgendwo kühlt und behält, müssen wir noch einen ganz anderen Aspekt berücksichtigen – Nekrophilie“, sagte Libby.
„Stimmt. Das ist durchaus denkbar. Anzunehmen ist, dass es hier um sexuelle Komponenten geht, wenn alle Opfer Frauen sind. Die Sache läuft schon länger, das verrät uns die Tatsache, dass die Leichen kühl gelagert wurden und bis jetzt nicht klar ist, wer sie sind. Was interessant ist, denn es wurde doch sogar ein Ohrring gefunden und trotzdem scheint niemand die Toten zu vermissen.“
„Entweder, weil es zu lang her ist oder weil er sich seine Opfer in Risikogruppen sucht – Obdachlose, Junkies, Prostituierte. Demjenigen, der uns hier schreibt, ist ja auch klar, was er uns schicken muss. Er schickt uns Dinge, aus denen wir DNA gewinnen können. Dass die Detectives die Opfer bis jetzt nicht identifiziert haben, verrät mir, dass sie an der falschen Stelle gesucht haben.“
„Ja, möglicherweise. Wir müssen unbedingt die Opfer identifizieren“, sagte Julie. „Wenn wir nicht wissen, wer sie sind, können wir nicht nach dem Täter suchen. Das wird morgen unsere erste Aufgabe sein. Wir müssen mit den Detectives überlegen, wie wir die Opfer finden können. Ich denke, beim Täter handelt es sich um einen heterosexuellen Mann. Er hat eine Möglichkeit, die Leichen zu kühlen, und er hat vielleicht nekrophile Vorlieben. Er kann kein unbeschriebenes Blatt sein. Der muss schon mal irgendwie auffällig geworden sein – Vergewaltigung, Tierquälerei, solche Dinge.“
Libby nickte nachdenklich und warf einen Blick auf die Uhr, bevor sie nach ihrem Handy griff. „Ich bitte Sadie mal, uns gleich anzurufen. Sollten wir es hier wirklich mit Nekrophilie zu tun haben, könnten wir ihre Unterstützung gut gebrauchen.“
Julie stimmte ihr zu und Libby schickte ihrer Mum eine Nachricht, bevor sie ihr Handy wieder weglegte und nachdenklich ins Nichts starrte.
„Dieser Täter weiß genau, was er tut. Er hat Übung darin und er ist selbstsicher genug, sich aus der Deckung zu wagen und sich angreifbar zu machen. Das würde er ja nicht riskieren, wenn er denken müsste, dass er sich deshalb in Gefahr begibt. Solche Täter zu erwischen, ist schwierig, denn häufig sind sie clever – aber sie neigen dann auch zu Überheblichkeit und Nachlässigkeit. Das könnte uns in die Hände spielen.“
„Da wirst du Recht haben“, murmelte Julie nachdenklich. „Das ist der Tätertyp, den ich auch am meisten hasse. Null moralisches Empfinden oder Empathie, aber jede Menge Selbstgerechtigkeit. Allerdings sind die auch immer recht gut mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.“
„Das stimmt“, pflichtete Libby ihr bei. „Aber du hast Recht, unser erster Schritt muss sein, die Opfer zu identifizieren. Wenn wir das nicht können, fehlt uns jeder Ansatzpunkt.“
Julie wollte schon etwas sagen, doch da vibrierte Libbys Handy. Es zeigte einen Anruf von Sadie an, den Libby gleich annahm.
„Guten Morgen, du bist auf Lautsprecher“, begrüßte sie ihre Mum.
„Guten Morgen! Wer ist denn alles da?“
„Im Moment nur Julie und ich“, erwiderte Libby.
„Hallo, Julie. Was kann ich denn für euch tun?“
„Wir haben hier einen Fall auf dem Tisch, der genau deine Kragenweite sein dürfte – und wir werden auch in die Bay Area kommen, um das Sacramento PD bei den Ermittlungen zu unterstützen“, erklärte Libby.
