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Die junge Magierin Lelaina traut ihren Augen kaum, als ihr verschollener unsterblicher Onkel Merevas vor ihrer Tür steht, um sie in seine Heimat zu bringen. Er bangt um ihr Leben, denn der Vandhrukönig setzt alles daran, sie aufgrund ihrer Abstammung zu töten. Wie ihre daheimgebliebenen Freunde Marthian und Arinaya bald schmerzvoll erfahren müssen, ist der königstreue Kortas bereits auf der Jagd nach Lelaina. Er sieht in ihren beiden Freunden ein willkommenes Druckmittel und bringt sie ins vandhrische Königreich - nicht ahnend, welche tödliche Katastrophe er damit heraufbeschwört ...
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„Das wird jetzt weh tun, aber ich gebe mein Bestes. Gleich ist es vorbei.“ Arinaya biß sich konzentriert auf die Unterlippe und warf noch einmal einen prüfenden Blick zu Tabera, ehe sie die Hände ansetzte und langsam begann, Druck auszuüben. Mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft versuchte sie, das Ungeborene durch die Bauchdecke zu drehen. Nur Augenblicke später schrie Tabera aufs Neue. Unbeeindruckt fuhr Arinaya fort. Es war ein Kraftakt, für den sie zugleich sehr viel Fingerspitzengefühl brauchte. Sie biß die Zähne zusammen und schob und drückte, so vorsichtig es unter diesem Kraftaufwand möglich war. Die werdende Mutter schrie immer lauter. Doch nicht das war es, was Arinaya schließlich innehalten ließ. Es war das Kind selbst, das sich kaum bewegte.
Keuchend sank sie auf die Knie und holte tief Luft. Es mußte einfach klappen. Sie hatte es doch schon mehrmals gemacht. Sie sammelte noch einmal alle Kräfte und tastete nach dem Kind, dann versuchte sie wieder, es zu drehen. Wiederum rührte sich fast nichts. Tabera war einfach zu zierlich, das Kind schien unwiderruflich in seiner Seitenlage zu verharren.
Arinaya schaute zu Tabera. Es hatte keinen Sinn; sie bereitete ihr nur unnötige Schmerzen. Sie mußte etwas anderes versuchen, um Taberas Leben und das ihres Babys zu retten. Langsam sank sie gegen das Bett und warf einen Blick zu Kajana, Taberas Schwester.
„Ich brauche Lelainas Hilfe“, sagte Arinaya und wischte sich über die schweißnasse Stirn.
„Soll ich sie holen?“ fragte Kajana.
„Ja, tu das. Schnell. Ich bleibe bei deiner Schwester.“
Kajana nickte eifrig, öffnete die Tür und verschwand. Arinaya richtete sich auf und strich über Taberas Stirn. Die Laken, auf denen sie lag, waren inzwischen blutverschmiert. Neben dem Bett stand die Tasche mit Arinayas Werkzeugen rechts von einer kleinen Wasserschüssel auf einem Tisch. Rund um das Bett brannten Kerzen. Irgendwo im Haus knarrten Dielen; jeder war selbst um diese Zeit auf den Beinen. Taberas Wehen hatten am frühen Abend eingesetzt. Es hatte sehr lang gedauert, bis die Geburt endlich so weit fortgeschritten war, daß Arinaya darüber nachdenken konnte, das quer liegende Kind zu drehen. Seit Wochen schon machte Arinaya sich Sorgen darum. Und jetzt, wo es wirklich darauf ankam, ließ es sich einfach nicht drehen. Normalerweise war das ein Todesurteil für Mutter und Kind.
„Alles wird gut“, redete Arinaya beruhigend auf Tabera ein. Die junge Mutter hatte bereits zwei Kinder und war einige Jahre älter als Arinaya. Sohn und Tochter hatte sie ganz ohne die Hilfe einer Hebamme zur Welt gebracht, weil es damals noch keine in der Umgebung gegeben hatte. Doch nun war Arinaya seit über einem Jahr dort. Es war die vierte Geburt, die sie im Dorf begleitete.
„Es geht nicht, richtig?“ fragte Tabera mit hochrotem Kopf.
„Nein. Du bist zu schmal, weißt du? Es tut dir nur weh und hat keinen Erfolg. Ich werde das Kind mit Lelainas Hilfe holen.“
„Aber wie?“
„Sie wird dafür sorgen, daß du schläfst und keine Schmerzen hast. Dann kann ich schneiden, um das Kind zu holen, und Lelaina wird alles wieder verheilen lassen.“
„Kannst du das denn? Du könntest mein Kind verletzen!“
„Nein. Lelaina wird das verhindern. Hab keine Angst.“
„Hast du das schon gemacht?“ fragte Tabera und biß die Zähne zusammen. Sie stöhnte laut, als sie von einer erneuten Wehe heimgesucht wurde.
„Nein. Das nicht. Bislang ließen sich alle Kinder drehen, aber du bist einfach zu schmal. Und das trotz deiner anderen Kinder!“
Es dauerte einen Augenblick, bis Tabera antwortete. „Kann ich noch weitere Kinder haben?“
„Aber sicher. Lelaina wird dafür sorgen, daß alles wieder wird wie vorher. Du wirst nicht einmal eine Narbe behalten.“
Tabera nickte. „Einverstanden.“ Arinaya war nicht überrascht, denn obwohl diese Operation ohne Lelainas Hilfe Taberas sicheres Todesurteil gewesen wäre, wußte auch die junge Mutter, wozu Lelaina imstande war. Sie hatte bereits für viele erfolgreiche Amputationen und andere Operationen gesorgt. Sie machte es möglich, daß Menschen geheilt wurden, deren Todesurteil sonst besiegelt gewesen wäre.
Arinaya untersuchte Tabera noch einmal. Sie war bereit für die Geburt und diese wäre vielleicht schon vorüber, wenn das Kind richtig gelegen hätte. Aber so bewegte es sich kein bißchen und verursachte seiner Mutter furchtbare Schmerzen. Arinaya tupfte Taberas Stirn ab und redete beruhigend auf sie ein.
Es klopfte. Kajana und Lelaina betraten den Raum. Arinaya nickte dankbar und schaute zu Lelaina.
„Das Kind läßt sich nicht drehen. Ich werde schneiden müssen, um es zu holen. Mit deiner Hilfe kann es gelingen“, erklärte sie.
„Kannst du das denn?“ fragte Lelaina zögerlich. Sie band ihre langen dunklen Locken zurück und legte ihren Umhang ab.
„Mit deiner Hilfe sicherlich.“
Lelaina nickte. Sie tastete selbst einmal nach dem Kind. Arinaya hatte richtig entschieden, keinen weiteren Versuch zu unternehmen, das Kind drehen zu wollen. Sie spürte deutlich, daß das unmöglich war.
Sie schickten Kajana hinaus, denn der zu erwartende Anblick war keineswegs schön. Lelaina legte eine Hand auf Taberas Stirn und versetzte sie mühelos in einen tiefen Schlaf, der sie von allen Schmerzen befreite. Arinaya wusch sich derweil die Hände und griff zu ihrem scharfen Messer.
„Daran sind die Frauen doch gestorben“, sagte Lelaina leise.
„Nicht an dem Schnitt, sondern erst danach. Wie hätte der Schnitt heilen sollen? Aber so würde sie auch sterben. Das Kind kann nicht geboren werden. Ich muß schneiden, und du mußt es heilen.“
„Du weißt schon, was du tust.“
„Du mußt mir helfen. Ich habe das noch nie gemacht und ich muß mit dem Kind aufpassen. Du sagst mir, wann ich aufhören muß“, bat Arinaya. Lelaina nickte.
Sie knieten einander gegenüber auf beiden Seiten des Bettes. Lelaina legte ihre Hände auf den kugelrunden Bauch, während Arinaya fast auf Hüfthöhe zu einem Querschnitt ansetzte. Blut schoß an der Klinge ihres Messers vorbei. Konzentriert versuchte Lelaina, die Blutung zu stoppen. Dann schnitt Arinaya weiter. Langsam und vorsichtig schnitt sie tiefer in den Bauch der werdenden Mutter. Lelaina mußte ihr gar nicht sagen, wann sie aufhören mußte, denn sie konnte plötzlich selbst das Kind sehen. Mit blutverschmierten Händen tastete sie nach dem kleinen Körper. Sie sah ein Bein und die Nabelschnur. Alles war voller Blut. Arinaya war zum Zerreißen angespannt, obwohl es nicht ihre erste Operation war. Sie hatte keinen großen Schnitt gemacht und mußte nun das Kind dort hindurch holen. Lelaina hielt die Blutung zurück und stillte unablässig den Schmerz, der zweifelsohne immens sein mußte. Tabera lag ganz ruhig.
Arinaya schloß die Augen und tastete konzentriert nach dem Köpfchen. Als sie es zu fassen bekam, umschloß sie es sanft mit der Hand und zog das Kind daran aus dem Bauch seiner Mutter. Sie machte es langsam und vorsichtig. Rasch umfaßte sie das kleine blutverschmierte Wesen mit beiden Händen und zertrennte die Nabelschnur, ehe sie das Kind in ein Tuch wickelte.
„Und jetzt?“ fragte Lelaina.
