Der Kristall des Schattens - Dania Dicken - E-Book

Der Kristall des Schattens E-Book

Dania Dicken

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Beschreibung

Eines Nachts wird die Statue zerschlagen, die eine Kopie des Kristalls der Könige trägt - ohne daß jemand etwas gesehen hätte. Agarin ist gewarnt, kann aber nicht verhindern, daß kurz darauf ein namenloses Ungetüm seine Familie scheinbar grundlos raubt und spurlos mit ihr verschwindet. Die verzweifelte Suche bleibt erfolglos, bis Ragnar, König eines fremden Volkes, ihnen zu Hilfe kommt. Er macht Agarin klar, daß es für seine Familie nur Hoffnung gibt, wenn er ihm in die Ferne folgt - und lernt, die Magie des Kristalls zu beherrschen...

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1. Kapitel: Der unscheinbare Fremde

Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich noch immer schwankend an. Das Wasser war nicht sein Element, und dementsprechend erleichtert war er, endlich wieder festen Boden betreten zu haben. Rauchschlieren zogen ihm entgegen, als er die massive Tür in die dämmrige Welt der Schankstube öffnete und aufstieß, als habe sie kein Gewicht. Die Temperatur war im Gebäude gleich der Außentemperatur, aber der Rauch, der Alkohol und der Schweiß der heimkehrenden Fischer und Hafenarbeiter mischten sich zu einer eigenartigen Schwüle. Seine unter vorstehenden, buschigen Augenbrauen liegenden schwarzen Augen musterten die Szenerie eingehend und interessiert.

Bärtige, bäuchige Männer säumten die Theke. Schwielige Hände erhoben große, tönerne Krüge, Pfeifenrauch kräuselte sich in den letzten Sonnenstrahlen, die in den Raum hineinfielen. Aus einer hinteren Ecke wallte schallendes Gelächter in den Raum. Junge Burschen lümmelten sich um einen großen Tisch und warfen der Bedienung eindeutige Blicke zu. Er konnte ihre Lüsternheit förmlich in ihrem Atem spüren. Andere verzehrten heißhungrig und ohne Sinn für gute Manieren die deftige Kost, die ihnen serviert wurde. Erst jetzt wurde ihm der zusätzlich scharfe Fischgeruch bewußt.

Noch immer ratlos im Eingangsbereich stehend, ließ er weiter seine Blicke schweifen, bis ihm ein freier Hocker an der Theke ins Auge fiel. Sein Sinn stand vor allem nach zwei Dingen: einem Bier, um die Braukunst der Menschen zu prüfen, und vor allem nach einem interessanten Gespräch. Letzteres war sicher nirgends besser zu finden als in einer solch belebten Pöbelspelunke, wie er sie hier im Hafen Karallions entdeckt hatte.

Sich nur schwerlich an den menschlichen Gang gewöhnend, schlenderte er absichtlich schlenkernd hinüber und ließ sich auf den Hocker sinken. Zwischen seinen Brauen gruben sich Furchen in die ledrige, sonnengegerbte Haut. Einzig an seinem strengen Körpergeruch hatte er nichts ändern müssen, denn nach der langen Reise konnte er nur aufdringlich riechen. Auch seine schwarzen Augen waren ihm ureigen, nicht so jedoch das kantige Kinn, die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen. Der derben bäuerlichen Art angemessen trug er ein zerschlissenes, verschmutztes kariertes Leinenhemd und eine Lederhose, in der er unnatürlich stark schwitzte. Er war das Tragen solcher Kleidung nicht gewohnt.

„Was wünscht Ihr?“ erkundigte sich das Mädchen hinter der Theke sogleich. Flüchtig musterte Rhazul sie, um zu ergründen, was die Burschen so begierig an ihr begafft hatten. Er entdeckte jedoch an ihr nichts von besonderem Interesse, genau wie er es erwartet hatte.

„Einen Krug Bier“, sagte er, dann nahm er seinen Nachbarn interessiert in Augenschein. Dieser erwiderte seinen Blick nach einem kurzen Moment und nickte ihm freundlich zu.

„Stammt nicht von hier, was?“ fragte er.

„Nein. Ich komme aus Rimonas. War eine lange Reise hierher!“ erwiderte Rhazul und starrte an die gegenüberliegende Wand.

„So, aus Rimonas. Ja, seit einigen Jahren hört man so etwas wieder öfter.“

Rhazul wandte sich wieder dem neben ihm sitzenden, dunkelhaarigen Mann zu. Und schon war er auf etwas gestoßen, das er noch nicht wußte.

„Ja, so ist das“, sagte er geflissentlich. „Wurde auch langsam Zeit, nicht?“

„Ja, da sagt Ihr was! Daß man uns hier einfach vergessen würde! Aber so einer seid Ihr nicht, oder? Ihr seid ja hier! Habt den weiten Weg über die neue Darlinodstraße hinter Euch gebracht. Was führt Euch her?“

Rhazul überlegte kurz. Er wußte, daß Elinas durch das Sichelgebirge von seinem Nachbarn Rimonas getrennt war, aber was hatte den Weltenwald so wuchern lassen, daß es erst jetzt eine neue Straße dort hindurch gab?

„Ich bin Bauer und Händler. Ich habe beschlossen, hier neues Saatgut und Vieh zu erstehen.“

„Ein Bauer in Rimonas? Ihr stammt wohl aus einer fruchtbaren Gegend!“

„Sicher. Sagt, wißt Ihr wohl, ob man in der Hauptstadt in solchen Belangen fündig wird?“

„In Megelion? Das glaube ich kaum. Die Hauptstadt ist die Stadt des Königs. Dort gibt es wenig bäuerliches Treiben. Aber es gibt viele andere sehenswerte Dinge!“

„So?“ Rhazul lauschte auf. Seine Täuschung schien aufzugehen. „Welche wären das?“

„Oh, den Palast natürlich, und die Mahnmale des letzten Krieges. Eure Unterstützung hat unser Volk und unseren König zum Sieg geführt! Er ist ein tapferer Bursche. Habt Ihr je von ihm gehört?“

„Nicht direkt.“

„Er ist jünger als ich! Seit kurzem zählt er siebenundzwanzig Sommer, aber er ist seinem Alter unangemessen unerschrocken, tapfer und weise. In seinen Adern fließt das reinste königliche Blut. Er führt Elinas zurück ins Licht!“

„Das war ja nicht so selbstverständlich“, mutmaßte Rhazul.

„Nein, durchaus nicht. Es gehörte Mut dazu, Drognan zu stürzen und kurz darauf ein armes Bauernmädchen zu heiraten! Aber sie wurde zu einer wundervollen Königin. Das Volk liebt sie wie der König selbst. Vor kurzem hat sie ihm ein zweites Kind geboren, eine Tochter. Seither bekommt man den König kaum noch zu Gesicht!“

Eifrig bemüht, sich seine vielen Fragen nicht anmerken zu lassen, lauschte Rhazul seinem Nachbarn, der langweiliges Zeug erzählte, bis er plötzlich doch wieder auf etwas äußerst Interessantes zu sprechen kam. „Es herrschen andere Sitten, aber so ist das nun einmal. Es wird schon seinen Sinn haben, denn immerhin leitet ihn der Kristall! Er war es, der ihn zurückgebracht hat!“

„Ja, natürlich. Welch eine aufregende Geschichte! Man munkelt so allerhand darüber, denn der Kristall ist doch ein so wichtiges Symbol!“ erwiderte Rhazul in natürlichem Eifer. Endlich erfuhr er etwas über das Objekt seiner Begierde!

„Er hat Elinas gefehlt, seit er fort war. Seht ihn Euch an! Er ist für jedermann zugänglich in eine Statue eingelassen, die vor dem königlichen Palast in Megelion steht. Ein prächtiges Stück. Man sieht ihm die Zerstörung nicht an!“

Zerstörung? Rhazul spürte, daß er weiterhin Augen und Ohren offenhalten mußte. Er erfuhr hier Dinge, von denen er niemals etwas geahnt hätte. Doch sollte es tatsächlich so einfach sein? Konnte er ohne Schwierigkeiten nach Megelion gehen, unerkannt in der Gestalt eines Menschen, um sich den Kristall zueigen zu machen?

In seinen finsteren Augen blitzte ein kurzes Aufflackern von Gier. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, blieb er noch kurz sitzen, dann warf er eine seiner ergaunerten Münzen auf die Theke und erhob sich, um die Schankstube zu verlassen. Bardor und Merengar saßen mit ausdruckslosen Mienen auf einer kleinen Mauer und hüteten die Pferde. Sie trugen die gleiche nichtssagende Kleidung wie Rhazul selbst, einzig in ihrem Gesicht offenbarte sich etwas, das ihre nichtmenschliche Herkunft verriet. Ihr langes dunkles Haar hing den beiden hochgewachsenen Kerlen in die Stirn. Zusammengesunken saßen sie nebeneinander, doch nun, da Rhazul sich so vielen Menschen gegenübergesehen hatte, fiel ihm ihre enorme Größe sofort ins Auge. Als sie seine schweren Stiefel schleifen hörten, hoben sie die Köpfe. Ihre Pupillen verengten sich beim Einfall des Sonnenlichts.

„Vermeidet es, die Menschen direkt anzusehen“, mahnte Rhazul, noch bevor er etwas anderes sagte.

„Fällt es sehr auf?“ fragte Merengar, der grobschlächtige Schwertkämpfer, den er als einer der ersten angeworben hatte.