„Meine Kragenweite? Was muss ich mir denn darunter vorstellen?“
Gemeinsam schilderten Libby und Julie ihr die Merkmale des Falles, woraufhin Sadie sagte: „Okay, ich verstehe, warum ihr da an mich denkt. Wie gut schätzt du deine eigenen Kenntnisse im Fall Charles Fletcher ein, Libby?“
„Eigentlich gut, aber du hast einen entscheidenden Vorteil: Du hast ihn persönlich erlebt. Das habe ich zwar auch, aber anders.“
„Ich weiß, was du meinst. Ich habe ihm in die Augen gesehen und war dabei, als er seinen Vorlieben entsprechend getötet hat. Das ist schon anders ... Wann kommt ihr denn her?“
„Wir landen morgen früh in San Francisco.“
„Okay ... diese Woche sind ja noch keine Vorlesungen, deshalb könnte ich nach Sacramento kommen und euch bei den Ermittlungen unterstützen, wenn ihr mögt.“
„Das würdest du tun? Das wäre ja großartig!“
„Das lässt sich sicher einrichten. Wenn das für alle Beteiligten in Ordnung ist, stoße ich gern dazu.“
„Wir werden die Detectives darüber in Kenntnis setzen, aber die sind froh über jede Hilfe, die sie kriegen können. Der Fall erscheint ihnen sehr monströs.“
„Das kann ich verstehen. Wenn man sich bewusst macht, was höchstwahrscheinlich noch dahintersteckt, muss es einem so gehen. Ich mache mir später ein paar Gedanken dazu und dann sehen wir uns morgen, würde ich sagen! Wo kommt ihr unter?“
„Oh, darüber haben wir uns noch gar keine Gedanken gemacht. Aber ist Sacramento nicht etwas zu weit entfernt, um bei euch in Pleasanton zu bleiben?“
„Ich fürchte, da hast du Recht ... aber ich wollte es euch zumindest anbieten.“
„Andererseits – wenn Sadie dabei ist, fährt sie die Strecke doch auch“, wandte Julie ein.
„Stimmt ... na, wir denken mal drüber nach“, sagte Libby. „Ich würde natürlich gern bei euch in Pleasanton bleiben, wenn das irgendwie sinnvoll machbar wäre.“
„Das müsst ihr ja nicht jetzt entscheiden, aber Julie hat natürlich irgendwie Recht“, sagte Sadie und lachte. Libby grinste ebenfalls, weil sie ihrer Mum zustimmen musste.
„Ich freue mich, dass wir uns morgen sehen“, sagte sie.
„Ja, ich mich auch. Das ist eine schöne Überraschung, auch wenn die Umstände es nicht sind.“
„Bisher haben wir ja noch jeden Fall lösen können“, sagte Libby optimistisch. „Warum sollte dieser da eine Ausnahme bilden?“
Julie lachte. „So muss man das sehen!“
Bis zum Nachmittag hatten sie alles organisiert, was ihre Reise betraf. Sie hatten Flüge gebucht und die Detectives Fields und Montoya gefragt, ob sie etwas gegen Unterstützung von Sadie einzuwenden hätten. Weil die beiden dieses Angebot nur zu gern angenommen hatten, hatten sie beschlossen, tatsächlich auch bei den Whitmans zu bleiben, was Libby natürlich enorm freute.
Kurz vor Feierabend erschien Nick noch einmal bei ihnen und baute sich mit überraschend ernster Miene vor Julies Schreibtisch auf.
„Vorhin hatte ich eine hitzige Diskussion mit der Personalabteilung, als deine Flugbuchung auf dem Tisch lag. Eigentlich will man dich gar nicht fliegen lassen.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte Julie entgeistert.
„Sie lassen dich nur unter der Voraussetzung fliegen, dass du dich in Sacramento im Hintergrund hältst. Sobald sich abzeichnet, dass eine Situation riskant werden könnte, bleibst du ihr bitte fern.“
Jetzt entspannte Julie sich sichtlich. „Ich hatte nicht vor, mich in Gefahr zu bringen. Vor allem jetzt nicht.“
„Ja, das war auch die Sorge der Kollegen. Ich muss mich darauf verlassen können. Man hat mir gerade klipp und klar gesagt, dass das eigentlich nicht geht und du an den Schreibtisch gehörst.“
Mit einem Schlag war Julies Entspannung wieder verschwunden. „Tu mir das bloß nicht an, ja?“
„Tue ich nicht. Aber bleib bitte im Zweifel in Sacramento am Schreibtisch, versprichst du mir das?“
„Natürlich. Kein Problem.“ Julie lächelte ihn an, doch als Nick sich zum Gehen gewandt hatte, wich die Spannung aus ihr und sie verdrehte die Augen.