„Die Nachgeburt wird ganz normal folgen, darum müssen wir uns nicht kümmern“, sagte Arinaya. „Laß es verheilen!“
Lelaina nickte und legte die Hände auf den Schnitt. Gänzlich vertieft sandte sie ihre heilenden Kräfte in die Wunde und verschloß sie langsam immer weiter von innen heraus. Sie spürte, daß alles in Ordnung war.
Arinaya mußte dem Kind gar keinen Klaps geben. Es schien so erschrocken über seinen plötzlichen Eintritt in die Welt, daß es von selbst schrie. Rasch wusch sie den kleinen Jungen. Während sie ihn säuberte, zählte sie die Finger und prüfte auch alle anderen sichtbaren Körperteile. Er schien soweit ganz gesund zu sein.
Es klopfte an der Tür. Mit einem Blick auf Taberas heilende Wunde hieß Arinaya Kajana, hereinzukommen und wickelte den Säugling in eine warme Decke.
„Ich habe das Kind gehört“, sagte Kajana. Arinaya drehte sich um und hielt der jungen Frau ihren Neffen hin.
„Es ist ein Junge“, sagte sie. Kajana nahm den Kleinen zitternd in den Arm. Arinaya wusch sich die blutverschmierten Hände. Fasziniert beobachtete Kajana Lelaina dabei, wie sie den Bauchschnitt verheilen ließ. Bald war außer einem schmalen roten Schnitt und ein wenig Blut nichts mehr zu sehen.
„Es ist ein Wunder!“ rief Kajana. „Nermon! Wo bist du?“
Sie hörten Schritte. Nur Augenblicke später erschien ein sichtlich mitgenommener junger Mann in der Tür und schaute sich fragend um.
„Dein Sohn“, sagte Kajana und drückte das Bündel dem Vater in die Arme. Ihm traten Tränen in die Augen. Er blickte zu Arinaya und Lelaina und auf seine schlafende Frau.
„Ihr habt sie gerettet“, sagte er leise. „Ich hatte solche Angst um die beiden. Habt vielen, vielen Dank!“
„Gern“, sagte Arinaya. Während Vater und Tante sich um den Kleinen kümmerten, räumte Arinaya auf und säuberte alles. Lelaina saß völlig erschöpft neben dem Bett und erholte sich nur langsam. Während Arinaya noch schmerzstillende Kräuter bereitstellte, schlug Tabera die Augen auf. Zwar würde sie noch Wundschmerz spüren, doch ihr stand noch die Nachgeburt bevor. Allerdings war ihr das völlig gleich. Ihr erster Gedanke galt ihrem Kind.
Nermon legte ihr den Kleinen in die Arme. Überglücklich und erleichtert dankte die Mutter Arinaya und Lelaina. Die Halbvandhru erhob sich langsam.
„Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich jetzt gern wieder schlafen gehen“, sagte sie lachend.
„Geh nur“, sagte Arinaya. „Ich schaffe das jetzt allein.“
„Vielen Dank!“ sagte auch Kajana noch zum Abschied, dann ging Lelaina.
Im Morgengrauen war alles ausgestanden. Tabera hatte die Geburt hinter sich gebracht und schlief nun, ebenso wie das Kind. Alle konnten sie nun endlich wieder zu Bett gehen.
Müde trottete Arinaya mit ihrer Tasche in der Hand die Straße entlang. Ein Hahn krähte fröhlich auf dem Mist des Rübenbauern. Aus dem Schornstein des Bäckers quoll der Rauch. Es duftete nach frischem Brot. Helle Sonnenstrahlen machten sich daran, den Nebel des frühen Morgens zu vertreiben.
Kurz nachdem Arinaya in eine Seitenstraße eingebogen war, stand sie vor ihrem Haus. Sie durchquerte den kleinen Kräutergarten und bewunderte die Kreuzspinne in ihrem taufeuchten Netz. Leise öffnete sie die Haustür, stellte ihre Tasche auf den Küchentisch und umkreiste die Holztreppe, ehe sie die Schlafzimmertür öffnete.
Es war finster in dem Raum, aber sie fand sich blind zurecht. Sie zog die Stiefel und ihr Kleid aus und kroch im Unterkleid unter ihre Decke. Marthian wurde davon wach, rutschte zur Seite und schloß seine Frau in die Arme.
„Gut gemacht“, sagte er nur, ehe er den Kopf an ihre Schulter schmiegte und beschloß, weiterzuschlafen. Arinaya genoß seine Wärme und schlief bald darauf ein.
Sie merkte nicht, wie er zwei Stunden später aufstand und sich für die Arbeit vorbereitete. An diesem Morgen aß er allein mit Kaliron und dem kleinen Timenor, den Kaliron schnell in seine Obhut genommen hatte, denn Lelaina schlief ebenfalls noch.
Der kleine, fast zweijährige Junge saß verträumt auf dem Schoß seines Vaters und kaute an einem Honigbrot herum. Marthian beobachtete ihn grinsend und dachte an die klebrigen Finger, aber Kaliron war das egal. Er war noch zu müde, um sich damit zu befassen.
„Ich kann ihn mitnehmen“, sagte Marthian.
„Er springt dir nur in die Glut.“
„Nein, das tut er nicht. Aber der Alte wird sich nicht freuen, wenn der Kleine um dich herumdüst.“
„Also gut.“ Kaliron setzte seinen Sohn ab und sagte ihm, daß er sich an der Wasserschüssel die Finger waschen sollte. Natürlich mußte er dem tapsigen Jungen dabei helfen, aber wie Marthian fasziniert feststellte, hörte Timi auf seinen Vater. Das war meist nicht der Fall.
„Wir haben keine Milch“, stellte Kaliron fest.
„Dann hol welche“, erwiderte Marthian gelassen. Normalerweise sorgte Lelaina morgens für die Milch, die Timi so gern trank. Kaliron nickte, drückte Marthian seinen Sohn in den Arm und verließ mit einigen Münzen das Haus.
„Na? Du gehst gleich mit mir in die Werkstatt, wie findest du das?“ sagte Marthian, während er den Jungen auf dem Arm herumtrug. Allzu lang würde das nicht mehr funktionieren, denn Timi wuchs und wurde immer schwerer. Begeistert brabbelte er etwas Unverständliches vor sich hin.
Kaliron kehrte bald darauf mit einer Kanne Milch zurück und flößte seinem Sohn ein wenig Milch ein. Marthian griff derweil zu einer Decke, steckte sie zu einer Stoffpuppe und kleinen Holzklötzen in die Tasche und machte sich schließlich mit Timenor auf den Weg zu seiner eigenen kleinen Schmiedewerkstatt. Manchmal nahm er den Kleinen mit, wenn an Tagen wie diesem niemand sonst auf ihn achten konnte. Kaliron konnte seinen Sohn nur schlecht mit in die Tischlerwerkstatt nehmen, weil der alte Meister nicht viel für Kinderlärm übrig hatte.
Aber Marthian war sein eigener Chef. Die Werkstatt lag am Ende der Straße in einer kleinen Hütte. Er hatte erst alles so einrichten müssen, wie er als Schmied es brauchte. Zwar gab es in einem der Nachbardörfer noch einen Hufschmied, doch Marthian befaßte sich mit mehr Aufgaben. Er lieferte Kaliron die Beschläge für Möbelstücke und er beschlug zwar auch Pferde, aber er konnte meist als Waffenschmied arbeiten, so wie er es gelernt hatte. Menschen kamen von weit her, um sich von ihm Schwerter, Dolche und Äxte fertigen zu lassen. Er war deshalb so gefragt, weil er auf seiner Reise so viel über fremdländische Waffen gelernt hatte und dieses Wissen in seine Arbeit einfließen ließ.
Er schloß die Werkstatt auf und ließ Timenor den Vortritt. Der Kleine tapste hinein und steuerte geradewegs auf ein halbfertiges Schwert zu, das an der Wand lehnte.
„Nein, Timi“, sagte Marthian und hielt ihn an der Schulter fest. „Bleib bei mir.“
Er breitete die Decke auf dem Boden aus, legte dem Jungen das Spielzeug hin und schärfte ihm ein, sich nicht von der Decke wegzubewegen. Ihm zugewandt begann er seine Arbeit, heizte den Ofen und nahm sich des Schwertes an. Immer hatte er ein Auge auf seinen kleinen Neffen, der brav mit den Holzklötzchen spielte und fröhlich mit seiner Puppe brabbelte.
Es war noch lange nicht Mittag, als Marthian erlöst wurde. Lelaina kam, um ihren Sohn zu holen.
„Hier bist du!“ rief sie und strich ihm über das krause, dunkle Haar. Der Kleine warf sich seiner Mutter in die Arme. Als beide ihn ansahen, mußte Marthian lächeln. Beide hatten sie diese langen, spitzen Ohren und die typisch vandhrischen Katzenaugen. Der Kleine sah damit sehr niedlich aus.
„Danke, daß du ihn gehütet hast“, sagte Lelaina.
„Kali hat mir erklärt, daß du Arinaya heute helfen mußtest. Was war denn los?“
Lelaina erklärte ihm, was vorgefallen war. Der junge Mann staunte nicht schlecht, als ihm klar wurde, was die beiden Mädchen da vollbracht hatten.
„Vorhin schlief Ari noch. Wenn sie gleich nicht aufsteht, werde ich allein kochen.“
„Das ist ja kein großer Verlust“, grinste Marthian.
