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Nur knapp entgeht die junge Heilerin Arinaya ihrer Entführung durch die Handlanger des königlichen Beraters Linthizan. Der Zeitpunkt ihrer Geburt macht sie möglicherweise zu einer Nachfahrin der verschollenen Vandhru, einem unsterblichen Magiervolk. Um Arinayas Abstammung zu beweisen, machen sich der gerissene Nilas und sein bester Freund Marthian mit ihr auf die gefahrvolle Reise zum Orakel im Tempel des unendlichen Schlummers ...
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Dania Dicken
Die Tochter der Unsterblichen
Unsterblichen-Epos 1
Fantasyroman
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„Selbst wenn du es gewußt hättest, was hättest du tun wollen? Was hätten wir tun wollen? Wir richten doch nichts gegen Linthizan aus“, sagte Marthian.
Nilas scharrte unzufrieden mit dem Stiefel auf dem Boden herum. „Er war schneller, gut und schön. Aber wir werden sie suchen und befreien, ehe er dahinterkommt, daß sie diejenige ist, die er sucht. Wir verstecken sie! Vikormos wird sie Magie lehren und ...“
„Das schaffen wir nicht, Nilas“, erhob Marthian Einspruch. „Wir sind halbe Kinder. Linthizan verspeist uns doch zum Frühstück! Verstehst du? Auch du bist nicht gerissen genug für ihn.“
Nilas murrte laut. Natürlich war er gerissen. Er war auch dazu in der Lage, einem Lahmen seinen Stock zu stehlen, ohne daß dieser den Verlust überhaupt bemerkte. Nachdenklich blickte er zu Marthian. Sie hatten doch bereits so vieles geschafft, warum vertraute sein Freund nicht weiter in ihre Fähigkeiten? Sie waren zu allem entschlossen und mutig. Wagemutig vielleicht. Aber kämpfen konnten sie alle.
„Ich lasse nicht zu, daß dieser Bastard seine scheußlichen Absichten in die Tat umsetzt. Wozu hast du dein Schwert?“ beharrte er und forschte in Marthians Gesicht nach einer Reaktion. „Wozu habe ich meine Dolche? Und wir dürfen Zaruk nicht vergessen, der ...“
Ein vertrautes Rauschen erklang, doch noch ehe sie den Dremenol sehen konnten, vernahmen sie seine voluminöse Stimme. Sie zitterte vor Aufregung und Sorge.
„Los, an die Waffen! Wir bekommen Besuch!“
Nilas zog sofort seine beiden Dolche. Mit einem gewaltigen Aufprall sauste vor ihm Zaruk nieder und wirbelte einigen Staub dabei auf. Die Katzenaugen des Dunkelschleicherjägers zeugten von Entschlossenheit. Flink faltete er seine riesigen Flügel auf dem Rücken zusammen, zog sein Langmesser und drehte sich in die Richtung der Feinde.
„Meine Antwort lautet noch immer: Nein!“
„Komm schon, das kann nicht dein Ernst sein! Arinaya, du könntest morgen damit aufhören, im Dreck zu wühlen. Du hättest Diener, die dir jede Arbeit abnehmen würden! Was gefällt dir daran nicht?“ Moram hob hilflos die Hände, während er einen mitleiderregenden Blick aufsetzte. Arinaya stellte sich wieder aufrecht und warf das kleine Büschel Vilkibuskraut in den Korb. Entschlossen stemmte sie die Hände in die Seiten und erwiderte Morams Blick.
„Du, Moram. Ich empfinde nicht mehr als Sympathie für dich!“ Und das war noch gelogen, dachte Arinaya stumm. „Ich muß den Mann lieben, den ich heirate. Außerdem wühle ich nicht im Dreck, und solange du das nicht verstehst, werden wir uns niemals einig.“
„Aber was tust du schon? Du pflückst Blümchen!“ brauste Moram ungeduldig auf. „Und Liebe vergeht, sie ist nur eine Täuschung der Sinne!“
Das konnte nur jemand sagen, der sie nie kennengelernt hatte, schoß es Arinaya durch den Kopf. Sie sah Moram fest in die Augen und murmelte gefährlich leise und mit einem überaus freundlichen Lächeln: „Du solltest jetzt besser gehen, damit ich weiter Blümchen pflücken kann.“
Moram schien tatsächlich die Lust zu verlieren, zuckte mit den Schultern und sagte: „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.“
„Wohl kaum“, erwiderte Arinaya seufzend. Endlich drehte der junge Mann sich um und stapfte davon. Kopfschüttelnd schaute Arinaya ihm für einen Moment hinterher, ehe sie sich wieder vor die Vilkibuspflanze kniete und weiter nach Büscheln voller starker Blätter und schöner Blüten suchte. Der scharfe Saft der Pflanze mit seinem medizinischen Geruch ließ ihr die Augen tränen. Vom vielen Pflücken hatte sie schon ganz grüne Finger, so wie meistens. Aber sie liebte diese Arbeit. Ein Jahr, bevor sie heiratsfähig geworden war, hatte sie sich bereits dafür entschieden, die Kunst der Kräuterheilung zu erlernen. Doch ihr Wissen ging inzwischen weit darüber hinaus. Sie war ebenfalls gelehrt in der Kunst der Wundheilung und war bereits bei einigen Entbindungen zugegen gewesen, so daß sie in nicht allzu ferner Zukunft selbst Kinder auf die Welt würde holen können.
„Er ist nicht höflich“, sagte plötzlich jemand zu Arinaya. Sie hob den Kopf und lächelte, als sie Berenia ansah. Die alte Frau war die Hebamme und Heilerin des gesamten Viertels; eine weise, gütige Dame, mit der Arinaya sich stets gut verstanden hatte. Nun, da Berenia das Alter in die Knochen kroch, wie sie es ausdrückte, bestellte Arinaya ihren Kräutergarten und ging ihr zur Hand, wo sie nur konnte. Die Alte hatte bereits davon gesprochen, Arinaya zu ihrer Nachfolgerin zu benennen, wenn sie ihr Amt nicht mehr fortführen konnte.
„Nein, er ist ganz und gar nicht höflich“, sagte Arinaya und stand auf. Sie griff nach dem Korb und ging damit zu Berenia hinüber. Gemeinsam betraten sie die Küche der alten Dame. Arinaya breitete auf dem Tisch ihre Kräuter aus, während Berenia den Mörser aus dem Regal nahm.
„Eine gute Ausbeute“, befand sie. Arinaya nahm die Kräuter und wusch sie in einer Schüssel ab.
„Weißt du, unhöfliche Männer sind auch schlechte Ehemänner. Es war sehr unhöflich von Moram, deine Arbeit so geringzuschätzen.“
„War es nicht auch unhöflich von ihm, meine Meinung abzutun?“
„Nun“, seufzte Berenia, „er empfindet es nicht so. Die wenigsten Männer tun das, und auch nicht viele Frauen, weil sie es gewohnt sind.“
„Vielleicht bleibe ich auch unverheiratet. So wie du.“ Arinaya sah Berenia aufmerksam an. Sie zählte mehr als sechzig Jahre, ein stolzes Alter. Gänzlich weißhaarig, war sie stolz darauf, nur wenige Falten zu haben und keine verkalkten Gelenke. Aber dafür hatte sie ihre Salben, Tinkturen und Tees, wie sie augenzwinkernd feststellte. Und obwohl an ihren sanften Zügen zu erahnen war, daß sie einst eine hübsche junge Frau gewesen war, hatte sie niemals geheiratet.
„Es ist schwer, Kind“, sagte sie. „Als Frau muß man sich Ansehen und Respekt doppelt verdienen. Besonders als alleinstehende Frau. Man wird geächtet, ich sage es dir. Man provoziert böse Gerüchte. In diesem Land zählt man nur etwas als Ehefrau und Mutter, und das auch nur dann, wenn der Ehemann einen Namen hat. Nicht zuletzt ist man oft sehr einsam.“
„Aber hast du es jemals bereut?“ stellte Arinaya die entscheidende Frage.
„Nein“, sagte Berenia lächelnd. „Für mich gab es damals genausowenig einen Mann wie jetzt für dich. Nicht, daß sich keiner für mich interessiert hätte, oh nein. Ich war immer so klein und zierlich, und das weckt bei Männern Interesse. Vielleicht glauben sie, kleine Frauen wären fügsamer.“ Sie kicherte.
„Dann bin ich alles andere als fügsam“, stellte Arinaya grinsend fest. Sie war groß und schlank. Von jungen Männern zog sie oft die Blicke auf sich, denn sie hatte eine sehr weibliche Figur, ein sanftes, offenes Gesicht mit wachen grünen Augen und langes braunes Haar. Wenn sie lachte, hatte sie die gleichen Grübchen wie ihr Bruder.
Berenia löste sie beim Kräuterwaschen ab, so daß Arinaya mit dem Zerstampfen beginnen konnte. Sie mischte ein wenig Melkfett ein, um eine Salbe herzustellen. Diese wirkte gut unterstützend bei der Wundheilung. Arinaya arbeitete konzentriert und unermüdlich, bis sie schließlich die fertige grünliche Salbe in einen Tiegel füllen konnte. Berenia war sehr zufrieden und schickte sie danach gleich nach Hause.
„Wir sehen uns morgen, mein Kind“, sagte sie mit einem Lächeln.