„Jetzt weiß ich, wie du dich letztes Jahr gefühlt haben musst. Ich will diese ganze Fürsorge überhaupt nicht haben!“
Libby lachte. „Ja, das verstehe ich. Diesen Luxus hat man ja sowieso nur bei einer unkompliziert verlaufenden Schwangerschaft ... wäre es mir bedeutend schlechter gegangen, hätte ich mich vielleicht gar nicht so gesträubt.“
„Ja, das ist der springende Punkt. Ich fühle mich gut. Ja, ein paar Dinge sind etwas anders, aber ansonsten merke ich kaum, dass ich schwanger bin. Das ist für mich nichts Außergewöhnliches im Moment.“
„Kommt noch“, prophezeite Libby augenzwinkernd.
„Ich weiß ... Aber ich verstehe Nick und ich habe ja selbst kein Bedürfnis mehr nach Ärger. Da hat mir das in London letztens wirklich gereicht.“
Libby schnaubte verächtlich. „Mir auch ... es beruhigt mich aber, zu wissen, dass alle Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“
„Oh ja“, stimmte Julie zu. „Das kriegen wir in diesem Fall hier hoffentlich auch noch hin ...“
„Das wird schon“, sagte Libby. „So gruselig der Fall klingt, so sehr reizt er mich auch. Diesem Täter würde ich gern das Handwerk legen.“
„Das schaffen wir.“ Julie war da sehr zuversichtlich.
Nachdem sie alle wichtigen Unterlagen eingepackt hatten, traten sie den Heimweg an. In Gedanken ging Libby bereits das Gepäck durch, das sie einpacken musste. Der nächste Tag würde anstrengend werden – sie mussten morgens in aller Frühe am Flughafen sein, aber durch die Zeitverschiebung würde der Tag sich sehr in die Länge ziehen.
Dennoch freute sie sich auch. Sie würde ihre Familie wiedersehen – das bedeutete ihr viel.
In Springfield angekommen, verabschiedete sie sich von Julie und ging ins Haus. Sie war überrascht, dass Owen schon dort war. Er saß im Wohnzimmer auf dem Teppich und spielte mit Gracie und Micah. Aus der Küche duftete es köstlich.
„Hey“, begrüßte Libby ihn mit einem Lächeln und schaute sich um. „Wo ist Emma?“
„Telefoniert mit ihren Eltern. Ich hab ihr vorhin angeboten, hier mal zu übernehmen, was besonders unsere kleine Prinzessin auch sehr zu freuen scheint.“ Owen tippte Gracie auf die Nase, was ihr ein fröhliches Glucksen entlockte. Sie drehte sich auf den Bauch und versuchte, in Libbys Richtung zu krabbeln. Libby hockte sich auf den Boden und nahm ihre Tochter in Empfang, woraufhin Gracie freudig brabbelte. Sanft nahm Libby sie auf den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Micah war derweil damit beschäftigt, mit einem Knisterbuch zu spielen.
„Wie war dein Tag?“, erkundigte Libby sich bei Owen.
„Noch harmlos, würde ich sagen. Wir hatten eine Vorstellungsrunde, man hat uns alles gezeigt. Amaya ist auch zur Sicherheit unter ihrem neuen Namen und ohne jede Information zu ihrem Hintergrund vorgestellt worden. Die Kollegen halten sie für Samina Rahman.“
„Macht doch auch am meisten Sinn“, fand Libby.
„Ja, natürlich“, stimmte Owen zu. „Aber ich muss sagen, dass mein Respekt vor der Aufgabe, die dort auf mich wartet, immer mehr wächst.“
Libby nickte langsam. Das überraschte sie nicht. „Du wirst den schlimmsten Alptraum der Menschheit jagen.“
„Und das aus deinem Munde!“ Owen lachte.