„Laß das nicht sie hören!“
„Sie weiß, daß sie nicht kochen kann.“
Lelaina zuckte mit den Schultern. Sie raffte Timenors Spielzeug zusammen und verabschiedete sich.
Mit einem Freudengeheul stürmte der Junge in das düstere Schlafzimmer und kletterte zu Arinaya ins Bett.
„Timi, nein! Laß sie schlafen!“ rief Lelaina protestierend, noch ehe sie in der Tür stand. Doch es war zu spät, Arinaya hatte den kleinen Störenfried bereits gepackt und kitzelte ihn. Timenor kreischte laut.
„Du störst einfach deine Tante, du Lümmel! Das gibt Rache!“ rief Arinaya. Sie griff sich den Jungen und hob ihn hoch in die Luft, ehe sie sich mit ihm aus dem Bett quälte.
„Er konnte nicht widerstehen, fürchte ich“, erklärte Lelaina.
„Wie spät ist es?“
„Gleich Mittag.“
Arinaya gähnte. „Viel zu früh.“ Sie setzte Timenor ab und begann, ihr Haar zu bürsten. Dann öffnete sie das Fenster und ließ frische Luft herein.
„Nach dem Essen gehe ich zu Tabera“, kündigte sie an.
„Dann grüß sie schön. Sie war sehr tapfer.“
Da konnte Arinaya nur zustimmen. Sie zog sich an und widmete sich dann Timenor, während Lelaina zu kochen begann. Ihr Neffe hatte, genau wie sein Vater in diesem Alter, einige Sommersprossen auf der Nase. Er war seinem Vater in den Gesichtszügen sehr ähnlich.
Freudig warf Timenor den kleinen Sandball herum, allerdings ohne den Anspruch, Arinaya damit treffen zu wollen. Sie mußte den kleinen Ball immer aus den finstersten Ecken hervorzerren.
Wohnraum und Küche befanden sich im selben Zimmer. Neben der Tür zur Arinayas Behandlungszimmer führte eine Treppe in die oberen Räume. Inzwischen lagen wieder einmal ungezählte Holzklötze auf den unteren Stufen.
Der Eintopf war gerade fertig, als Kaliron und Marthian fast zeitgleich erschienen. Lelaina brauchte beim Essen am längsten, weil sie damit an der Reihe war, Timenor beim Essen zu helfen. Danach brachte sie ihn in sein Bettchen, damit er Mittagsschlaf halten konnte, und spülte mit Arinaya die Teller. Marthian und Kaliron gingen wieder an die Arbeit.
„Ich schaue dann mal nach Tabera und dem Kleinen“, sagte Arinaya. Lelaina nickte und begab sich nach oben zu ihrem Sohn. dann legte sie sich selbst noch für einen Moment ins Bett.
Es dauerte gar nicht lang, bis Timenor wach und zu allen Schandtaten bereit vor ihr stand und sein Recht einforderte. Lelaina beschloß, mit ihm spazieren zu gehen.
So fand Arinaya das Haus verlassen vor, als sie von Tabera zurückkehrte. Sie ging hinüber in ihr Behandlungszimmer und stellte die Tasche dort an ihren Platz. Ein Regal stand an einer Wand entlang und war gefüllt mit Flaschen, Tiegeln und kleinen Behältern mit Kräutern. Hinter einem Vorhang stand eine Liege, eine weitere stand an einer anderen Wand. Arinayas viele Werkzeuge lagen geordnet auf einem kleinen Tisch. Die Wasserschüssel daneben war leer.
Sie ging hinaus in den Kräutergarten und beseitigte wucherndes Unkraut. Dabei wärmte die Sonne ihren Rücken. Es war gerade erst Frühling geworden, aber die Pflanzen gediehen bereits prächtig - ganz besonders eben das Unkraut.
Sie war gerade richtig in ihre Arbeit vertieft, als ein berittener Mann ganz in der Nähe auf der Straße von seinem Pferd sprang. Sie schaute auf. Seine Uniform kennzeichnete ihn als einen Boten der Minjora. Sofort wußte sie Bescheid.
„Ich habe einen Brief aus Kimorha“, erklärte der Mann und überreichte Arinaya das mit Wachs versiegelte Pergament. Darauf standen Marthians Name und der Name ihres Dorfes geschrieben.
„Vielen Dank“, erwiderte Arinaya.
„Ich komme in zwei Tagen wieder hier vorbei. Wenn Ihr mögt, frage ich dann nach einer Antwort und kann sie gleich nach Kimorha bringen.“
„Gern. Auf Wiedersehen!“
Der Mann verneigte sich und verschwand. Arinaya brachte den Brief ins Haus und legte ihn auf den Küchentisch. Ein wenig wunderte sie sich, daß er nur an Marthian adressiert war, denn für gewöhnlich schrieben Nilas und Kelthana an sie alle. Sie erkannte Nilas‘ Schrift, denn dieses ungelenke Hahnenfußgekritzel war nicht zu verwechseln.
Sie war kaum wieder im Garten, als Lelaina und Timenor zurückkehrten. Lelaina wunderte sich ebenfalls, als sie den Brief an Marthian entdeckte.
„Ob Nilas Geheimnisse hat?“
„Ich habe es mich auch gefragt. Das hat er noch nie gemacht, oder?“ überlegte auch Arinaya.
„Mama!“ krähte Timenor fröhlich. Lelaina strich ihm über den Kopf.
Es war noch gar nicht spät, als Marthian plötzlich in der Tür stand. Fragend sah Arinaya ihn an.
„Die Arbeit ist getan. Für heute bin ich ein freier Mann!“ grinste er.
„Das ist schön. Sieh mal, Nilas hat dir geschrieben.“
„Nilas? Oh, wie schön.“ Doch dann wunderte Marthian sich selbst, daß er nur seinen Namen geschrieben sah. Stirnrunzelnd brach er das Siegel und setzte sich zu den Mädchen und dem Kind, um dort zu lesen. Kurz darauf ließ er den Brief sinken.
„Ich werde ihm die Ohren langziehen!“ Er verdrehte die Augen.
„Was ist los?“ fragte Arinaya.
Marthian holte tief Luft. „Kelthana ist schwanger.“
„Oh“, sagte Lelaina ernst. Ihre Freundin war erst neunzehn Jahre alt - und noch immer nicht mit Nilas verheiratet.
„Die Frage war auch nicht, ob sie schwanger wird, sondern wann“, murmelte Arinaya und stützte nachdenklich den Kopf in die Hände. Obwohl sie selbst nun schon seit über zwei Jahren mit Marthian verheiratet war, war sie einer Schwangerschaft bislang erfolgreich entgangen. Das war nicht, weil sie keine Kinder wollte. Aber sie fühlte sich mit zweiundzwanzig noch nicht bereit dazu, obwohl sie im richtigen Alter war. Sie hütete so oft Lelainas Sohn und sie sah, wie anstrengend das sein konnte. Außerdem war ihr die Arbeit als Heilerin viel zu wichtig, denn sie versorgte immerhin auch die Menschen aus sieben Dörfern und nur in schweren Fällen mit Lelaina gemeinsam. Der knapp ein Jahr ältere Marthian sehnte sich ebenfalls noch nicht allzu sehr nach einem Kind, und durch ihr Wissen als Heilerin war Arinaya im Vorteil.
Marthian nickte in Arinayas Richtung. „Da hast du Recht. Und jetzt schreibt dieser Idiot mir, daß er der Meinung ist, als Oberhaupt der Minjora nicht heiraten zu müssen oder zu können. Was weiß ich, warum er das denkt. Er meint, gerade in seiner Position sei ein uneheliches Kind kein Problem. Das wird es auch nicht sein, Kelthana ist ja als seine Gefährtin angesehen. Aber sie legt jetzt natürlich großen Wert auf eine Heirat.“
„Kann ich verstehen“, sagte Lelaina.
„Ich auch. Aber wie sollen wir Nilas jemals dazu bewegen, sie zu heiraten? Und das sollte er, wenn sie ein Kind erwartet“, überlegte Arinaya.
„Er ist so ein Feigling. Ich werde ihm mal die passenden Worte schreiben. Ich versuche schon so lange, ihm klarzumachen, daß er ein Mann sein und sie heiraten soll. Ihr seht, mit welchem Erfolg.“ Marthian stöhnte.
„Ja, tu das“, stimmte Arinaya zu. „Die Arme tut mir leid. Es ist ja leider so, daß Heiraten furchtbar wichtig ist. Das gilt auch für das Oberhaupt der Minjora!“
„Allerdings“, brummte Marthian. Er griff gleich zu Feder und Papier. Mit recht drastischen Worten versuchte er, Nilas klarzumachen, daß er um seiner Liebe zu Kelthana willen endlich eine Hochzeit anstreben sollte. Ihm konnte es gleich sein, wenn er einen Bastard zeugte, aber ihr nicht. Marthian hätte sich die Haare raufen können. Nilas war in der Tat ein wichtiger und mächtiger Mann, aber auch er hatte noch Pflichten. Das schien er gelegentlich zu vergessen.