„Gute Nacht, Berenia“, erwiderte Arinaya. Sie ging den kleinen Weg, der den eingezäunten Kräutergarten teilte, bis zur Straße.
Berenias Heim war auch ihr inzwischen vollkommen vertraut. Sie fühlte sich dort wohl. Ihr Vater hatte damals ihre Entscheidung, Kräuterheilerin zu werden, nicht nur gebilligt, sondern begrüßt. Er war ein ruhiger, gütiger Mann, der seine Tochter nie zurückgehalten hatte. Er hatte sie nicht gedrängt, zu heiraten, als sie mit sechzehn Jahren alt genug gewesen war. Sie wußte auch, daß er stolz auf sie war.
Doch die Tatsache, daß sie mit neunzehn Sommern noch immer nicht verlobt, geschweige denn verheiratet war, traf vielerorts auf Überraschung und Unverständnis. Das war es jedoch nicht, was Arinaya so störte. Weitaus schlimmer war die Tatsache, daß Moram, ein Sohn des reichsten Tuchhändlers der Stadt, ein Auge auf sie geworfen hatte. Arinaya dachte nicht im Traum daran, seine Frau zu werden. Er war zwanzig Jahre alt und nur deshalb noch nicht verheiratet, weil er ein Trunkenbold und Schürzenjäger war. Er hatte schon viele Mädchen gehabt und man munkelte, daß er sogar schon einen oder zwei Bastarde gezeugt hatte. Auf dem Frühlingsfest war er ihr begegnet und seither fest entschlossen, sie zu seinem Hausmütterchen zu machen. Denn als solches würde sie bei ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit enden.
Ihr Vater war aufs Äußerte entsetzt gewesen, als sie das erste Mal von Moram erzählt hatte. Seine Tochter hatte einen besseren Mann verdient, das hatte er sofort betont. Und das, obwohl ihre Heirat in Morams Familie auch die ihre auf einen Schlag wohlhabend gemacht hätte - trotz der Mitgift, für die ihr Vater schon seit Jahren sparte. Er besaß nicht viel, aber er tat alles für Arinaya und ihren zwei Jahre jüngeren Bruder Kaliron. Er hatte die beiden allein großgezogen, da ihre Mutter bei Kalirons Geburt gestorben war. Die Familie hielt seit jeher fest zusammen.
Arinaya verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte tief. Seit die Sonne hinter den Häusern verschwunden war, war es kühl geworden. Sie begegnete einigen Händlern auf der Straße, mußte sich ihren Weg durch eine Gruppe von Kindern bahnen und umkreiste einen ungewaschenen Bettler in großem Abstand. Allerlei Unrat lag auf den gepflasterten Straßen der Hauptstadt Kimorayas. Als sie ein Gasthaus passierte, drang lautes Gelächter an ihre Ohren. Der Dunst von Alkohol und Tabakrauch hing in der Luft vor den Fenstern, ebenso konnte sie heißes Fett riechen. Das schürte ihren Hunger.
Nach Sonnenuntergang wurde es meist sehr schnell dunkel in Kimorha. An diesem Tag wurde die schnelle Dunkelheit noch durch dicke Wolken begünstigt, die am späten Nachmittag aufgezogen waren. Arinaya hatte gerade etwas mehr als den halben Weg nach Hause zurückgelegt, als es bereits sehr dämmrig war.
Sie bog in eine schmalere Gasse ein. Übelriechend zwar, bot sie eine nicht zu verachtende Abkürzung auf ihrem Heimweg. Arinaya trat eine Kiste mit verfaultem Gemüse beiseite und hob dann wieder den Kopf. Als sie an einem Hoftor vorüberging, löste sich ein Schatten von der Wand. Von der gegenüberliegenden Mauer war ein Zischen zu vernehmen. Arinaya dachte zuerst an eine Katze, weil sie keine Schritte vernahm. Als dann jedoch das Geräusch von unter Stiefeln knirschendem Sand an ihre Ohren drang, fuhr sie herum. Zu Tode erschrocken erblickte sie zwei in Kapuzen und Mäntel gehüllte, große Männer, die mit langen Schritten auf sie zuhielten.
Sie wollte gar nicht erst wissen, ob sie sie ausrauben oder über sie herfallen wollten. Sofort drehte sie sich um und rannte, lauthals um Hilfe schreiend. Bevor sie jedoch das Ende der Gasse erreichen konnte, wurde sie von hinten an den Schultern gepackt und bäuchlings gegen eine Wand geworfen. An ihrem Hals spürte sie das kalte Metall eines Dolches.
„Kein Ton und dir passiert nichts“, zischte einer der Männer düster. „Ist dein Name Arinaya?“
Sie konnte nichts erwidern, doch sie war zu Tode erschrocken, daß der Mann ihren Namen kannte. Was wollte er von ihr?
„Wer seid Ihr?“ fragte sie halblaut.
„Das wirst du schon noch sehen, wenn du beim Meister bist“, lautete die geflüsterte Antwort. Ein kalter Schauer überlief Arinaya. Beim Meister?
Sie witterte nur eine Chance. Gar nicht feige, ballte sie die Hand zur Faust und schlug nach hinten in die Richtung, in der sie den Schritt des Mannes vermutete. Das folgende Stöhnen bestätigte ihre Annahme. Der Mann ließ sie sofort los, bevor er taumelnd in die Knie ging. Der andere reagierte nicht so schnell, wie Arinaya über eine Kiste sprang und hinaus auf die nächste Straße stürzte.
„Hilfe!“ schrie sie aus voller Kehle. Ohne sich umzudrehen, rannte sie die menschenleere Allee hinab und lächelte dankbar, als sie in der Nähe das Schild eines Gasthauses entdeckte. Fliegenden Schrittes hielt sie darauf zu und wandte sich nach ihren Verfolgern um, bevor sie die Tür zur Schankstube öffnete. Es war niemand mehr zu sehen.
Sie drückte den Türgriff herunter und schaute hinein in die Wirtsstube. Zäher Pfeifenqualm schlug ihr entgegen, lautes Gelächter schallte auf die Straße hinaus. Ein weiteres Mal drehte sie sich noch um, doch als noch immer niemand zu sehen war, ließ sie die Tür wieder zufallen und hastete auf die nächste große Straße, die gar nicht mehr weit vom Haus ihres Vaters entfernt war.
Bevor sie jetzt einem Trunkenbold erklärt hatte, daß sie Geleitschutz brauchte, konnte wer weiß was passieren. Inzwischen hatte sie es nicht mehr weit und da sie bezüglich des Auftraggebers dieser Männer eine ganz böse Vermutung entwickelt hatte, wollte sie lieber niemandem mitteilen, was geschehen war.
Keuchend rannte sie die Straße entlang, bog zweimal ab und rempelte dabei beinahe einen Passanten an, blieb aber in ihrer Aufregung nicht einmal stehen, um sich zu entschuldigen. Das Haus ihres Vaters war bereits in Sicht, deshalb beeilte Arinaya sich.
Auf sie war gezielt Jagd gemacht worden - wurde es vermutlich noch immer. Ein Meister hatte es auf sie abgesehen. Und Meister nannte man nur äußerst einflußreiche Männer. Adlige. Da hätte ihr niemand geglaubt, vermutlich hätte sie die Gefahr verschlimmert.
Vor der Haustür blieb sie abrupt stehen und klopfte, trat dann aber sofort ein. Erleichtert warf sie die Tür zu und lehnte sich von innen dagegen.
Mit einem überraschten Blick starrte ihr Bruder sie an. Er stellte noch einen Becher auf den Tisch und umkreiste diesen dann auf dem Weg zu seiner Schwester.
„Ari, was ist denn los? Ist etwas passiert?“ Seine dunklen Augen verrieten tiefste Besorgnis. Obwohl er jünger war, war er weit mehr als einen Kopf größer als Arinaya und schloß sie nun beruhigend in seine Arme. Sie lehnte sich keuchend an ihn und bemerkte so gar nicht, daß ihr Vater aus der Küche trat.
„Was ist passiert?“
Arinaya löste sich von ihrem Bruder und sah beide Männer ernst an. „Das weiß ich auch nicht so genau. Ich bin vorhin zwei Männern begegnet, die... ich weiß nicht... sie haben mich überfallen und wollten mich mitnehmen...“
„Was?“ rief Kaliron. „Entführen?“
„Ich weiß es nicht... sie fragten nur nach meinem Namen und sagten, sie wollten mich zu ihrem Meister bringen“, erklärte sie.
„Und dann?“
„Ich... nun ja... ich habe mich eben gewehrt und den einen da getroffen, wo es weh tut.“ Für einen Moment grinste sie. „Ich bin einfach weggelaufen.“
„Du meine Güte“, entfuhr es ihrem Vater. Entsetzen ließ seine gutmütige Miene versteinern. Er war ein Mann im besten Alter, ansehnlich und höflich und dennoch immer allein geblieben, seit die Mutter seiner Kinder verstorben war. Arinaya bedauerte das sehr. Sie hatte seine grünen Augen und seine Haarfarbe geerbt, während Kaliron eher in der schlanken, aber kräftigen Figur nach seinem Vater kam. Sein Haar war dunkler, ein Erbe seiner nie gekannten Mutter.
