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In seiner neuen Abteilung beim FBI ermittelt Special Agent Owen Young im Darknet gegen einen Kinderpornoring – eine herausfordernde Arbeit, die ihn auch nach Feierabend beschäftigt. Als er mit seiner Kollegin Amaya auf eine Auktion stößt, in der ein Fünfjähriger an den Meistbietenden versteigert werden soll, versuchen sie alles, um den Jungen zu retten – doch vergeblich.
Profilerin Libby Whitman unterstützt ihren Ehemann, als er versucht, die Drahtzieher der Auktion zu finden und damit auch den Jungen zu befreien. Gemeinsam gelingt es den FBI-Ermittlern, die Hintermänner zu identifizieren, woraufhin Owen und Amaya überraschend weitere Ermittlungen untersagt werden. Als sie auf eigene Faust weitermachen, wird die Lage plötzlich gefährlich ...
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Dania Dicken
Seelen, die in Scherben springen
Libby Whitman 20
Thriller
Gewalt, die Leben vernichtet und verfinstert,
verdient nicht nur verabscheut zu werden,
sondern auch harte Grenzen gesetzt zu bekommen.
Daniel Büttrich
Prolog
Das Gefühl von Wärme hatte er vergessen. Wo er war, war es meistens kalt. Und dunkel. Inzwischen wusste er schon gar nicht mehr, dass es mal anders gewesen war.
Wie sah die Sonne aus? Er hatte sie so lang nicht gesehen. Er stellte sie sich immer nur vor, wenn er mit seinem Teddy oder den paar kleinen Matchbox-Autos spielte, die er hatte.
Aber so oft tat er das gar nicht. Meist saß er nur da und wartete darauf, dass jemand hereinkam. Dabei wusste er oft gar nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte.
Einerseits war es gut, denn so war er nicht mehr allein.
Andererseits musste er dann Sachen machen. Sachen, die er nicht machen wollte. Sachen, die eklig waren und manchmal auch weh taten.
Aber er wusste, das musste sein. Sonst gab es vielleicht nichts zu essen. Oder Schläge. Oder er wurde angebrüllt. Oliver wollte nicht angebrüllt werden.
Eigentlich hätte er sich jemanden gewünscht, der mit ihm spielte. Der ihm etwas vorsang ... oder ihn einfach nur mal in den Arm nahm, damit er nicht mehr so allein war.
Oft träumte er sich einfach nur weg. Versuchte, sich an Dinge zu erinnern, von denen er gar nicht mehr wusste, woher er sie kannte. Er hatte Bilder im Kopf von einer Frau ... seiner Mutter? Er wusste es nicht. Es war zu lang her. Er war jetzt schon so lang hier, bei diesem Mann. Ganz schlimm wurde es, wenn er eine Kamera mitbrachte. Das war für Oliver ganz furchtbar, aber er musste mitmachen. Sonst bekam er nur wieder Ärger.
Der Hunger wurde immer größer. Hoffentlich kam bald jemand und brachte etwas zu essen mit.
Irgendwann begann er wieder zu spielen und verlor sich ganz darin. Er ließ seine Autos Rennen fahren und summte dabei leise. Darüber merkte er gar nicht, wie die Tür wieder geöffnet wurde. Als er plötzlich die Schuhe eines Mannes vor sich sah, schrak er zusammen und blickte ängstlich auf.
Donnerstag, 28. November
„Und schon wieder hier“, sagte Hayley und grinste.
„Ich bin gerade ganz froh, dass es nicht Dulles ist“, sagte Libby. Sie hätte keinen Wert darauf gelegt, eine ganze Stunde zum Flughafen zu fahren, um Sadie und Matt abzuholen. Aber zum Glück hatten die beiden eine Verbindung von San Francisco zum Ronald Reagan Airport gefunden, genau wie Hayley einige Tage zuvor.
Die beiden Schwestern standen in der Ankunftshalle und warteten auf ihre Eltern. Laut Anzeigetafel war die Maschine aus San Francisco vor zwanzig Minuten gelandet, deshalb rechneten sie jederzeit mit der Ankunft von Sadie und Matt. Die vierzehnjährige Hayley tippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, was Libby ihr nicht verdenken konnte. Sie wartete auch nicht gern.
Zum Glück dauerte es nicht mehr lang. Als Libby Sadies rote Haare ausfindig machte, winkte sie und Sadie bemerkte sie auch sehr schnell. Gemeinsam mit Matt nahm sie Kurs auf die beiden.
„Wie schön, euch zu sehen“, sagte Libby und umarmte die beiden nacheinander. Sie hatte ihre Eltern nicht gesehen, seit sie knapp drei Monate zuvor mit Julie in der Bay Area ermittelt hatte.
Matt gab ihr ganz väterlich einen Kuss auf die Stirn. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, meine Große.“
Libby lächelte gerührt. In solchen Momenten empfand sie nicht wie eine FBI-Agentin, sondern bloß wie eine Tochter, die sich in der schützenden Umarmung ihres Vaters sicher und geborgen fühlte.
„Es ist auch schön, wieder hier zu sein“, sagte Sadie. „Ich bin so gespannt darauf, Gracie zu sehen!“
Matt nickte zustimmend. Sie verbrachten nicht mehr Zeit als notwendig am Flughafen, sondern begaben sich zum Auto und traten den Weg nach Springfield an. Es war schon später Nachmittag, aber ihr Plan, dass Sadie und Matt bis zum Thanksgiving-Dinner vor Ort waren, war aufgegangen.