Auch Kaliron verdrehte die Augen, als er bei seiner Heimkehr davon erfuhr. Während die Dunkelheit hereinbrach, aßen sie gemeinsam zu Abend. Anschließend begann der allabendliche Kampf, in dem es darum ging, Timenor ins Bett zu bringen. Obwohl er inzwischen sterbensmüde war, sah er nicht ein, daß es an der Zeit war. Es war an seiner Mutter, ihm ein Schlaflied zu singen, als er oben in seinem Bettchen lag. Kaliron hatte seinen Gutenachtkuß bereits hinter sich gebracht und gesellte sich wieder zu den anderen. Kurz darauf erschien auch Lelaina.
Sie fühlten sich alle wie eine Familie. Nicht lang nach Timenors Geburt hatten sie mitten in Kimoraya in einem kleinen Dorf dieses Haus ausfindig gemacht und waren zu viert dort eingezogen. Gelegentlich besuchten sie ihre Familien und Nilas und Kelthana, die auch immer wieder bei ihnen zu Besuch waren.
Marthian und Kaliron verdienten als Handwerker gutes Geld. Somit wäre es für sie nicht nötig gewesen, zusammen zu wohnen, aber sie mochten es. Arinaya und Kaliron waren seit dem Tod ihres Vaters unzertrennlich und so war immer Leben im Haus.
Arinaya beschloß zeitig, schlafen zu gehen. Marthian folgte ihr solidarisch. Als sie bei Kerzenschein nebeneinander im Bett lagen, legte er die Arme um sie.
„Es war sehr einsam letzte Nacht“, sagte er leise und mit liebevollem Unterton.
„Ich weiß. Diese Geburt war die bislang schwierigste. Ohne Lelaina wäre die arme Tabera vermutlich tot, und der Kleine auch. Aber jetzt sind beide wohlauf. Lelainas magische Kräfte sind wirklich ein Segen. Mit ihrer Hilfe kann ich Dinge heilen, von denen ich noch gelernt habe, daß sie tödlich sind! Und es macht gar keine Mühe.“
„Lelaina ist ein Schatz“, sagte Marthian mit einem Lächeln. „Ich kenne nur eine Frau, die eine bessere Mutter wäre als sie.“ Arinaya runzelte fragend die Stirn, so daß Marthian lachen mußte. „Na, du! Sogar Kelthana ist jetzt soweit.“
„Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich sehe jeden Tag bei Timi, wie es ist, aber er ist nicht mein Kind. Ich könnte mir nicht vorstellen, immer für ein Kind da sein zu müssen. Ich bin doch selbst fast noch eins, ich meine - es wird sowieso passieren. Dann muß es nicht jetzt sein.“
„Nein, das ist wahr. Vor allem wette ich, daß unser Kind nicht halb so brav wäre wie Timi.“
„Wie auch, bei der Mutter“, grinste Arinaya.
Marthian küßte sie auf die Stirn und blies die Kerze aus. „Und dafür liebe ich dich.“
Der Bote kehrte wie angekündigt zurück und nahm Marthians Brief mit nach Kimorha. Der Gedanke, daß Marthian dem Oberhaupt der Minjora so gründlich den Kopf waschen durfte, belustigte Arinaya. Sie hatte den Brief nämlich gelesen. Blieb nur zu hoffen, daß er diesmal für Erfolg sorgen würde, denn Nilas war zwar ein fähiger Bursche, aber manchmal schlicht unvernünftig. Für seine Freunde tat er alles - in Lelainas Nähe wimmelte es stets vor Männern der Minjora, die ein Auge auf sie hielten. Marthian wußte das, obwohl Nilas nie davon sprach und es genoß, daraus ein Geheimnis zu machen.
Seit Nilas ihre Leitung übernommen hatte, hatte sich die Minjora zu einer vom König geachteten und dennoch unabhängigen Organisation entwickelt, die vor allem darauf abzielte, den Frieden zu sichern. Eine Machtübernahme, wie sie Linthizan gelungen war, sollte fortan nicht mehr möglich sein. Aber unter diesem Deckmantel wurden auch viele heimliche Geschäfte abgewickelt, genau wie zuvor auch.
Kurz nach dem Mittagessen, als Arinaya gerade frische Salbe zubereitete, klopfte es. Sie öffnete die Tür und schaute in zwei ernste Gesichter. Es waren Bauernjungen aus der Nachbarschaft, ein kleiner sommersprossiger Bursche von vielleicht zehn Jahren und sein älterer Bruder. Der Jüngere hielt mit schmerzverzerrtem Blick seinen rechten Arm mit der linken Hand. Der Arm war rot und blau angeschwollen und erschreckend deformiert. Arinaya sah auf einen Blick, daß er gebrochen war.
„Kommt herein“, sagte sie und führte die beiden ins Behandlungszimmer. Der geplagte Junge setzte sich auf die Liege, während sein Bruder in der Tür stehenblieb.
„Er wollte unsere Katze aus dem Apfelbaum holen und ist gestürzt“, erklärte er. Arinaya besah sich den gebrochenen Arm des kleinen Jungen genau. Sie würde den Bruch richten müssen, ehe sie ihn schiente, denn die Knochen hatten sich übereinander geschoben. Der Bursche mußte höllische Schmerzen haben, was den Tränen in seinen Augen deutlich anzusehen war.
„Tut weh, was?“ fragte sie. Der Kleine nickte stumm. Sie dachte kurz darüber nach, ob sie Lelaina holen sollte, aber sie schlief vermutlich bei Timenor.
„Du mußt jetzt ganz tapfer sein“, sagte sie und bat den Älteren, seinen kleinen Bruder festzuhalten. Unverzagt schlang er die Arme um den Kleinen, dann umfaßte Arinaya den gebrochenen Arm an Handgelenk und Ellenbogen. Geschickt und schnell zog und schob sie so an dem deformierten Arm, daß die Knochen wieder zusammenrutschten. Unter lautem Schmerzensgeheul zappelte der Junge in den Armen seines Bruders und weinte laut, als Arinaya die schmerzende Schwellung mit Vilkibussalbe einrieb und dann schiente.
Sie verließ kurz den Raum und holte in der Küche aus einem Vorratsglas eine Handvoll getrocknete, zuckrige Früchte - Leckereien für Timenor, aber große Jungen mochten das sicherlich auch. Sie legte dem weinenden Jungen die Früchte in die Hand, während sie ihm einschärfte, den Arm ruhen zu lassen. Mit einem Leinentuch band sie ihm eine Schlinge, in die er den Arm betten konnte.
„Komm in zwei Wochen wieder, dann sehe ich mir den Bruch an. Bald wirst du die Schiene wieder los und dein Arm wird ganz gesund sein“, versprach sie.
„Habt vielen Dank!“ sagte der ältere Bruder. Der Kleine bedankte sich für die Früchte und kaute selig darauf herum. Ehe sie gingen, gab der Ältere Arinaya zwei Silberstücke, für die sie sich herzlich bedankte. Gedankenversunken schaute sie den beiden nach, ehe sie die Tür schloß.
Das war ihr tägliches Geschäft. Sie verkaufte den Menschen Arzneien, stattete den Alten Hausbesuche ab und wußte die meisten üblichen Krankheiten zu heilen. Seltener kam es vor, daß sie Lelainas Hilfe für Operationen brauchte. Gemeinsam hatten sie schon einige Menschen mit Blinddarmentzündung oder ähnlichem gerettet. Doch sie sah sich trotz allem von einer Wunderheilerin weit entfernt. So manchen Blinden oder Lahmen hatten die Mädchen abweisen müssen, weil sie dagegen kein Mittel wußten.
Gegen Abend kehrte Marthian mit einem Säckchen voller Goldmünzen aus der Werkstatt heim. Der Verwalter eines Fürsten war gekommen, um eine Handvoll Äxte abzuholen. Der Stolz stand Marthian ins Gesicht geschrieben, denn er war wirklich reich entlohnt worden. Ähnliche Einnahmen hatte er meist nur, wenn Nilas bei ihm eine Lieferung Dolche bestellte, was jedoch auch nicht selten vorkam.
„Hoffentlich regnet es morgen nicht“, sagte Lelaina. Auf ihrem Schoß saß Timenor und schob auf dem Tisch seine Klötzchen herum. Kaliron hatte mit einem Bauern gesprochen und konnte am nächsten Tag zwei Pferde leihen, um mit seiner kleinen Familie einen Ausflug zu machen. Es war ein arbeitsfreier Tag, den sie für ein Picknick nutzen wollten.
Und sie hatten Glück: Die Frühlingssonne schien wärmend, als sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück eine Tasche packten und aufbrachen. Kaliron ging nicht ohne sein Schwert, denn er konnte nie sicher sein. Lelaina führte ihren Sohn an der Hand, während sie hinüber zum Bauernhof gingen, um die Pferde zu holen.
Marthian und Arinaya blieben zuhause. Der junge Schmied setzte sich in die Küche und schrieb einen Brief an seine Eltern in Kimorha. Bislang hatte er dazu keine Muße gehabt und es konnte auch warten, bis der Bote wieder zurückkehrte.
Arinaya lag faul auf dem Bett herum und träumte. Traurig dachte sie daran, daß sie keine Familie mehr hatte, der sie schreiben konnte. Aber Lelaina hatte den Tod ihres Vaters durch Linthizan gerächt, indem sie ihn getötet hatte. Nachdenklich starrte Arinaya auf ihre Dolche, die neben Marthians Schwert in einer Halterung an der Wand hingen. Irgendwo im Schrank lagen ihre Hose und ihr Hemd, die ihr damals so gute Dienste erwiesen hatten. Es kam ihr vor, als läge das ewig zurück. Vor Monaten hatten sie einen Brief von Vikormos erhalten, von Zaruk hatten sie ewig nichts gehört.
