Für Königin und Vaterland - Dania Dicken - E-Book

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Dania Dicken

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Beschreibung

Als ihre zehnjährige Tochter Julie nicht nach Hause kommt, weiß Profilerin Andrea, dass ihr etwas zugestoßen sein muss. Die Suche nach dem Mädchen verläuft jedoch zunächst erfolglos.
Andrea glaubt ihre Tochter schon tot, als Julie überraschend und unversehrt nach Hause kommt. Durch gezieltes Nachfragen finden Andrea und Kollege Joshua heraus, dass Julie die Vorbereitungen eines terroristischen Anschlags mit immenser Tragweite beobachtet hat ...
Neuauflage des unter dem Titel "Die Furcht in deinen Augen" veröffentlichten Thrillers von be.thrilled (2017)

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Montag, 6. Mai
Dienstag, 7. Mai
Mittwoch, 8. Mai
Donnerstag, 9. Mai
Freitag, 10. Mai
Samstag, 11. Mai
Sonntag, 12. Mai
Mittwoch, 15. Mai
Samstag, 18. Mai
Sonntag, 19. Mai
TEIL 2
Mittwoch, 5. Juni
Donnerstag, 6. Juni
Freitag, 8. Juni
Donnerstag, 27. Juni
Montag, 8. Juli
Mittwoch, 17. Juli
Dienstag, 30. Juli
Freitag, 16. August
Schlusswort zur Reihe
Impressum

 

 

 

 

Dania Dicken

 

 

Für Königin und Vaterland

 

Profiler-Reihe 10

 

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

Neuauflage 2023

 

Zuerst erschienen unter dem Titel „Die Furcht in deinen Augen“ bei be.thrilled, Köln (2017)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen,

der wird am Ende beides verlieren.

 

Benjamin Franklin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

TEIL 1

 

 

Montag, 6. Mai

 

Christy schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten.

„Guck mal, was die machen“, wisperte sie zwischen ihren Fingern hindurch. „Er steckt ihr ja fast die Zunge in den Hals““

Julie grinste breit und beobachtete das Schauspiel auf der Parkbank genauso fasziniert wie ihre Freundin. Im Woodlands Park gab es immer eine Menge zu sehen, vor allem bei so schönem Wetter. Es war schon richtig warm, in der Luft lag der Duft von Frühling.

Ganz in der Nähe eines der Hauptwege hatten Julie und Christy sich in einem Gebüsch auf den Boden gelegt. Inbrünstig hoffte Julie darauf, dass endlich etwas Verdächtiges passierte. Etwas, von dem sie Onkel Christopher berichten konnte. Sie wollte ihm und der Polizei bei der Arbeit helfen. So wie eine Detektivin.

So wie ihre Mutter.

Christy kicherte schon wieder. Genau gegenüber auf der Bank saß ein pickliger Teenager mit seiner Freundin. Die beiden knutschten heftig und standen schon seit einigen Minuten im Mittelpunkt des detektivischen Interesses der beiden Mädchen. Ein wenig angewidert verzog Christy das Gesicht.

„Das sieht so albern aus“, kommentierte sie kritisch.

Julie nickte stumm. Als der Junge seine Hand unter das T-Shirt seiner Freundin steckte, prusteten die Mädchen erstickt. Das Pärchen bemerkte noch immer nichts.

So funktioniert das also, dachte Julie. Merkwürdige Sache, dieses Knutschen. Mit allem, was dazugehört. Wie sich das wohl anfühlte, was der Junge da mit seiner Freundin machte? Seltsame Vorstellung, von jemand anderem so angefasst zu werden. Julie fand Jungs allenfalls nützlich zum Verhauen.

„Komm.“ Christy gab ihr einen Wink. Julie folgte ihr so leise wie möglich, aber nicht leise genug. Das trockene Laub des Vorjahres raschelte verräterisch unter ihren Schritten. Aufgeschreckt starrte das Pärchen auf das Gebüsch. Unerkannt und kichernd rannten Julie und Christy davon. Erst ein Stück weiter entfernt blieben sie lachend stehen.

„Das hat total komisch ausgesehen!“ Christy schnappte nach Luft.

„Allerdings. Keine Ahnung, was daran so toll sein soll“, sagte Julie schulterzuckend.

„Nee, wirklich nicht“, stimmte Christy zu.

Amüsiert hielten die beiden nach einem anderen dichten Gebüsch Ausschau. Ein junger Mann mit Hund kam vorüber, gefolgt von einem telefonierenden Anzug, wie Christy respektlos kundtat. Das fanden beide Mädchen ziemlich witzig. Mit Headset und Aktentasche wollte der Manager wohl unersetzlich wirken. Wenig später schlenderte ein älteres Pärchen den Weg entlang. Ein Junge, etwa im Alter der Mädchen, flitzte auf seinem Fahrrad vorüber.

Kurz darauf verließ ein Mann mit filzigen Haaren und in ungepflegter, abgetragener Kleidung den Weg und näherte sich ihrem Gebüsch. Julie und Christy hielten die Luft an. Es dauerte nicht lange, bis ein weiterer junger Mann auftauchte.

„Hast du was?“, begrüßte er den ersten. Der hielt ihm die Hand hin. Nachdem sie etwas ausgetauscht hatten, ging der zweite wieder. Der erste Mann wartete einen kurzen Moment und verschwand ebenfalls.

„Was war das?“, flüsterte Christy.

„Das war bestimmt jemand mit Drogen!“, erwiderte Julie verschwörerisch.

„Hm“, machte Christy. „Was du alles weißt.“

Wieder musste Julie an Christopher denken und überlegte, ob sie noch wusste, wie der Mann ausgesehen hatte. Vielleicht konnte sie das ihrem Onkel erzählen.

„Ich freue mich schon auf deinen Geburtstag“, riss Christy sie aus ihren Gedanken.

„Ich mich auch. Hoffentlich regnet es nicht.“

„Ja, hoffentlich.“

In drei Wochen wurde Julie elf. Ende Mai Geburtstag zu haben, fand sie großartig, denn zu dieser Jahreszeit konnte man mit etwas Glück schon eine Gartenparty veranstalten. Ihre Vorfreude war riesig.

Vielleicht bekam sie ja diesmal endlich einen Hund.

In Christys Hosentasche piepte und dudelte eine Melodie. Sie zog ihr Handy heraus und verdrehte nach einem Blick aufs Display genervt die Augen. „Meine Mum.“

„Oh“, bemerkte Julie und verfolgte Christys einsilbige Antworten mit halbem Ohr. Noch genervter als vorher steckte Christy das Handy schließlich wieder weg.

„Ich muss nach Hause“, brummte sie. „Mum will, dass ich noch für den Mathetest lerne.“

„Pff“, machte Julie und fügte sarkastisch hinzu: „Viel Spaß ...“

„Danke“, erwiderte Christy genervt und krabbelte aus dem Gebüsch. „Bis morgen.“

„Bis morgen“, rief Julie ihr hinterher und stand Augenblicke später ebenfalls auf. Allein im Park auf dem Boden zu liegen machte keinen Spaß. Sie kämpfte sich aus dem Gebüsch und schüttelte ihre langen dunklen Locken, um die Zweige und Blätter loszuwerden.