„Kinderpornografie ist absolut widerwärtig und abstoßend. Ja, in meinem Job erlebe ich auch viele schlimme Dinge, aber so etwas ist einfach nur grauenhaft.“
„Die Supervisionsangebote sind vielfältig.“
„Die werdet ihr auch brauchen. Ihr werdet mit äußerst belastenden Dingen konfrontiert, aber das weißt du ja ... und wenn ich dir helfen kann, werde ich das auch immer gern tun“, sagte Libby.
„Ich weiß. Ich war heute überrascht, zu sehen, dass doch verdammt viele der Kollegen selbst Kinder haben.“
„Vielleicht ist die Motivation dann noch größer.“
„Ja, so äußerten sie sich auch. Ich finde es eigentlich eher belastend ... jedenfalls habe ich das Gefühl, dass ich dünnhäutiger geworden bin seit Gracies Geburt.“
„Geht mir ähnlich“, stimmte Libby ihm zu.
„Ich war jetzt so lang Mordermittler und weiß, wie grausam die Welt sein kann – aber dass ich jetzt Vater bin, verändert meinen Blick auf die Welt. Ich will für Gracie nur das Beste, am liebsten für alle Kinder auf der Welt.“
„Aber dann bist du genau richtig in deinem Job, denn da kannst du etwas dafür tun, die Welt für Kinder sicherer zu machen.“
Owen lächelte. „Da hast du auch wieder Recht.“
„Du kriegst das schon hin. Du wirst mit genau so viel Herzblut an diese Sache gehen, wie du auch in Mordfällen ermittelt hast.“
„Ja, bestimmt. Man wird uns auch langsam an die Sachen ranführen – wir werden erst mal einige Ermittlungen begleiten und in der Hauptsache Papierkram machen. An tatsächliches kinderpornografisches Material will man uns langsam heranführen.“
„Das ist gut“, sagte Libby. Es klingelte an der Tür und Owen ging hin, um seinen Bruder hereinzulassen. Byron kam regelmäßig abends vorbei, um seinen Sohn abzuholen und mit der Familie zu essen. Für Libby war es inzwischen ein liebgewonnenes Ritual.
„Hey“, begrüßte Byron sie beim Betreten des Wohnzimmers. „Wie war dein erster Tag? Schon jemanden eingebuchtet?“
Owen lachte. „Nicht wirklich. Wir werden uns jetzt erst mal einarbeiten.“
„Wir? Du und deine Kollegin?“
„Richtig. Amaya wird zwar nur halb in unserer Abteilung mitarbeiten, weil sie auch Islamismusthemen auf dem Tisch hat, aber ja, sie ist mit dabei.“
Byron hatte Amaya kennengelernt, als sie einige Tage bei Owen und Libby übernachtet hatte und sie war ihm auf Anhieb sympathisch gewesen.
„Gibt es denn nichts Neues, was ihren Bruder angeht?“, erkundigte er sich.
Owen schüttelte den Kopf. „Bis jetzt leider nicht.“
Byron machte ein unwirsches Geräusch. „Was gibt es zu essen?“
„Emma hat einen Kartoffelauflauf gemacht“, sagte Owen.
„Und wie viele Serienmörder hast du heute verhaftet?“, erkundigte Byron sich bei Libby, woraufhin sie lachte.
„Gar keinen, aber das könnte sich bald ändern. Wir haben einen neuen Fall.“
„Will ich wissen, worum es geht?“, fragte Byron grinsend. In diesem Moment erschien auch Emma im Wohnzimmer und begrüßte Libby und Byron.
„Um auf deine Frage zurückzukommen“, hakte Libby wieder ein, „wahrscheinlich willst du nicht wissen, worum es in meinem neuen Fall geht. Nur so viel: Vermutlich ist er ein Serientäter und er hat der Polizei in Sacramento Trophäen geschickt.“
„Ist ja bescheuert“, fand Byron. „Wer würde so etwas machen?“
„Sacramento?“, wiederholte Owen und Libby nickte.