„Die Menschen haben andere Augen, keine schlitzförmigen Pupillen wie wir.“ Rhazul bezog sich mit ein, obwohl er menschliche Gestalt angenommen hatte - bis ins kleinste Detail.

„Das habe ich noch gar nicht bemerkt!“ stellte Bardor fest. „Aber warum zauberst du uns nicht auch Menschenaugen?“

„Eine berechtigte Frage. Aber da ihr euch ohnehin im Hintergrund halten werdet, ist das nicht so schlimm. Und ich finde es wichtiger, daß ihr gut seht, denn daß Menschen es tun, kann ich nicht gerade behaupten!“ Damit war die Diskussion für Rhazul beendet. Er saß auf, bevor Merengar fragte: „Wohin gehen wir jetzt?“

„Nach Megelion. Das ist die Hauptstadt. Ich habe mir den Weg erklären lassen. Ob ihr es glaubt oder nicht, der Kristall befindet sich dort vor dem königlichen Palast ungeschützt in einer Statue!“

Ungläubig starrten seine Männer Rhazul an, während sie aufsaßen und ihre Pferde ebenfalls in langsamen Trab versetzten.

„Wer kann so dumm sein?“ fragte Bardor.

„Das hat mit Dummheit nichts zu tun, und wertgeschätzt wird er auch. Ich kenne den Grund nicht, es könnte auch ein Trick sein. Aber zuerst werde ich mir das ansehen.“

Merengar und Bardor zuckten mit den Schultern. Sie würden ihm folgen, erleichtert darüber, nicht wie die anderen auf dem Schiff zurückgelassen worden zu sein. Sie würden in der folgenden Zeit genügend damit zu tun haben, den großen Zweimaster zu verstecken, denn obwohl er außerhalb von Karallion lag, war es nur eine Frage der Zeit, bis das Hochseeschiff irgendjemandem ins Auge stach. Vor allem aus einem Grunde: In ganz Karallion hatte Rhazul kein ähnlich großes Schiff entdeckt, und das ließ darauf schließen, daß man in Elinas einfach keine großen Schiffe baute. Kein Wunder, daß man in Maronna nichts von ihnen wußte, dachte Rhazul kopfschüttelnd bei sich.

In flirrender Frühsommerhitze durchritten die drei Reisenden das Tor Megelions. Die Hufe der Tiere klapperten laut auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen. Rhazul wußte noch nicht, wo sie einkehren sollten, aber es sollte ein zentraler Ort mit viel Gelegenheit zum Lauschen sein, soviel stand fest. Als er hoch zur Palastfestung schaute, schlich sich ein finsteres Grinsen auf sein Gesicht. Dort wiegte man sich zweifelsohne in trügerischer Sicherheit.

Menschliche Bauwerke hatte er in den letzten Tagen auf seiner Reise zur Genüge gesehen, und der königliche Palast war das erste Gebäude, das ihm halbwegs bemerkenswert erschien. Für beeindruckende Architektur hatten die Menschen wirklich nicht viel übrig.

„Sucht eine zentrale Herberge, aber seht euch vor, daß niemand euch dumme Fragen stellt! Sollte es dazu kommen, verschwindet umgehend! Ich treffe euch genau hier wieder“, sagte Rhazul und saß ab. Seine Begleiter stellten keine Fragen. Er vertraute ihnen sein Pferd an, dann machte er sich allein auf den Weg durch die verschlungenen Gassen zwischen den hellfassadigen Häusern Megelions. Ein kleiner Trupp königlicher Wächter begegnete ihm, schenkte ihm aber keinerlei Aufmerksamkeit. Ihr Wappen interessierte ihn dafür umso mehr: Es zeigte den großen Turm, den er von dort aus in direkter Palastnähe ausmachen konnte, und die Statue, von der die Rede gewesen war. In ihren Händen hielt sie den gesuchten Kristall.

War der König doch so dumm? Rhazul war es gleich, umso leichter würde er es schließlich haben, daran zu gelangen. Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg zum Palast fort. Sehr weit war der Weg nicht, niemand hinderte ihn daran, ihn fortzusetzen und niemand achtete auf ihn. Seine Tarnung war scheinbar täuschend echt geraten.

Schönster Sonnenschein begleitete ihn. Als er um eine Ecke bog, erblickte er sie, die Statue, die den Kristall hütete. In der Tat stand sie, für jeden zugänglich, vor den Toren des Palastes. Rhazul konnte es nicht fassen. Mit jedem zusätzlichen Schritt spürte er die wachsende Nähe zu der Macht des Kristalls. Es würde ein Kinderspiel sein, sie sich zueigen zu machen!

Das Sonnenlicht brach sich an einer Stelle in der kristallenen Kugel und wurde gestreut. Ja, er erinnerte sich plötzlich an so vieles, das er all die Jahre nicht mehr vor Augen gehabt hatte. Seine Chance war zum Greifen nah! Aber er würde nicht jetzt zuschlagen und Aufsehen erregen. Jetzt mußte er nichts mehr überstürzen!

Er blieb in gebührendem Abstand zu der mannsgroßen Statue stehen und schaute sie nur für einen Moment an, dann wandte er sich zum Gehen und schlenderte gedankenversunken zurück zu dem Ort, an dem er sich von seinen Begleitern getrennt hatte. Er traf vor ihnen dort ein und blieb mit ausdrucksloser Miene vor einer Hauswand stehen. Er beobachtete zwei Zimmerleute, die an einem benachbarten Haus neue Fensterläden anbrachten. Dieses verfügte zudem, wie auch viele andere, über eine völlig neu geziegelte Stelle im Dach. Er hatte auch zahlreiche Häuser gesehen, deren Fassade erst kürzlich überstrichen worden war. Rhazul erinnerte sich daran, daß von Mahnmalen des Krieges die Rede gewesen war. Sehr lang konnte dieser in der Tat noch nicht zurückliegen.

Überhaupt hatte er viele Dinge erfahren, denen er noch genauer auf den Grund gehen mußte. Elinas war vergessen gewesen, abgeschnitten von den Nachbarländern, und der Kristall war verschwunden gewesen. Scheinbar hatte die Änderung etwas mit dem jungen König zu tun gehabt.

Als seine Mitstreiter schließlich wieder auftauchten, wiesen sie ihm den Weg zu einem Gasthaus. Rhazul war es gleich, er schärfte ihnen ein, sich wie Bauerntölpel zu benehmen, dann betrat er ihnen voraus das Wirtshaus. Zu dieser Nachmittagsstunde herrschte dort kaum Betrieb. Die drei setzten sich gemeinsam zum Wirt an die Theke und Rhazul begann auf eine absichtlich dumm erscheinende Art, seine Neugier zu befriedigen.

„Sagt“, begann er und nahm einen Schluck Bier, „wie kommt es denn, daß in der Stadt an so vielen Häusern gearbeitet wird?“

Der Wirt zog fragend eine Augenbraue hoch und grinste. „Man hört, daß Ihr nicht aus Elinas stammt, aber daß Ihr nicht einmal von dem Krieg gehört habt, hätte ich nicht erwartet!“

„Krieg?“ spielte Bardor das Spiel unauffällig mit.

„Ja! Unsere Armee hat die peronitische Streitmacht in Grund und Boden gestampft. Davon habt Ihr nicht gehört?“ Der Wirt war ehrlich erstaunt.

„Entschuldigt unsere Unbeholfenheit“, sagte Rhazul, „aber wir sind einfache rimonitische Bauern aus dem Norden. Dorthin dringen die wenigsten Nachrichten vor!“

„Du meine Güte! Dabei war es doch Euer Heerführer, der uns mit zum Sieg geführt hat! Nun, wie dem auch sei, Peronas ist hier einmarschiert mit der festen Absicht, den Irrsinn fortzusetzen, der dort wohl an der Tagesordnung zu sein scheint. Aber daß unsere Königin von dort stammt, das wißt Ihr doch wohl?“ fragte der Wirt hoffnungsvoll. Rhazul zuckte verlegen mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

„Ihr scheint wirklich in größter Einsamkeit zu leben! Nun, sie ward dort als Bauernmädchen geboren und hat ihrer getöteten Schwester Gerechtigkeit zukommen lassen. Ihr eigener Vetter hat sich jedoch gegen sie gestellt und die peronitische Armee mit dem festen Vorsatz hergeführt, sie umzubringen. Aber unsereins versteht dahingehend wirklich keinen Spaß! Das ganze Land stand hinter dem König, als er zur Verteidigung blies, um die Königin zu schützen. Nun, und wir haben gesiegt!“

„Mir ist wohl zu Ohren gekommen, daß der König noch sehr jung ist. Er scheint ja ein außergewöhnlicher Bursche zu sein!“ erklärte Rhazul.

„Oh ja, das ist er“, erwiderte der Wirt. „Mehr als sechs Jahre ist es her, daß er uns von Drognans Joch befreit hat. Er ist seit Jahrhunderten der erste rechtmäßige Thronerbe, und er war es, der den Kristall der Könige zurückgebracht hat.“

Rhazul und seine Begleiter versuchten, sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Der Wirt schilderte ihnen indes, wie der König mit seinen damals zwanzig Jahren eine gefahrvolle Reise durch ganz Maronna gemeistert hatte, um die Stücke des vor vierhundert Jahren zersplitterten Kristalls zurückzuholen. Mit der ganzen, wiedervereinten Kristallkugel habe er sich dann zurück in seine Heimat begeben, den unrechtmäßigen Tyrannen vom Thron gestürzt und seitdem regierte er Elinas gütig, weise und nach den alten Werten.