Gemächlich schlenderte sie zur Bushaltestelle, doch noch bevor sie dort eingetroffen war, beschloss sie, doch lieber nach Hause zu laufen. Der Weg war zwar vergleichsweise weit, weil sie von Christys Haus aus aufgebrochen waren, aber Julie wollte sich gern die Frühlingssonne ins Gesicht scheinen lassen.

Sie verließ den kleinen Park in Richtung Norwich Community Hospital und ging über das Krankenhausgelände. Hier kreuzten Spaziergänger ihren Weg, Patienten und deren Besucher. Ein älterer Mann im Morgenmantel kam ihr im Rollstuhl entgegen, irgendwo rannte ein kleiner Junge lachend über die Wiese.

Ans Krankenhausgelände schloss sich der städtische Friedhof an. Julie entschied, ihn zu durchqueren. Sie liebte es, die Namen auf den Grabsteinen zu studieren. Außerdem mochte sie die ruhige Atmosphäre auf dem Friedhof und den Geruch frischer, feuchter Erde. So roch es auch, wenn es im Sommer regnete. Das war einfach herrlich.

Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Hinter einer Hecke hörte sie leises Gemurmel, ansonsten war da nur das Rauschen des Windes in den Bäumen. Es war friedlich und still.

Die ersten Grabsteine fand Julie eher langweilig. Die Leute hießen Miller oder Parker. Erst der Name Archibald Bendworth erregte ihr Interesse. Grinsend nahm sie den verwitterten Stein in Augenschein und trottete dann weiter. Betreten hatte sie den Friedhof auf der alten Seite, so dass die Grabstellen und die Inschriften mit der Zeit immer jünger wurden. Das Grab eines Ehepaares fiel ihr auf, denn die Frau war hundert Jahre alt geworden. Ihr Name war Margaret Hartford gewesen. Margaret, so ein schöner alter Name, dachte Julie fasziniert.

Edgar und Evelyn Eldridge stand auf dem nächsten Stein. Alle Namen begannen mit E. Das hätte Julie auch gefallen: ein Vorname beginnend mit T, so dass er zu Thornton passte. Zu schade, dass ihre Mum ihren deutschen Namen bei der Hochzeit aufgegeben hatte, denn sie hatte Jahnke geheißen. Wie praktisch. Aber sie hatte es vorgezogen, in England einen englischen Nachnamen zu tragen. Julie fragte sich manchmal, ob das Leben in Deutschland so anders wäre. Zum Glück beherrschte sie die Sprache.

Ein paar Schritte weiter entdeckte sie den zwölf Jahre alten Grabstein einer Frau Anfang zwanzig. Mary Hillthorpe war ihr Name. Ob sie wohl krank gewesen war oder einen Unfall gehabt hatte?

Der übernächste Stein zeigte die Lebensdaten einer ebenfalls noch jungen Frau. Jenny Morsdale. Sie war kurz vor Weihnachten gestorben. Das fand Julie gruselig.

Und wieder zwei Grabstätten weiter noch eine junge Frau namens Andrea Jackson, sie war nur ein paar Wochen nach Jenny verstorben.

Julie blieb stehen und überlegte, dann kehrte sie zurück zum Grab von Mary Hillthorpe. Gestorben im November, genau vier Wochen vor Jenny. Andrea Jackson war vier Wochen nach Jenny gestorben.

Ein eiskalter Schauer überlief Julie, als ihr klar wurde, wessen Gräber sie gefunden hatte. Wie angewurzelt stand sie da und fröstelte urplötzlich. Der Sonnenschein erschien ihr wie der pure Hohn.

Ihre Mutter hatte ihr von dem Mann erzählt, der hier in Norwich Studentinnen umgebracht hatte. Immer im Abstand von vier Wochen. Insgesamt fünf Frauen und zwei Polizisten waren ihm zum Opfer gefallen.

Konnte das wirklich sein? Oder war das Zufall?

Zwei Jahre vor ihrer Geburt war das passiert. Julie zählte an den Fingern nach und verglich das Ergebnis mit den Angaben auf den Grabsteinen. Das Jahr stimmte. Es hätte schon mit dem Teufel zugehen müssen, wenn das nicht die drei Gräber dieser Studentinnen waren.

Sie wusste, wie die letzte tote Frau hieß. Die Freundin ihrer Mutter. Mit klopfendem Herzen folgte Julie dem Weg und suchte nach dem Grabstein von Caroline Lewis. Als sie ihn schließlich fand, wurde ihr innerlich noch kälter.

Das Grab war mit den schönsten Blumen in der ganzen Reihe geschmückt. Traurig las Julie die Lebensdaten von Caroline Lewis: verstorben am elften Februar im Alter von siebenundzwanzig Jahren. Das Grab gab es wirklich.

Mit einem Mal wurden die Erzählungen ihrer Mum real, waren nicht mehr bloß eine ferne Erinnerung, mit der Julie nichts zu tun hatte. Das war echt. Es hatte diesen Mörder wirklich gegeben. Den Mann, der auch ihre Mum hatte töten wollen.

Julie zog die Schultern hoch und versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. Schließlich fiel ihr sein Nachname ein: Harold.

Mit einer seltsamen Mischung aus unterschwelliger Angst und morbider Neugier stapfte sie weiter über den Friedhof und suchte nach dem Grabstein des Mannes, der all diese jungen Frauen auf dem Gewissen hatte. Sie wollte ihn sehen. Wollte sich vergewissern, dass er genauso echt war wie die anderen.

Ein Serienmörder. Der erste, mit dem ihre Mutter es zu tun bekommen hatte.

Julie lief kreuz und quer durch die Gräberreihen und hielt geduldig nach dem Namen Harold Ausschau. In einer abgelegenen, etwas verwilderten Ecke neben uralten Gräbern entdeckte sie schließlich die Grabstelle. Jonathan Harold stand auf dem mit üblen Schimpfwörtern beschmierten Grabstein. Gestorben am elften Februar, genau wie sein letztes Opfer.

Es war, wie ihre Mutter gesagt hatte. Zwar hatte Julie das nie bezweifelt, aber es zu hören und es zu sehen waren zwei völlig verschiedene Dinge.

Fröstelnd zog Julie die Schultern hoch und starrte feindselig auf das Grab. Die Hände in die Hosentaschen gesteckt, stand sie nur da und streckte schließlich einfach so die Zunge heraus.

Er hatte ihrer Mum wehgetan. Für diesen Mann empfand sie nur Hass, ohne ihn je kennengelernt zu haben.

 

 

Andrea hatte gerade aufgelegt und wollte das Telefon in die Ladestation stellen, als die Haustür ins Schloss fiel. Die hastigen kleinen Schritte verrieten ihr, dass Julie gekommen war.

„Du bist schon wieder da?“, rief Andrea überrascht aus dem Wohnzimmer. Als sie sich umdrehte, stand plötzlich ihre Tochter vor ihr und umarmte sie wortlos. Sie glühte regelrecht und atmete stoßweise.

„Hey, Süße, was ist denn?“, fragte Andrea beinahe zärtlich und strich über Julies Locken. Sie hatte ihren Kopf an Andreas Brust vergraben und sagte noch immer kein Wort. Ihre Anspannung blieb Andrea nicht verborgen.