Weil es regnete, war es schon fast vollständig dunkel. Regenschlieren zogen sich in Bändern an den seitlichen Autoscheiben entlang, Lichter brachen sich darin und bildeten ein buntes Mosaik wie in einem Kaleidoskop. Etwas gedankenverloren starrte Libby vor sich hin, bis die Ampel grün wurde und sie auf den Freeway auffahren konnte.
Hayley erzählte ihren Eltern von ihren Erlebnissen der letzten Tage, vor allem von Gracies Geburtstag drei Tage zuvor. Libby steuerte nicht viel dazu bei, hörte aber gespannt zu. Ihre kleine Schwester hatte ihre Ferien bei ihr verbracht und sie hatte die Gelegenheit genutzt, ein paar Überstunden abzufeiern. Nick kannte das inzwischen schon und hatte keine Probleme damit.
Nach kurzer Fahrt erreichten sie Libbys Heim. Sie beeilten sich, halbwegs trocken ins Haus zu kommen, das bis in den Flur vom köstlichen Duft des Truthahnbratens erfüllt war. Aus dem Wohnzimmer drang das Weinen eines Babys an ihre Ohren, doch Libby stellte gleich fest, dass es Micah sein musste. Gracies Weinen hätte sie immer erkannt und das war sie nicht.
Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer, wo Byron gerade versuchte, seinen Sohn zu beruhigen. Owen stand neben ihm und versuchte, sich irgendwie nützlich zu machen. Neben ihm hockte Gracie auf dem Boden und versuchte, sich an ihm hochzuziehen.
„Kommen wir ungelegen?“, fragte Matt nicht ganz ernst gemeint.
„Ich habe meinem Sohn nur gerade erklärt, dass er bitte nicht Libbys Porzellandeko auf den Boden schmeißen soll“, erwiderte Byron mit hochgezogener Augenbraue. „Oh, und Hallo.“
Owen wandte sich zu seinen Schwiegereltern und kam, um sie mit einer Umarmung zu begrüßen.
„Schön, dass ihr da seid“, sagte er.
„Wir freuen uns auch“, erwiderte Sadie. „Und wen haben wir hier?“
Sie hockte sich vor Gracie, die sie gleich neugierig und gleichermaßen verzückt ansah. Sie war jedes Mal äußerst fasziniert von Sadies Haarfarbe. Als sie ihre Arme nach Sadie ausstreckte, nahm Sadie das kleine Mädchen hoch. Libby beobachtete die beiden gerührt und freute sich darüber, dass sie so ein inniges Verhältnis hatten, obwohl sie einander nur so selten sahen.
Owen und Matt unterhielten sich schon, während Emma aus der Küche hinzukam und in die Begrüßung mit einstimmte.
„Hier riecht es ja schon absolut köstlich“, sagte Matt und schnupperte demonstrativ mit geschlossenen Augen.
„Es riecht hier schon seit Stunden so gut“, sagte Emma. Im Vorfeld hatte sie Libby anvertraut, dass sie sehr gespannt darauf war, ein klassisches amerikanisches Thanksgiving zu erleben. Libby hatte es gar nicht als etwas Besonderes betrachtet, konnte aber verstehen, dass Emma das anders sah.
Als es klingelte, eilte Emma direkt zur Tür. Libby wusste auch, warum, denn Julie und Kyle waren gekommen und natürlich ließ Emma es sich nicht nehmen, ihre Kusine persönlich zu begrüßen. Augenblicke später stießen die drei wieder zu ihnen und wurden sehr herzlich willkommen geheißen.
Matt nickte anerkennend, als er Julies kaum zu übersehende Bauchrundung betrachtete. „Bald wird es ernst, was?“
„Ja, noch etwa zwei Monate“, sagte Julie und blickte stolz an sich herab. „Ich bin gespannt, wie das wird ...“
„Aufregend. Anders als alles andere, was man bis dahin kannte. Für mich war es das größte Abenteuer meines Lebens“, sagte Matt. „Und ist es weiterhin.“
„Kann man so sagen“, stimmte Sadie mit einem Lächeln zu.
„Ich kann es kaum erwarten“, gab Kyle zu und wirkte auch sehr aufgeregt dabei. Owen und Matt tauschten einen wissenden Blick, sagten aber nichts.
„Im Moment fehlen mir irgendwie die großzügigen Unterstützungsangebote, die es in Europa gibt“, sagte Julie. „Hier ist man ja wirklich komplett auf sich gestellt, wenn man Eltern wird.“
„Ja, hier in Virginia ist das wirklich nicht schön“, sagte Matt mitfühlend. Nach und nach nahmen sie am Tisch Platz, Libby setzte sich Gracie auf den Schoß. Wenig später tischten Emma und Owen das Essen auf und Julie tat bedauernd kund, dass sie kaum so viel würde essen können, wie sie eigentlich wollte. Libby und Sadie konnten es ihr nachfühlen.
„Wie lang bleibst du denn noch hier?“, richtete Sadie sich an Emma.