Nie hätte Arinaya damit gerechnet, sich doch in Kimoraya wiederzufinden. Sie führte wieder ein ganz normales Leben, auch wenn es ihrer Schwiegermutter nicht normal genug war. Arinaya arbeitete für ihren Geschmack zuviel und dachte zuwenig an Kinder. Marthians Schwester Lenia hatte inzwischen eine Tochter und von Arinaya wurde dasselbe erwartet. Aber sie dachte nicht daran, sich von seiner Mutter beeinflussen zu lassen. Gut nur, daß diese nicht wußte, welch schlechte Köchin Arinaya war.
„Was fangen wir mit unserer gestohlenen Zeit an?“ riß Marthian sie aus ihren Gedanken. Er legte sich neben sie ins Bett und seufzte. Sie drehte sich zu ihm und bedachte ihn mit einem Lächeln. Langsam griff sie nach seiner Hand und strich mit den Fingern über seine rauhe Haut. Das Schmiedehandwerk war schmutzig, aber seine ganze Leidenschaft.
Seine Blicke glitten über ihren Körper. Manchmal dachte er, daß er noch viel zuwenig Zeit mit ihr verbrachte.
„Ich habe meinen Eltern geschrieben, daß wir uns sehr redlich um Nachwuchs bemühen“, berichtete er augenzwinkernd.
„So würde ich das nicht sagen - wir bemühen uns ja nicht um Nachwuchs. Wir tun nur das, was dazu notwendig wäre!“ grinste Arinaya. Marthian näherte sich ihr und küßte sie zärtlich.
„Zu schade aber auch!“ spöttelte er und schlang einen Arm um sie. Sie fuhr mit einer Hand durch sein Haar und strich über seinen Rücken, ehe sie ihm das Hemd aus der Hose zog. Er streichelte ihre Wange und streifte das Hemd über den Kopf. Arinaya legte ihre Hand auf den Bund seiner Hose und lauschte auf seinen stoßweisen Atem. Sein Herzschlag beschleunigte sich allein dadurch. Als sie seine Hand auf ihrem Körper spürte, schloß sie die Augen und genoß seine Berührungen. Er legte die Hand an den Saum ihres Rocks und schob ihn langsam hoch. Sie grinste und griff nach seiner Hand, als er für einen Augenblick mit dem Kopf in ihrem Schoß verschwand.
Im Handumdrehen hatte er sich seiner Hose entledigt. Gänzlich ineinander verschlungen lagen sie da, ohne daß Marthian sich mit ihrem Kleid aufgehalten hätte. Aber das mußte er auch gar nicht. Sie zog ihn zu sich heran, als er sich ihr näherte. Er küßte sie in den Nacken und vergaß alles um sich herum. Ihre Finger krallten sich in seinen Rücken, als er ihr das Kleid von den Schultern streifte und ihre Haut mit Küssen übersäte. Sie bäumte sich unter ihm auf, weil er sie so sehr in den Wahnsinn trieb - und dafür ließ er sich sehr viel Zeit.
Erst viel später lagen sie Arm in Arm da - unwillig, sich zu bewegen. Marthian hatte sich nur die Hose wieder angezogen und befand sich irgendwo zwischen Wachsein und Schlaf. Arinaya strich ihm durchs Haar und starrte gedankenverloren an die Decke. Die Tür war nur angelehnt, deshalb hörte sie das zaghafte Klopfen an der Haustür sofort. Leise seufzend erhob sie sich und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Sicherlich brauchte jemand ihre Hilfe.
Sie hatte die Tür kaum geöffnet, als sie überrascht innehielt. Für einen Augenblick suchte sie nach Worten, ehe sie die Tür weiter aufstieß.
„Komm herein. Was tust du hier?“ entfuhr es ihr.
„Wer ist da?“ fragte Marthian.
„Es ist Kelthana“, erwiderte Arinaya und nahm ihrer Freundin eine Tasche ab. Gänzlich bepackt stand das zierliche blonde Mädchen vor ihr. Am Zaun hatte sie ein Pferd angeleint.
„Kelthana?“ rief Marthian fragend. Im nächsten Augenblick stand er nur mit einer Hose bekleidet da und traute seinen Augen kaum.
Noch immer hatte Kelthana nichts gesagt. Sie ließ ihre Taschen zu Boden sinken und setzte sich auf die Bank an den Küchentisch. Sie sah abgekämpft aus, deshalb reichte Arinaya ihr einen Becher mit Wasser.
„Darf ich bei euch bleiben?“ fragte Kelthana.
„Natürlich darfst du das. Aber erzähl doch erst mal“, sagte Arinaya. Sie setzte sich mit Marthian zu ihrer Freundin, deren Gesicht von großem Unglück zeugte - dabei hätte sie doch allen Grund zur Freude haben sollen.
„Nilas wollte euch schreiben“, begann Kelthana leise. „Habt ihr seinen Brief erhalten?“
„Ja“, sagte Marthian. „Aber der Brief war nur an mich gerichtet! Das fand ich eigenartig, nichtsdestotrotz habe ich den anderen jedoch davon erzählt.“
„Meinen Glückwunsch. Eigentlich ist das ja eine schöne Nachricht - ein Kind ist immer wunderbar“, sagte Arinaya ermutigend.
„Ja, eigentlich ist es das. Ich weiß nicht, wann es passiert ist, sicherlich schon vor zwei oder drei Monaten. Als ich mir kürzlich sicher war, daß ich schwanger bin, habe ich es ihm gesagt. Er war entsetzt. Als ich davon sprach, daß wir heiraten sollten, ist Nilas fast in Panik geraten. Er sagte, er könne und wolle das nicht. Als ich ihn dann fragte, ob er auch das Kind nicht will, sagte er gar nichts.“ Kelthana verbarg das Gesicht in den Händen. Als sie leise zu schluchzen begann, setzte Arinaya sich zu ihr und legte tröstend einen Arm um sie.
„Ihm kann es gleich sein. Er kann sich einen Bastard erlauben. Aber wie stehe ich da? Er ist so ein Feigling. Ich habe ihn gefragt, warum er mich nicht heiraten will und ob er vielleicht noch andere Frauen will. Er konnte es mir nicht sagen, doch dann meinte er, daß er sich nicht vorstellen könnte, Vater zu sein. Ein Mann wie er könne kein Kind gebrauchen!“ Das arme Mädchen war hörbar verzweifelt, wischte sich zitternd über die tränenfeuchten Wangen.
„Dieser Idiot“, regte Marthian sich kopfschüttelnd auf. „Sein Vater war auch Assassine und hat ihn allein großgezogen! Zumindest, wenn man von der Großmutter absieht.“
„Was soll ich denn jetzt machen?“ fragte Kelthana schluchzend. „Liebt er mich denn gar nicht?“
„So würde ich das nicht sagen. Er liebt dich sicherlich! Aber diese Verpflichtungen machen ihm Angst. Dabei kann er auch als Oberhaupt der Minjora heiraten und Kinder haben“, sagte Arinaya.
„Er meinte, das macht uns zur Zielscheibe.“
„Ja, schon. Aber du bist nun einmal da und ob ihr nun verheiratet seid oder nicht, ändert daran nicht viel. Daß er es sich in seiner Position erlauben könnte, einen Bastard zu haben, ist nur Wasser auf seinen Mühlen. Aber er liebt dich trotzdem und wenn er erst sein Kind sieht, wird er der beste Vater sein. Ich weiß das, ich habe schon viele Väter weinen sehen, als sie ihr Kind in den Armen halten durften“, versuchte Arinaya, Zuversicht zu verbreiten.
„Aber ich will so nicht leben!“ rief Kelthana. „Ich habe es ihm gesagt. Ich habe gesagt, daß er nur eine Wahl hat: Entweder er heiratet mich oder ich gehe. Ich habe lieber einen Bastard und bin allein, als noch mit dem Vater zusammenzuleben, der mich nicht will!“
„Und was hat er gesagt?“ fragte Marthian.
„Ich bin hier! Was denkst du denn?“
„Er hat dich gehen lassen?“ fragte Arinaya ungläubig.
„Nein, nicht direkt. Er hat eigentlich gar nichts gesagt. Er ist weggelaufen, er wollte nachdenken. Aber das habe ich auch getan. Er ist irgendwo hingegangen, wahrscheinlich hat er dem Bier zugesprochen. Ich weiß es nicht. Und dann habe ich auch nachgedacht und meine Sachen gepackt. Er kann es sich jetzt überlegen. Entweder er heiratet mich und erspart unserem Kind diese Schande, oder ich gehe.“ Kelthana senkte den Blick und schnappte nach Luft, ehe sie weinend den Kopf an Arinayas Schulter lehnte. Diese sah, wie Marthian vor Wut knallrot im Gesicht wurde.
„Ich habe ihm meine Meinung dazu geschrieben. Wenn er nicht bald vernünftig wird, kann er wirklich etwas erleben!“ brauste er auf.