„Was ist los?“, fragte sie sanft noch einmal. „Hattest du Streit mit Christy?“

„Nein“, kam es gedämpft aus ihrem Pullover zurück. Es klang weinerlich.

„Ist etwas passiert?“

„Nein.“ Julie hob den Kopf, um ihre Mutter anzusehen. „Es ist nur ... ich bin froh, dass du da bist, Mami.“

Irritiert zog Andrea eine Augenbraue in die Höhe. Damit gab sie sich nicht zufrieden. „Junge Dame, du weißt doch, dass du nichts vor mir verheimlichen kannst. Irgendetwas ist doch passiert.“

Langsam löste Julie sich von ihr. „Christy musste heim. Wir waren im Woodlands Park und ich bin nach Hause gelaufen. Über den Friedhof.“

Andrea fragte sich, was daran problematisch war, bis sie begriff. Der städtische Friedhof lag in der Nähe vom Woodlands Park. Sie nickte verstehend. „Was hast du entdeckt?“

Julie wandte sich schweigend ab und ging zum Sofa, auf dem sie sich zögernd niederließ. Andrea folgte ihr.

„Die ganzen Gräber“, sagte Julie leise. „Alles, was du erzählt hast ...“

„Das muss unheimlich gewesen sein“, warf Andrea verständnisvoll ein.

Julie nickte. „Das war total gruselig. Drei Gräber von jungen Frauen. Dann habe ich das Grab von Caroline entdeckt. Das ist alles so verrückt! Ich meine, ich weiß ja, dass das alles passiert ist. Aber jetzt ... das macht es so ...“

„Ich verstehe.“ Andrea griff nach Julies Hand und drückte sie.  

„Ist das nicht total schlimm für dich, wenn ich davon spreche?“, fragte Julie.

Von der Besorgnis ihrer Tochter gerührt, lächelte Andrea. „Nein. Es ist schon so lang her. Das ist nicht mehr schlimm.“

Skeptisch blinzelte Julie in Richtung Terrassentür. Sie war nur angelehnt, weil Gregory im Garten war. Das ahnte das Mädchen, aber sie sprach trotzdem weiter, solange sie die Gelegenheit hatte, mit Andrea allein zu reden.

„Ich habe dann auch sein Grab gesucht“, fuhr sie fort, ohne den Blick von der Tür zu wenden. „Ich wusste noch seinen Nachnamen. Ich hab es gefunden.“

„Du kannst seinen Namen ruhig sagen.“ Andrea lächelte gelassen. „Das ist halb so schlimm.“

„Wirklich?“ Das wollte Julie nicht glauben. „Ich meine ... das war ein Mörder. Du hast mir doch erzählt, was der gemacht hat. Dass er dir wehgetan hat. Er hat Dad fast umgebracht!“

Mit flammendem Blick starrte sie ihre Mutter an. Andrea zog die Schultern hoch und seufzte, aber Julie kam einer Antwort zuvor.

„Es ist nur ... ich verstehe das immer noch nicht. Seit du mir davon erzählt hast, denke ich darüber nach und versuche, zu begreifen, was da passiert ist. Aber ich verstehe es nicht. Ich bin noch nicht alt genug dafür. Du hast mir ja auch bestimmt nicht alles erzählt.“

„Das stimmt“, gab Andrea unumwunden zu.

„Und weißt du, was? Ich bin froh, dass ich das noch nicht verstehe, denn ich weiß, diese Sachen würden mir Angst machen.“ Julie sagte das sehr nachdrücklich. „Vorhin haben Christy und ich ein Pärchen beim Knutschen beobachtet. Das war auch so seltsam. Das alles kommt mir so eigenartig vor. Aber obwohl mir das nichts sagt, ist mir das, was ich mir vorstelle, irgendwie unheimlich.“

„Hey.“ Andrea seufzte und legte einen Arm um Julies schmale Schultern. Frustriert dachte sie daran, dass sie genau diese Reaktion immer hatte verhindern wollen.

„Wenn du möchtest, versuche ich, dir noch mehr zu erklären“, bot sie trotzdem an.

„Nein.“ Julie schüttelte vehement den Kopf. „Ich will das gar nicht hören. Es macht mich verrückt, mir vorzustellen, dass das passiert ist. Ich will das nicht. Ich stelle mir immer vor, dass du ...“ Sie brach ab.

„Was?“, fragte Andrea zaghaft nach.

„Dass du furchtbare Angst hattest. Das ... das darf dir nicht passiert sein, Mami! Das hast du nicht verdient.“ Tränen brannten in ihren Augen – Tränen der Wut.

„Ach, Süße.“ Andrea versuchte, ihre Tochter zu umarmen, die steif wie ein Brett dasaß. Julie ließ es zu. In diesem Augenblick wollte sie sich anlehnen.

Andrea spürte, wie Julies Anspannung ganz langsam nachließ. Als Andrea bemerkte, dass ihre Tochter nun weinte, zog sie Julies Kopf an ihre Brust und drückte das Mädchen ganz fest an sich.

„Es ist okay“, sagte sie leise. „Es geht mir gut. Das ist ewig her.“

Julie gab ein wimmerndes Geräusch von sich. „Aber du hast doch von diesen anderen Männern erzählt, und ich weiß doch auch, dass du jahrelang solche Verbrecher gejagt hast und ...“ Sie schluckte. „Ich finde das so traurig. Ich will das alles nicht für meine Mum.“

„Nicht doch.“ Tröstend wiegte Andrea ihre Tochter in den Armen und atmete tief durch. Natürlich hatte sie diesen Moment immer gefürchtet. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass Julie ein Phantom fürchten würde. Ihre Tochter hatte hauptsächlich deshalb Angst, weil sie die Hintergründe noch nicht verstand. Aber sie war immer noch ein Kind. Sie interessierte sich nicht für Jungs, sie hatte nach wie vor die Figur eines kleinen Mädchens, wartete noch auf ihre erste Regelblutung. Sexualität kam in ihrer Gedankenwelt noch nicht vor.

Aber es erschütterte Andrea, dass dieses Phantom ihr Angst machte – und dass Julie solch eine altkluge Angst um sie hatte. Es ging ihr doch gut. Sie hatte es längst überwunden. Jonathan Harold hatte sie vor zwölf Jahren entführt und seitdem jagte sie als Profilerin Verbrecher wie ihn. Serienmörder, Triebtäter, psychisch kranke Straftäter.

Sie wusste, warum.

„Was ist denn hier los?“

Andrea blickte auf, so dass ihr Blick den ihres Mannes traf. Gregory war von draußen hereingekommen und sah auf den ersten Blick nur seine Tochter in den Armen ihrer Mutter liegen.

„Julie war auf dem Friedhof“, erklärte Andrea. „Sie hat die Gräber gesehen.“

Gregory nickte. Er schloss die Tür hinter sich, setzte sich auf die andere Seite von Julie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Was ist denn daran so schlimm für dich?“, fragte er.

„Dass ich mir immer vorstellen muss, wie furchtbar das für Mami war, dabei versteh ich nicht mal, was eigentlich passiert ist ...“, murmelte Julie.

Gregory war sichtlich verwirrt. Mit großen Augen sah er Andrea an, staunte ebenso über diese altklugen Worte wie sie.

„Du musst nicht traurig sein, Julie. Das ist länger her, als du auf der Welt bist“, sagte er tröstend.