Rhazul war froh, danach nicht noch fragen zu müssen. Jetzt hatte er ohne große Mühe mehr erfahren, als er gehofft hatte, und dennoch hatte er eine weitere Frage, die er geschickt zu stellen versuchte.

„Eines muß ich Euch aber sagen: Ich habe nie daran geglaubt, daß Elinas verschwunden ist! So ein Unfug. Nur, weil der Wald so sehr gewuchert ist!“

„Das ist geschehen, nachdem Baladur den Kristall zerstört und König Eirion ihn fortgeschafft hat. Elinas geriet in Vergessenheit, weil niemand sich durch den Wald wagte! Aber jetzt gibt es die neue Straße und die Zeit der Abgeschiedenheit ist vorbei. Das alles haben wir Agarin zu verdanken!“

Bei dem Namen Baladur erstarrte Rhazul merklich. Er war hier gewesen?

„Baladur hat vieles verändert“, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfallen wollte.

„In der Tat! Wie gut, daß wir schon seit so langer Zeit von ihm befreit sind!“

Damit hatte Rhazul gerechnet. Es erstaunte ihn zwar, zu hören, daß der vor so langer Zeit verschwundene Baladur tatsächlich in Maronna sein Unwesen getrieben hatte, um den Kristall zurückzugewinnen, aber warum hätte er selbst auch nach so langer Zeit der Erste sein sollen, der kam, um ihn zu holen?

„Eine genauso rätselhafte Gestalt wie der Kristall“, sagte Rhazul geflissentlich.

„Habt Ihr Euch je gefragt, woher er kommt?“ fragte der Wirt.

„Nein, ehrlich gesagt nicht“, sagte Rhazul seltsam ausdruckslos. Der Schwächling Baladur war also hier gewesen und hatte versagt! Und die Menschen schienen dem Kristall in der Tat einen anderen Namen gegeben zu haben. Kristall der Könige! Wie kurzsichtig.

„Der Kristall muß hilfreich in der Schlacht gewesen sein!“ warf Rhazul ein.

„Oh ja, das war er. Er hat uns geholfen, den Sieg zu sichern!“ Der Wirt machte ein bedeutsames Gesicht. Damit hatte Rhazul gerechnet. Also schien dieser König immerhin zu wissen, was er damit anstellen konnte. Das erschwerte die Sache aber nicht unbedingt, denn wenn Rhazul überraschend zuschlug, nützte ihm alle Magie der Welt nichts mehr, zudem er ohnehin mächtiger war. Das war immer so gewesen, das hatte auch Ragnar einsehen müssen.

Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, genug erfahren zu haben. Zumindest hatte er keine Fragen mehr, so wechselte er also das Thema und ordnete während des belanglosen Gesprächs seine Gedanken. Der Kristall hatte immer als Elinas zugehörig gegolten, obwohl Baladur tatsächlich auch seine Finger im Spiel gehabt hatte. Wie gut, daß der Kristall nicht noch in zersplitterter Form in aller Herren Länder verstreut war! Der König hatte ihm die Arbeit abgenommen, die Stücke zu suchen. Der König schien zwar mit allen Wassern gewaschen zu sein, aber das war er auch. Er mußte nur noch die Hand ausstrecken.

2. Kapitel: Liebe an der Macht

Lachend hob sie die Hände und warf das Gras mit Schwung nach ihrem Sohn. Kreischend ging er hinter Myron in Deckung, so daß dieser vom Grasregen genau getroffen wurde.

„Das gibt Rache!“ rief Myron und sammelte flink alles auf, was in Reichweite war. Andrin ließ es sich nicht nehmen, mitzumachen, und auch Kayla bewaffnete sich wieder schnellstmöglich mit Gras. Gegenseitig bewarfen sie sich unter lautem Geschrei und Gelächter, bis ihnen die Luft wegblieb. Kayla sprang auf, ging erst neben Myron wieder in die Knie und steckte ihm eine Handvoll Gras hinten ins Hemd.

„Nein! Das ist gemein, Tante Kayla!“

„Rache!“ brüllte Andrin und warf Kayla ein dickes Grasbüschel mitten ins Gesicht. Sie ließ sich nicht beeindrucken, packte ihn und riß ihn mit sich zu Boden. Myron warf sich dazu und so tollten sie schließlich zu dritt auf dem Boden herum, rollten übereinander und blieben irgendwann erschöpft liegen.

Kayla schaute hoch in den mit weißen Wolken befleckten blauen Frühsommerhimmel. Ihr sechsjähriger Sohn hatte seinen Kopf auf ihren Bauch gebettet, seine Beine lagen auf den seines gleichaltrigen Kameraden Myron. Für einen Moment genossen sie es, einfach nur faul zu liegen, bis Kayla sich erhob und zum Palast hochging. Sie hatte Durst. Bevor sie jedoch die Treppe erreichte, klopfte sie ihr knielanges Leinenkleid ab. Sie war voller Gras, es war überall und pikste. Aber sie hatte es genossen, wieder einmal so ausgelassen mit den Kindern herumzutollen, besonders an diesem wunderschönen, ersten warmen Tag im Jahr. Monate zuvor hatte sie noch die meiste Zeit sitzend oder liegend verbringen müssen, weil ihre Schwangerschaft nicht so problemlos verlaufen war wie die erste mit Andrin. Aber sie hatte dennoch im Winter einem gesunden Mädchen das Leben geschenkt. Inzwischen war ihre Tochter vier Monate alt. Nach ihr wollte Kayla jedoch nicht sehen, sondern nach ihrem Mann, der sich wieder einmal mit den langweiligsten aller Staatsgeschäfte auseinandersetzen mußte.

Ihre halbhohen Wildlederstiefel machten beim Gehen beinahe kein Geräusch. Leise ging sie den Gang entlang, erklomm die Treppe und klopfte an die Tür von Agarins Schreibzimmer. Noch bevor er etwas sagen konnte, hatte sie jedoch geöffnet und steckte den Kopf durch den Türspalt.

„Hallo, mein Liebster“, sagte sie augenzwinkernd. Agarin hob den Kopf und lächelte, als er sie sah, dann stellte er die Feder beiseite. Als Kayla den Raum betrat, machte er große Augen.

„Wie siehst du denn aus?“

„Ich habe mit den Jungs gespielt“, erklärte sie wie selbstverständlich und goß etwas Traubensaft in einen Glasbecher. Während sie einige kräftige und erfrischende Züge des kühlen Safts nahm, starrte ihr Mann sie immer noch ungläubig an.

„Was denn?“ fragte sie stirnrunzelnd.

„Ich meine nicht das Gras. Ich meine dich!“

„Mich? Ich sehe doch nicht etwa seltsam aus?“

Agarin musterte sie grinsend von Kopf bis Fuß. Ihre schulterlangen hellbraunen Flechtzöpfe waren teils bereits aufgelöst und voller Gras, ihre Wangen leuchteten rot und an ihrer verschwitzten Stirn und oberhalb ihres Ausschnitts klebten zahllose Grashalme. Beunruhigend fand er daran jedoch hauptsächlich die Tatsache, daß das einfache blaue Leinenkleid einen sehr tiefen Ausschnitt hatte, und an Kaylas verwegenem Gesamteindruck änderte auch die züchtige weiße, jetzt allerdings angegrünte kleine Schürze nichts. Das Kleid betonte ihre weibliche Figur auf eine bezaubernde Art und Weise. Als seine Blicke den Saum des Kleides streiften, aus dem auf Kniehöhe einige Spitzenränder ihres Unterkleides herausschauten, schnürte sich beim Anblick ihrer schlanken Beine in den hellen Stiefeln seine Kehle zu.

„Du siehst alles andere als seltsam aus“, sagte er, zwinkerte ihr verschwörerisch zu und stand auf. Sie stellte den Krug ab und runzelte erwartungsvoll die Stirn, dann legte er die Arme um sie und küßte sie zärtlich auf die Wange.

„Es ist wirklich sehr gemein, daß du mich in diesem Aufzug bei der Arbeit störst“, erklärte er grinsend.

„Ach ja? Ich hätte ja auch in meinem teuren Kleid im Gras spielen können! Aber wenn du darauf bestehst, ziehe ich es wieder an!“ erwiderte sie kichernd.

„Nein! Alles, nur das nicht!“ Er schlang die Arme fester um sie und küßte sie verlangend. Stirnrunzelnd sah sie ihn an, dann gab er ihr einen verspielten Klaps auf den Po.

„Du siehst verdammt frech aus!“ sagte er. „Aber da du schon ein Dienstmädchenkleid trägst, könntest du mir auch gleich zu Diensten sein!“ Er war gerade versucht, sie in die Halsbeuge zu küssen, aber sie riß sich los und lief aus dem Zimmer. Agarin nahm die Herausforderung an und folgte ihr. Sie verschwand gerade um eine Ecke, aber er würde sie nicht verlieren. Atemlos lief er hinterher. Sie war nicht mehr zu sehen. Allerdings hörte er irgendwo das Rascheln ihres Kleides. Lautlos schlich er voran, linste hinter einen Mauervorsprung und ließ seine Hand gerade noch rechtzeitig vorschnellen, um sie festzuhalten.

„Nein!“ wehrte sie sich gespielt, als er sie in seine Arme zog und leidenschaftlich küßte. Sie ging rückwärts und tastete sich bis zur Schlafzimmertür vor, während er sie noch immer festhielt. Erst, als sie die Tür geöffnet hatte, ließ er los und drückte sie stürmisch an die Tür, als sie im Schlafzimmer standen und er die Tür leise geschlossen hatte.