„Zu ihrem Meister, sagst du? Was würde ein solcher Mensch von dir wollen? Ich meine, du bist doch nur ein einfaches Mädchen, welcher Adlige...“ murmelte der Vater und fuhr sich mit zitternden Fingern über den Bart.
„Es kann ja nichts Gutes sein“, murmelte Kaliron.
„Nein, Kali“, sagte Arinaya. „Was soll ich denn jetzt machen? Wir können es niemandem sagen. Niemand wird es glauben!“
„Gleich morgen bringen wir dich zu Onkel Zanthar. Da wird dich niemand finden. Und dann sehen wir weiter“, sagte ihr Vater.
„Hast du Angst?“ fragte Kaliron.
„Vorhin nicht so sehr“, sagte Arinaya. „Aber wenn ich mir überlege, daß mir jemand nachstellt...“ Sie schluckte schwer.
„Ab jetzt gehe ich überall mit dir hin“, beschloß Kaliron.
„Ob das etwas mit Moram zu tun hat?“ überlegte der Vater.
„Wenn ich das rauskriege, wird das unangenehm für ihn!“
„Jetzt hört auf“, bat sie. „Wenigstens bin ich hier!“
Kaliron zog seine Schwester mit sich zum Tisch und bedeutete ihr, sich zu setzen. Er selbst tat es ihr gleich, ebenso sein Vater. Ernst sahen sie einander an.
„Wir müssen etwas tun“, sagte der Vater. „Ari kann sich doch nicht von nun an auf ewig verstecken!“
„Aber wenn ihr wirklich ein Adliger nachstellt...“ wandte Kaliron ein.
„Moram würde so etwas nicht tun“, bemerkte Arinaya kopfschüttelnd. „Doch dann will mir niemand mehr einfallen.“
„Nichts, was einleuchtend wäre“, sagte ihr Vater. „Nichts, was erklären würde, warum ausgerechnet du gesucht wirst. Sie kannten sogar deinen Namen!“
Beklommen verzog Arinaya das Gesicht. Ihr wollte nur eins einfallen, warum ein Adliger einem einfachen jungen Mädchen nachstellte, und das ließ ihr Angst und Bange werden. Es war ihr neu, daß die Adligen ihre Mätressen neuerdings erst entführten.
Das konnte es nicht sein. Aber was war es dann?
Gemeinsam mit Vater und Bruder überlegte sie während des Abendessens. Zwar verspürte niemand mehr besonderen Hunger, aber irgendetwas mußten sie schließlich tun. Die Stimmung war gedrückt und ernst. Arinaya spürte die Angst der beiden um sie deutlich. Ihre eigene war inzwischen wieder verflogen. An ihre Stelle war die bohrende Frage nach dem Grund dieses Überfalls getreten. Es wollte ihr nichts einfallen.
Als sie sich schließlich schlafen legte, verstärkte sich ihr ungutes Gefühl, daß seit diesem Abend nichts mehr so sein würde wie zuvor.
Und wenn alles nur ein Irrtum war?
Aber es war kein Irrtum. Auch wenn sie nicht wußte, was dahinter steckte, so stand für sie fest, daß jemand es wirklich auf sie abgesehen hatte.
Nach einer ganzen Weile des unruhigen Hin- und Herwälzens setzte sie sich aufrecht und zog die Beine an den Leib. Seufzend schlang sie ihre weiche Wolldecke um den Körper und lehnte sich an die Wand.
Ihr Schlafzimmer war nicht mehr als eine winzige Kammer, aber es war bereits außergewöhnlich, daß sie überhaupt ein eigenes Zimmer hatte. Ihr Vater verdiente als Tischler gutes Geld und so hatten sie immer in einem zwar winzigen und schmalen, nichtsdestotrotz aber eigenen Haus wohnen können. Am Haus entlang führte eine kleine Einfahrt, gerade breit genug für einen schmalen Karren, auf den Hinterhof, auf dem der Vater eine Baracke als Werkstatt errichtet hatte. Unter ihrem Vordach lagerten Unmengen von Holz. Der gesamte Hof war nur seiner Arbeit dienlich.
Kaliron lernte seit zwei Jahren bei seinem Vater das Handwerk des Tischlers. Arinaya war die einzige, die das Haus über Tag für die Arbeit verließ, und darauf war sie sehr stolz. Es war nicht üblich, daß Mädchen etwas anderes lernten als Haushaltsführung - entweder im Elternhaus oder bei Fremden.
Nachdenklich schaute sie zu dem kleinen Fenster. Durch einen Spalt zwischen den geschlossenen Fensterläden fiel ein wenig Mondlicht ein. Dadurch fühlte Arinaya sich ein wenig beruhigt, doch an Schlaf war kein Denken.
Konnte sie jetzt überhaupt noch ihrer Arbeit bei Berenia nachgehen? Sie besorgte so viele Dinge für die alte Dame - das konnte sie nun nicht mehr gefahrlos tun.
Was sollte nun werden? Sie verdiente viel für die Familie dazu, diese Arbeit war ihre Zukunft. Aber sie konnte sich ihren Jägern nicht einfach entgegenstellen.
Die einzige Hilfe, die ihr einfallen wollte, konnte sie nur von der Minjora erwarten. Bei dieser Vereinigung handelte es sich um einen Zusammenschluß der meisten zwielichtigen Personen des ganzen Landes. Darunter befanden sich sowohl einfache kleine Taschendiebe als auch korrupte Ladenbesitzer, schmiergeldtriefende Wirte und Schmuggler.
Nicht, daß die Minjora sich um ihr Schicksal scheren würde - sie verstand sich mitnichten als Bürgerhilfe. Nichtsdestotrotz wußte sie im Allgemeinen über jede Bewegung Bescheid, die in der Stadt vor sich ging. Wenn jemand wußte, wer Arinaya nachstellte und warum, dann würde dies die Minjora sein.
Arinaya kannte einen der Vereinigung sehr nahestehenden Wirt, den sie fragen wollte. Ihrem Vater konnte sie das unmöglich sagen, weil er es nicht gutheißen würde. Aber sie wollte es tun, ihr Entschluß stand fest.
„Sag Bescheid, wenn du gepackt hast. Dann bringen wir dich zu Onkel Zanthar und sprechen zuvor mit Berenia. Sie wird sicher Verständnis haben“, sagte Arinayas Vater und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Die Sorge war ein wenig aus seinen Augen gewichen.
„Vielleicht hat sie sogar eine Idee“, überlegte Kaliron, ehe er seinem Vater durch die Hintertür auf den Hof folgte. Arinaya zuckte mit den Schultern.
Es war noch so früh, daß sie sich einen Besuch in der Wirtsstube erlauben konnte und so rechtzeitig zurück sein würde, um noch pünktlich bei Berenia zu sein. Kaum daß die Hintertür sich geschlossen hatte, huschte Arinaya in die Küche und holte aus einer Schublade ein Messer hervor. Das würde vielleicht hilfreich sein.
Sie zögerte nicht länger. Die Wirtsstube hatte vielleicht noch nicht geöffnet, aber ganz gewiß würde sie den Besitzer irgendwo finden. Und dann würde sie ihn fragen. Ein wenig mulmig war ihr zwar bei dem Gedanken, aber sie wollte sich nicht auf ewig von dem Gespenst der Ungewißheit verfolgen lassen.
Sie schaute noch einmal zurück zur Hintertür und begab sich dann schnellen Schrittes zur vorderen hinüber. Einen Augenblick später stand sie auf der Straße und schaute sich kritisch um. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, doch vom nahen Marktplatz drang Lärm herüber. Arinaya holte tief Luft und ging stramm die Straße hinunter. Flink wanderten ihre Blicke in jede Nische und über jedes Gesicht. Sie war jedoch kaum in die nächste Straße eingebogen, als ein ungutes Gefühl sie beschlich. Mißtrauisch drehte sie sich um und erschrak zu Tode, als sie drei Männer entdeckte, die sich gerade aus einer Türnische gelöst hatten. Ihre Blicke waren starr auf Arinaya gerichtet, ihre dunkle Kleidung verhieß nichts Gutes - wenngleich das Mädchen auf einen Blick sehen konnte, daß sie teure Stoffe trugen und so mit Sicherheit keine gewöhnlichen Gauner waren.
Als sie ihre entschlossenen Mienen bemerkte, lief sie los. Sie mußte vor ihnen das Gasthaus erreichen. Es war nicht weit, sie konnte es schaffen. Nicht zimperlich packte sie ihren langen Rock und rannte. Sie mußte sich nicht umdrehen, um zu wissen, daß ihre Verfolger ebenfalls in den Laufschritt verfallen waren, denn sie hörte ihre schnellen Schritte. Angst keimte in ihr auf.
„Bleib stehen!“ hörte sie dann auch schon einen der Männer rufen. Aber sie dachte gar nicht daran.
„Du kannst nicht ewig davonlaufen, Mädchen!“
Das vielleicht nicht, aber wenn es ihr jetzt gelang, sollte das vorerst genügen. Heimlich verfluchte sie sich dafür, so unvorsichtig gewesen zu sein. Die Gefahr war wohl noch größer, als sie erwartet hatte. Sie verstand nur nicht, warum sie den Männern dort begegnet war. Vielleicht waren sie erst auf dem Weg zu ihrem Haus gewesen - vielleicht hatten sie sie dort entführen wollen.