Julie löste sich aus Andreas Umarmung und blickte zu ihrem Vater auf. Wortlos begann sie, mit den Fingern in seinen Locken herumzutasten, und verzog das Gesicht. Greg legte seine Hand auf ihre und nickte langsam. Sie hatte die Narbe gefunden, die man zwar nicht sehen, aber sehr deutlich spüren konnte. Sie war nicht sehr gut verheilt. Das war die Stelle, an der Jonathan Harold Greg fast den Schädel eingeschlagen hatte.

„Dad“, stieß sie schluchzend hervor und warf sich ihm um den Hals. Greg schloss sie fest in die Arme und sah Andrea hilflos an. Greg fragte sie mit einem stummen Blick, was eigentlich los war. Andrea verzog nur die Lippen. Ohne Worte konnte sie ihm das nicht erklären.

„Ist ja gut“, sagte Greg und ließ Julie weinen. Sie kauerte sich auf seinem Schoß zusammen. Als sie sich kurz darauf wieder beruhigt hatte, krabbelte sie vom Sofa und straffte die Schultern. „Bin oben.“

„Ist gut“, meinte Andrea und blickte ihr hinterher. Greg und Andrea schwiegen, bis Julies Zimmertür hinter ihr zugefallen war.

„Was zum Teufel war das?“, fragte Gregory.

„Sie versteht die ganze Angelegenheit nicht und das ist ihr unheimlich“, begann Andrea ihre Erklärung. Er hörte ihr aufmerksam zu, nagte dann aber unzufrieden an seiner Unterlippe herum.

„Können wir gar nichts tun, um dieses Gespenst zu verjagen?“

„Ich wüsste nicht, was“, antwortete Andrea. „Ich habe ihr schon vorgeschlagen, es ihr besser zu erklären. Das möchte sie nicht, wahrscheinlich würde ihr das noch mehr Angst machen. Sie muss einfach älter werden.“

„Ein verfluchter Mist ist das“, brummte Greg gereizt. „Zwar denke ich manchmal, es würde mich sehr beruhigen, wenn sie ihren ersten Freund erst mit achtzehn hat ... aber das alles muss doch irgendeinen Effekt auf sie haben! Das kann nicht spurlos an ihr vorübergehen. Ich will nicht, dass sie deshalb ein falsches Bild bekommt.“

„Meinst du, ich?“, erwiderte Andrea resigniert. „Aber wir können das nicht von ihr fernhalten. Das geht nicht.“

„Natürlich nicht. Wir müssen darüber mit ihr sprechen und ihr den Unterschied erklären. Gewalt kommt in normaler Sexualität nicht vor.“

Andrea erwiderte nichts. Sie hasste es, wenn etwas ihre Tochter belastete.

„Ist dir aufgefallen, warum ihr das so zu schaffen macht?“, riss Gregory sie aus ihren Gedanken.

Fragend erwiderte Andrea seinen Blick. „Keine Ahnung. Ehrlich. Das ist eine gute Frage.“

„Ich sage es dir“, begann er. „Sie liebt dich über alles. Ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber was glaubst du, aus welchem Grund sie mit Christy Detektiv spielt? Das geschieht aus Bewunderung für dich. Sie ist unglaublich stolz auf dich. Für dich empfindet sie eine ganz andere Liebe als für mich. Sie erträgt den Gedanken nicht, dass irgendetwas mit dir nicht in Ordnung sein könnte. Du bist so ein tolles Vorbild für sie und sie identifiziert sich so stark mit dir. Aber deine Vergangenheit ist etwas, was ihr Angst macht.“

Sprachlos sah Andrea ihren Mann an. Er hatte Recht. Allerdings beunruhigte dieser Gedanke sie mehr, als dass er ihr half.

 

 

 

Dienstag, 7. Mai

 

Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Schon seit einer halben Stunde versuchte Andrea vergeblich, sich auf die Vorbereitung ihrer nächsten Vorlesung zu konzentrieren. Dazu hatte sie sich an den Schreibtisch gesetzt und das Fenster geöffnet, so dass sie draußen die Vögel zwitschern hören konnte. In Gedanken war sie jedoch, wie schon in der Nacht zuvor, bei Julie. Andrea hatte kaum ein Auge zugemacht, weil sie sich fragte, wie sie ihrer Tochter helfen konnte. Irgendwie musste sie ihrer Tochter die Angst nehmen.

Aber hätte Julie gewusst, was Andrea sonst noch erlebt hatte, hätte es sie sicher um den Verstand gebracht. Jonathan Harold war ja nur der Anfang gewesen.

Es tat ihr leid. Ihre Tochter sollte keine Angst haben, sich keine Sorgen machen müssen. Dafür war sie doch noch viel zu jung. Dabei wäre Andrea niemals auf die Begründung gekommen, die Greg ihr für Julies Nöte gegeben hatte. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr ihre Tochter an ihr hing. Sie verstand auch den Grund nicht. Ihren Vater liebte Julie auch. Eigentlich hatte Andrea sie sogar immer für ein Papakind gehalten. Und gerade sie sollte Julies großes Vorbild sein?

Doch da fiel es ihr ein. Julie hatte bei ihrer Großmutter eine Sammlung von Zeitungsartikeln entdeckt, die sich mit Andrea befassten. Nur harmlose Sachen, alles andere hatte Anna nicht aufgehoben. Andrea konnte sich daran erinnern, wie fasziniert Julie davorgesessen und das Bild studiert hatte, das Andrea in Glasgow in kugelsicherer Weste zeigte. Sie hatte gesagt, dass sie sich daran noch erinnern könne, was Andrea erstaunte. Doch auch Katie war unvergessen für ihre Tochter.

Julie hatte Andrea schon in so mancher Situation erlebt, in der ihre Mutter über sich hinausgewachsen war. Sie machte eben keinen Job wie die meisten anderen. In der Schule hatte Julie einmal die Aufgabe bekommen, zu erzählen, welche Berufe ihre Eltern ausübten. Und während manche Kinder von Hausfrauen-Müttern und andere von Arzthelferinnen, Friseurinnen und Verkäuferinnen berichtet hatten, hatte Julie erzählt, dass ihre Mutter als Profilerin arbeitete und Psychologie an der Uni lehrte. Sie hatte mit vor Stolz geschwellter Brust davon berichtet, wie sie in der Schule beschrieben hatte, was Andrea machte. Dass sie Verbrecher jagte.

Und sie hatte all das nicht wirklich wahrgenommen. Nicht einmal jetzt, da Julie mit ihrer besten Freundin leidenschaftlich Detektiv spielte. Das war wahrhaftig kein Zufall.

Plötzlich fiel Andrea etwas ein. Sie besaß doch auch eine Sammlung von Zeitungsartikeln. Nachdenklich stand sie auf, um sie zu holen, und begann, sie durchzublättern. Sie las jeden einzelnen ganz genau und nahm diejenigen heraus, die sie für unbedenklich hielt. Die bloße Schilderung des Ablaufs ihrer Entführung war nicht weiter schlimm, denn die kannte Julie bereits. Mittendrin prangte ein Foto von Jonathan Harold, das Andrea zögern ließ. Sie hatte Julie noch nie ein Bild von ihm gezeigt. War ein Foto gut oder schlecht?