„Was hast du vor?“ fragte sie im Flüsterton. Er hatte sie so fest in seine Arme gezogen, daß sie sich ihm nicht entwinden konnte.

„Ich muß meine arme Königin vom Gras befreien“, beschloß er verschwörerisch und begann, die Grashalme oberhalb ihres Ausschnitts abzustreifen. Dabei löste er aus Versehen das Band um einen ihrer Zöpfe und löste deshalb gleich auch noch das andere, bevor er sich an ihrem Kleid zu schaffen machte und es ihr auf einer Seite von der Schulter streifte.

„Hast du nicht eigentlich zu arbeiten?“ fragte sie scherzhaft.

„Das hier ist auch Arbeit“, erwiderte er grinsend, dann hob er sie unerwartet auf die Arme und ging mit ihr hinüber zu dem niedrigen Tisch, der gegenüber von Bett und Wiege an der Wand stand. Als er an der Wiege vorüberkam, bemerkte er sein schlafendes Töchterchen darin und erstarrte.

„Die Kleine ist hier?“

„Wo soll sie sonst sein?“ fragte Kayla wenig überrascht.

„Ich weiß nicht! Nein, das geht nicht, ich kann doch nicht ...“

„Sie schläft! Wir sind einfach leise, dann merkt sie es nicht.“ Kayla sah das Ganze wenig problematisch. Agarin setzte sie auf der Tischkante ab, sie schlang die Beine um ihn und spielte an seinem Hemd herum, ehe sie es ihm mit einem zu allem entschlossenen Grinsen über den Kopf zog. Er trug nun nur noch sein goldenes Medallion um den Hals, das sie verspielt in den Fingern drehte und auf seine Brust legte. Dann machte sie sich an seinem Gürtel zu schaffen und streifte ihm die Hose von den Hüften, während sie mit der anderen Hand sacht über sein Lendengegend strich. Er zitterte leicht bei der zärtlichen Berührung und vergrub den Kopf in ihrem vollkommen zerzausten Haar. Sie zog ihm die Krone vom Kopf, legte sie neben sich auf den Tisch und stützte sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab, während er sie kurz ansah.

„Du bringst mich um“, wisperte er, dann fuhr er mit einer Hand unter ihren kurzen Rock und biß sich auf die Lippen, als er einen kurzen Blick in diese Richtung wagte.

„Wie leid mir das tut!“ sagte sie grinsend. Es war nicht zu fassen, sie hatte nur etwas trinken wollen, er machte sofort ihr Komplimente und hatte sie tatsächlich ohne irgendwelche Schwierigkeiten dazu bewegen können, klammheimlich im Schlafzimmer zu verschwinden!

Sie warf den Kopf in den Nacken und genoß seine vorsichtige, zärtliche Berührung. Er schlang einen Arm um sie und zog sie näher zu sich heran. Verschwörerisch sah sie ihn an und wurde vollkommen überrascht, als er sie in diesem Moment festhielt und beinahe mit einem Ruck eins mit ihr wurde. Sie lehnte den Kopf an seine Brust und umarmte ihn leise seufzend. Er erwiderte die Umarmung und blieb für einen quälend langen Moment reglos stehen.

„Wie machst du das nur immer?“ wisperte sie tonlos.

„Was?“ fragte er und strich ihr liebevoll über das zerzauste Haar.

„Mich so einfach zu verführen! Ich kann doch nie nein sagen!“

„Ich habe dich ja gar nicht gefragt“, grinste er und küßte sie frech. „Aber es ist ja nicht so, als wolltest du es nicht, oder?“

„Nein! Ich bekomme doch nie genug von dir“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Der linke Träger ihres Kleides rutschte immer tiefer, wenn auch nicht zu tief. Ihm war es gleich. Während er einen Arm um ihre Hüfte gelegt ließ, strich er mit der anderen Hand über ihre Wange, ihren Hals und ließ sie hinab bis zu ihrer Brust wandern, doch er streifte sie nur flüchtig. Dann schlang er wieder beide Arme um sie, nachdem sie sich rücklings abgestützt und zurückgelehnt hatte. Sie trieb ihm das Becken entgegen und warf den Kopf zurück. Ihr wirres Haar rutschte langsam über die Schulter hinab. Agarin küßte sie beinahe gierig in die Halsbeuge und schnappte nach Luft. Sie konnte sehen, wie er darum kämpfte, nicht die Beherrschung zu verlieren. Ein aufregendes Kribbeln breitete sich von ihrem Schoß über ihren ganzen Körper aus. Sie biß sich auf die Lippen und zwang sich dazu, stumm zu bleiben, um ihre Tochter nicht zu wecken. Das konnte sie gerade wirklich nicht gebrauchen, denn sie genoß es auf unaussprechliche Art und Weise, einfach so auf diese charmante Art von Agarin überfallen zu werden. Es war wunderbar, wenn er das tat, weil er sie so immer wissen ließ, wie sehr er sie liebte und begehrte.

Umgekehrt trieb es ihn in diesem Moment buchstäblich in den Wahnsinn, zu sehen, wie sehr sie es genoß. Seit ihrer zweiten Geburt konnte er die Finger gar nicht mehr von ihr lassen, weil ihre ganze Figur noch weiblicher und unwiderstehlicher geworden war. Sie hatte die Augen geschlossen. Er drückte sie an sich und bemerkte, als sie ihn ansah, daß er sich nicht mehr zurücknehmen mußte. In Kaylas Augen lag etwas beinahe Entfremdetes, sie schien vollkommen abwesend zu sein, dabei war das Gegenteil der Fall. Er küßte sie auf die halb entblößte Brust und spürte, wie sie erstarrte. Keuchend ließ sie den Kopf gegen seine Brust sinken und krallte sich an ihn, während er sich zurücknehmen mußte, um sie nicht mit seiner ganzen Kraft an sich zu drücken.

Er verharrte reglos und senkte den Kopf auf ihre Brust. Innig verschlungen blieben sie für einen Moment in dieser Haltung, bis er sich von ihr löste, mit weichen Knien zu schwanken begann und theatralisch zu Boden sank. Keuchend ließ er sich auf den weichen Teppich vor der Wiege fallen und stieß einen wohligen Seufzer aus, während Kayla sich lächelnd rücklings an die Wand lehnte und den Rock wieder bis auf die Knie herabstreifte.

„Du hast dir nicht mal die Mühe gemacht, mich auszuziehen“, bemerkte sie grinsend.

„Ach was, wozu? Ich wollte dich, hier und jetzt und auf der Stelle“, erwiderte er, noch immer nach Luft schnappend. Sie lächelte wieder, weil sie sich wirklich fragte, warum er auch nach sechs Jahren ihrer Ehe immer noch nicht genug von ihr bekommen konnte. Es schmeichelte ihr ungemein, aber weil er so unglaublich zärtlich war, hatte sie nichts dagegen. Im Gegenteil.

„Ich bin tot“, stellte Agarin trocken fest. Genau in diesem Moment drang ein leises Wimmern aus der Wiege an ihrer beider Ohren.

„Oh nein“, jammerte er. Kayla strich ihr Kleid zurecht, rutschte vom Tisch herab und ging zur Wiege hinüber. Kleine Finger streckten sich ihr entgegen und das Geschrei wurde lauter, sobald sie sich hinabbeugte und ihre Tochter auf die Arme hob.

„Ist sie gerade aufgewacht?“ fragte Agarin, ohne sich zu rühren.

„Nein. Sie sieht jedenfalls nicht so aus. Ich glaube, sie hat Hunger.“ Kayla ging zurück zum Tisch, setzte sich kurzerhand darauf und streifte das Oberteil ihres Kleides von den Schultern, um die Kleine zu stillen. Leise summend strich sie der Kleinen über den Kopf. Auch sie hatte, genau wie Andrin, die blauen Augen ihres Vaters. Kiana würde ein wunderschönes Mädchen werden.

Die beiden hatten sie nach Kaylas Schwester benannt, um ihr ein Andenken zu setzen. Es war Valos Idee gewesen, denn diesmal war Kayla an der Reihe gewesen, dem Kind einen Namen zu geben. Sie hatte keine Einfälle gehabt, doch Agarin war von Valos Idee begeistert gewesen. Kayla fand es nicht so gut, aber schließlich hatte sie sich doch einverstanden gezeigt. Sie würde einfach nicht an ihre tote Schwester denken, sondern es so halten, wie es gemeint war. Sie hatte Kiana aus Liebe ein Denkmal gesetzt, und zwar ihrer Schwester als Person.

Agarin erhob sich und klaubte seine Sachen zusammen. Als die Kleine satt war, nahm er sie seiner Frau ab und wiegte sie, ebenso leise summend, in den Armen. Kayla sah ihm lächelnd dabei zu. In seinen Augen lag jedes Mal ein überglückliches Leuchten, wenn er seine Tochter hielt. Er liebte sie über alles und überschüttete sie geradezu mit Fürsorge. Andrin verkraftete es gut, er hatte dadurch mehr Zeit, Myron zu ärgern und Streiche vorzubereiten.

Als Kiana eingeschlafen war, bettete er sie vorsichtig zurück in ihre Wiege, deckte sie zu und zog Kayla vom Tisch in seine Arme.

„Ich liebe dich“, flüsterte er ihr ins Ohr und küßte sie auf die Wange.

Als sie kurz darauf angezogen und säuberlich gekämmt das Schlafzimmer verließen und Agarin in sein Arbeitszimmer zurückkehren wollte, hörten die beiden nur einen überraschten Ausruf.

„Ha!“

Sie drehten sich um und Kayla lachte, als sie den übereifrigen Gordian erblickte. Agarin sah weniger erfreut aus.