„Laß nur“, sagte Arinaya. „Kelthana, du bleibst jetzt bei uns. Wir haben genug Platz für dich, das geht schon. Und glaube mir, er wird zur Vernunft kommen. Er wird dich holen und dann werdet ihr heiraten und eine Familie haben. Weißt du, Nilas ist einfach so. Aber sieh mal, er ist schon so lang an deiner Seite.“
„Aber nur, weil ich ihm bisher nicht dieses Ultimatum gestellt habe.“
„Ja, das stimmt. Aber es fiel ihm auch so schon schwer genug. Er war eigentlich immer allein und frei, und jetzt hat er dich. Bald sogar ein Kind. Er ist unvernünftig, aber er wird es lernen!“ beharrte Arinaya.
„Dabei helfe ich ihm persönlich“, fluchte Marthian ungehalten. Seine Frau mußte ihn nur ansehen, um zu wissen, wie wütend er war, denn seine Augen funkelten gefährlich. Arinaya bat ihn jedoch, die Liege im Behandlungsraum mit einer Matratze als Bett herzurichten und Kelthanas Sachen hinüberzubringen. Währenddessen ging sie mit dem Mädchen nach oben in das kleine Zimmer, in dem der Waschzuber stand, und sorgte für ein schönes heißes Bad. Kelthana war nach der tagelangen Reise schmutzig und erschöpft und sollte wieder zu Kräften kommen. Während Marthian sein Glück in der Küche versuchte und begann, das Abendessen vorzubereiten, blieb Arinaya bei Kelthana, die sich bei dem angenehm warmen Bad sichtlich beruhigte. Sie half ihr dabei, sich die Haare zu waschen und hörte einfach nur zu, als Kelthana sich ihren Kummer von der Seele redete.
Sie liebte Nilas nicht zuletzt natürlich auch deshalb, weil er eben ein solcher Rebell war. Arinaya konnte sogar Nilas verstehen, denn an Kelthanas Stelle hätte sie vielleicht anders reagiert - ruhiger, gelassener. Aber sie wußte, wie das Mädchen erzogen war. Sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut und war kreuzunglücklich, weil sie denken mußte, daß Nilas sie nicht mehr wollte.
„Wenn das nur alles wäre“, seufzte Kelthana irgendwann.
„Was war denn noch?“
„Vor kurzem bekam er einen Brief von meiner Familie.“
„Was?“ Arinaya erschrak sichtlich und spürte, wie ihr heiß wurde. „Wie denn das? Wie haben sie das herausgefunden?“
„Das war nicht schwer. Ich habe ihnen damals seinen Namen gesagt. Irgendwie muß ihnen zu Ohren gekommen sein, wer er ist. Daß er aus Kimorha stammt, wußten sie auch. Sie haben alles nachgeforscht, sie wußten genau, wer er ist und daß ich bei ihm bin. Mein Bruder hat den Brief an Nilas verfaßt. Ich habe ihn gelesen; er war wirklich böse. Er sprach davon, daß ich jetzt entehrt wäre und eine Verbrecherin und was noch alles! Sie wußten jedenfalls auch, daß wir nicht verheiratet sind und haben deshalb gefordert, mich nach Hause zurückzuschicken. Vor dem Gesetz unterstehe ich ja immer noch den Befehlen meines Vaters, da Nilas nicht mein Mann ist. Das ist es ja gerade - sie dürfen es sogar fordern. Wenn sie es wirklich ernst meinen, werden sie ihre Forderung durchsetzen. Dann müßte ich nach Hause zurück!“
Arinaya nickte ernst. Was Kelthana da sagte, stimmte leider. Sie war vor fast drei Jahren von zu Hause ausgerissen, nachdem ihre Familie sie wegen Nilas ohnehin fast verstoßen hätte. Aber vor Recht und Gesetz mußte sie ihrem Vater gehorchen. Er bestimmte über seine Tochter, solange sie nicht verheiratet war - das war das einzige, was sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr selbst bestimmen konnte.
„Dann müßte Nilas dich doch allein deshalb heiraten. Solche Sachen können bis zum König gehen, und deine Familie ist leider im Recht. Dagegen kann er auch als Oberhaupt der Minjora nicht viel tun“, gab Arinaya zu bedenken.
„Das habe ich ihm auch gesagt. Wenn er mich nicht heiratet, muß ich zurück. Aber er hat es abgetan. Er sagte, daß er ein wichtiger Mann ist und das klären kann. Ihm würde man sich nicht widersetzen.“
„Das ist doch albern. Die Gesetze gelten auch für ihn!“
„Nicht einmal das wollte er für mich tun. Er läuft lieber Gefahr, daß er mich verliert, als mich zu heiraten!“
„Nein, ach was. Im Ernstfall würde er es tun, da bin ich sicher.“
„Warum tut er mir das an?“
Darauf hatte Arinaya keine Antwort. Sie wußte nur, daß Nilas es nicht böse meinte, doch er dachte immer noch zuallererst an sich selbst. Während Kelthana schweigend ihre Haare bürstete und sich oben allein ankleidete, erzählte Arinaya Marthian auch von diesen Neuigkeiten. Einem Wutanfall nahe, tigerte er unruhig durch die Küche und versuchte, seinen Zorn zu bändigen.
„Er ist so ein Egoist!“ tobte er plötzlich.
„Das ist wohl wahr. Allein deshalb muß er sie heiraten, sonst ist sie für ihn verloren!“ sagte Arinaya kopfschüttelnd.
„Er soll mir nur unter die Augen treten und dann werde ich ihm erzählen, was Kelthana dann passiert. Vor allem jetzt, da sie mit seinem Bastard schwanger ist. Sie könnte als Bettlerin in der Gosse enden!“
Arinaya nickte ernst, auch trotz Marthians drastischer Worte. Genau das war die Lage der Dinge. Die rigiden Gesetze Kimorayas ließen zu, daß Kelthana vielleicht verarmte. Nilas schien nicht klar zu sein, was seinem Mädchen drohte, doch das hatte sie wirklich nicht verdient.
Kelthana ging Marthian in der Küche zur Hand, als sie fertig war. So kochte das Essen bereits, als Lelaina, Kaliron und Timenor ausgehungert nach Hause zurückkehrten.
„Kelthana!“ rief Lelaina überrascht, als sie ihre Freundin in der Küche sitzen sah. Kaliron traute seinen Augen kaum, doch für Kelthana gab es in diesem Moment nur einen: Timenor. Sie kniete sich auf den Boden und lockte den kleinen Jungen in ihre Arme, der sich hocherfreut an sie klammerte. Zwar sah er sie nur selten, aber mit ihrem engelsgleichen blonden Haar faszinierte sie ihn immer wieder. Kaliron sagte immer wieder, daß sie vermutlich seine erste Liebe war.
„Timi!“ rief Kelthana verzückt und wirbelte ihn durch die Luft. „Du hast mir gefehlt, weißt du das?“
Kaliron dachte stumm bei sich, daß sie wohl der glücklichste Mensch sein würde, wenn sie erst ein eigenes Kind hatte. Sie überschüttete seinen Sohn so maßlos mit Liebe, daß es ihn immer wieder erstaunte. Geschwind setzte sie sich mit Timenor auf die Bank und zog ihn auf ihren Schoß, dann fuhr sie ihm durch sein krauses dunkles Haar und strich über seine spitzen Ohren.
„Das ist aber eine Überraschung“, sagte Lelaina angesichts ihrer Freundin. „Und du bist ganz allein hier?“
Kelthana erklärte ihr und Kaliron während des Essens, was sie zu dieser Flucht bewogen hatte. Sie gab zu, daß auch der Gedanke an ihre Familie ein Grund war.
„Hier finden sie mich nicht. Aber Nilas weiß sicher, daß ich hier bin. Wo sollte ich sonst sein? Wenn, dann sucht er mich hier“, sagte sie.
„Das hoffe ich für ihn“, sagte Kaliron. „Marthian und ich werden ihm sagen, was jetzt seine Aufgabe ist. Wir lassen nicht zu, daß du mit deinem Kind zu deiner Familie zurückkehren mußt!“
„Bestimmt nicht“, pflichtete Marthian bei. Die beiden Burschen hatten keine Zweifel, daß sie Nilas überzeugen würden. Arinaya war sich da nicht sicher, denn Nilas‘ Freiheitsdrang war riesig. Doch auch sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, daß er Kelthana ihrer Familie überlassen würde.
Kelthana nahm mit der Krankenliege in Arinayas Arbeitszimmer als Bett vorlieb, denn es genügte ihr. Bei ihren Freunden fühlte sie sich sicher und machte am nächsten Morgen gleich einen zufriedeneren Eindruck. Aber da begann auch die undankbare Aufgabe des Wartens. Während die Burschen ihrer Arbeit nachgingen, vertrieben die Mädchen sich im Haus die Zeit mit Timenor. Lelaina spürte deutlich, mit wieviel Enthusiasmus sich Kelthana um den Kleinen kümmerte. Das hatte sie zwar immer getan, aber jetzt, da sie selbst schwanger war, war der Kleine plötzlich erst recht alles für sie.
„Du wirst mir doch bei der Geburt helfen, oder?“ fragte sie Arinaya auf einmal.
„Du wohnst in Kimorha!“ wandte diese überrumpelt und zu Recht ein.