„Mein Visum endet kurz vor Julies errechnetem Geburtstermin. Ich habe allerdings schon eine Verlängerung beantragt. Das wäre ja sonst völlig bescheuert!“
„Willst du dann auch bei Julie und Kyle aushelfen?“
Emma nickte und Julie sagte: „Wir überlegen aktuell, ob Emma nicht zu Julie und Kyle wechselt und Gracie und Micah nicht vielleicht doch zu einer Tagesmutter gehen“, sagte Libby. „Mittlerweile sind sie ja alt genug dafür.“
„Sicher“, sagte Sadie. „Schade, dass wir zu Gracies Geburtstag noch nicht hier sein konnten.“
Das konnte Libby zwar verstehen, aber sie beschwichtigte ihre Mutter. „Sie ist erst ein Jahr alt geworden. Sie hat gar nicht ganz verstanden, warum sie an dem Tag Geschenke bekommen hat.“
„Das kommt frühestens nächstes Jahr“, sagte Matt.
„Und wie lang willst du aussetzen?“, erkundigte Sadie sich bei Julie. „Oder wie habt ihr das überhaupt geplant?“
„Wir wollen es uns teilen“, sagte Julie. „Das erste halbe Jahr mache ich, das zweite macht Kyle. Das haben wir uns ganz bewusst so überlegt, weil wir glauben, dass eine Auszeit bei unseren Jobs auch mal angezeigt ist.“
„Das versteht niemand so gut wie ich“, sagte Matt.
„Wie läuft es denn gerade überhaupt so bei euch?“, fragte Sadie gespannt.
„Bei uns ist es im Moment viel Schreibtischarbeit. Die Anfragen, die wir bekommen, können wir von Quantico aus bearbeiten. Darum bin ich auch nicht traurig, auch wenn ich Schreibtischarbeit ja eigentlich nicht so sehr mag“, erzählte Libby.
„Ich auch nicht, aber im Moment kann ich gar nichts anderes!“, sagte Julie und lachte.
„Wenn wir ehrlich sind, kannst du nicht mal Schreibtischarbeit – du kommst ja gar nicht an den Schreibtisch ran“, neckte Kyle seine Frau liebevoll, aber sie zog nur pikiert die Nase hoch und schnaubte.
„Das nächste Baby bekommst du!“, schoss sie zurück.
Er zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Würde ich glatt machen, wenn die Natur es so vorgesehen hätte.“
„Ich hätte Sadie damals auch gern was abgenommen, aber die ganze Schwangerschaft über stand ich bloß dekorativ daneben ... genau so bei der Geburt“, sagte Matt wenig erfreut. „Ich habe mich gefreut, als ich endlich beim Füttern helfen konnte!“
Libby blickte zu Owen, der schweigsam an seinem Stück Truthahnbraten herum schnitt. Sie konnte sich denken, warum er so still war. Matt bemerkte es ebenfalls, ließ Owen aber nicht so leicht damit davonkommen.
„Wie läuft es denn aktuell bei dir, Owen? Hast du dich jetzt in der neuen Abteilung eingewöhnt?“
Owen blickte so hastig auf, als hätte ihn etwas erschreckt. „Oh ... ja, das schon. Ich bin ja nun auch schon seit drei Monaten dort. Etwa seit Monatsanfang unterstütze ich die Kollegen bei den Ermittlungen in einem größeren Fall.“
„Worum geht es?“, erkundigte Matt sich interessiert.
Verlegen räusperte Owen sich. „Das ist kein Thema fürs Essen, ehrlich gesagt.“
„Okay“, erwiderte Matt und ließ es vorerst gut sein. Libby konnte Owens Reaktion nicht nur nachvollziehen, sie fand sie auch richtig. Das war wirklich kein Thema für das festliche Thanksgiving-Essen. Über Kinderpornografie im großen Stil wollte sie gerade nicht nachdenken.
„Wie läuft es denn bei euch?“, drehte sie den Spieß um und richtete sich mit dieser Frage an ihre Eltern.
„Eigentlich unverändert“, sagte Sadie. „Das Unterrichten macht viel Spaß und bei Matt ist es längst nicht so stetig wie bei mir, aber das macht nichts.“
„Im Gegenteil, inzwischen bin ich froh über die Abwechslung“, sagte Matt. „Ich könnte mir nicht mehr vorstellen, einen Job zu machen wie ihr und am Schreibtisch zu sitzen und hinterher Berichte zu schreiben. Das würde mich töten!“
„Das ist auch das, was ich am wenigsten mag“, gestand Libby und grinste in seine Richtung. Was das anging, waren sie sich verdammt ähnlich.
„Wobei ich zugeben muss, dass mir manchmal auch die kribblige Anspannung fehlt, die dieser Job mit sich gebracht hat. Langweilig wurde er jedenfalls nicht.“
„Woran arbeitest du denn aktuell?“, fragte Owen.
„Die bezahlten Aufträge sind gerade eigentlich nichts Besonderes ... Ich mache Fotos für Broschüren, immer mal wieder für ein Magazin aus Pleasanton, solche Dinge. Aber ich habe mich jetzt für ein Projekt gemeldet, für das Sadie mich begeistern konnte. Es geht um Fotos für Eltern von tot geborenen Kindern oder Frühchen, die kurz nach der Geburt sterben.“
„Wow, das ist stark“, sagte Kyle. „Wie bist du darauf gekommen?“
„Sadie hat eine Anzeige der Organisation gesehen und es mir vorgeschlagen. Ich fand es großartig. Nicht nur, weil wir selbst mal eine Fehlgeburt erleben mussten – generell finde ich die Idee toll und das Projekt sehr wichtig.“
„Ist es auch“, sagte Libby. „Du hast gar nichts erzählt.“
„Nein, ich bin erst seit Monatsanfang dabei. Aber tatsächlich hatte ich meinen ersten Einsatz vor vier Tagen.“
„Und, wie war das?“, fragte Julie.