„Julie und ich fliegen morgen früh.“
„Okay. Wir werden ja hier zurechtkommen“, sagte Owen zuversichtlich und grinste, als er sah, wie Byron seinen Sohn naserümpfend hochhob.
„Du brauchst dringend eine frische Windel, junger Mann.“
Nachdem er mit Micah verschwunden war, richtete Owen sich erneut an seine Frau. „Das ist aber wirklich ungewöhnlich, dass ein Täter von sich aus auf sich aufmerksam macht, oder?“
„Ungewöhnlich ja, aber das kommt tatsächlich gelegentlich vor. Es sind eher die Gesamtumstände, die dem Sacramento PD Kopfzerbrechen bereiten.“
„Wieso?“
„Weil er der Polizei Körperteile geschickt hat.“ Libby sagte das nur, weil Emma in die Küche gegangen war, um nach dem Auflauf zu schauen. Owens angewiderter Gesichtsausdruck verriet ihr, dass es keine schlechte Idee gewesen war, das außerhalb von Emmas und Byrons Hörweite zu sagen.
„Sagtest du nicht gerade noch, ich würde bald den schlimmsten Abschaum der Menschheit jagen? Da bin ich mir irgendwie nicht mehr so sicher ...“
„Ja, das rangiert durchaus auf derselben Ebene, da hast du wohl Recht.“ Libby grinste schief. „Das Sacramento PD zeigte sich äußerst besorgt deshalb. Die Opfer sind noch nicht identifiziert, aber wir befürchten, dass es noch mehr gibt. Er hat der Polizei ein Ohr und einen Finger geschickt und am Gewebe sind in der Pathologie Kühlungsschäden aufgefallen.“
Entsetzt verzog Owen das Gesicht. „Okay, ich glaube, ich habe genug gehört.“
Libby verstand und ging nicht weiter ins Detail. Sie halfen Emma dabei, den Tisch zu decken und Owen erkundigte sich nach weiteren Details der Reiseplanung. Kurz darauf saßen sie gemeinsam am Tisch und probierten von Emmas Auflauf.
Es war ein Moment, den Libby sehr genoss. Mit ihrer Familie zusammen zu sein, erinnerte sie immer daran, wofür sie ihren Job machte.
Dienstag, 27. August
Libby hasste es, früh aufzustehen. Noch zu Hause hatte sie sich von ihrer Familie und Emma verabschiedet und war mit Julie und Kyle zum Flughafen gefahren. Der Flug war pünktlich gestartet und landete ebenso pünktlich um kurz nach elf in Kalifornien. Es war ein seltsames, wehmütiges Gefühl für Libby, in San Francisco zu landen. Der Anblick der Bay Area durchs Fenster des Flugzeugs weckte ein vertrautes Gefühl in ihr. Sie war froh, jetzt dort zu sein.
Nachdem sie ihr Gepäck geholt hatten, verließen sie die Abfertigungshalle und hielten Ausschau nach den Ermittlern. Während sie noch suchten, bemerkte Julie, dass eine stämmige Latina ihnen zuwinkte. An ihrem Gürtel bemerkte Julie eine Polizeimarke.
Sie gab Libby einen Stoß. „Da vorn.“
Libby nickte und folgte ihrer Freundin zu den Polizisten, die ihnen gleich freundlich zunickten.
„Agent Whitman, Agent Thornton – es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen“, begrüßte Federica Montoya sie herzlich. Auch Grant Fields hieß sie mit einem kräftigen Händedruck willkommen.
„Hatten Sie einen guten Flug? Sie müssen ja in aller Frühe aufgestanden sein“, sagte Fields.
„Ja, es war ziemlich früh, aber der Flug war ganz entspannt“, sagte Julie. Detective Fields ging voran und hob die Trolleys in den Kofferraum des Dienstwagens, der vorne an im Parkhaus stand. Sie verließen das Flughafengelände und folgten der Interstate in nördlicher Richtung nach San Francisco. Wehmütig blickte Libby auf die Bucht zu ihrer Rechten.