„Das geht schon“, behauptete Lelaina. „Wir gehen sie einfach besuchen, bevor es soweit ist. Bei mir warst du jedenfalls toll! Mein nächstes Kind mußt du auch holen.“
„Bist du etwa auch schwanger?“ fragte Kelthana entgeistert.
„Nein, wo denkst du hin! Der Kleine reicht mir fürs Erste. Ich bin nicht einmal neunzehn! Wir sind doch so jung“, winkte Lelaina ab.
„Nur mir selbst werde ich nicht helfen können, wenn ich einmal ein Kind bekomme“, grinste Arinaya.
„Man hört in Kimorha viel von euch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, einen Menschen aufzuschneiden. Das muß doch furchtbar sein!“ sagte Kelthana.
„Damit retten wir Leben. Erst vor einigen Tagen habe ich mit Lelainas Hilfe ein Kind geholt, das sich nicht drehen ließ. Ich mußte es aus dem Bauch seiner Mutter schneiden“, erzählte Arinaya.
„Du meine Güte! Ihr vollbringt wahre Wunder. Das ist bewundernswert!“ staunte das blonde Mädchen.
Gemeinsam bereiteten sie später das Mittagessen vor. Gerade Arinaya ertappte sich immer wieder dabei, wie sie aus dem Fenster spähte und nach Nilas Ausschau hielt. Es kamen allerdings bis in den Nachmittag nur zwei Frauen, die Kräuter von ihr kauften und ein Bursche, der sich an einer Sense schwer geschnitten hatte. Mit blutiger Kleidung stand er vor der Tür und wurde von Lelaina versorgt. Sie ließ den tiefen Schnitt an seinem Arm verheilen. Das Blut tropfte auf den Boden, aber bald hörte es auf. Arinaya wusch anschließend seinen Arm ab, verband ihn und bot ihm auf den Schreck einen Tee an.
Als er fort war, ließ Arinaya sich seufzend auf die Bank sinken. „An manchen Tagen stehen die Menschen Schlange, dann sehe ich tagelang keinen. So etwas läßt sich nicht planen!“
„Das ist wahr.“ Kelthana lächelte. „Die Menschen sind sicher froh, daß sie dich haben.“
Sie waren noch nicht lang wieder allein, als es klopfte. Arinaya ging wie üblich, um zu öffnen. Als sie sah, wer gekommen war, mußte sie grinsen. Wie ein geprügelter Hund stand Nilas vor der Tür. Er war allein, ohne Pferd und Gepäck, weshalb Arinaya vermutete, daß er mit Begleitern gereist war, die jetzt im Gasthaus auf ihn warteten.
„Sieh an“, sagte sie belustigt zu ihm. „Komm herein.“
Langsam folgte er ihr. Mit hängenden Schultern stand er schließlich im Wohnraum und schaute zu Kelthana.
„Hallo Nilas“, begrüßte Lelaina ihn. „Wir haben schon auf dich gewartet.“
„Hallo“, erwiderte er und nahm seinen Umhang ab. „Ich dachte mir, daß ich dich hier finde, Kelthana.“
„Wo auch sonst“, erwiderte sie.
„Du hast mir ja nichts gesagt - du bist einfach weggelaufen! Ich dachte, dir wäre sonstwas passiert. Bis ich sah, daß deine Sachen weg sind. Ich bin sofort gekommen.“
„Setz dich“, sagte Arinaya und schob ihm einen Becher mit Wasser hin. Nilas nahm gegenüber von Kelthana Platz.
„Du meinst es ernst“, stellte er fest und sah Kelthana an.
„Ja. Ich gehe, wenn du mich nicht heiratest“, beharrte sie.
„Wohin denn? Dann mußt du zu deiner Familie!“
„Willst du das?“ fragte sie fordernd. In diesem Moment klopfte es. Es war Marthian.
„Habe ich dich also doch gesehen“, stellte er fest, als er Nilas am Tisch sitzen sah. Er blieb stehen, obwohl die Mädchen ihm Platz machten. „Der Bote hat dich noch nicht erreicht, nehme ich an.“
„Nein“, sagte Nilas.
„Fein, dann sage ich dir jetzt, was ich dir geschrieben habe. Wollen wir?“ Marthian klang ein wenig ungeduldig, wenngleich ihm die Wut nicht anzusehen war. Wie die Ruhe selbst stand er erwartungsvoll da und tatsächlich folgte Nilas ihm vor die Tür. Die beiden trotteten die Straße entlang zu den Feldern hinaus. Die ganze Zeit über sagte Marthian nichts. Er genoß es ein wenig, daß Nilas schuldbewußt neben ihm her schlich.
„Du weißt, was du zu tun hast, nicht wahr?“ fragte Marthian irgendwann.
„Sicher.“
„Und hast mir ganz geschickt verschwiegen, daß du es erst recht tun mußt, weil sie sonst nach Lumizhan zurückkehren muß.“
„Unsinn. Die haben die gesamte Minjora gegen sich.“
„Und du hast den König über dir. Das ist Gesetz, Nilas! Sie untersteht vor dem Gesetz ihrem Vater. Sie gehört ihm! Du kannst das nicht verleugnen. Entweder heirate sie oder sie ist weg. Mit deinem Kind.“
„Oh“, stöhnte Nilas. „Komm schon, wer drückt sich denn hier vor Kindern?“
„Das haben Ari und ich gemeinsam entschieden. Sie arbeitet hart, weißt du. Die Menschen aus sieben Dörfern brauchen sie! Sie kann kein Kind gebrauchen und ich kann das verstehen. Ich wäre ihr vermutlich keine große Hilfe, weil ich bei uns den meisten Lohn nach Hause bringe. Davon leben wir alle vier.“
„Und damit wären wir beim Thema. Ich führe die Minjora! Ich habe keine Zeit für eine Frau und Kinder. Wie sieht das denn aus?“
Marthian verdrehte die Augen. „Komm schon, dein Vater hat auch für dich gesorgt und es war ihm gleich, ob andere sich lustig machen! Weißt du, er war ein ganzer Kerl. Er war Assassine und hätte deine Mutter geheiratet, um ihr die Schande zu ersparen. Bei allem, was mir heilig ist, du weißt doch selbst am besten, was es heißt, ein Bastard zu sein!“
„Es hat aber nie jemanden gestört!“
„Ja, schön. Aber Kelthana stört es, daß du sie so zurückweist und ihr und dem Kind diese Schande nicht ersparen willst. Denk mal drüber nach: Ihr Vater und ihr Bruder werden kommen und jeder Richter dieses Landes, selbst der König, wird ihnen zugestehen, Kelthana mitzunehmen. Und dann wird sie dein Kind bekommen, ohne daß du bei ihr bist, und sie wird von ihrer Familie und allen deshalb geächtet, weil du nur an dich selbst denkst! Weißt du, was das für sie bedeutet? Sie wird auf ewig ihrem Vater unterstehen, weil kein Mann sie nehmen wird. Und du tust es ja auch nicht! Ihr Vater wird über dein Kind bestimmen. Willst du das vielleicht?“
Nilas schaute auf und erwiderte Marthians Blick ganz fest. Dann schüttelte er den Kopf. „Aber ich habe Angst davor.“
„Es wird sich eigentlich nichts ändern. Du wirst in kein Gefängnis wandern. So ist eine Ehe nicht. Du wirst weiterhin so frei oder unfrei sein, wie du es zuläßt. Kelthana läßt dir doch schon alle Freiheiten! Tu ihr nicht weh. Sie ist so ein liebes Mädchen, sie verdient Besseres.“
„Nein. Sie hat mich überhaupt nicht verdient. Aber das habe ich damals schon gesagt.“
„Du wirst ja auch nicht klüger! Verdammt, Nilas, heirate sie oder du bist die längste Zeit mein Freund gewesen! Du hast doch überhaupt keine Wahl! Sie erwartet dein Kind und du mußt sie vor ihrer Familie schützen. Du liebst sie doch, oder nicht?“
„Ja.“ Es kam ohne jedes Zögern.
„Schön! Dann sind wir uns doch einig. Du bist der einzige, der ihr helfen kann und der einzige, der ihr seine Liebe beweisen muß. Tu es! Es ist ihr verdammtes Recht. Ich schwöre dir, du lernst mich kennen, wenn du weiterhin so feige bist.“ Marthian blieb abrupt stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich hätte sie damals nicht mitnehmen sollen“, sagte Nilas leise.
„Warum denn das? Wäre es wirklich soviel besser, sie nicht zu haben? Brauchst du es wirklich, immer dann irgendwelche Mädchen zu verführen, wenn dir danach ist? Jetzt hast du eine, die dich liebt, und sie ist klug und hübsch. Du Idiot, mach doch mal deine Augen auf und sei froh!“
„Ich bin aber nicht so! Ich brauche meine Freiheit!“ lamentierte Nilas.
„Ich bitte dich! Du bist einundzwanzig Jahre alt, du bist kein Kind mehr und du bist nicht mehr allein. Dieses Mädchen braucht dich. Weißt du, Liebe ist alles andere als Nehmen! Du mußt vor allem geben. Sie braucht dich einfach. Sie und dein Kind. Ich habe selbst noch keins, aber das wird sich noch ändern und ich sehe jeden Tag an Timi, welch ein Geschenk ein Kind ist. Warte, bis du es in deinen Armen hältst. Kelthana trägt auch dein Fleisch und Blut unter dem Herzen und du wirst dich dafür zerreißen lassen. Also mach schon. Du hast keine Wahl.“
Langsam schien es Nilas klar zu werden. Er stand neben Marthian und schaute hilfesuchend in die Luft. Marthian hatte mal wieder Recht, das mußte er einsehen.