„Das war schon nicht einfach. Man trägt sich in eine Datenbank ein und kann jederzeit einen Anruf bekommen. Der Anruf kam am späten Nachmittag und ich bin gleich hingefahren. Es war ein junges Paar aus Fremont, das sein Baby in der 22. Woche verloren hat – kurz vor Beginn der Lebensfähigkeit. Das war wirklich hart. Die Frau hatte einen vorzeitigen Blasensprung und die Geburt ließ sich nicht mehr aufhalten. Hätte das Kind noch ein paar Tage auf sich warten lassen, hätte man es vielleicht retten können.“
„Oh nein.“ Byron hatte Tränen in den Augen, als er das sagte.
„Ist vielleicht auch kein gutes Thema fürs Essen“, sagte Matt und lachte verlegen.
„Aber das ist doch eine ganz tolle Sache, die du da machst“, widersprach Julie.
„Ist es auch. Ich habe mich einfach im Hintergrund gehalten und Fotos gemacht. Als ich eintraf, hat das Kind auch noch gelebt. Die Eltern wollten keine lebenserhaltenden Maßnahmen versuchen, weil das Kind wohl nur mit schwersten Behinderungen überlebt hätte. So habe ich die letzten Augenblicke im Leben des Babys mit seinen Eltern begleitet und auch später noch einige Fotos gemacht. Das macht man alles unentgeltlich, aber ich finde es verdammt sinnvoll.“
„Ist es auch“, sagte Kyle.
„Das Baby war bestimmt winzig, oder?“, fragte Byron.
„Ja, und wie! Es passte problemlos in die Hand seines Vaters. Zusammengerollt zwar, aber es ging. Ich habe ihnen vorgestern die Fotos geschickt und noch mal kurz mit ihnen telefoniert – die Dankbarkeit dafür, diese Fotos zu haben, war schon überwältigend. Sie haben auch Hand- und Fußabdrücke ihrer Tochter gemacht, denn das ist ja alles, was ihnen bleibt.“
Byron schniefte und blinzelte eine Träne weg. „Ich kann mir vorstellen, wie es diesen Eltern gehen muss. Mein Verlust war zwar ein anderer, aber trotzdem ... das ist einfach hart.“
Stolz blickte Libby zu ihrem Adoptivvater. Sie fand es toll und bewundernswert, dass Matt so etwas machte. Als sie ihn fragte, ob er Bilder zeigen konnte, versprach er, es nach dem Essen zu tun.
Schließlich wechselten sie das Thema und erkundigten sich bei Byron danach, wie er mit allem zurechtkam.
„Es geht schon“, sagte er. „Ich habe zwar so gut wie keine Freizeit, aber das wird ja auch vorbeigehen. Entweder lerne oder arbeite ich ... oder ich passe auf Micah auf. Und wenn ich ehrlich bin, könnte ich das alles nicht ohne Hilfe.“
„Die kriegst du immer“, sagte Libby und lächelte.
„Micah ist sowieso ein ganz süßer Schatz!“, sagte Emma begeistert.
„Ja, das ist er. Seine Mum wäre so stolz gewesen“, murmelte Byron.
„Ganz bestimmt.“ Libby lächelte ihm zu, während er darum kämpfte, nicht in Tränen auszubrechen. Matt bemühte sich sogleich, ein anderes Thema anzuschneiden, was schließlich gelang.
Eine Stunde später räumten sie den Tisch ab und legten die Kinder schlafen. An diesem Tag war Owen an der Reihe, weshalb Libby Gelegenheit hatte, sich auf dem Sofa zu Matt zu setzen und sich von ihm die Fotos zeigen zu lassen, die er von dem Baby gemacht hatte.
Die Aufnahmen waren wunderschön. Einige hatte er in Schwarzweiß ausgegeben, andere in Farbe. Er hatte sie sehr einfühlsam gestaltet, das Baby mit seinen Eltern ganz liebevoll abgelichtet. Sie hatten die perfekte Balance zwischen Distanz und Nähe.
„Du bist ein toller Fotograf“, sagte Libby ehrlich. „Ich bin sicher, dass diese Aufnahmen den Eltern die Welt bedeuten.“
„Der Vater hat am Telefon fast dieselbe Formulierung benutzt“, sagte Matt. „Es ist wirklich ein tolles Projekt. Ich habe das gern gemacht. Zwar hat es mir auf der Heimfahrt für einen Moment das Herz zerrissen, wenn ich mir vorstelle, es hätte mir mit Hayley so gehen können ...“ Er schüttelte den Kopf. „Sadies Fehlgeburt war damals so früh, dass wir ja noch gar keinen richtigen Bezug aufgebaut hatten. Sie war ja erst in der sechsten oder siebten Woche, glaube ich. Das ist was anderes.“
„Und auch wieder nicht“, sagte Libby. „Letztlich ist es der Verlust eines Kindes.“
„Das stimmt. Für mich ist das inzwischen okay, weil ich jetzt zwei Töchter habe. Mir fehlt nichts. Aber mich hat das auch nicht so betroffen wie sie.“
Das konnte Libby gut verstehen. Während Matt auch den anderen einige Fotos zeigte, kehrte Owen zu ihnen zurück und setzte sich neben Libby. Schließlich setzte Matt sich schräg neben sie auf das benachbarte Sofa und blickte neugierig zu Owen.