„Seid ihr also doch hier! Meine Güte, Agarin, ich suche dich schon die ganze Zeit!“

„Wer hätte das gedacht“, stöhnte Agarin wenig überrascht.

„Ja, hast du vergessen, daß ein Gespräch mit Farrulos ansteht?“

Agarin stöhnte. „Wirklich?“

„Ja! Also wirklich, in letzter Zeit vergißt du alles!“ mokierte sein bester Freund und Berater sich. Im nächsten Augenblick stand er vor den beiden. „Wie siehst du überhaupt aus?“ fragte er Kayla.

„Warum, wie sehe ich denn aus?“

„Grün“, erwiderte er grinsend und deutete auf ihre Schürze.

„Ich habe zufällig einen Sohn“, sagte sie, als erzählte sie ihm damit etwas vollkommen Neues.

„Ich weiß, und Agarin wird sich gleich auf seine Tochter berufen. Aber dagegen bin ich vollkommen taub und unempfindlich, hört ihr? Komm jetzt, wie sieht das denn aus, wenn du ewig zu spät bist? Wo hast du überhaupt gesteckt?“ ergoß sich ein wahrer Redeschwall über Agarin.

„Das geht dich überhaupt nichts an!“ erwiderte dieser mit verschwörerischer Miene, während Gordian ihn am Arm packte und mit ihm in Richtung des Empfangssaals davoneilte. Kopfschüttelnd sah Kayla den beiden nach.

Seit Kianas Geburt stand Agarin tatsächlich die meiste Zeit neben sich und er wäre mitsamt seines gesamten Königreichs längst im Chaos versunken, wenn es Gordian nicht gegeben hätte. Der königliche Berater hatte ständig Wachstafeln oder Papierrollen bei sich, die er Agarin nachtrug. Er organisierte seine Arbeit, seine Termine, kümmerte sich um den Staatsbesuch aus Rimonas und übte stets Nachsicht mit seinem Freund, der Kayla unter gar keinen Umständen mit dem Baby allein lassen wollte. Im Moment bestand das größte Problem jedoch in der nächtlichen Versorgung des kleinen Mädchens. In einem regelmäßigen vierstündigen Rhythmus schrie sie, tagsüber, nachts, immer wenn sie Hunger hatte. Egal, ob ihren Eltern das gefiel oder nicht. Und weil Agarin beim Füttern nicht viel beisteuern konnte, hatte er das Windelwechseln übernommen, auch und vor allem nachts. Er schaute regelmäßig nach der Kleinen, die auch oft in ihrer Wiege bei ihm im Arbeitszimmer schlief, nur war er ständig übermüdet und hin- und hergerissen zwischen seinen Pflichten als Vater und König. Gordian fing das auf, indem er ihm sagte, wann er was zu tun hatte. Im Erledigen seiner Aufgaben war Agarin immer noch gewissenhaft und schnell, aber er konnte sich nicht mehr organisieren. Und daß zur Zeit auch noch ein rimonitischer Botschafter vor Ort war, kam dem Ganzen nicht gerade zugute.

Die anderen hielten ihre Probleme weitestgehend von ihm fern. Giro erfuhr gerade ebenfalls am eigenen Leib, was es hieß, ein kleines Kind zu haben, und Akin arbeitete daran noch, wie er sich ausdrückte. Er erzählte Agarin jedenfalls nicht von den zwiespältigen Reaktionen, die er seit dem Krieg und seinem eigentlichen Hochverrat noch immer erfuhr. Die meisten Heeres- und Wachangehörigen wollten ihn weiterhin als ihren Leiter sehen und ebenso genoß er im Volk fast überall ein hohes Ansehen, weil er sich im Krieg so verdient gemacht hatte. Allerdings gab es auch immer noch Menschen, die es nicht billigten, daß er gemordet und verraten hatte und nicht dafür bestraft worden war, und seine tapferen Dienste wollten sie nicht sehen. Agarin hatte es jedoch getan und deshalb vertraute er weiter auf seinen treuen Freund, der alle seine Belange weitestgehend selbstständig regelte.

Bei Giro und seiner Aufgabe als Stallmeister verhielt es sich ähnlich. Doch alle bemühten sich, auch kleine Aufgaben von Agarin fernzuhalten, die eigentlich nicht in ihren Aufgabenbereich fielen. Denn seine doppelte Verantwortung als Vater und König wog ungleich schwerer als alles andere.

Kayla ging unbemerkt auf den Hof hinaus, wo sie Akin und Giro plaudernd vor den Ställen entdeckte. Sie grüßte die beiden und suchte im Garten nach Mara und Anariel. Hinter einer Hecke fand sie die beiden Frauen. Im Halbschatten stand ein kleines Körbchen, in dem Maras Tochter Tirelia schlief. Daneben saßen Mara und Anariel. Auf Maras Schürze befand eine Gartenschere, Anariel hatte Stricknadeln und Wolle im Schoß liegen.

„Hallo, ihr beiden!“ begrüßte Kayla sie freundlich.

„Hallo! Wenn du deinen Sohn suchst, dann findest du ihn dort drüben mit seinem Großvater“, sagte Anariel. Kayla war überrascht. Andros liebte seine Enkel zwar, aber nach seiner Wintergrippe sah man ihn kaum noch mit den Kindern im Garten. Kayla bedankte sich für die Auskunft und ging weiter durch den parkähnlichen Palastgarten. Auf einem sonnigen Rasenstück entdeckte sie Andros und seine beiden Enkelsöhne. Er erzählte den beiden eine Geschichte. Sie saßen gemeinsam auf einer Decke und hatten einige Leckereien um sich geschart.

„Mama! Wir machen ein Picknick!“ rief Andrin, als er sie kommen sah. „Willst du auch etwas haben?“

„Ja!“ rief sie erfreut. Sie verspürte in der Tat Hunger, obwohl das Mittagessen noch nicht so lang zurücklag. Die Jungs machten ihr Platz, und so setzte sie sich zu den drei Männern. Myron reichte ihr eine kleine Schale, die mit Melins leckeren Marmeladenkeksen gefüllt war. Bereitwillig griff Kayla zu und lauschte den Erzählungen ihres Onkels, von denen die beiden Jungs nie genug bekommen konnten.

Als junges Mädchen hätte Kayla nie geglaubt, daß sie ihren Onkel einmal so liebevoll betrachten würde, wie sie es jetzt tat. Sie konnte inzwischen verstehen, warum er ihr vor Jahren so hart begegnet war. Er hatte nur Angst um sie gehabt, sich Sorgen um ihr Wohlergehen gemacht. Und er hatte ernsthaft daran zweifeln müssen, als sie getötet hatte und fortgelaufen war. Aber seit sie an Agarins Seite stand, brachte er ihr nicht nur Wohlwollen entgegen, er hätte sich für sie zerreißen lassen und war unsäglich stolz auf sie. Das erfüllte sie mit tiefer Freude. Traurig war sie gewesen, als sie erkannt hatte, daß er als beinahe gebrochener Mann seine Heimat verlassen hatte. Dafür war er jedoch in dem Jahr, das er nun schon in Elinas verbracht hatte, zu einem zufriedenen Mann und liebenden Großvater geworden, der sich überschwenglich auf die Geburt seines nächsten Enkelkindes freute.

Von diesem Gedanken getrieben, erhob Kayla sich langsam und ging hinüber zu den Werkstätten, in denen auch Valo arbeitete. Tagsüber, wenn ihr Mann Liras gemeinsam mit Akin seinen Dienst verrichtete, hielt Thyra sich meistens bei ihrem älteren Bruder auf, zu dem sie im letzten Jahr eine sehr enge Bindung entwickelt hatte. Sie hatte ihren zweiten Bruder Kerrik an den tyrannischen König in Kramalon verloren und ihn nie mehr wiedergesehen, weil er sich nach seiner Niederlage umgebracht hatte. Somit war der ältere Valo der Letzte, der geblieben war, und obwohl Thyra in Elinas und als Frau von Liras sehr glücklich war, kannte sie außerhalb des Palastes niemanden und von ihren Eltern hatte sie inzwischen auch genug.

Doch so, wie sie Valo nähergekommen war, hatte sie jetzt auch zu Kayla eine engere Bindung. Zwar hatte Kayla ihren Dickkopf nie verloren, aber die schüchterne Thyra und sie gingen inzwischen vollkommen anders miteinander um. Vor allem hatte Thyra in ihr auch eine Vertraute.

Wie erwartet fand Kayla die beiden Geschwister in den Werkstätten. Valo prägte gerade einen goldenen Knopf und Thyra strickte wieder an dem kleinen Mützchen, das sie vor zwei Tagen angefangen hatte. Sie saß schwer zurückgelehnt auf einem Stuhl und schaute lächelnd auf, als sie Kayla in die Werkstatt kommen sah.

„Wie schön, dich zu sehen!“ rief sie. Valo drehte sich um und lächelte ebenfalls.

„Da ist ja die Kleine!“ neckte er Kayla spielerisch.

„Dessen wirst du nie müde, oder?“ fragte Kayla augenzwinkernd.

„Nein. Sollte ich das?“

„Ach was. Wie geht es dir, Thyra?“ wandte Kayla sich an ihre Kusine. Thyra zuckte mit den Schultern und deutete auf ihren runden Bauch. Es war nicht zu übersehen, daß sie hochschwanger war, zumal sie eigentlich eine sehr zierliche junge Frau war.