Sie beschloss, dass es vielleicht nützlich war, dem Unaussprechlichen ein Gesicht zu geben. Anschließend legte sie noch Artikel aus London obendrauf, Berichte aus York, Glasgow und über Katie. Julie sollte wissen, dass ihre Mutter nicht bemitleidenswert war, sondern tatkräftig mit angepackt hatte.

Die Haustür fiel geräuschvoll ins Schloss. Ein dumpfer Aufprall verriet Andrea, dass Julie ihren Rucksack in die Ecke geworfen hatte.

„Hey, Mami“, rief das Mädchen durch den Flur.

„Hey, Süße“, antwortete Andrea. Augenblicke später stand ihre Tochter vor ihr.

„Was hast du da?“, fragte sie mit einem Blick auf die Zeitungsartikel.

„Das ist für dich“, sagte Andrea. „Über meine Arbeit. Du kannst es lesen, wenn du magst. Damit du siehst, dass das alles gar nicht so schlimm ist.“

Julie lächelte schüchtern. „Okay.“

„Das ist mein Job. Ich mache das aus Überzeugung.“

„Warum hast du dann mal aufgehört?“ Fragend zog Julie eine Augenbraue in die Höhe.

Innerlich stöhnte Andrea. „Das war auch immer viel Stress“, erklärte sie ausweichend.

Julie warf ihr einen skeptischen Blick zu. Sie wusste, wann ihre Mutter schwindelte. Trotzdem nahm sie die Zeitungsartikel und verschwand damit in ihrem Zimmer.

Nachdenklich blickte Andrea ihr hinterher. Ihre Tochter war so klug. Sie war eine gute Schülerin, hatte früh lesen und schreiben gelernt, und zwar in zwei Sprachen. Deutsch beherrschte sie fast genauso gut wie Englisch und sprach es nahezu immer mit ihrer Mutter. Dabei hatte sie einen herrlichen Akzent, noch etwas stärker als ihr Vater.

Andrea war es ihr bislang gelungen, nicht zu klammern. Sie ließ Julie genügend Raum, sich zu entwickeln und zu wachsen. Ihre Tochter genoss viele Freiheiten und verfügte über die Privatsphäre, die sie brauchte. Sie war ja nicht mehr klein. Bald schon würde sie die Schule wechseln ...

Erneut fiel die Haustür ins Schloss. Schlüssel klimperten. Gregory betrat das Zimmer und begrüßte Andrea mit einem Kuss, bevor er nach oben ging, um sich umzuziehen.

Eine Viertelstunde später fiel Andrea auf, dass er immer noch nicht zurückgekehrt war, doch sie arbeitete weiter, um endlich fertig zu werden. Minuten später kamen Gregory und Julie gemeinsam herunter und gingen in die Küche. Andrea beendete ihre Arbeit und gesellte sich zu den beiden.

Während des Abendessens erzählte Julie von der Schule. Ihr erklärtes Hassfach war Mathe und sie wurde es nie leid, sich darüber zu beklagen. Gregory, der als junger Mann eine Ausbildung zum Bankkaufmann gemacht hatte, konnte diese Abneigung nicht ganz nachvollziehen.

Im Anschluss ans Abendessen lief Julie mit dem Telefon in ihr Zimmer, um mit Christy zu quatschen. Minuten später hörte man das lautstarke Gekicher noch eine Etage tiefer.

„Du hast ihr Zeitungsartikel gegeben“, stellte Greg sachlich fest.

„Ja“, sagte Andrea und schloss die Spülmaschine. „Vielleicht helfen sie ihr, das alles etwas besser einzuordnen.“

„Ja, vielleicht.“ Er setzte sich aufs Sofa und blickte ernst zu ihr auf, als sie ins Wohnzimmer trat. „Weißt du, was sie mich vorhin gefragt hat?“

„Was denn?“

„Woran sie erkennt, ob ein Mann böse ist.“

Andrea konnte es nicht fassen. „Ob ein Mann böse ist?“, wiederholte sie ungläubig und mit großen Augen.

„So ähnlich habe ich auch geguckt. Ich habe sie gefragt, ob sie davon ausgeht, dass die meisten Männer böse sind. Sie hat mir ziemlich plausibel, wie ich finde, geantwortet, dass du einfach schon mit verdammt vielen bösen Männern zu tun hattest.“

Das stimmte wohl. Natürlich war das nur ein verzerrtes Bild der Realität, aber für Julie war es sehr auffällig.

„Und schon hatte ich die Diskussion am Hals, die dir gestern erspart geblieben ist“, fuhr Gregory fort. „Ich musste versuchen, ihr zu erklären, was es damit auf sich hat und dass natürlich die meisten Männer nicht böse sind.“

Andrea nickte langsam und setzte sich zu ihm. „Wie hast du es ihr klargemacht?“

„Hm“, machte er. „Ich habe es ihr gesagt, wie es ist. Dass Männer Frauen ziemlich unwiderstehlich finden, wenn sie erst mal alt genug sind, und dass das natürlich auch umgekehrt der Fall ist. Ich habe ihr von uns erzählt, aber ganz bewusst nur aus meiner Perspektive. Dass ich anfangs, als wir uns kennengelernt haben, nur schwer die Finger von dir lassen konnte, aber dass es eigentlich selbstverständlich ist, sich aus Respekt zurückzunehmen. Sie fand die Vorstellung, wie sie entstanden ist, sehr eigenartig. Sie findet das alles sehr eigenartig.“

„Du führst mit ihr Aufklärungsgespräche?“ Andrea grinste. Sie hatte nicht erwartet, dass Julie ausgerechnet ihren Vater danach fragen würde.

„Ich glaube, sie hat verstanden, was ich meine“, erwiderte Gregory. „Vielleicht hat die Perspektive eines Mannes es ihr erleichtert, das zu verstehen; ich weiß es nicht. Aber ich glaube, sie hat begriffen, dass die meisten Männer nicht böse sind.“

„Du gehst ja auch mit gutem Beispiel voran.“

Er lächelte. „Ich habe ihr erzählt, wie ich mich mit Jonathan Harold geprügelt habe und wie sehr mich die ganze Angelegenheit damals beschäftigt hat.“

Andrea fand die Vorstellung faszinierend, dass Julie diese Erklärungen besser verarbeiten konnte, wenn sie von Greg kamen. Vielleicht klappte das deshalb problemloser, weil sie ihn als in der Sache unbefangener erachtete. Es war schön, dass sie ihrem Vater natürlich gegenübertrat und ihm so viel Vertrauen entgegenbrachte.

„Sie hat gesagt, dass sie später dasselbe machen möchte wie du“, riss Greg Andrea aus ihren Gedanken.

Sprachlos sah sie ihn an. Diese Enthüllung schockierte sie.

 

 

 

Mittwoch, 8. Mai

 

Andrea holte tief Luft und blickte in die Runde. Bis auf einige wenige Studenten, deren Aufmerksamkeit von ihren Handys absorbiert wurde, hörten alle interessiert zu. Das war in ihren Vorlesungen meistens der Fall, da sie ein für viele reizvolles Fach unterrichtete.

„Haben Sie schon Gutachten erstellt?“, fragte ein Student interessiert.