„Erzähl doch mal“, sagte er. „Du machst jetzt einen Job, den ich mir ziemlich hart vorstelle. Ist er das?“
Owen nickte. „Ja, das kann man nicht schönreden. Im Nachhinein bin ich dankbar dafür, dass die Kollegen uns da schrittweise rangeführt haben. Ich meine, ich war lang Mordermittler und habe schon viel gesehen, aber Kinderpornos sind eine ganz eigene Kategorie des Übels.“
„Ich hab in Modesto auch mal entsprechende Aufnahmen gesehen – ich kann mich bis heute dran erinnern“, sagte Matt.
„Ich werde mich auch immer an das erinnern, was ich sehe. Unsere Abteilung ist die, die am häufigsten in die Supervision geht. Unsere Psychologin hat nach Feierabend immer eine Stunde für uns reserviert, so dass man gleich mit jemandem reden kann, wenn man möchte. Ich hab das schon mehrmals genutzt.“
„Das ist keine Schande“, sagte Sadie.
„Woran arbeitet ihr gerade?“, fragte Matt.
„Wir sind hinter einem kriminellen Netzwerk her, das im Darknet operiert. Die Kollegen arbeiten schon länger an dem Fall. Kenntnis von der ganzen Sache haben sie vor über einem Jahr erlangt – es ist die klassische Geschichte mit Materialtausch und allem, aber die Mitglieder des Netzwerkes sind auch nicht faul, wenn es darum geht, neues Material anzufertigen. Wir haben da jetzt einiges abgegriffen und versuchen, mithilfe technischer Methoden die Täter zu identifizieren und sind auch hinterher, die Opfer zu finden. Im Moment sammeln wir noch Informationen, um dann im Ganzen zuschlagen zu können. Etwa so, wie es vor ein paar Jahren in Deutschland mit dem Boystown-Netzwerk gelaufen ist.“
„Was war da los?“, fragte Matt.
„Da hatten deutsche Hintermänner im Darknet ein Netzwerk geschaffen, in dem sich hunderttausende Mitglieder an kinderpornografischem Material bereichert haben. Betrieben wurde das Ganze aus einer Hütte in Mittelamerika heraus. Die Zusammenarbeit mit den dortigen Behörden war sehr gut, so dass schließlich das ganze Netzwerk gesprengt und alle Mitglieder festgenommen werden konnten. So haben wir das gerade auch vor. Die Leute, hinter denen wir her sind, bezeichnen sich als die Nachfolger von Boystown.“
„Widerlich“, sagte Emma naserümpfend.
Owen nickte. „Wir gehen auch in diesem Fall davon aus, dass der Hauptserver irgendwo außerhalb der USA steht – noch haben wir keine Ahnung, wo. Wir sind gerade dabei, die Administratoren zu identifizieren, um ihnen das Handwerk zu legen. Schlimm finde ich, dass in diesem Netzwerk nicht nur pornografisches Material getauscht und verkauft wird, sondern tatsächlich auch Kinder.“
„Du meine Güte“, murmelte Byron. „Was machst du da nur für einen Job?“
Owen zuckte mit den Schultern. „Dass das kein Spaziergang wird, war mir vorher klar. Aber zu wissen, dass das alles wirklich passiert ...“ Er schüttelte den Kopf. „Da werden Kinder vergewaltigt, die noch nicht mal zur Schule gehen. Das macht mich krank, wenn ich nur daran denke. So gesehen kein Wunder, dass in unserer Abteilung auch die Überstundenquote enorm hoch ist. Wer bei uns arbeitet, macht das aus tiefer Überzeugung heraus. Wir alle wollen helfen. Da schauen wir irgendwann nicht mehr auf die Uhr.“
„Kann ich verstehen“, sagte Sadie. „Das war bei mir auch oft so, als ich noch Profilerin war.“
„Ist es bei uns auch“, sagte Julie. „Entsprechend hoch ist auch die Burnout-Quote.“
Owen lachte. „Ja, das ist bei uns nicht anders. Dadurch, dass die Kollegen schon so lange an dem Fall arbeiten, ist es jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis wir die Hintermänner identifizieren und das ganze Netzwerk sprengen. Das wird mir eine echte Genugtuung sein.“
„Kann ich mir vorstellen“, sagte Matt.
„Ich habe da schon Dinge gesehen, die ich nie sehen wollte“, sagte Owen. Libby tastete nach seiner Hand und drückte sie, denn sie wusste, wie sehr das schon jetzt an ihm nagte. Welche Alpträume er deshalb schon gehabt hatte. Sie hatte sich ihm auch schon als Gesprächspartnerin angeboten, aber bislang hatte er abgelehnt. Er wollte sie nicht mit diesen Scheußlichkeiten konfrontieren, was sie verstehen konnte. Aber sie verstand, was ihm zu schaffen machte und hoffte, dass er auf Dauer damit zurechtkommen würde.
„Du kannst stolz darauf sein, dass du diesen Job machst“, sagte Matt. „Kannst du wirklich.“
„Bin ich ... aber es ist wirklich nicht einfach. Nicht, dass ich das je geglaubt hätte, aber diese Aufgabe hat es in sich.“
Das glaubten die anderen ihm aufs Wort. Libby entging jedoch nicht, dass Owen froh war, als sie das Thema wechselten. Sie konnte es verstehen – wenn man so einen belastenden Job hatte, wollte man an seinen freien Tagen nicht darüber nachdenken.