„Bleib stehen, es passiert dir nichts!“ rief der Mann unnachgiebig. Arinaya drehte sich kurz um und warf ihm einen finsteren Blick zu, dann entfuhr ihr ein Schrei. Irgendjemand hatte sie urplötzlich gepackt und hielt sie mit aller Kraft fest, zerrte sie zur Seite und schlang einen Arm um ihre Taille, als sie drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Im nächsten Augenblick spürte sie eine Hand über ihrem Mund und begann, panisch zu strampeln. Vor ihren Augen verschwamm alles, doch sie erkannte noch, daß sie in einen Hinterhof gezerrt wurde. Gegen ihren Willen, aber nicht fähig, sich zu wehren, wurde sie quer über den Hof gezerrt. Sie lief nur widerwillig mit.
„Ich will dir helfen, bitte nicht schreien“, flüsterte ihr Angreifer ihr ins Ohr. Er blieb kurz stehen und ließ sie los, so daß sie sich umdrehen und ihn ansehen konnte. Sehr zu ihrer Überraschung hatte sie einen nicht allzu großen, drahtigen Burschen ihres Alters vor sich.
„Komm!“ zischte er, packte ihre Hand und riß sie mit sich durch eine offenstehende Tür ins nächste Haus. Hastig warf er die Tür hinter sich zu, stemmte sich mit dem Rücken dagegen und verriegelte sie mit einem Schlüssel. Arinaya beobachtete sprachlos, wie er die gegenüberliegende Haustür öffnete, dann zu ihr zurückkehrte und sie wieder bei der Hand nahm. Er hastete hinüber in eine Nische, zog eine vorher nicht zu sehende Falltür hoch und zischte: „Los, rein da“, während die Männer sich draußen von der Hofseite gegen die Tür warfen.
Es gab keine Treppe, aber der Grund unter der Tür war nicht tief. Arinaya sprang hinab, dicht gefolgt von dem Burschen. Noch in derselben Bewegung zog er sachte die Tür zu und tastete in der Dunkelheit unverzagt nach Arinaya. Er drückte sie an die Wand zurück, dann vernahm sie ein kurzes, schleifendes Geräusch. Er hatte eine Waffe gezogen.
Langsam schob er sich neben Arinaya. Sie zuckte nicht einmal, als er ihr den Mund zuhielt.
Ein dumpfes Dröhnen ertönte über ihren Köpfen. Mehrmals warfen die Männer sich gegen die Tür, bis sie schließlich doch aus den Angeln brach. Dabei zuckte Arinaya dann doch zusammen und biß sich auf die Zunge, denn sie hätte tatsächlich fast geschrien. In ihrem Rücken spürte sie, wie angespannt ihr Begleiter dastand.
Die Männer fielen tatsächlich nicht gleich auf den Trick mit der offenen Tür herein. Einer rannte sofort durch auf die Straße hinaus, das hörten die beiden anhand der knirschenden und knarrenden Dielen. Doch die anderen blieben stehen und flüsterten leise.
„Die stech ich ab“, zischte der junge Mann hinter Arinaya. Ihre Augen wurden groß.
Quälende Augenblicke verstrichen. Dann endlich verließen die Männer das Haus und der junge Mann entspannte sich wieder. Er ließ Arinaya los, stieg auf eine krachende Kiste und drückte die Falltür nach oben. Nur langsam kletterte er hinaus und reichte Arinaya dann eine Hand. Mit seiner Hilfe schaffte sie es einfach aus der kleinen Unterbodennische heraus.
Erst jetzt hatte sie Gelegenheit, ihren Retter in Augenschein zu nehmen. Er hatte halblanges blondes Haar und rehbraune Augen. An seinem schmalen, aber dennoch muskulösen Oberkörper hing ein viel zu weites graues Hemd. Er trug kniehohe Stiefel über einer Lederhose. An seinem Gürtel waren seitlich zwei recht große Dolche befestigt.
Als er Arinayas Blick spürte, grinste er.
„Entschuldige den Überfall. Ich heiße Nilas. Wer du bist, weiß ich schon.“ Er hielt ihr freundlich die Hand hin und sie erwiderte den Gruß.
„Woher kennst du mich? Warum hast du das getan?“ fragte Arinaya.
„Komm“, sagte er und winkte sie hinter sich her zur Hintertür hinüber. Schief hing sie im Rahmen, was Nilas mit einem kritischen Blick kommentierte.
„Da wird sich aber jemand freuen“, brummte er. Gemeinsam überquerten sie den Hof. Zu ihrer Überraschung schlug Nilas den Weg ein, den Arinaya zu dem Gasthaus hatte gehen wollen. Dieses war auch sein Ziel, doch anstatt es durch den Haupteingang zu betreten, wählte Nilas das Hoftor und hielt Arinaya höflich die Seitentür des Wirtshauses offen. Anschließend ging er voran, stapfte eine Treppe hinauf und wies ihr den Weg in ein kleines Zimmer, das wie der Arbeitsraum des Wirtes anmutete. Es roch nach Papier und Tinte, überall lagen Schriften und Pergamente herum.
Sie setzten sich einander gegenüber an einen leeren kleinen Tisch. Arinaya knetete nervös ihre Finger, als Nilas zu sprechen begann.
„Einer meiner Kameraden hat gestern beobachtet, wie die Kerle dir nachgestellt haben. Aber ehe er eingreifen konnte, warst du ihnen entflohen. Er ist dir gefolgt und hat uns abends von den Ereignissen erzählt. Da bin ich hellhörig geworden und habe mich bei eurem Haus seit dem Morgengrauen auf die Lauer gelegt.“
„Gehörst du zur Minjora?“ fragte Arinaya vorsichtig.
„Nicht direkt. Mein Vater war einer von ihnen, von ihm habe ich viel gelernt. Aber ich gehöre nicht zu diesem Haufen von Säufern und Erpressern. Ich habe mit ihnen zu tun, aber mehr auch nicht. Nichtsdestotrotz wußte ich von ihnen, was hier gerade vor sich geht.“
„Mit mir, meinst du?“
„Ganz richtig.“ Nilas holte tief Luft. „Ich habe heute Morgen gesehen, wie die Kerle von gestern Abend vor eurem Haus herumgelaufen sind. Da war es noch sehr früh. Kurz bevor du dann kamst, sind sie verschwunden. Sie sagten, daß sie noch einen holen wollten, um dann bei euch einzubrechen. Deshalb bin auch ich verschwunden, um Hilfe zu holen. Das mußte ich verhindern. Nun, ich war gerade noch unterwegs, als ihr mir dann auch schon entgegen kamt.“
„Was wollen diese Männer von mir? Sie sagten zu mir, sie wollten mich zu ihrem Meister bringen. Aber wer ist das?“
„Der schlimmste Mann im ganzen Staat; Linthizan, Erster Berater des Königs“, sagte Nilas. Arinaya erbleichte schlagartig.
„Linthizan?“ Sie kannte den königlichen Berater nur vom Hörensagen als intrigant und machthungrig, doch Nilas schien mehr über ihn zu wissen.
„Dieser Mann führt Dinge im Schilde, die einen, wenn man sie kennt, keinen Schlaf mehr finden lassen. Die Minjora vermutet seit langem, daß er hinter dem Thron her ist. Er hat zuviele Gefolgsleute um sich geschart - damit ist ein Putsch ohne Weiteres möglich. Der König ist ahnungslos. Er weiß nicht, daß Linthizan irgendwo mehrere Mädchen gefangenhält, aber der Minjora ist das zu Ohren gekommen. Diese Mädchen hatten nicht soviel Mut und Glück wie du. Zuerst war nur das Verschwinden mehrerer Mädchen bekannt, dann berichtete ein Spion davon, daß er Linthizan dabei belauscht hatte, wie er von ihnen sprach. Die Minjora forschte nach und fand den Zusammenhang.“
Arinaya starrte Nilas sprachlos an. Sie wußte nicht, was sie dazu sagen sollte, doch ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, während sie Nilas zuhörte.
„Was weißt du über deinen Geburtstag?“ fragte er.
„Meinen Geburtstag?“ Sie stutzte. „Was ist damit?“
„Du bist während der Großen Konjunktion geboren, nicht wahr?“
Plötzlich begriff Arinaya. „Meinst du die Sage?“ Nilas nickte. „Aber ich bin zu Anfang der Konjunktion geboren. Das ist doch bedeutungslos!“
„Eben nicht“, sagte er. „Die Menschen glauben, der Höhepunkt der Konjunktion fände in der Mitte ihrer Dauer statt. Das stimmt nicht, und Linthizan weiß das auch. Diejenigen, die am zweiten Tag der Konjunktion geboren sind, sind zu ihrem Höhepunkt geboren. Damit könnte auf jeden von ihnen die alte Sage zutreffen.“
Arinaya schluckte schwer. Sie war am zweiten Tag der Großen Konjunktion der beiden Monde geboren und sie kannte die Geschichte des unsterblichen Kindes, die mit der Konjunktion in Verbindung gebracht wurde. Aber sie hatte nie wirklich an diese Geschichte geglaubt. Sie war doch gewiß nicht das Kind des letzten Unsterblichen, sie war das Kind ihrer Eltern!