„Ja, durchaus. Das ist nie leicht. Anders als etwa ein praktischer Arzt haben Psychiater und Psychologen selten handfeste Beweise für ihre Diagnosen. Wir müssen uns auf etwas festlegen, das wir für die wahrscheinlichste Möglichkeit halten. Und das ist immer ein Abwägen zwischen den Persönlichkeits- und Freiheitsrechten des Täters und den Rechten der Opfer – und seien es nur potenzielle Opfer.“ Andrea machte eine Pause. „Bislang hatte ich das Glück, eindeutige Gutachten formulieren zu können, und ich muss zugeben, die fielen nie zugunsten der Täter aus. Ich hatte da auch nie Zweifel.“

„Macht einem das nichts aus?“, meldete sich eine Studentin.

Andrea schüttelte den Kopf. „Nein. Es macht mir nichts aus, jemanden dauerhaft wegzusperren, der sonst mit absoluter Sicherheit wieder ein Kind missbrauchen würde. Oder eine Frau vergewaltigen. Oder jemanden töten.“

Sie fand es bemerkenswert, noch nie von jemandem darauf angesprochen worden zu sein, dass sie möglicherweise zu sehr aus der Sicht der Opfer argumentierte. Sie kannte nur diese Seite. Deshalb war sie so darum bemüht, andere Menschen zu schützen. Solange sie dazu in der Lage war, musste sie einfach verhindern, dass Verbrecher ihre Opfer in Keller sperrten, sie folterten, töteten, vielleicht zerstückelten – es gab viele furchtbare Szenarien, von denen sie wusste oder die sie sogar bereits kennengelernt hatte.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass die Zeit um war. „Schluss für heute.“

Sofort wurde es laut, die Studenten begannen zu kramen und einzupacken. Andrea tat es ihnen gleich, nur bedeutend langsamer. Zu Hause wartete niemand auf sie. Julie ging nach der Schule zu Christy – wieder einmal – und Greg musste noch arbeiten. Sie hatte eine Mittagsvorlesung gegeben. Das waren die besten Veranstaltungen, denn da waren die Studenten nicht mehr müde. Oder noch nicht.

Sie machte sich auf den Weg zum Parkplatz und fuhr anschließend los in Richtung Innenstadt. Auf dem Heimweg wollte sie noch einkaufen, auch wenn sie darauf nicht besonders viel Lust hatte. Sie raffte sich trotzdem auf, denn es musste ja erledigt werden.

Zu dieser Zeit war nicht viel los im Superstore, deshalb war sie schnell fertig. Zu Hause angekommen, räumte sie die Einkäufe weg und sah anschließend die Post durch. Es war nichts Spannendes dabei. Alltag.

Ein Blick auf eine der Pflanzen neben dem Sofa verriet Andrea, dass die Blumen gegossen werden sollten. Nachdem sie das getan hatte, fuhr sie damit fort, ein wenig aufzuräumen. Untätigkeit war nicht ihr Ding. Andererseits hätte sie sich auch nicht vorstellen können, ihr Leben als Hausfrau zu fristen. So stressig es manchmal mit Haus, Kind und zwei Jobs war, so gern machte sie ihre Arbeit.

Das Klingeln des Telefons unterbrach sie. Ihre Schwiegermutter Anna war am Apparat.

„Wie geht es dir?“, erkundigte Anna sich.

„Alles bestens“, erwiderte Andrea. „Und bei dir?“

„Ach, es geht schon. Du weißt ja, wie das ist. Man kommt zurecht.“ Sie atmete tief durch. „Ich wollte dich etwas fragen. Hätte Julie Spaß an diesen neumodischen Rollschuhen?“

„Inline-Skates, meinst du?“

„Ja, genau die.“

„Könnte ich mir schon vorstellen“, sagte Andrea.

„Das wäre doch ein schönes Geburtstagsgeschenk, meinst du nicht? Welche Schuhgröße hat sie denn?“

Sie berieten gemeinsam, welche Skates Anna für Julie kaufen sollte. Anna war eine sehr stolze Großmutter und kümmerte sich auch äußerst liebevoll um Jacks Tochter Emma und ihren kleinen Bruder Robert, der inzwischen zur Welt gekommen war. Für ihre Enkel tat sie alles.

Nach Beendigung des Gesprächs merkte Andrea, dass ihr der Magen knurrte. Sie stellte das Telefon weg und versuchte, den Hunger zu ignorieren. Erst halb vier. Sie würde sich noch gedulden müssen, bis Greg nach Hause kam. Wenigstens war Julie versorgt. Sie war so oft bei Christy wie umgekehrt.

Andrea setzte sich an den Computer und beantwortete einige Mails ihrer Studenten. Zwischendurch trudelte die Information über eine Fachtagung von Kriminalpsychologen in ihrer Mailbox ein. Sie sollte am Tag nach Julies Geburtstag in London stattfinden. Großartig, dachte Andrea gequält. Da standen ihr ereignisreiche Tage bevor.

Als es an der Zeit war, ging sie in die Küche und machte sich ans Kochen. Meistens wartete sie, bis Greg da war, weil er so gern kochte. Aber heute war sie zu ungeduldig – und zu hungrig.

Sie war fast fertig, als er eintraf. Er war bei einem Kunden gewesen und trug deshalb zu ihrer Freude einen seiner besten Anzüge.

„Das Essen ist ja schon fast fertig“, stellte er überrascht fest.

„Ich hatte Hunger“, gab Andrea nüchtern zur Auskunft.

Gregory grinste. „Geduld war ja noch nie deine Stärke.“

„Nein.“ Andrea lachte. „Wie war dein Tag?“

Sie unterhielten sich während des Essens. Erst danach zog Gregory sich um und gesellte sich zu ihr aufs Sofa, wo sie es sich gemütlich gemacht hatte, um die Nachrichtensendung anzuschauen. Andrea lehnte sich an ihn und seufzte. Während er durchs Programm zappte, erzählte sie ihm, dass seine Mum angerufen hatte.

„Sie verwöhnt Julie zu sehr“, kommentierte er Andreas Bericht.

„Nur, weil sie ihre Enkelin mehr verhätschelt als ihre Söhne? Das ist doch wenig überraschend“, fand Andrea.

„Lass mich doch mal neidisch sein.“ Er grinste breit und pikste sie in die Seite. Andrea war wenig begeistert. Kurz darauf holte sie die Zeitung und blätterte sie durch, während Greg sich eine Reportage ansah.

Die Abendsonne schien golden ins Wohnzimmer. Schließlich legte Andrea die Zeitung wieder weg und warf einen Blick auf die Uhr. Zwanzig vor sieben. Eigentlich hätte Julie vor zehn Minuten zu Hause sein sollen.

Bestimmt hatte sie den Bus verpasst und nahm den nächsten. Das würde nicht so viel länger dauern.

Andrea verfolgte mit Greg die Reportage bis zum Beginn der Abendnachrichten. Inzwischen war es kurz vor sieben. Sie stand auf und griff zu ihrem Handy. Julies Nummer war unter einer Kurzwahl gespeichert. Das Freizeichen ertönte.

Sie wartete und ließ es klingeln. Sieben Mal, acht Mal. Nichts.

Das war eigenartig. Normalerweise überhörte Julie ihr Handy nie. Es geschah sehr selten, dass sie nicht ranging, und sie kam auch eigentlich nie zu spät, ohne Bescheid zu sagen.