Freitag, 29. November
Schweißgebadet fuhr Owen aus dem Schlaf hoch und schaute sich gehetzt um. Sein Herz hämmerte wie wild, seine Hände waren eiskalt. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass er nur einen Alptraum gehabt hatte. Dass er neben Libby im Bett saß und die schlimmen Bilder, die er im Kopf gehabt hatte, nicht der Realität ...
Er brachte den Gedanken nicht zu Ende. Das war ja das Schlimme – die Bilder, von denen er gerade geträumt hatte, entsprachen der Realität. Sie waren echt.
Kinderpornografie war ein Wolf im Schafspelz, das hatte er schnell begriffen. Hatte er in seiner Zeit als Mordermittler und auch nur beim Blick über Libbys Schulter häufig pornografisches Material gesehen, das die Extreme suchte, kamen Kinderpornos mit einem Anstrich von Normalität daher, den sie nicht verdienten. In den Videos, mit denen er konfrontiert wurde, spielte Gewalt nur selten eine Rolle. Die war überhaupt nicht notwendig, weil es den Tätern meist problemlos gelang, die Kinder so sehr einzuschüchtern, dass sie einfach mitmachten. Sie wurden unter Druck gesetzt und hatten häufig keine Ahnung, dass das, was da gerade mit ihnen passierte, nicht normal war.
Aber Owen wusste es. Owen fand es nicht normal, dass Grundschüler nackt vor der Kamera posierten. Dass sie vor erwachsenen Männern knieten, um sie oral zu befriedigen. Dabei war es tatsächlich zweitrangig, ob es sich bei den Opfern um Jungen oder Mädchen handelte.
Er hatte schon so viel gesehen, dass es für ein Leben reichte. Meist ging es in dem Material darum, dass Kinder die Täter befriedigen mussten, aber es gab auch genügend Fotos und Videos, in denen die Täter die Kinder anfassten. Er hatte noch Bilder von Mädchen im Grundschulalter im Kopf, die in Bikinis oder ganz nackt vor der Kamera posierten. Es gab Aufnahmen ihrer Geschlechtsteile, ebenso von Jungen. Es ging häufig darum, die Kinder so zu inszenieren, als hätten sie Spaß an den sexuellen Handlungen. Es regte Owen unglaublich auf. Er selbst war dreizehn oder vierzehn gewesen, als er überhaupt nur darüber nachgedacht hatte, ein Mädchen küssen zu wollen – geschweige denn mehr. Das Interesse an Sex war erst danach gekommen.
Die Opfer dieser Aufnahmen verstanden häufig gar nicht, was da mit ihnen passierte. Wenn Kinder noch nicht reif für Sexualität waren, verstörten solche Erfahrungen sie nur und sorgten dafür, dass ihr eigener Umgang mit Sexualität beeinträchtigt wurde. Eine viel zu frühe Sexualisierung hielt Einzug. Die normale Entwicklung wurde gestört. Und dafür brauchte es nicht unbedingt Vergewaltigungen.
Die waren bei jüngeren Kindern ohnehin selten – ohne sich vorher eingehende Gedanken zu machen, hatte Owen kurz nach Antritt in der Abteilung gefragt, warum das so war. Ein Kollege hatte ihm möglichst zurückhaltend erklärt, dass die Anatomie der Kinder das häufig nicht hergab. Sie waren schlichtweg zu klein dafür.
Umso schlimmer hatte Owen die ersten Aufnahmen empfunden, die die Vergewaltigung von Kindern unter zehn Jahren zeigten. Das verletzte sie nicht nur psychisch extrem, sondern auch körperlich.
In der folgenden Nacht hatte er zum ersten Mal Alpträume gehabt.
Ein Grenzgebiet war die Hebephilie – die sexuelle Präferenz von Kindern etwa zwischen elf und sechzehn Jahren. Die Abteilung hatte auch immer wieder Fälle auf dem Tisch, in denen Kriminelle gezielt Kinder und Jugendliche im entsprechenden Alter im Internet ansprachen. Was ihn daran am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass viele dieser Täter selbst noch unter dreißig waren. Mädchen zwischen dreizehn und siebzehn waren besonders gefährdet, auf Männer Anfang zwanzig hereinzufallen, denen es um das altersbedingte Machtgefälle ging oder die schlichtweg Heranwachsende in sexueller Hinsicht bevorzugten. Amaya hatte daraufhin den Vorschlag gemacht, eine Informationskampagne für Kinder im betreffenden Alter und ihre Eltern zu starten. Sie wollte sie nicht nur vor Cybergrooming warnen, also den Annäherungen im Internet, sondern auch vor der Gefahr durch Täter, die gar nicht wie Täter wirkten.
Amayas Idee sollte nun umgesetzt werden, angedacht war eine große Informationskampagne an Schulen und Bannerwerbung an den Stellen im Internet, die von Jugendlichen häufig frequentiert wurden. Es war wichtig, dass diese Jugendlichen wussten, dass Beziehungen mit bestimmten Altersunterschieden eine Gefahr darstellen konnten. Zwar war es nicht die erste Kampagne dieser Art, aber es war wichtig, das Thema nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
In den drei Monaten, die Owen erst in der neuen Abteilung verbracht hatte, hatte er bereits so viel gelernt, dass er manchmal das Gefühl hatte, ihm platze der Kopf. Als die Schonfrist vorbei gewesen und er und Amaya tatsächlich begonnen hatten, die Ermittlungsarbeit zu begleiten, war sein Stresslevel exorbitant in die Höhe geschossen. Nicht, weil er sich überarbeitet hätte oder der Druck zu hoch gewesen wäre – es war emotionaler Stress. Anfangs hatte er mindestens wöchentlich die Supervision beansprucht. Dafür wurde er von niemandem verurteilt, im Gegenteil. Die Kollegen befürworteten es, dass er auf sich achtete.