„Linthizan glaubt, ich könnte unsterblich sein?“ fragte sie laut.
„Ja. Er glaubt es von dir und den anderen Mädchen, die er bereits gefunden und entführt hat.“
„Aber das ist doch nur eine Sage!“ widersprach Arinaya.
„Das habe ich auch immer geglaubt, aber das stimmt nicht“, erklärte Nilas. „Wir haben mit einem Gelehrten gesprochen, der uns erklärte, daß die Sage stimmt. Und auch, daß der Höhepunkt der Konjunktion allgemein falsch datiert wird. Linthizan hat das ebenfalls herausgefunden und irgendwann angefangen, alle Mädchen in seine Gewalt zu bringen, die möglicherweise die Tochter von Maios und Simeyna sein könnten.“
„Was hat er vor?“
Nilas seufzte. „Das ist gerade das Unglück daran, daß Maios eine Tochter hat. Linthizan kennt keine Skrupel. Er will sein Blut mit dem einer Unsterblichen mischen. Was denkst du, was das bedeutet? Er kann ja nicht mehr werden, als er bereits ist. Aber wenn er erst eine unsterbliche Frau sein Eigen nennt und zudem einen unsterblichen Erben hat...“
Arinaya hielt die Luft an und spürte, wie ihr erneut die Farbe aus dem Gesicht wich. „Das ist nicht wahr...“
„Ich dachte auch erst, das sei ein schlechter Scherz. Aber leider stimmt es. Er hätte damit absolut uneingeschränkte Macht. Die Minjora hat bislang erfolglos versucht, herauszufinden, wo er die anderen Mädchen gefangenhält. Sie haben auch erst vor kurzem begonnen, nachzuforschen, welche Mädchen noch in Frage kommen. Dich hatten sie noch gar nicht entdeckt, deshalb war es ein Glücksfall, daß dein Überfall gestern beobachtet wurde. Du schwebst in ernsthafter Gefahr, Arinaya.“
Die junge Frau blieb stumm. Sie rekapitulierte kurz im Kopf die Geschichte, die vielen Kindern so gern erzählt wurde. Einst hatte es ein unsterbliches Volk gegeben, das zudem über einige besondere magische Fähigkeiten verfügte. Man nannte sie die Vandhru. Eines Tages verliebten sich ein Unsterblicher namens Maios und eine Menschenfrau, Simeyna, ineinander. Der König der Vandhru untersagte diese Liebe und ließ Simeyna und das Kind töten, was zu einem Zwist im gesamten Volk führte. Maios wurde Anführer einer Rebellengruppe und starb schließlich in den schrecklich langen Kämpfen seines Volkes.
Im Angesicht des Todes hatte er jedoch eine Prophezeiung hinterlassen, die besagte, daß sein Kind eines zurückkehren und sein Volk neu aufbauen solle. Bedingt durch seine magischen Fähigkeiten hatte er bereits gewußt, daß er eine Tochter gehabt hätte - eine Information, die Linthizan nun für ein abscheuliches Vorhaben verwendete. Arinaya spürte unsägliche Wut in sich wachsen.
„Also will Linthizan mich entführen, um von mir ein Kind...“ Sie verzog das Gesicht. „Aber woher weiß er, wer Maios‘ Tochter ist? Ob es überhaupt eine ist?“
„Das weiß ich nicht genau. Allgemein wird vermutet, daß sie ein Findelkind ist, und gleich zwei der entführten Mädchen sind eins. Zudem soll man es ab einem gewissen Alter sehen können, frag mich nicht woran. Dann sollen sich auch die magischen Fähigkeiten entwickeln. Aber soweit die Minjora weiß, ist noch nichts geschehen, weil er noch herauszufinden versucht, wer die Richtige ist.“
„Du meine Güte“, wisperte Arinaya.
„Wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Verschwinde, so weit du kannst. Er wird dich kriegen, das steht fest. Irgendwann. Und wenn er dich erstmal hat und es sich herausstellen sollte, daß du Maios‘ Tochter bist, wirst du deines Lebens nicht mehr froh.“
Arinaya nickte stumm. Das war ihr bereits klar geworden. „Aber hier sind mein Vater und mein Bruder. Ich bin bestimmt nicht Maios‘ Tochter! Ich soll hier Heilerin werden... Ich kann nicht einfach gehen! Wo soll ich denn hin?“
Nilas seufzte. „Ich weiß es nicht. Aber ich will nicht, daß Linthizan das wird, wovon er träumt. Ich will nicht, daß er solche schrecklichen Dinge tut. Ich will dir helfen.“
„Das ist alles verrückt“, sagte Arinaya kopfschüttelnd. „Das kann ich nicht glauben!“
„Fang besser damit an. Am besten verläßt du das Land. Anders geht es nicht. Aber dazu brauchen wir Hilfe, und deshalb sollten wir jetzt zu einem meiner Freunde gehen.“
„Woher weiß ich, daß du die Wahrheit sprichst?“
Nilas zuckte kurz mit den Schultern. „Du kannst gern Linthizan fragen, wenn er dabei ist, dir die Kleider vom Leib zu reißen“, murmelte er sarkastisch.
Das reichte Arinaya. Sie erhob sich und sagte: „Also schön, du hast gewonnen. Schlag etwas vor.“
Nilas zuckte mit den Schultern. „Ich will sehen, daß ich dich nach Hause zurückbringen kann. Du mußt einige Sachen packen. Und dann verschwinden wir.“
„Das wird mein Vater nicht zulassen“, murmelte Arinaya. „Das geht nicht, das ist vollkommen wahnsinnig!“
„Dein Vater muß es zulassen. Wenn er ein gescheiter Mann ist, wird er das auch! Mit dem heutigen Tag mußt du vergessen, was du kennst. Ich bringe dich nach Thorman, dort bist du sicher.“
„Warum willst du das tun?“
„Irgendjemand muß es tun. Und, um ehrlich zu sein, habe ich nichts Besseres vor.“ Nilas grinste schief.
Arinaya starrte ihn überfordert an. Für ihn war alles so vollkommen klar, aber sein Leben wurde auch nicht innerhalb weniger Stunden auf den Kopf gestellt. Nilas erhob sich, ohne zu zögern.
„Um die Ecke arbeitet ein Freund von mir. Wir werden seine Hilfe vermutlich benötigen“, erklärte er. Höflich hielt er Arinaya die Tür offen, dann klemmte er die Daumen hinter den Gürtel, gleich in Reichweite seiner Dolche. Er hieß Arinaya, voranzugehen und folgte ihr mit Argusaugen, sobald sie erst den Hof betreten hatten.
„Links“, sagte er die Richtung an. Das führte er über einen kurzen Zeitraum fort, bis sie zwei Straßen weiter vor der Werkstatt eines Waffenschmieds standen. Rauch und beißender Gestank schlugen ihnen entgegen, als Nilas die Tür öffnete und Arinaya bat, einzutreten.
Die Fenster waren von innen völlig verrußt, so daß nur dämmriges Licht in der Werkstatt herrschte - mit Ausnahme der glühend heißen und hell lodernden Feuerstelle, vor der sich eine menschliche Gestalt abzeichnete. Arinayas Blicke glitten über Hammer und Amboß, über unzählige Schwerter, Dolche und Äxte auf den Tischen unter den Fenstern und blieben dann auf dem jungen Mann haften, der einen Gegenstand in die heißen Kohlen hielt. Die weiten Ärmel seines Hemdes hatte er so weit wie möglich hochgekrempelt. Am Körper trug er eine dicke Lederschürze. Dann drehte er sich um.
Überrascht hielt er inne, als er Nilas und Arinaya sah. In den Händen hielt er Schürhaken und ein heiß glühendes langes Metallstück, die baldige Klinge eines Schwertes. Nach einem kurzen Moment lächelte er.
„Nilas“, sagte er. „Entschuldige mich kurz, ich muß die Schneide bearbeiten, solange sie heiß ist. Aber stell mir doch deine Begleitung vor!“
Sofort wanderten seine Blicke zum Amboß hinüber. Er trat davor, legte den Schürhaken beiseite und griff nach einem Hammer. Während er anfing, das Metall zu bearbeiten, fiel ihm sein halblanges dunkles Haar ins Gesicht, doch das schien ihn nicht zu stören. Der Schweiß stand auf seiner rußigen Stirn, sein Hemd war voller grauer Flecken.
„Wo ist denn dein Meister?“ fragte Nilas.
„Der liefert Waffen an einen Kunden. Er sollte gleich zurückkehren. Warum?“
„Weil ich dich kurz entführen müßte“, sagte Nilas grinsend. „Meine Begleiterin braucht noch einen weiteren tatkräftigen Beschützer. Sie heißt übrigens Arinaya. Und er hier“, Nilas deutete zu Arinaya gewandt auf den Waffenschmied, „ist Marthian. Aber nenn ihn ruhig Marthi, sonst glaubt er noch, er sei wichtig.“
Mit schiefem Blick schaute Marthian auf und lachte. „Wichtiger als du zweifelsohne!“ spöttelte er. „Arinaya, es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen. Verzeih die rauhbeinige Unhöflichkeit der Männer.“
Arinaya lächelte. Sie fand die beiden alles andere als unhöflich, im Gegenteil: Sie amüsierte sich prima über die Burschen.