„Wir sind froh, dass Sie da sind“, sagte Detective Montoya. „Die ganze Art und Weise, in der das hier angefangen hat, sagt uns, dass das ein großer Fall ist. Wir suchen hier einen Täter, der zu allem bereit ist und der nicht aufhören wird, wenn wir ihn nicht dingfest machen. Das macht mich nervös.“
„Sie stellt sich ständig vor, dass er jetzt gerade irgendwo ein Opfer festhält und misshandelt“, erklärte Fields.
Julie und Libby tauschten einen Blick und Libby sagte: „Das ist leider nicht ganz unwahrscheinlich, aber deshalb sind wir auch hier. Um das zu beenden.“
„Ich finde es beruhigend, dass Sie mehr Erfahrung mit solchen Fällen haben. Das macht mir Hoffnung, diesen Täter bald zu finden“, sagte Fields.
„Wir werden nichts unversucht lassen“, sagte Julie.
„Und es ist gut, dass uns auch Ihre Mutter unterstützt, Agent Whitman“, sagte Fields und Libby lächelte.
„Ich habe ihr gesagt, wann wir landen. Sie wird in Sacramento sein, wenn wir eintreffen.“
„Würden Sie uns vom Fall Porter erzählen?“, fragte Detective Montoya. Libby und Julie waren einverstanden und berichteten von den Briefen, die Davids Innenperson Dave Julie geschrieben hatte. Während sie durch San Francisco und schließlich über die Bay Bridge fuhren, erzählten sie vom ganzen Fall. Fields beobachtete Libby im Rückspiegel und fragte irgendwann: „Woher genau kommen Sie?“
„Aus Pleasanton. Meine Eltern und meine kleine Schwester leben dort.“
„Verstehe. Kennen Sie Sacramento?“
Libby schüttelte den Kopf. „Nein, dorthin habe ich es tatsächlich nie geschafft. Ich bin sehr gespannt.“
„Es wird Ihnen sicher gefallen.“
Libby stimmte ihm zu. Sie folgten der Interstate 80 fort von der Bucht von San Francisco und nach Norden in Richtung Sacramento. Bislang hatte Libby noch nie einen Grund gehabt, die kalifornische Hauptstadt zu besuchen, aber sie freute sich darauf.
„Mich lässt dieser Fall nicht los“, sagte Detective Montoya. „Das erste Paket hat uns schon ziemlich schockiert, aber als dann noch das zweite kam, wussten wir, wir haben ein Problem. Ich kriege jetzt einfach diese Vorstellungen nicht aus dem Kopf, was der Täter seinen Opfern antun könnte. Dass er sie entführt, einsperrt, sie vielleicht vergewaltigt und irgendwann tötet, nur um ...“ Montoya räusperte sich. „Um nach ihrem Tod weiterzumachen und sie zu zerstückeln. Das ist pervers.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Du spekulierst aber auch viel“, sagte Fields.
„So etwas gibt es! Sie hatten doch sicher schon so einen Fall, oder?“, fragte Montoya und drehte sich zu Libby und Julie um. Während Julie bloß die Brauen hochzog, nickte Libby.
„Ja, vor inzwischen drei Jahren. Ich habe mit meinen Kollegen gegen Randall Howard und Vincent Howard Bailey ermittelt. Erinnern Sie sich?“
Montoya überlegte kurz und nickte. „Stimmt, das war ebenfalls ein Mörderpaar. War Howard nicht auch so ein Perverser, der die Frauen in seinen Keller gesperrt hat?“
Libby nickte. „Teilweise jahrelang. Er hat sie gefoltert und verstümmelt, gemeinsam mit seinem Cousin.“
Diesmal spürte sie Fields’ Blick im Rückspiegel auf sich, während Montoya sagte: „Bailey ist doch entkommen und hat monatelang weiter gemordet, bevor er gefasst werden konnte, nicht wahr?“
„Stimmt“, sagte Libby bloß. Fields starrte sie noch immer an, weshalb sie hinterher schob: „Sie erinnern sich richtig, Detective.“
Fragend blickte Montoya zu ihrem Partner. „Woran?“
„Bailey hat damals eine FBI-Agentin entführt“, sagte Fields. „Deshalb stand er doch auf der Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher.“
„Nicht ganz“, korrigierte Libby.