Das war auch dringend notwendig, besonders seit er und Amaya die Ermittlungen gegen das Darknet-Netzwerk begleiteten. Es nannte sich ganz unspektakulär PedoPlayground, was Owen einfach nur abstoßend fand.
Auch PedoPlayground befasste sich hauptsächlich mit pornografischem Material von kleinen Jungen, doch darüber hinaus hatten sie eine Spezialität: Sie verkauften Kinder.
Owens Abteilung wusste noch nicht lang davon, aber seit sie es wussten, hatten sie jeden verfügbaren Ermittler an diesen Fall gesetzt, um dem scheußlichen Treiben Einhalt zu gebieten. Einige Käufe hatten schon stattgefunden – da versuchten sie jetzt, an die Verantwortlichen heranzukommen und die Opfer ausfindig zu machen. Mehrere Kinder hatten sie schon identifiziert. Manche waren am helllichten Tag auf offener Straße verschwunden, eins war sogar als Säugling aus dem Krankenhaus entführt worden und drei Jahre später wieder aufgetaucht.
Owen schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Es machte ihn krank, sich das vorzustellen. Im Augenblick fragte er sich verdammt oft, ob er sich die richtige Arbeit ausgesucht hatte. Ob er das überhaupt lang genug würde machen können.
Mucksmäuschenstill schlich er aus dem Schlafzimmer, weil er Libby nicht wecken wollte, und öffnete geräuschlos die Tür zum Kinderzimmer. Gerade hatte er das dringende Bedürfnis, Gracie zu sehen. Er musste einfach, es bereitete ihm einen geradezu körperlichen Schmerz.
Seine kleine Tochter schlief seelenruhig in ihrem Kinderbett. Ihr Kopf lag auf der Seite, ihre Ärmchen lagen daneben. Während Owen sie voller Liebe ansah, schmatzte sie entspannt im Schlaf. Das trieb ihm irgendwie die Tränen in die Augen. Sie so friedlich zu sehen und zu wissen, dass es nicht jedem Kind so ging ... Das konnte er kaum ertragen.
Er biss sich auf die Lippen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, während er vorsichtig und mit zitternden Fingern über den zarten blonden Flaum auf Gracies Kopf strich. Dabei spürte er erst, wie kalt seine Hände waren.
Die Tränen kamen. Er schaffte es nicht länger, sie zurückzuhalten. Um Gracie nicht zu wecken, wandte er sich ab und wollte aus dem Zimmer schleichen, aber da verrieten ihm eindeutige Geräusche, dass er sie wohl doch geweckt hatte. Er verharrte im Türrahmen und wartete ab, aber es war eindeutig – Gracie war wach.
Owen ging zurück und hob sie aus ihrem Bettchen. Er drückte sie an seine Schulter und wiegte sie auf dem Arm. Erst schien es ihr zu gefallen, aber dann hörte er, dass sie Hunger hatte und beschloss, mit ihr nach unten zu gehen und ihr ein Fläschchen zu machen.
Er schaffte es fast problemlos einhändig und setzte sich schließlich mit ihr in den Sessel, der extra für solche Gelegenheiten in ihrem Zimmer stand.
Er war sich wirklich nicht sicher, ob er sich in beruflicher Hinsicht richtig entschieden hatte. Natürlich machte er eine unendlich sinnvolle Aufgabe, die irgendjemand erledigen musste und eigentlich war er auch überzeugt davon – aber er war nicht sicher, ob er das tatsächlich durchhalten konnte. Irgendwie ärgerte ihn das auch. Natürlich hatte die Abteilung eine hohe Fluktuation und alle verstanden die Belastungen, die diese Aufgabe mit sich brachte. Dennoch hatte er mehr von sich erwartet. Wenn er mal überlegte, was Libby schon seit längerem machte ... und sie hatte das, womit sie sich beschäftigte, sogar am eigenen Leib erleben müssen. Und trotzdem war sie noch dabei. Da würde er doch wohl ein paar unschöne Kinderpornovideos aushalten.
Oder nicht?
Libby schlug die Augen auf, als sie Geräusche und Stimmen aus der Küche hörte. Sie lauschte kurz und stellte fest, dass es Emma und Gracie waren. Fast so wie immer.
Müde griff sie nach ihrem Handy und spähte auf die Uhrzeitanzeige auf dem Display. Kurz vor halb acht.
Schläfrig blickte sie hinüber zu Owen, der noch tief und fest schlief. Das war gut. Libby hatte mitbekommen, dass er nachts aufgewacht war – genauer gesagt hatte sie bemerkt, wie er wieder ins Bett gekommen war. Sie hatte sich an ihn gekuschelt und von hinten den Arm um ihn gelegt, was er dankend angenommen hatte. Gesagt hatte sie nichts, auch wenn sie gewusst hatte, warum er auf den Beinen gewesen war. In letzter Zeit hatte er das öfter, aber meistens wollte er dann gar nicht reden. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er sie weckte, wenn sich das ändern sollte.
Nachdem sie sich noch einen Moment gesammelt hatte, stand sie auf und schlüpfte in ihren Morgenmantel, bevor sie nach unten ging. Zu ihrer Überraschung saß auch Sadie in der Küche und spielte mit Gracie, während Emma ein Fläschchen fertigmachte.