„Und warum braucht sie Schutz?“ fragte Marthian, während er mit seiner Arbeit fortfuhr. Nilas mußte sich bemühen, über die lauten Hammerschläge hinweg zu brüllen.
„Weil Linthizans stinkende Handlanger ihr nachstellen!“
Aufgrund dieser Äußerung ließ Marthian den Hammer kurz sinken. „Linthizan? Doch nicht etwa wegen dieser albernen Geschichte, von der du mir erzählt hast?“
„Oh, Großmächtiger! Das ist nicht albern! Das ist bitterer Ernst. So ernst, daß sie Arinaya seit gestern Abend verfolgen.“
Das Glühen des Metalls ließ nach, es wurde dunkler. Während Marthian die letzten Schläge ausführte, herrschte kurzes Schweigen. Dann legte er das Werkzeug beiseite und zog die schwere Lederschürze aus. Sein Hemd war schweißnass. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die glänzende Stirn.
„Soso. Und was soll ich dagegen tun?“
„Du sollst mir helfen, sie zurück nach Hause zu bringen. Die Kerle laufen draußen zu dritt herum. Dagegen habe ich allein keine Chance.“
„Ach was“, winkte Marthian ab.
„Nun komm! Du bist der einzige, den ich gerade fragen kann. Der einzige, der den Umgang mit dem Schwert beherrscht.“
„Mein Meister reißt mir den Kopf ab, wenn ich die Werkstatt verlasse“, wandte Marthian ein.
„Wir erklären es ihm! Komm, sei ein Ehrenmann. Du hast vielleicht die letzte Vandhru vor dir!“
Zwar blickten Marthians dunkle Augen skeptisch, doch dann ließ er resignierend die Schultern hängen. „Also schön. Was hast du vor?“
„Ich bringe sie nach Thorman. Dort sollte sie sicher sein.“
Arinaya beobachtete, wie Marthian sich stumm abwandte und sein Hemd über den Kopf zog. Zum Vorschein kamen muskulöse Oberarme und breite Schultern. Der junge Schmied zog ein frisches Hemd über und nahm dann ein Schwert, das in einer finsteren Nische gestanden hatte. Er befestigte es an seinem Gürtel und seufzte. Kritisch schaute er zu dem fast rundum eingefaßten Ofen hinüber, griff dann nach seinem Schlüsselbund und hielt seinen Besuchern die Tür offen. Er schloß ab, als sie auf der Straße standen. Nilas ging voran.
Marthian legte die Hand ans Heft seines Schwertes und musterte Arinaya neugierig. Sie sah nicht aus, wie er sich eine Vandhru vorstellte. Augenscheinlich war sie eine ganz normale junge Frau - hübsch noch dazu, wie er feststellte. Als sie bemerkte, daß er sie ansah, erwiderte sie seinen Blick. Ganz egal, wer dieses Mädchen war - er wollte nicht, daß ihr irgendein Leid widerfuhr, schon gar nicht von Linthizan.
Er bemerkte, wie angespannt Nilas vorauslief. Seine Sorge schien echt zu sein. Zwar wunderte Marthian sich immer noch, aber er beschloß, es einfach hinzunehmen.
Schweigend liefen sie durch die Straßen, ließen achtsam ihre Blicke schweifen und musterten jeden kritisch, der ihnen entgegenkam. Allerdings half ihnen das nicht viel, denn just als Nilas abbiegen und in die nächste Straße spähen wollte, prallte er mit einem hastig voraneilenden Mann zusammen. Als er in dessen Gesicht blickte, gefror ihm das Blut in den Adern. Es war einer von Arinayas Verfolgern. Einen Wimpernschlag später tauchten die beiden anderen hinter ihm auf.
„Weg!“ brüllte er augenblicklich, doch es war bereits zu spät. Während eine Faust seine Nase als Ziel wählte und ihn voller Wucht gegen eine Hauswand warf, packte ein anderer Arinaya am Arm und riß sie an sich heran. Er hatte sie umklammert und hielt ihr den Mund zu, ehe sie auch nur einen Ton über die Lippen bringen konnte.
Marthian blickte sich erschrocken um. Irgendwo mußte doch jemand sein, der diesen Überfall sah, ihnen zu Hilfe kam! Doch die Straßen und kleinen Gassen waren leer, von einer streunenden Katze abgesehen.
Für diesen Augenblick der Unachtsamkeit bezahlte er bitter. Einer von Linthizans Handlangern schlug ihm das Heft seines Schwertes in den Nacken, so daß Marthian ohnmächtig zu Boden ging. Arinaya entfuhr ein erstickter Schrei. Sie wurde bäuchlings an eine Wand gedrückt. Einer der Männer packte sie an den Haaren und drückte ihr ein Tuch in den Mund. Sie zappelte wie wild, schaffte es aber nicht, sich erfolgreich zu wehren.
„Bringt sie um“, hörte sie einen der Männer zischen. Wäre sie nicht schon geknebelt gewesen, hätte sie laut geschrien, doch so schloß sie nur flehend die Augen, während sie spürte, wie ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt wurden.
Nilas sah nur noch Sternchen. Zähes Blut lief über seine Lippen, doch die Taubheit seiner Nase wich und verwandelte sich in pochenden Schmerz. Als seine Sicht zurückkehrte, entdeckte er Marthian vor seinen Füßen und gleich daneben einen Mann mit Schwert in der Hand. Ein Blick zur Seite verriet ihm, daß Arinaya bereits ausgeschaltet war. Dann drang die Bedeutung des Tötungsbefehls in sein Bewußtsein.
Brüllend zog er seine Dolche und erweckte den Anschein, daß er auf den ihm gegenüberstehenden Mann losgehen wollte, doch kaum daß der sein Schwert gegen Nilas erhoben hatte, warf dieser sich gelenkig zu Boden und hieb mit den Dolchen nach den Beinen des Mannes. Mit einer Hand verfehlte er, doch mit dem anderen Dolch hieb er durch den dicken Stiefel bis ins Fleisch des Mannes oberhalb seiner Ferse. Mit einer Rolle rettete Nilas sich aus der Reichweite des vor Schmerzen brüllenden Feindes, denn der wollte schon sein Schwert auf ihn niedersausen lassen.
Flink sprang der junge Bursche auf und trat nach dem Schwert. Er schaffte es jedoch nicht, es dem Mann aus der Hand zu stoßen. Allerdings hatte er ihn soweit getroffen, daß es ihm gelang, mit einem Dolch auf ihn loszugehen. Sein Gegner drehte sich rechtzeitig ab, so daß der Dolch das Herz verfehlte und nur in seinen Oberarm fuhr. Zu Nilas‘ Freude jedoch war es die Waffenhand, die nun davon betroffen war. Zitternd ließ der Mann das Schwert fallen.
Nur noch ein Hieb, dachte Nilas fieberhaft. Er schlug mit beiden Waffen nach dem Mann und drückte die Klinge eines Dolches so tief in dessen Fleisch, daß das Blut augenblicklich über den tief verwundeten Arm pulsierte. Erleichterung ergriff Nilas. Eine so schwere Blutung hatte er beabsichtigt, denn nun mußte der Mann sich um sich selbst kümmern und stellte vorerst keine Gefahr mehr dar.
Es blieb jedoch keine Zeit. Kaum daß er sich eines Feindes entledigt hatte, sirrte ein Schwert haarscharf an ihm vorbei. Instinktiv drehte er sich um und sprang zurück. Hinter seinem Kontrahenten erblickte er Arinaya, die mit ängstlichem Blick an der Mauer stand und unerbittlich festgehalten wurde. Gefesselt und geknebelt war sie bereits vollkommen hilflos, doch ihr Angreifer hielt ihr zusätzlich ein Messer an die Kehle. Nilas glaubte, in ihren Augen Tränen zu entdecken.
Sein Gegner stierte ihn voll übler Absichten an. Nilas setzte einen geringschätzigen Blick auf, wich einem weiteren Schwerthieb mühelos aus und täuschte den Mann, indem er so tat, als wolle er ihn von oben angreifen. Dann jedoch ging er das volle Risiko ein und rammte einen Dolch in den Unterleib des Mannes.
Mit etwas Glück habe ich deine Leber verfehlt, dachte Nilas grimmig, ehe er ihm das Schwert aus der Hand trat und ihm von hinten in eine Kniekehle schnitt. Schwer atmend starrte Arinaya ihn an. Nilas, dessen Hemd bereits mit eigenem und fremdem Blut verschmutzt war, nahm nun auch die blutige Klinge eines Dolches zwischen die Finger und schleuderte ihn nach Arinayas Entführer. Knapp neben dessen Kopf prallte der Dolch gegen die Wand und schepperte zu Boden.
Auch wenn Nilas sein Ziel - den Mann ins Auge zu treffen - nicht erreicht hatte, so wich dieser doch von der Wand zurück. Er hielt Arinaya weiterhin gepackt, der nun wirklich Tränen über die Wangen liefen, und ließ Nilas nicht aus den Augen.
Gespielt ruhig hob der Bursche seinen Dolch auf und umklammerte die beiden Waffen wütend.
„Ich würde dir raten, sie loszulassen“, zischte Nilas mit finsterem Blick.
„Und du solltest dich verziehen, ehe du getötet wirst“, gab der Mann zurück. Im Augenwinkel beobachtete Nilas die beiden Verwundeten, die hastig ihre Wunden versorgen wollten. Er hatte sein Ziel erreicht.