Schließlich nickte er. Mehr brachte er nicht zustande, aber das genügte Marthian schon. Stumm kehrten sie zurück und betraten die Küche. Die anderen saßen dort und schauten sie erwartungsvoll an. Nilas trat vor, dann löste er seine beiden Dolche vom Gürtel und legte sie vor Kelthana auf den Tisch.
„Sie waren alles, was mich ausmacht. Immer. Ich bin der Sohn eines Assassinen, ich bin allzu gern gesetzlos und ich liebe meine Freiheit. Das weißt du nur zu gut, Kelthana. Ich dachte, ich könnte nur so existieren, aber da kannte ich dich noch nicht. Und jetzt bekommen wir ein Kind. Es wird das schönste Kind sein, bei dieser Mutter.“ Er lächelte. „Verzeih mir, daß ich so ein Idiot bin. Ich will dich nicht verlieren, und auch wenn es mir schwer fällt, will ich dich zur Frau nehmen. Bitte.“
Arinaya und Lelaina waren sprachlos, während Marthian nur grinste. Kelthana erhob sich langsam und fiel Nilas mit Tränen in den Augen um den Hals. Das reichte ihm als Antwort. Er drückte sie an sich und strich ihr übers Haar.
„Ich bin so ein Idiot. Ich habe zugelassen, daß du mir wegläufst. Aber das passiert nie wieder. Und wenn deine Familie kommt und dich holen will, schicke ich sie nach Hause, weil du dann meine Frau bist!“
Marthian konnte gar nicht glauben, daß es Nilas war, der das sagte. Stille Wasser sind tief, dachte er belustigt.
Um das Ganze gebührend zu feiern, verbrachten sie den Abend im Gasthaus. Auch Lelaina und Kaliron waren dabei, denn Lelaina hatte ein untrügliches Gespür dafür, ob ihr Sohn schlief. Dafür mußte sie gar nicht in der Nähe sein.
Nilas holte Kelthana für diese Nacht wieder zu sich. Seine Männer staunten nicht schlecht, als sie hörten, daß er nun doch heiraten wollte, doch sie beglückwünschten ihn herzlich zu dieser Entscheidung.
So gesehen hätten er und Kelthana zwar wieder nach Kimorha zurückkehren können, aber das wollten sie nicht. Jetzt, wo sie gerade einmal wieder bei ihren Freunden waren, konnten sie auch noch einige Tage bleiben. Es blieb immer noch genug Zeit, die Hochzeit zu organisieren.
Nilas begleitete Marthian am nächsten Tag zur Arbeit, blieb aber nur bis zur Mittagszeit. Da nie geheim blieb, wo er sich befand, verfolgten ihn auch seine Aufgaben. Kelthana indes vertrieb sich die Zeit mit Lelaina, während Arinaya sich mit einem Pferd auf den Weg machte und in den umliegenden Dörfern nach Kranken und bettlägerigen alten Leuten schaute.
Auf dem Rückweg stattete sie Tabera einen Besuch ab. Als sie an diesem Abend ins Bett sank, hatte sie das gute Gefühl, wieder etwas vollbracht zu haben. An Marthian geschmiegt schlief sie bald ein und erwachte am nächsten Morgen ausgeruht und guter Dinge. Marthian und Kaliron waren gerade fort und sie war mit Lelaina allein, als ihre Freundin sie ernst ansah.
„Ich muß dir etwas erzählen“, sagte sie. Arinaya setzte sich ihr gegenüber an den Küchentisch und sah sie fragend an.
„Ich habe letzte Nacht zum zweiten Mal etwas Seltsames geträumt“, begann Lelaina. „Ich war vor irgendetwas auf der Flucht. Ich bin so schnell gelaufen, wie ich konnte, dann hat mich ein Frostschlag getroffen und verlangsamt. Ich fiel und alles tat weh, so als hätte mich ein weiterer magischer Angriff getroffen. Als ich mich umdrehte, sah ich einen Flammenblitz, der mich töten sollte.“
Arinaya sah sie ernst an. „Und dann?“
„Jemand griff nach meiner Hand und es entstand ein leuchtender Schutzwall, an dem der Feuerblitz abprallte. Ich weiß noch, wie ich aufsah, und ich habe mich sehr erschrocken, denn da stand ein Mann neben mir, der aussah wie mein Vater.“
„Dein Vater?“
„Ja. Maios, verstehst du? Mein richtiger Vater. So, wie ich ihn auf diesem einen Bild gesehen habe, und er sah mir sehr ähnlich. Ich habe Augen wie er. Er sah mich an und dieser Blick - so voller Sorge und Liebe.“ Lelaina verzog die Lippen und schwieg.
„Bist du sicher? Ich meine, dein Vater ist tot.“
„Ja, das gibt mir auch zu denken. Aber nicht nur er ist es, der mich beschäftigt. Was mir am meisten Angst gemacht hat, ist diese Situation. Da hat mich jemand gejagt. Hört das nie auf?“
Arinaya machte ein hilfloses Gesicht. „Du bist seine Tochter.“
„Ja. Aber es waren keine Menschen. Es waren auch Vandhru, verstehst du? Überall war Magie und ich habe mit ihm einen Schutzwall erschaffen. Das kann ich allein gar nicht. Was hat das zu bedeuten?“
Das hätte Arinaya auch gern gewußt. Gemeinsam überlegten sie, aber es fiel ihnen nichts dazu ein - einig waren sie sich jedoch darin, daß es etwas zu bedeuten hatte. Lelaina hätte keinen Anlaß gehabt, sich jetzt verfolgt zu fühlen und so etwas zu träumen, insofern mußte es eine spezielle Ursache haben.
Sie wurden in ihren Überlegungen unterbrochen, weil Kelthana eintraf. Wiederum verbrachten sie den Tag gemeinsam, machten einen Spaziergang und kauften auf dem Markt im Nachbardorf ein. Arinaya spürte jedoch deutlich, daß Lelaina nicht bei der Sache war.
Sie hatte es bereits zum zweiten Mal geträumt und der Traum war beide Male identisch gewesen. Kaliron hatte sie wohlweislich nichts davon gesagt, weil er sich nur unnötige Sorgen gemacht hätte.
Als sie an diesem Abend zu Bett ging, hatte Lelaina zuerst Angst davor, einzuschlafen. Ihre Abstammung und die damit verbundene Empfänglichkeit für Gefühle und andere eigentlich nicht greifbare Dinge sagten ihr, daß das, was sie im Traum sah, kein bloßes Hirngespinst war.
Und es kam wieder. Der Himmel erschien ihr blutrot, als sie den Blick nach oben wandte. Sie lief, so schnell ihre Füße sie trugen, bis sie verlangsamt und von einem Schattenblitz zu Fall gebracht wurde. Sie kauerte sich zusammen, bis jemand nach ihrer Hand griff und sie mit dem Schutzschild vor der tödlichen Attacke schützte.
Diesmal blickte sie bewußt auf. Der Mann, der über ihr aufragte, glich einem Hünen. Er war riesig und hatte einen muskulösen Körper. Dunkles, fast schulterlanges Haar, ganz ähnlich wie Marthians, umrahmte sein Gesicht. Sie erkannte seine spitzen Ohren und die geschlitzten Pupillen seiner hellen Augen. Er bedachte sie mit einem gütigen Blick.
Sie fuhr hoch und schlang die Arme um den Leib. Kaliron neben ihr schlief seelenruhig. Auch im Nachbarzimmer bei Timenor war alles ruhig. Lelaina fuhr sich durchs Haar und überlegte fieberhaft, was das zu bedeuten hatte. Man hatte den Vandhru auch nachgesagt, daß sie in die Zukunft sehen konnten.
Aber Maios war tot. Das konnte nicht die Zukunft sein. Er war tot!
Als Lelaina am Morgen aufstand, fühlte sie sich erst nicht gut. Sie war müde und kam nicht dazu, Arinaya von ihrem Traum zu erzählen, weil Kelthana gleich erschien. Erst zum Mittagessen ging sie wieder, aber auch da bot sich keine Gelegenheit zu einem Gespräch. Marthian und Kaliron waren kaum wieder fort, als Lelaina ihren Sohn ins Bett brachte. Liebevoll strich sie ihm über das Köpfchen.
Er schlief sehr bald ein. Lelaina ging hinunter zu Arinaya, die im Garten Unkraut zupfte.
„Eigentlich müßte ich das jeden Tag machen“, fluchte die junge Heilerin. „Es wächst und wächst ...“
„So hast du immer etwas zu tun“, erwiderte Lelaina mit einem Lächeln. Arinaya nickte und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Lelaina ging wieder hinein und begann, eine von Timenors kleinen Hosen zu flicken. Er hatte ein wunderschönes großes Loch am Knie fabriziert.
Sie beschloß nun, gar nichts über ihren Traum zu sagen, denn inzwischen erschien es ihr nicht mehr so wichtig. Warum sollte sie ihre Freundin ständig mit ihren Hirngespinsten belästigen?