„Außer, daß ich ständig Rückenschmerzen habe und mich am liebsten überhaupt nicht bewegen würde, geht es mir gut!“ Als sie das sagte, leuchteten ihre Augen beinahe verklärt. Kayla wußte, was das ungeborene Baby ihr bedeutete. Sie hatte endlich einen lieben und treuen Ehemann gefunden, der nicht nur ihre Schönheit schätzte, und bald würden sie eine kleine Familie sein. Danach hatte Thyra sich immer so gesehnt.

„Wie lang gibst du ihr noch?“ fragte Valo. Kayla musterte prüfend Thyras Bauch, zuckte mit den Schultern und sagte: „Zwei Wochen vielleicht. Es kann aber auch weniger oder mehr sein!“

„Mir graut es so davor“, sagte Thyra leise. „Wenn ich daran denke, was die arme Mara ausgestanden hat!“

„Ach Unsinn. Du weißt doch, ich habe dir versprochen, dabei zu sein und wenn es irgendein Problem gibt, kommt Agarin und kann dir helfen!“ erwiderte Kayla und setzte sich zu den beiden.

„Ich weiß immer noch nicht, ob ich Liras dabei haben möchte“, seufzte Thyra. Sie wußte eigentlich nur, daß sie ihre Mutter nicht dabei haben wollte, obwohl Beret darüber sehr traurig war. Allerdings war sie so überängstlich, daß Thyra wahrscheinlich verrückt wurde, wenn sie dabei war.

„Wieso, will er nicht?“ fragte Valo mit einem verständnislosen Stirnrunzeln.

„Doch, er möchte gern, aber er rastet aus, wenn er tatenlos herumsitzen muß!“ erklärte Thyra nachdenklich.

„Das tun wir alle“, erwiderte Valo, „und wir machen uns ständig klar, daß wir das unseren geliebten Frauen angetan haben, und wir würden am liebsten den Himmel zerreißen, aber so ist das nun einmal. Wenn er dich nervös macht, wirf ihn hinaus, aber verwehre es ihm nicht, wenn er dabei sein möchte!“ Er sprach aus Erfahrung, immerhin hatte er es sich auch nicht nehmen lassen, Myrons Geburt mitzuerleben. Und er verriet Thyra wieder einmal nicht, wie schrecklich er es tatsächlich gefunden hatte, während es im Gange gewesen war. Erst hinterher war er froh gewesen, Adina beigestanden zu haben.

„Ich hätte eine unglaubliche Angst gehabt, wenn Agarin nicht dabei gewesen wäre“, gestand Kayla. „Er hat es beide Male über sich ergehen lassen, weil es mein Wunsch war. Am liebsten wäre er bei Kiana weggelaufen, mehr noch als bei Andrin, aber wir sind beide froh, daß er es nicht getan hat!“ Allerdings kannte sie auch Thyras ewig besorgten Mann und wußte, daß Liras wahrscheinlich nach fünf Minuten vor Entsetzen in Ohnmacht fallen würde.

„Na gut. Dann soll er dabei sein. Ihn und dich, Kayla, euch möchte ich dabei haben!“ sagte Thyra, deren gesamtes Interesse seit ungefähr acht Monaten nur auf ihrem Kind lag. Und von Akin wußte Kayla, daß Liras wohl der unerträglichste werdende Vater war, von dem sie je gehört hatte.

„Die arme Anariel tut mir leid. Überall sieht sie Kinder, und selbst hat sie noch keins“, fügte Thyra nach einem Moment hinzu.

„Vielleicht geht es ihr wie Melin und sie muß länger warten. Sieh dir auf der anderen Seite Adina an: Wir waren kaum verheiratet und sie war schwanger, und jetzt warten wir seit fünf Jahren darauf!“ sagte Valo achselzuckend. Kayla nickte zustimmend. So etwas ließ sich einfach nicht beeinflussen, aber auch sie wußte, wie sehr Anariel sich ein Kind wünschte.

Im Moment gab es weder für Thyra, Liras, Andros oder Beret ein anderes Thema als das Kind. Thyra hatte Kayla schon vor längerer Zeit gefragt, ob sie bei der Geburt dabei sein wollte, weil sie sich die ruhige zweifache Mutter und Freundin besser als Beistand vorstellen konnte als ihre nervöse Mutter Beret. Allerdings gab es auch zwei andere kleine Leute, die sich sehr auf das Baby freuten: Myron und Andrin. Die beiden hofften so sehr, daß es ein Junge sein würde, denn die drei kleinen Mädchen im Palast waren allesamt keine guten Spielkameraden. Zwei, weil sie viel zu klein waren, und Malina, weil sie sich nicht ärgern lassen wollte.

Valo, Thyra und Kayla blieben bis zum Abendessen zusammen. Kurz vorher traf jedoch jemand ein, den Thyra bereits sehnsüchtig erwartet hatte. Mit klappernder Rüstung und schweren Stiefeln betrat Liras die Werkstatt. Als Thyra ihn sah, erhob sie sich mit einem überglücklichen Lächeln und lief zu ihm hinüber, um ihn zu umarmen. Kayla lächelte, als sie den innigen Kuß der beiden beobachtete. Liras hätte seine Frau gern fester umarmt, doch ihr Bauch verwehrte es ihm. Er strich ihr über die offenen blonden Locken. Ihm war zweifelsfrei anzusehen, wie sehr er seine Frau anbetete.

„Bis morgen!“ rief Thyra, dann verabschiedete sich auch Liras und gemeinsam verließen die beiden die Werkstatt. Sie legten keinen Wert auf ein stetes Leben im Palast, deshalb lebten sie noch immer in Megelion.

„Und ich habe mir mal Sorgen darüber gemacht, an welchen lausigen Kerl sie vielleicht geraten würde!“ sagte Valo kopfschüttelnd.

„Wie meinst du das?“ fragte Kayla.

„Sieh sie dir doch an. Wenn ein Mann sie sieht, hat er alles, aber keine redlichen Absichten. Welch ein Glück, daß Liras anders ist!“

„Er untersteht Akin. Der hätte ihm sonst auch die Ohren langgezogen!“ sagte Kayla lachend. Valo legte sein Werkzeug nieder, stand auf und streckte sich.

„Das reicht für heute. Komm, wir gehen auch zum Essen, ich verhungere gleich!“

Überraschend öffnete sich die quietschende Tür. Agarin stand darin. Kayla ging auf ihn zu und ließ sich von ihm in die Arme schließen.

„Hört doch alle auf“, brummte Valo neidisch, fest entschlossen, seine Frau bei seiner Mutter nun auch abzuholen.

„Was denn? Du hast eben eine sehr liebenswerte Kusine! Schwester, meine ich“, sagte Agarin und gähnte.

„Scheint langweilig bei dir gewesen zu sein!“ mutmaßte Valo.

„Es geht. Kiana sorgt nur jede Nacht dafür, daß ich kein Auge zumache!“

„Du meine Güte, ich war ja schon ...“ begann Kayla, doch Agarin brachte sie mit einem Kuß zum Schweigen.

„Keine Sorge, ich habe die Kleine nach dem Gespräch zu mir geholt. Sie schläft noch immer süß und selig. Es ist noch gar keine vier Stunden her, daß sie zuletzt etwas bekommen hat!“

Kayla atmete erleichtert auf. Sie hatte ganz die Zeit vergessen. Doch wieder einmal sah sie, daß auf ihren Mann Verlaß war. Dankbar küßte sie ihn auf die Wange.

Erst auf dem Weg zum Speisesaal begegneten sie Sakira, in deren Armen die kleine schreiende Prinzessin lag.

„Sie hat Hunger“, rief das Dienstmädchen. „Gut, daß ihr hier seid!“

Kayla nahm ihre Tochter entgegen und verschwand. Valo schaute ihr nachdenklich hinterher.

„Was ist los?“ fragte Agarin, als er den Blick seines Schwagers bemerkte.

„Wie sie sich verändert hat! Ist dir das aufgefallen?“ fragte dieser.

„Was meinst du?“ fragte Agarin verunsichert.

„Sie hat endlich Frieden mit sich selbst geschlossen. Das habe ich ihr immer so gewünscht! Das ist dir zu verdanken.“

„Ach was“, winkte Agarin ab. „Ich glaube eher, daß es die Kinder sind. Und so groß, wie du glaubst, ist die Veränderung auch nicht.“

„Doch, das ist sie“, widersprach Valo. Agarin zuckte mit den Schultern. Vielleicht hatte er es einfach noch nicht bemerkt.

3. Kapitel: Friede zerstört

Das Jahr 2472 der Altvorderenzeit

„Aber Majestät, wollt Ihr nicht einen Botschafter schicken?“

„Nein! Schweig, Miruvon, ich werde selbst gehen. Er hat mich aufs Äußerste erzürnt! Wenn er glaubt, seine Spielchen mit mir spielen zu können, lernt er mich höchstpersönlich kennen!“

„Es ist doch nichts geschehen, Ihr könntet die Situation sogar noch verschlimmern!“

„Nein, Miruvon, er hat mich angegriffen und ich werde mich verteidigen! Diese hinterlistige Schlange!“

„Wie Ihr meint, mein Herr.“ Miruvon wandte sich mit einem leichten Kopfnicken ab und verließ den Raum. Seufzend beobachtete Ragnar die sich schließende Tür und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Nein, er würde sich persönlich um die Verhandlungen kümmern. Das war immerhin ein Angriff auf seine Familie gewesen! Talmon würde ebenfalls persönlich erscheinen, da war er sicher.