„Meinst du?“ höhnte Nilas. „Bist du sicher, daß du die letzte Vandhru töten willst, so sie denn eine ist?“ Der Mann erbleichte. „Ja, ich weiß, warum ihr sie sucht. Die gesamte Minjora weiß Bescheid und auch der König wird es herausfinden! Ich rate dir, laß sie los, sonst werde ich diesen wunderschönen Dolch in dein Auge bohren und dir den Bauch aufschlitzen, so daß sich die Geier an deinen Därmen gütlich tun können, wenn du erst tot bist!“
Arinaya hegte keinen Zweifel an Nilas‘ Worten, nach allem, was er zuvor bereits demonstriert hatte. Das Blut tropfte noch immer von seinen Dolchen. Von der Nase bis zum Kinn herab war er blutverschmiert, was ihm einen furchteinflößenden Eindruck verlieh. Sie spürte das Zittern ihres Angreifers an seinem Messer.
„Also?“ höhnte Nilas. Der Mann wich weiter zurück. Nilas zuckte erschrocken, da der Kerl fast auf Marthians Hand getreten wäre.
„Ich habe meine Befehle. Du solltest dich nicht mit Linthizan anlegen, verstehst du? Lauf weg, ehe wir dich töten. Du kannst sie nicht retten, der Herr sucht sie. Und wenn sie die letzte Vandhru ist, wird sie sein Kind gebären! Weißt du davon auch?“
Arinaya stieß einen Schrei aus. Nilas hatte ihr die Wahrheit gesagt. Das Grauen ließ sie frösteln.
Nilas machte einen Schritt auf den Mann zu. „Natürlich, oder sehe ich so aus, als wäre ich so dumm wie du?“ Er lachte. „Du bringst sie nicht um. Ganz sicher nicht. Ich werde sie jetzt zurückholen und...“ Er brach ab, denn er traute seinen Augen kaum. Vor lauter Anspannung hatte er nicht gesehen, wie Marthian aufgestanden war, doch sein Freund stand nun hinter Arinayas Entführer und hob sein Schwert. Nilas konnte außer seinen Armen und der in der Sonne blitzenden Waffe nichts sehen, aber er wußte, daß es Marthian war.
Der Mann stutzte ob Nilas‘ Zögerns, doch ehe er sich umdrehen konnte, rammte Marthian sein Schwert voller Wucht in den Schädel des Mannes. Dessen Blick gefror, Blut spritzte auf Arinaya herab, dann ließ er sie los und sackte tot zu Boden.
Arinaya schrie in Todesangst. Marthian warf Nilas einen ernsten Blick zu, dann steckte er sein Schwert weg und schlang die Arme um Arinaya. Nilas behielt die Dolche in den Händen, während er losrannte. Marthian hingegen gönnte sich noch einen kurzen Augenblick, in dem er Arinayas Knebel herunterriß, ehe er sie am Arm faßte und mit sich zog.
Atemlos rannten die drei hintereinander durch die Straßen. Als Ziel hatte Nilas erneut das Gasthaus gewählt. Augenblicke später rannte er durchs Tor, hastete die Treppe zu den Hinterzimmern hoch und ließ sich an ihrem oberen Ende an der Wand entlang zu Boden sinken. Marthian und Arinaya folgten etwas langsamer.
„Ein Dolch“, war das einzige, was Marthian sagte. Nilas reichte ihm eine der blutigen Waffen. Marthian stand ganz dicht an Arinaya und spürte ihr Zittern, während er vorsichtig ihre Handfesseln zerschnitt. Anschließend nahm er ihr den Knebel ganz ab und legte einen Arm um sie, als sie sich schluchzend an ihn lehnte.
Mit großen Augen starrte er Nilas an. Dieser sah noch immer furchterregend aus und sein Nasenbluten hatte nun wieder begonnen, weil er so schnell gerannt war. Doch er ließ es laufen, bis es auf sein Hemd tropfte.
„Dann ist es also wahr“, sagte Marthian.
„Du weißt, daß ich kein Lügner bin“, erwiderte Nilas mit gedämpfter Stimme. Es war deutlich zu hören, daß seine Nase geschwollen war. „Natürlich ist es wahr.“
Marthian blickte zu Arinaya, die nun den Kopf hob und ihn unter Tränen ansah. Im Kopf hörte sie noch immer das grauenvolle Geräusch eines zersplitternden Schädels.
„Ich habe Verwandte in Ralthorzan“, sagte Marthian. „Das ist gleich hinter der thormanischen Grenze. Wollen wir sie dorthin bringen, Nilas?“
Dieser hatte den Kopf in den Nacken gelegt und antwortete, ohne Marthian anzusehen. „Wäre wohl das Beste.“
Marthian setzte sich auf die Treppe und zog Arinaya mit sich, ehe er sie ansprach. „Du brauchst keine Angst zu haben. Du hast ja gesehen, wie gut Nilas mit den Kerlen fertig geworden ist. Er hat eben bei der Minjora gelernt. Und als Waffenschmied verstehe ich mich auch auf den Kampf, denn nur wer ein Schwert zu führen weiß, versteht sich auch auf die Schmiedekunst.“
„Wir sollten sofort aufbrechen“, sagte Nilas. „Heute Nacht sind die Stadttore geschlossen. Und nachdem wir nun getötet haben... sie werden uns suchen. Wir sollten vor Ablauf einer Stunde hier weg sein.“
„Aber meine Familie“, sagte Arinaya mit zitternder Stimme. „Sie werden mich jetzt schon suchen!“
„Der Wirt wird dafür sorgen, daß sie und auch Marthis Meister Bescheid wissen. Er ist ein Freund. Er wird uns alles geben, was wir für die Reise brauchen, denn die Minjora will, daß Arinaya in Sicherheit ist.“ Mit diesen Worten erhob Nilas sich und hielt sich den Ärmel seines vollkommen verschmutzten Hemdes unter die Nase. „Ich gehe zu ihm“, murmelte er mit gepreßter Stimme. Leichtfüßig sprang er an Arinaya und Marthian vorbei über die Treppe und verschwand im Schankraum.
Marthian schaute zu Arinaya, die zitternd neben ihm saß. Zwar hatte er nicht viel Zeit gehabt, sich Nilas‘ Kontrahenten anzusehen, doch daß er sie auf seine übliche hinterhältige Weise zugerichtet hatte, war ihm nicht entgangen. Und er selbst hatte getötet. Doch es war ihm keine Wahl geblieben. Er war zu sich gekommen, als der Mann mit Arinaya genau vor ihm gestanden hatte, und er hatte ihn und Nilas sprechen hören. Auch wenn Nilas die anderen kampfunfähig gemacht hatte, hätte er Arinaya nicht freibekommen. Die Kerle hätten ihn noch überwältigt.
Er hatte zuvor noch nie getötet. Es war riskant gewesen, er hätte Arinaya ebenso treffen können. Das hätte er sich nie verziehen.
Mit hastigen Bewegungen stopfte Nilas unter den nachdenklichen Blicken des Wirtes Brot, Äpfel und andere Dinge in einen Beutel. Der Gastwirt hatte ihm angeboten, die Vorräte seiner Speisekammer zu plündern und ihm zusätzlich ein Säckchen mit Goldmünzen in die Hand gedrückt - Gold der Minjora, für das Nilas in diesem Augenblick sehr dankbar war.
„Der König wird taub sein für einen Bericht über Linthizans Treiben“, seufzte der schnauzbärtige Wirt.
„Natürlich. Selbst wenn er die Mädchen fände, würde er Linthizan noch abnehmen, daß sie seine Nichten sind, obwohl er gar keine hat“, brummte Nilas und zog den Beutel zu. Flink wandte er sich ab und verließ die Küche in Richtung des Treppenhauses. Er stutzte, als er Marthian halb über Arinaya gebeugt auf der Treppe sitzen sah. Der junge Waffenschmied tupfte ihr mit einem Tuch das Blut von der Haut. Das erinnerte Nilas daran, daß er immer noch aussah wie ein Wilder mit all dem Blut im Gesicht. Er drehte sich auf dem Absatz herum, stiefelte in die Küche zurück und spähte in einen mit Wasser gefüllten Topf. Sein im Wasser erscheinendes Spiegelbild erschreckte sogar den hartgesottenen Burschen. Aus seiner Tasche zog er ein Tuch, näßte es kurz und rieb sich damit über das Gesicht. Ein Lachen störte ihn bei seiner Arbeit. In der Tür entdeckte Nilas den Wirt, der ein frisches Hemd in den Händen hielt und es dem blonden Burschen zuwarf. Nilas fing es mit einer Hand auf.
„Dein Vater wäre stolz auf dich, Junge“, sagte der Wirt. „Du beherrschst die Methoden der Minjora besser als manches Mitglied.“
„Die Minjora ist ein stinkender Haufen Säufer“, brummte Nilas. Mit dem Wirt trat er hinaus in den Flur, wo der ältere Mann auch Marthian ein Hemd überreichte.
„Dir kann ich nur einen Umhang geben, Mädchen“, sagte er.