Zwei Minuten später versuchte Andrea es erneut. Diesmal kam sie nicht durch, sondern wurde gleich zur Mailbox umgeleitet. Das Handy war ausgeschaltet.

Gereizt legte sie das Telefon weg und überlegte. Welchen Grund konnte Julie haben, einfach ihr Handy abzuschalten, wenn ihre Mutter sie anrief? Für bockiges Teenagerverhalten war sie eigentlich noch zu jung.

„Was ist los?“, fragte Greg, dem die Unruhe seiner Frau nicht entgangen war.

„Julie ist überfällig und geht nicht an ihr Telefon. Jetzt ist es sogar ausgeschaltet“, brummte Andrea.

„Vielleicht ist der Akku leer.“ Greg hatte wie immer eine plausible Erklärung.

Andrea hielt das auch für möglich. Trotzdem interessierte es sie, was los war. Sie setzte sich eine Deadline und wartete bis kurz nach sieben, doch nichts rührte sich.

Schließlich griff sie erneut zum Telefon und rief bei Christy an. Ihre Mutter war am Apparat.

„Guten Abend, Mrs. Cooper, hier spricht Andrea Thornton.“

„Guten Abend“, erwiderte die Mutter von Julies bester Freundin. „Was kann ich für Sie tun?“

Andrea stutzte. Mrs. Cooper klang so überrascht. Dann fand Andrea die Sprache wieder.

„Ist meine Tochter noch bei Ihnen?“

„Julie? Nein. Christy ist krank. Sie war heute gar nicht in der Schule. In der Pause hat sie Julie eine Nachricht geschrieben und auch eine Antwort bekommen, soweit ich weiß. Julie wusste Bescheid.“

Noch während Mrs. Cooper sprach, wurde Andrea heiß. „Julie war heute gar nicht bei Ihnen?“

„Nein, tut mir leid. Ist sie nicht nach Hause gekommen?“

Andrea schluckte und räusperte sich. Siedend heiß wurde ihr klar, dass Julie schon seit dreieinhalb Stunden verschwunden war, denn da hatte sie Schulschluss gehabt.

„Nein, sie ist nicht hier“, sagte Andrea mit belegter Stimme.

„Soll ich Christy fragen, ob sie etwas weiß?“, bot Mrs. Cooper an.

„Bitte.“ Andrea hörte im Hintergrund gedämpft Stimmen. Nun lebte sie schon seit fünfzehn Jahren in England, aber in solchen Momenten verstand sie nichts.

„Hören Sie“, meldete Mrs. Cooper sich wieder. „Julie hat Christy nichts weiter gesagt. Tut mir leid. Seit wann ist sie denn weg?“

„Seit die Schule zu Ende ist. Danke, Mrs. Cooper. Ich werde sie suchen“, erwiderte Andrea kurz angebunden, weil sie nun äußerst beunruhigt war.

Nachdem sie aufgelegt hatte, drehte sie sich zu Gregory um. Gespannt wie eine Feder saß er auf dem Sofa.

„Was ist los?“, fragte er.

„Sie war gar nicht bei Christy“, erzählte Andrea ihm düster. „Christy ist krank. Also ist Julie verschwunden, seit die Schule aus ist.“

Gregory beugte sich alarmiert vor. „Ganz sicher? Und sie hat sonst nichts gesagt? Wo könnte sie sein?“

„Ich weiß es nicht. Julie ist nicht unzuverlässig. Ist sie nie. Sie achtet immer auf die Uhrzeit und sie gibt Bescheid, wenn sie sich verspätet. Sie will nicht, dass wir uns Sorgen machen.“

Deshalb war Andrea vollkommen klar, dass etwas passiert sein musste. Mit diesem Gedanken war sie nicht allein. Gregory stand auf und überlegte.

„Weißt du, wo sie sein könnte?“, wollte er dann wissen.

Andrea antwortete nicht. Sie dachte noch darüber nach, dass ihr erster Anruf auf Julies Handy durchgekommen war, der zweite jedoch nicht mehr.

Und zwar nicht, weil der Akku leer war. Jemand hatte das Handy ausgeschaltet. Absichtlich. Und ganz bestimmt nicht Julie.

„Ich rufe Christopher an“, sagte Andrea entschlossen.

„Sicher?“, fragte Greg. „Wir können sie doch erst mal selbst suchen.“

„Greg, sie ist seit dreieinhalb Stunden weg!“, rief Andrea aufgewühlt. „Glaubst du da ernsthaft, wir finden sie? Es ist etwas passiert!“

Sie war sich absolut sicher. Der Gedanke machte Andrea krank. Vielleicht war Julie gleich nach der Schule von jemandem entführt worden und durchlitt seitdem die schlimmsten Ängste – vor allem, weil sie wusste, dass ihre Eltern noch nicht nach ihr suchen würden.

Vielleicht war sie ...

Andrea verbot sich, den Gedanken zu Ende zu führen. Ihre Tochter war am Leben. Sie hätte doch gemerkt, wenn ...

„Ich werde sie suchen“, sagte Greg. „Wo kann ich anfangen?“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Andrea und griff erneut zum Telefon. Aufs Geratewohl versuchte sie es auf der Polizeistation. Am Apparat war jedoch nicht Christopher, sondern sein Kollege Martin.

„Ich bin es, Andrea“, begrüßte sie ihn tonlos.

„Oh, welche Ehre! Ich nehme an, du wolltest Christopher sprechen?“

„So ist es.“ Sie atmete tief durch. „Ist er da?“

„Läuft hier irgendwo rum.“ Martin legte die Hand auf den Hörer, doch Andrea hörte ihn trotzdem rufen: „Chris! Die Extreme für dich!“

Ein kurzes Lächeln huschte über Andreas Lippen. Sie hatte ihren Spitznamen immer noch nicht verloren.

„Ist unterwegs“, wandte Martin sich wieder an sie. „Kann ich dir denn irgendwie helfen?“

„Vielleicht“, sagte Andrea, doch bevor sie etwas hinzufügen konnte, war Christopher da. Es klickte in der Leitung. „Hey, Andrea. Was gibt‘s?“

„Du musst mir helfen. Julie ist weg.“

„Wie, weg?“, hakte Christopher nach. „Was heißt das?“

„Sie ist nicht nach Hause gekommen“, erwiderte Andrea gereizt.

„Hm“, machte er ruhig. „Könnte sie bei einer Freundin sein?“

Andrea atmete tief durch. „Christopher, ich weiß, wie ihr in solchen Fällen vorgeht. Aber ich bitte dich, kürz das ab. Sie würde nicht einfach kommentarlos wegbleiben oder zu spät kommen. Das macht sie nicht, verstehst du?“

„Ja, sicher, aber ...“

„Hör mir zu“, unterbrach Andrea ihn. „Ich habe auf ihrem Handy angerufen. Beim ersten Mal ging niemand dran. Beim zweiten Mal war es ausgeschaltet.“

„Sieht ihr nicht ähnlich“, fand er.