Auf dem Tisch vor ihm türmten sich die Beweise für die verabscheuungswürdige Verschwörung. Ragnar war froh, daß er über derart aufmerksame Wachen verfügte. Hätte der Mann seine Arbeit nicht gemacht, wäre jetzt vielleicht alles verloren.

Es hatte damit begonnen, daß König Talmon der Trasson einen Friedensbotschafter nach Sira-Diena entsandt hatte. Eine wunderbare Geste, wie Ragnar gedacht hatte, und im Gegenzug hatte er auch einen Botschafter nach Maru‘ram geschickt. Die Verständigung der beiden Volksstämme war gut, konnte aber durchaus noch verbessert werden.

Seine scharfen Augen blickten schwermütig, als er sich noch einmal alles durch den Kopf gehen ließ. Talmons Interessen waren immer andere gewesen. Der Unterschied lag Sarono und Trasson seit Jahrtausenden im Blut. Er war klein, aber fein, und er hatte schon für viel Ärger gesorgt.

Gemeinsam hatten die beiden Stämme nur, daß ihnen die gleiche Unsterblichkeit vergönnt war. Doch schon zur Frühzeit der Besiedlung von Farun‘nilas hatte es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Lebensführung gegeben. Der Stamm der Trasson war kriegstreiberischer und seine Anführer hatten immerzu versucht, die ihnen gegebenen magischen Fähigkeiten zu stärken und auszuweiten. Die Sarono hingegen hatten die Studie der magischen Kräfte nur vertieft und perfektioniert, weil sie mit den ihnen gegebenen Möglichkeiten zufrieden waren, und sie hatten sich den geistigen Lehren verschrieben. Warum das Kriegshandwerk erlernen, war die Frage gewesen. Denn beide Stämme hatten die gleichen Wurzeln, sie waren beide Abkömmlinge der Amon‘Dhal. Worin die Unterschiede begründet lagen, wußten auch die klügsten Weisen nicht zu sagen. Aber trotz unterschiedlicher Lebensweisen hatte man sich arrangiert und lebte in Frieden nebeneinander. Die Trasson hatten den Südteil der Insel besiedelt, der fortan Trassuon genannt wurde, und die Sarono bewohnten den Nordteil, das Saro‘daen. Im Phalassienon, dem Mittelteil, lebten Angehörige beider Stämme, wenngleich auch nur sehr wenige.

Aber einen Vorfall wie die Verschwörung gegen das Königshaus in Sira-Diena hatte es noch nie gegeben. Ragnar schüttelte den Kopf. In seiner nun über dreihundertjährigen Amtszeit war es ihm immer gelungen, den Dialog mit Talmon zu halten, doch nun hatte das zweite in Farun‘nilas amtierende Oberhaupt den Frieden in Gefahr gebracht. Ragnar hatte noch nie gewußt, warum es überhaupt diesen Unterschied und den ewigen Disput zwischen den beiden Stämmen geben mußte. Scheinbar brauchten Wesen von höherer Intelligenz immer jemanden, von dem sie sich distanzieren konnten, den sie übertrumpfen wollten. Und das bei gleichen Wurzeln. Ragnar konnte es nicht beurteilen, er war noch nicht lang genug am Leben, um die Anfänge der Veränderung miterlebt zu haben. Daß er überhaupt mit einem Lebensalter von knapp 1500 Jahren bereits Oberhaupt der Sarono geworden war, ging auf das Schlimmste zurück, das einem Amon‘Dhal widerfahren konnte: den Tod. Sein Vater war in einem Unwetter auf hoher See umgekommen und seine Mutter kurz darauf aus Kummer gestorben. Denn es war ein entsetzliches Los für einen Unsterblichen, eben dieses Leben zu verlieren, das so viel länger hätte andauern können. Ragnar wäre eines Tages König geworden, wenn sein Vater abgedankt hätte. Das war nun nicht mehr möglich. Er hatte damit zu leben gelernt und eine ruhige Amtszeit geführt. Bis jetzt. Bis zu dem Tag, an dem ein besorgter Wächter zu ihm gekommen war und ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, daß der angebliche Friedensbotschafter der Trasson auffällig viel im Palast herumspionierte. Ragnar hatte widerwillig den Auftrag gegeben, sein Gemach untersuchen zu lassen, doch das Ergebnis war ein regelrechter Schock gewesen. Stapelweise türmten sich nun vor ihm Briefe, Pläne, Skizzen und Notizen, die genau festhielten, wie der Palastalltag verlief, welche Wege aus den Gebäuden herausführten und so fort. Eine Reiseroute von Sira-Diena nach Surth und weiter nach Maru‘ram war bereits festgelegt und als sicher gekennzeichnet worden, um Marolinha, Ragnars einzige Tochter, unbehelligt dorthin bringen zu können. In Briefen von Talmon an seinen Abgesandten wurde auch deutlich, aus welchem Grunde die Prinzessin hatte entführt werden sollen. Talmon sann auf die Alleinherrschaft in Farun‘nilas. Ragnar hatte zwar keinen Hinweis darauf finden können, daß er die Sarono unterjochen wollte, aber darauf wollte er es gar nicht erst ankommen lassen.

Nachdenklich fuhr er sich durchs Haar und starrte gegen die Tür. Welch ein Glück, daß der Anschlag auf seine Tochter vereitelt worden war. Er hätte nicht gewußt, wie er hätte handeln sollen, wenn sie tatsächlich geraubt worden wäre. Hätte er alles für sie aufs Spiel setzen sollen? Neben ihr hatte er noch zwei ältere Söhne, doch bei allen magischen Kräften, die er besaß, war es ihm nicht gelungen, den drohenden Tod seiner Frau bei Marolinhas Geburt abzuwenden. Das lag jetzt mehr als vierhundert Jahre zurück. Sie hatte er noch vor seinen Eltern verloren, und so blieben ihm nur seine Kinder. Eines von ihnen zu verlieren, hätte ihm das Herz gebrochen, aber was hätte er tun sollen?

Seit Garelias Tod und dem fünfzig Jahre später folgenden Verlust seiner Eltern lag sein einziges Ansinnen darin, ein gutes Oberhaupt für die Sarono zu sein. Er wußte, daß er diesem Vorhaben gerecht wurde. Bis jetzt war es ihm gelungen.

Doch nun schmorte der elende Verräter im Kerker und Talmon würde Nachricht erhalten, daß er sich im Phalassienon im Tempel der Einigkeit einfinden sollte, auf neutralem Boden, um mit Ragnar über die zukünftige Vorgehensweise zu verhandeln. Er war so wütend, daß er sogar bereit war, für den Verräter die Todesstrafe einzuführen. Das würde er auch tun, würde Talmon nicht schwören, nie wieder vor lauter Machthunger gegen die bestehenden Gefüge aufzubegehren. Es war Ragnar gleichgültig, daß er nur einen Handlanger inhaftiert hatte. Verrat war und blieb Verrat.

Ein Klopfen riß ihn aus seinen Gedanken. „Ja“, sagte er.

Die Tür öffnete sich und herein trat sein ältester Sohn Rigulos, ein begnadeter Schwertkämpfer. Deshalb war er nicht nur groß, sondern auch sehr kräftig und muskulös. Er hatte das pechschwarze Haar seiner Mutter, das er untypisch kurz nur auf Ohrlänge trug.

„Mein Sohn“, sagte Ragnar gutmütig. „Was führt dich zu mir?“

„Vater, ich habe von Miruvon erfahren, daß du dich mit Talmon im Phalassienon treffen möchtest“, sagte Rigulos.

„Das ist richtig. Warum bringst du das zur Sprache?“

„Vater, laß mich hingehen. Wenn du gingest, würde es ihm nur zeigen, daß er dich getroffen hat!“

„Das soll er auch wissen. Dir würde er nicht glauben, wenn du ihm mit dem Tod seines nichtsnutzigen Spions drohen würdest!“

„Du willst den Kerl töten lassen?“ Rigulos war entsetzt.

„Wenn Talmon nicht auf meine Forderungen eingeht, werde ich das tun. Er wird mich kennenlernen!“

„Das kannst du nicht tun. Er ist nur ein Untergebener! Er ist Talmon zur Treue verpflichtet wie jeder deiner Männer dir!“

„Ja, aber er hat es selbst aus Überzeugung getan.“ Ragnar blieb hart.

„Marolinha würde das nicht wollen“, sagte Rigulos.

„Möglich, aber ich frage Marolinha dabei nicht nach ihrer Meinung. Wer weiß denn schon, was diese Bastarde - entschuldige meine Wortwahl - mit ihr gemacht hätten! Sie nehmen doch keine Rücksicht darauf, ob sie königlichen Blutes ist oder nicht. Warum wohl wollten sie denn meine einzige Tochter, wenn sie auch einen von euch hätten haben können?“

„Weil sie sich nicht wehren kann.“

„Sehr richtig. Und daß Talmon das ausnutzen wollte, wird er noch bereuen. Aber das ist nicht alles, was mir durch den Kopf ging. Was, wenn ich nicht eingewilligt hätte? Er hätte sein Ziel nicht erreicht und weiterhin einen Krieg riskieren müssen. Aber Marolinha ist viel wert. Er hätte dafür sorgen können, daß sie sein Kind austrägt und dann hätte dieser Sprößling auf ganz natürliche Weise ein Anrecht auf den Thron von ganz Farun‘nilas gehabt!“

„Das würde er nicht wagen!“ empörte sich Rigulos.