„Das ist das Beste“, befand Nilas. „Mit Kapuze, wenn es geht.“
Während der Wirt sich auf die Suche nach dem Kleidungsstück begab, nahm Marthian sich grinsend des noch immer blutverschmierten Gesichtes seines Freundes an, der laut zu stöhnen begann, als Marthian trotz aller Vorsicht auch seine Nase berührte.
„Die ist gebrochen! Weißt du, wie weh das tut?“ empörte sich Nilas.
„Du bist doch hier der harte Hund“, erwiderte Marthian.
„Vielleicht breche ich dir mal die Nase, dann kennst du das Gefühl auch“, motzte Nilas. Als Marthian jedoch mit ihm fertig war, sah er wieder aus wie ein Mensch und machte sich daran, seine Dolche zu reinigen.
Nur Augenblicke später hatten sie all ihre Vorbereitungen abgeschlossen. In Umhänge gehüllt standen die jungen Leute da und schnallten ihre Taschen auf den Rücken. Arinaya hatte zwar aufgehört zu zittern, doch ihre Knie waren noch immer weich, das spürte sie deutlich.
„Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Ich werde gleich, wenn ihr fort seid, zu deiner Familie gehen. Nilas hat mir gesagt, wo ich suchen muß. Und nehmt die Hauptstraßen zum Tor.“
Nilas verkniff sich einen Kommentar, brummte aber leise. Marthian verbarg sorgsam sein Schwert unter dem Umhang, während Arinaya sich die Kapuze tief in die Stirn zog.
„Mögen die Vandhru mit euch sein“, grüßte der Wirt die drei zum Abschied. Arinaya zuckte innerlich zusammen. Bislang hatte sie nie über diese Floskel nachgedacht, sie war ihr bedeutungslos erschienen - bis jetzt.
Nilas schlich voran zum Hoftor, spähte hinaus und lauschte. Angespannt drehte er sich zu den anderen um. „Sie haben den Toten gefunden. Die Trottel haben ihn zurückgelassen. Beeilt euch, wir laufen zur großen Allee, ehe sie uns bemerken!“
Arinaya tat einfach, was er sagte. In ihrem Kopf waren ungezählte Gedanken, von denen sie keinen zu fassen bekam. Alles war viel zu schnell geschehen. Sie hatte buchstäblich gespürt, wie jemand gestorben war, sie hatte gefühlt, wie der Mann sterbend hinter ihr zusammengesackt war. Sie hatte sein heißes Blut gespürt. Und obwohl er Nilas und Marthian töten lassen wollte, empfand sie nun sogar Mitgefühl. Sie hatte nicht gewollt, daß jemand zu Tode kam.
Doch wenn sie sich überlegte, wer ihr nachstellte und warum...
Sie zog die Kapuze tiefer in die Stirn. Unter ihrem Umhang kam sie sich recht sicher vor. Während sie einfach Nilas folgte, der vor dem Einbiegen in eine kleine Gasse sichernd um sich spähte, dachte sie an ihren Vater und Kaliron. Die beiden hätten sie niemals so leicht ziehen lassen, doch seit den jüngsten Ereignissen wußte sie, daß ihr keine Wahl blieb.
Nilas machte niemals einen unüberlegten Schritt. Erst, wenn er sicher war, daß keine Gefahr drohte, ging er weiter. Bedrückt schlich Arinaya hinter ihm her, nachdem er auf die große Allee abgebogen war, die zum Stadttor führte. Diese Straße war die kürzeste Verbindung zwischen Tor und Palast.
Marthian blieb stets auf gleicher Höhe mit ihr und nahm nie die Hand vom Heft seines Schwertes. Er ging ein wenig vornübergebeugt und hatte den Kopf eingezogen. Arinaya ahnte, was ihm durch den Kopf ging. Und obwohl er sein Schwert umklammert hatte, hielt er es verborgen.
Er hatte getötet. Wenn man ihn faßte, konnte er mit dem Tod rechnen. Keine Frage, warum auch er plötzlich das Land verlassen wollte.
Sie hielt den Blick gesenkt, folgte einfach nur Nilas. Auch sie hatte Angst, erkannt zu werden, und auf der breiten Allee kreuzten viele Menschen ihren Weg. Händler und Hausfrauen waren es, Adlige in ihren Kutschen, teilweise auch Bettler.
Sie drückten sich an den Hauswänden vorbei und gingen schnell, wenn auch nicht übereilt. Arinaya dachte mit Erleichterung daran, daß die Sonne nicht schien. Dann wäre es noch verdächtiger erschienen, wie sehr sie sich vermummt hatte.
Marthian drehte sich ruckartig um, so daß Arinaya erschrocken stehen blieb. Daraufhin trafen sich ihre Blicke und er schüttelte lächelnd den Kopf.
„Nur Einbildung“, sagte er. Zur Bekräftigung seiner Worte griff er nach ihrer Hand und zog sie sanft mit sich.
Sie nahm nicht viel von dem wahr, was um sie herum geschah. Doch ihre Aufregung wuchs ins Unermeßliche, als sie sich dem Stadttor näherten. Die Wächter waren stets aufmerksam. Fast war sie versucht, die Kapuze wieder abzunehmen, doch stattdessen hob sie nur den Kopf und hoffte, daß alles gutgehen möge.
Noch nervöser war Nilas, der ständig befürchtete, mit Linthizans Männern zusammenzutreffen. Mit allem schauspielerischem Talent, das er besaß, grüßte er die Wachen und wollte an ihnen vorbeigehen, als einer der Männer sagte: „He, Mädchen, wovor versteckst du dich?“
Arinaya spürte, wie ihr heiß wurde. Fieberhaft suchte sie nach einer Antwort, als Nilas sagte: „Meine Kusine hat einen ziemlich hartnäckigen Verehrer, dem sie lieber nicht begegnen möchte!“
„Dann weist ihn in die Schranken“, erwiderte der Wächter. Nilas grinste ihn breit an und ging dann stramm voran. Arinaya und Marthian beeilten sich, hinterherzukommen.
„Du meine Güte“, sagte Marthian, als sie außer Hörweite waren. „Wie ist dir das so schnell eingefallen?“
„Ist es nicht“, sagte Nilas. „Ich hatte es mir vorher überlegt.“
„Danke“, sagte Arinaya und zog die Kapuze ab.
„Kommt. Es ist noch früh und wir haben noch viel zu laufen. Es wird nicht lang dauern, bis sie merken, daß wir verschwunden sind. Davon gehen sie sicher aus, seit vorhin... Und sie werden Pferde haben.“
„Prima“, brummte Marthian mißmutig.
Die Wolken verzogen sich bald wieder und die Sonne beleuchtete den staubigen Weg vor den drei jungen Leuten. Arinaya stopfte den Umhang bald in ihren Rucksack, denn sie begegneten nur selten anderen Reisenden. Dennoch betonte Nilas, daß sie sich bald neue Kleidung kaufen mußte.
Sie folgten der Straße nach Kaloran, einer kleinen Stadt auf halber Strecke nach Lenordhisa. Allerdings schaute Nilas sich immer wieder um, denn hier waren sie nur allzu leicht zu entdecken.
Weder Arinaya noch Marthian hatten Kimorha jemals weit verlassen, wohingegen Nilas schon einige Orte in Kimoraya bereist hatte. Unermüdlich schritt er voran und folgte der Straße, die durch Felder und Wiesen führte. Die Gegend war fruchtbar und grün, denn nicht weit entfernt floß der Kimos, einer der beiden großen Flüsse des Landes. Vögel kreisten am Himmel, während ein warmer Wind über die Gesichter der drei Wanderer strich.
Immer wieder fragte Arinaya sich, ob das wirklich kein Traum war. Doch sie befand sich tatsächlich mit zwei Fremden auf einer Reise ins Ungewisse. Was sollte in Thorman werden?
„Soll ich mich ewig verstecken?“ sprach sie ihre Sorge laut aus.
„Ich weiß nicht“, sagte Nilas. „Wohl kaum. Die Minjora wird etwas gegen Linthizan unternehmen. An deiner Stelle würde ich irgendwann zurückkehren, aber unter falschem Namen.“
„Das ist verrückt“, sagte Arinaya kopfschüttelnd. „Ich kann keine Vandhru sein... und doch macht die bloße Möglichkeit mein ganzes Leben kaputt.“
Laut seufzend schaute Marthian sie an. „Ich frage mich auch, was vorhin passiert ist. Mir geht es nicht anders als dir... bei mir ist plötzlich auch alles verändert.“
„Tut mir leid“, sagte Nilas zähneknirschend. „Aber du siehst, ich hatte jeden Grund, mir Hilfe zu holen!“
„Du solltest dich aus solchen Dingen heraushalten“, befand Marthian. „Aber so ein Herumtreiber wie du hat ja kein Leben zu verlieren. Nichtsdestotrotz hast du richtig gehandelt.“
Nilas erwiderte nichts, denn er wußte, daß Marthian Recht hatte.
Schweigend setzten sie ihren Weg bis in die Mittagsstunden fort. Erst, als sie Hunger hatten, suchten sie sich ein ruhiges Plätzchen hinter einem nahen Hügel und nahmen etwas von ihren Vorräten. Gleichmütig kauend saß Nilas im Gras und ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen, doch sowohl Arinaya als auch Marthian waren noch immer bedrückt.
„Du hast einen Bruder?“ begann Marthian das Gespräch.