„Verdammt, Christopher, da ist etwas passiert! Sie hatte um halb vier Schulschluss. Eigentlich hätte sie heute mit zu einer Freundin fahren sollen, aber die ist krank. Ich habe da vorhin angerufen. Das heißt, sie ist seit halb vier verschwunden. Verstehst du, was ich dir sage?“

„Ja, sicher, ich höre dir ja zu.“ Christopher ließ sich absichtlich nicht aus der Ruhe bringen. „Und jetzt denkst du, ihr ist etwas zugestoßen?“

„Das denke ich nicht nur, Christopher, das weiß ich. Da stimmt etwas nicht. Keine Ahnung, was sie nach der Schule gemacht hat. Sie hat mir nicht gesagt, dass sie nicht zu ihrer Freundin fährt. Sie hat mir gar nichts gesagt. Bis vorhin dachte ich, sie ist bei Christy. Aber da war sie nie.“

„Lass mich überlegen. Fangen wir mal mit den, ich sage es mal so, einfachen Dingen an. Martin, fragst du mal bei den Kollegen nach, ob ein zehnjähriges Mädchen einen Unfall hatte? Und ruf in den Krankenhäusern an.“

Dieser ziemlich naheliegende Gedanke war Andrea noch gar nicht gekommen. Sie verwarf ihn jedoch gleich wieder, denn Julie hatte ihre Schultasche dabei. Aus der Adresse an dessen Innenseite ging hervor, wer sie war. Man hätte ihnen doch längst Bescheid gegeben.

Es sei denn, es war gerade erst passiert.

„Willst du dranbleiben? Martin klärt das“, sagte Christopher zu Andrea.

Sie bemühte sich um einen netteren Tonfall. „Das ist lieb von euch.“

„Ist doch klar. Du wirst sehen, es gibt eine ganz einfache Erklärung. Es geht ihr bestimmt gut.“

„Nein, Christopher, es geht ihr nicht gut“, sagte Andrea finster. „Da bin ich anderer Meinung.“

„Warum?“, fragte er.

„Weil ...“ Andrea suchte nach Worten. „Weil sie niemals etwas tun würde, das mir Angst macht. Das weiß ich einfach. Es ist ein Thema für sie, verstehst du? Ich habe ihr erzählt, was früher alles passiert ist. Das beschäftigt sie. Sie weiß, dass ich sofort denken würde, ihr könnte etwas zugestoßen sein, wenn sie sich nicht meldet. Das würde sie nicht tun!“

Christopher seufzte hörbar. „Bei allem Respekt, aber sie ist zehn. Denkst du wirklich, sie denkt so weit?“

„Ja, das tut sie. Glaub mir, das tut sie“, beharrte Andrea. „Sie ist zehn, ja, aber bis heute hat sie sich noch nie verspätet, ohne sich zu melden. Das macht sie einfach nicht!“

„Kein Unfall“, tat Martin in Christophers Nähe kund. „Ich frage in den Krankenhäusern nach.“

„Aber was glaubst du denn, was passiert ist?“, wollte Christopher wissen. „Irgendeine Idee?“

„Nein“, erwiderte Andrea. „Alle, die sich an mir rächen wollen könnten, sind entweder tot oder im Gefängnis.“

„Das ist richtig. Und von irgendwelchen Triebtätern in der Nähe weiß ich auch nichts. Aber du bist sicher, dass sie nicht bei euch angerufen hat?“

„Ja, natürlich! Du musst uns helfen!“

„Okay. Ich kümmere mich persönlich, versprochen.“

Gemeinsam warteten sie, bis Martin alle Krankenhäuser abtelefoniert hatte – jedoch ohne Erfolg. Andrea war nicht sicher, ob sie das ängstigen oder erleichtern sollte. Verletzt war Julie schon mal nicht, jedenfalls nicht so, dass sie in einem Krankenhaus gelandet war.

Aber verschwunden blieb sie trotzdem.

„Du bist also ganz sicher, dass da etwas nicht stimmt?“, wiederholte Christopher seine Frage noch einmal.

„Wenn ich es doch sage! Ich weiß das. Glaub mir“, beteuerte sie.

Gregory gab ihr einen Wink. Erst begriff sie nicht, was er wollte, doch dann reichte sie ihm das Telefon.

„Hey, Christopher, hier ist Greg“, begann er. „Am liebsten würde ich etwas anderes sagen, aber ich fürchte, Andrea hat Recht. Julie muss irgendetwas zugestoßen sein. Sie verschwindet nicht einfach so.“

Damit Andrea mithören konnte, aktivierte Greg den Lautsprecher.

„Ja, ich glaube euch“, beruhigte Christopher ihn gedehnt. „Aber du musst uns auch verstehen – wir bekommen mehrmals die Woche Anrufe besorgter Eltern und die meisten können sich nicht vorstellen, dass ihr Kind einfach die Zeit verpennt. Ich hatte hier noch nie einen Vermisstenfall bei Kindern, dem etwas Ernstes zugrunde gelegen hätte. Es gibt sicher eine ganz einfache Erklärung. Ich kann ja jetzt nicht aufs Geratewohl eine Hundestaffel in die Broads schicken!“

Gregory wurde kalkweiß. Das wurde er immer, wenn er wütend war. Etwas, das ihm nie guttat. „Bei allem Verständnis, aber ich will dir mal was sagen: Da stimmt etwas nicht. Und da meine Frau, wie dir bekannt ist, Profilerin ist, weiß ich auch, dass die ersten vierundzwanzig Stunden nach dem Verschwinden eines Kindes die wichtigsten sind. Also tu mir einen Gefallen und mach dich an die Arbeit!“

Erstaunt schürzte Andrea die Lippen. Greg hatte ganz ruhig geklungen, aber das war er nicht. Ganz und gar nicht. Er stand kurz vorm Platzen.

„Ja, schon klar“, entgegnete Christopher. „Ich will euch doch nur bewusst machen, wie die Fakten liegen. Den meisten vermissten Kindern ist nichts passiert. Sie kommen wenig später nach Hause.“

„Hörst du uns nicht zu?“ Jetzt wurde Gregory lauter. „Du kennst uns. Du kennst Julie. Ich halte es nicht für abwegig, dass irgendwer sie entführt, um Andrea zu erpressen. Was weiß ich! Es ist nun mal nicht so, dass wir eine ganz normale Familie wären! Es gibt bestimmt jemanden, der Julie Thornton für ein interessantes Ziel hält.“

„Okay, okay.“ Christopher lenkte ein. „Das ist mir auch alles klar. Ich gehe nur die Wahrscheinlichkeiten durch. Aber wenn es euch beruhigt, komme ich vorbei, hole ein Foto von ihr und gebe ihre Vermisstenmeldung an die Kollegen raus.“

„Gut“, brummte Greg. „Das wollte ich hören. Aber das mit der Hundestaffel klingt auch ziemlich gut. Habt ihr nicht irgendwo einen Helikopter mit Wärmebildkameras stehen?“

„Das besprechen wir gleich. Bin unterwegs.“

Damit beendete er das Gespräch, aber Gregory legte das Telefon nicht aus der Hand. Andrea erkannte die Nummer, die er wählte. Es war die seines Bruders.

Es bedurfte nicht vieler Worte, bis er Jack alles erklärt und der seine Hilfe zugesagt hatte. Erst danach stellte Greg das Telefon weg und umarmte Andrea nervös.

„Du hast Recht“, sagte er. „Sie würde nicht einfach wegbleiben. Da muss irgendetwas passiert sein.“

„Sag ich doch“, murmelte Andrea gequält.

---ENDE DER LESEPROBE---