„Oh doch. Talmon ist ein unmoralischer Hund. Was denkst du, warum er keine Frau hat? Er ist nicht kinderlos, oh nein, aber er kümmert sich nicht um die Abkömmlinge, die seine bedauernswerten Mätressen ihm gebären. Nicht, daß du das glaubst. Er weiß nicht, was Vaterliebe ist!“

„Vater, laß mich auf Talmon treffen, ich würde dir keine Schande bereiten!“

„Das ist wahr, aber du bist noch hitzköpfiger als ich. Und du bist keine achthundert Jahre alt, das macht dich aufgrund deiner fehlenden Erfahrung zu keinem wortgewandten Redner. Ganz davon abgesehen, daß du bislang nur der Thronfolger bist. Auf selbigem sitze noch immer ich!“

„Entschuldige, Vater. Du hast Recht. Ich war anmaßend“, sagte Rigulos.

„Nein. Ich spreche heute mit unglaublicher Härte, wie ich denke, und das ist auch nicht richtig. Aber ich bin so aufgebracht, daß ich nicht anders kann! Warum muß es zwischen unseren Stämmen nur solchen Ärger geben?“

Rigulos seufzte. Er hatte es aufgegeben, sich zu fragen, warum die Welt nicht friedlicher war. Bei seinem Vater waren diese Fragen jedoch seit längerer Zeit an der Tagesordnung. Er litt unter dem Tod seiner Frau. Ihr war ein gerade tausendjähriges Leben vergönnt gewesen, von dem die beiden siebenhundert Jahre gemeinsam verbracht hatten. Ragnar hatte sie geliebt, was man kaum vermuten konnte, weil die beiden erst nach vierhundert Jahren ein Kind hatten. Sein jüngerer Bruder Korian war hingegen nur fünfzig Jahre später geboren. Die kleine Schwester war dazu im Vergleich ein wirkliches Nesthäkchen, das Korian jedoch sehr nah stand.

Rigulos hatte miterlebt, wie schwer Ragnar mit dem Verlust seiner Frau und dann dem seiner Eltern zu kämpfen gehabt hatte. Seither war er verbittert. Er hatte seine Amtszeit so angetreten, wenngleich er auch ein weiser, gütiger und freundlicher Herrscher war. Aber er hatte ein schweres Schicksal, wie es nur wenige der unsterblichen Amon‘Dhal erlitten. Vor allem fragte er sich, warum seine magischen Heilkräfte nichts dagegen hatten tun können, daß seine Frau im Kindbett gestorben war. Rigulos wußte, daß Ragnar sich seit jenem Augenblick wünschte, auch dieselben lebensverändernden Kräfte zu besitzen, über die Talmon verfügte. Auch, wenn diese Macht zu groß war, als daß jemand sie sich hätte anmaßen können.

„Du wirst die richtige Entscheidung treffen, Vater“, sagte Rigulos und ging. Ragnar zuckte hilflos mit den Schultern. Er war sich da nicht so sicher. Da er jedoch nicht länger Trübsal blasen wollte, überlegte er, ob er nicht hinaus zu seinen anderen Kindern gehen sollte. Marolinha und Korian saßen gemeinsam im Garten auf einer Bank und genossen die spätsommerliche Sonne. Nachdenklich beobachtete Ragnar die beiden vom Fenster aus. Korian war ein stiller, nachdenklicher Junge, der viel zuviel Zeit mit Büchern verbrachte. Rigulos machte Ragnar dahingehend Sorgen, daß er einfach nicht heiraten wollte. Marolinha hätte es ebenfalls längst tun können, aber sie hatte bislang vergeblich gesucht. Ragnar lächelte, als er daran dachte, daß es an Verehrern nicht mangelte. Seine Tochter war eine exotische Schönheit, die wallendes schwarzes Haar und seltene dunkle Augen hatte. An diesem Tag trug sie ein blutrotes, goldbesetztes Kleid und einen ebensolchen dünnen Schleier, der ihre Schönheit noch unterstrich. Korian verblaßte neben ihr in seiner unscheinbaren Robe.

Ragnars Herz krampfte sich zusammen, als er daran dachte, was das Scheusal Talmon ihr hätte antun können. Sie wußte es nicht und er war froh, daß er sich auf Rigulos verlassen könnte. Er würde es ihr nicht sagen. Aber das Herz eines Vaters vergaß bei ihrem Anblick diese Sorgen sicher niemals wieder. Es wurde Zeit, daß sie heiratete und in die sichere Obhut eines ehrenhaften Mannes überging. Sie stand zur Zeit noch unter Schock und wurde stets von einem ihrer Brüder begleitet. Aber damit mußte Schluß sein. Ragnars Entschluß, Talmon gegenüberzutreten, stand deshalb fest.

„Sie sind bereits hier“, sagte Rigulos, dessen scharfer Blick ihn nie im Stich ließ.

„Natürlich, nachdem er mein Schreiben empfangen hat, wird er sich bereits auf den Weg gemacht haben“, erwiderte Ragnar, der ebenfalls die Banner der Trasson gehißt sah. Zu ihrer Linken erstreckte sich das Urol‘Darth-Massiv, an dessen nordwestlichstem Ausläufer der Tempel der Einigkeit lag. Er war ein Monument und trug seinen Namen, weil hier stets Treffen zwischen den Herrschern abgehalten wurden. Neutraler Boden war allen recht. Außerdem war der Tempel von beiden Hauptstädten gleichermaßen weit entfernt und bot stets den richtigen Rahmen für ein Fürstentreffen. Es war ein riesiger Gebäudekomplex, der von kleinen Türmen umringt war. In der Mitte erhob sich eine riesige Kuppel, deren bronzefarbenes Dach im Sonnenschein glänzte. Die Säulengänge waren bereits sichtbar. Riesige Säulen, zehnmal so hoch wie der größte Mann, säumten einen offenen Gang vor der Kuppelhalle. Auch nachts konnte man dort flanieren, weil zwischen den Säulen große Laternen hingen.

„Mir fehlt die Seeluft“, sagte Rigulos, der in seinem Leben erst einmal an diesem Ort gewesen war. Ihn hatte am meisten die Statue fasziniert, die unter der Kuppelhalle in den Katakomben zwischen großen Säulen stand und an den Erbauer des Tempels erinnerte. Sie war gute fünfzig Fuß hoch und machte einen sehr ehrerbietigen Eindruck.

Ragnar und sein Gefolge hielten weiter auf den Tempel zu. Eine marmorne Rundbrücke führte sie auf den Hof vor den Säulengängen. Zahlreiche Wächter Talmons waren bereits dort versammelt.

„Geht und hißt unsere Banner“, trug Ragnar zwei seiner Untergebenen auf, während er und Rigulos absaßen und auf die Wächter zugingen.

„Wir sind nun eingetroffen. Sagt dies Eurem Herrscher Talmon, auf daß er uns empfangen möge“, sagte Ragnar und neigte respektvoll den Kopf vor den Wächtern, die es ihm gleich taten. Einer der beiden schaute jedoch dann zu dem Gefangenen, der, von drei Wächtern umringt, vor seinem Pferd stand und sie mit einer Kopfbewegung grüßte. Er lag in Ketten. Ragnar hatte mit seinem Sohn Auseinandersetzungen über das Schicksal dieses Mannes geführt, aber er war unerbittlich. Talmon hatte damit rechnen müssen, daß er sich für seine Verschwörung nicht sehr begeistern konnte und dementsprechend handelte.

Einer der Wächter ging, Talmon zu suchen, doch das hielt Ragnar und seine Männer nicht davon hab, sich ihrerseits in die Kuppelhalle zu begeben. Seine Wächter gesellten sich zu denen Talmons, während er die hohe Tür öffnete und die seltsam kühle und nach würzigen Kräutern duftende Halle betrat. Die Kräuter waren um ein kleines Abbild der Statue aus den Katakomben gestreut. Dafür waren die Hüterinnen der Gedenkstätten zuständig, die ganz in der Nähe lebten.

Eine quadratische, von zahlreichen Stühlen umgebene Tafel stand in der Mitte. An der Vorder- und Rückseite der Halle befanden sich große, offenstehende Fenster. Die Seitenwände der Halle waren mit Türen durchsetzt. Ragnar und sein Gefolge warteten, bis sich eine dieser Türen öffnete und Talmon die Halle betrat. Er war mit einer langen grünen Robe bekleidet, trug sein majestätisches Schwert, einen edelsteinbesetzten Goldreif auf dem blonden Haar und grüßte Ragnar mit einer respektvollen Handbewegung.

„Seid gegrüßt, Ragnar, Herrscher der Sarono“, sagte er höflich.

„Auch Ihr seid gegrüßt, Talmon, Oberhaupt der Trasson“, erwiderte Ragnar ebenso höflich und trat auf ihn zu.

„Setzen wir uns. Soll ich dafür Sorge tragen lassen, daß ihr Speis und Trank erhaltet?“

„Nein, das ist nicht nötig, wir haben uns vor kurzem eine Mittagspause gegönnt“, sagte Ragnar. „Einige Getränke sind völlig ausreichend.“

Talmon gab einem Bediensteten einen Befehl, dann ging er auf die Tafel zu und setzte sich auf einer Seite. Ragnar setzte sich ihm genau gegenüber. Sein Sohn und einige weitere Männer nahmen ebenfalls Platz, während die Wächter mit dem Gefangenen in einer Ecke stehenblieben.

Ragnar gab einem seiner Männer einen Wink, woraufhin dieser aus einer Ledermappe all die Beweisstücke hervorholte, die den Gefangenen überführt hatten und Talmon in kein gutes Licht rückten.

„Wie ich sehe, habt Ihr ungeniert meine Post durchstöbert“, stellte Talmon seelenruhig fest.