„Guten Morgen“, begrüßte Libby sie, was Sadie und Emma erfreut erwiderten. Gracie verlieh ihrer Freude Ausdruck, indem sie jauchzte und mit den Armen fuchtelte. Libby ging zu ihr und nahm sie auf den Arm. Ein wohliges Gefühl durchströmte sie, als sie die Wärme ihrer Tochter an sich spürte.
Auch wenn Gracie jetzt schon ein Jahr alt war, gab es immer noch Momente, in denen Libby das Gefühl hatte, sich noch nicht daran gewöhnt zu haben, dass Gracie existierte. Manchmal fühlte es sich noch immer surreal an. Das war ihr Kind?
Aber so war es. Sie hatte mit Sadie mal über diese Empfindungen gesprochen und Sadie hatte ihr bestätigt, dass es ihr mit Hayley anfangs auch so gegangen war. Irgendwann hatte es aufgehört.
Als das Fläschchen fertig war, setzte Libby sich mit Gracie aufs Sofa. Sadie begleitete die beiden und beobachtete mit einem liebevollen Gesichtsausdruck, wie Gracie gierig trank. Gepolter drang aus der Küche an ihre Ohren und Sadie schlug Emma schon vor, ihr bei den Frühstücksvorbereitungen zur Hand zu gehen, doch das lehnte Emma vehement ab.
„Ihr seid hier zu Gast, also rührt ihr hier keinen Finger!“, rief sie entschlossen. Während Sadie überrascht die Brauen hochzog, nickte Libby wissend.
„Mit Emma Thornton ist nicht zu spaßen“, sagte sie belustigt.
„Wie eine gutmütige Matrone“, murmelte Sadie leise und Libby lachte.
„Ja, schon ein wenig. Sie wird mir verdammt fehlen, aber sie kann ja nicht ewig bleiben. Julie kann ihre Unterstützung bald deutlich besser brauchen.“
„Wahrscheinlich. Ihr habt euch ja jetzt in euren neuen Alltag eingefunden.“
Libby nickte. Inzwischen hatten sie das, und darüber war sie auch sehr froh. Schweigend beobachtete sie, wie Gracie an ihrem Fläschchen nuckelte.
„Owen wirkte gestern sehr schweigsam“, stellte Sadie fest.
„Ich glaube, ich muss dir nicht erklären, wie sein Job ist. Muss er mir auch nicht.“
„War es falsch, dass wir ihn dazu ermutigt haben?“
Libby zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, es ist noch zu früh, das zu sagen. Wenn ich mal überlege, wie ich damals emotional auf meinen ersten Mordfall reagiert habe ... das war hart. Und dir muss ich nicht sagen, dass man bei der BAU mit Dingen konfrontiert wird, die eigentlich kein Mensch je sehen möchte. Ich glaube, ihm geht es gerade ähnlich. Das ist der Realitätsschock.“
„Spricht er mit dir darüber?“
„Ja, schon. Anfangs wollte er nicht, aber ich habe es geschafft, ihn mit gezielten Fragen aus seinem Schneckenhaus zu locken. Eigentlich wollte er mit mir nicht darüber sprechen, weil er dachte, es belastet mich zu sehr – aber als er gemerkt hat, dass dem nicht so ist, war er nicht mehr so zurückhaltend.“
„Er muss irgendwo damit hin.“
„Ja, das habe ich ihm auch gesagt. Ich denke schon, dass er das kann und dass er richtig in dem Job ist, aber natürlich ist es eine Herausforderung. Wäre es auch, wenn er kein Vater wäre. Aber so ...“ Libby seufzte. „Er war auch heute Nacht wieder auf.“
„Habe ich gemerkt, deshalb spreche ich es an“, sagte Sadie. „Er weiß, dass es keine Schande ist, wenn er das nicht packt, oder?“
„Ja, natürlich. Das hat auch das FBI ihm so signalisiert. Die wissen auch, worum es in der Abteilung geht. Aber ich habe das Gefühl, Owen hat sich schon daran festgebissen. Er will das. Er will diesen Leuten das Handwerk legen.“
„Dann ist er genau wie wir“, sagte Sadie mit einem Lächeln.
„Ja, das stimmt. Deshalb weiß ich auch, wie es ihm damit geht. Es ist emotional wahnsinnig belastend, aber gleichzeitig ist er auch verdammt motiviert.“
„Du wirst ihm sagen können, wie er damit umgehen kann.“
„Ich versuche es“, sagte Libby. „Was er mir beschrieben hat, ging mir auch unter die Haut. Deshalb verstehe ich aber auch, dass er das schaffen will.“
„Ja, natürlich! Das ist absolut verständlich. Er kann sehr stolz auf sich sein.“
„Habe ich ihm auch gesagt. Allein dieser Fall mit dem Pornoring im Darknet ... die versteigern Kinder. So einen Fall hatte ich ja auch schon, auch wenn es da um Frauen ging, um Zwangsprostituierte. Das hat mir auch Alpträume beschert.“
„Ich erinnere mich. Es ist abscheulich, was die menschliche Psyche manchmal hervorbringt.“
Libby nickte zustimmend, ohne etwas zu sagen. Sie wusste nicht, was. Mit dieser Tatsache wurde sie täglich konfrontiert, aber das hatte sie sich so ausgesucht. Sie wollte es auch gar nicht anders. Owen würde das auch schaffen, da war sie zuversichtlich.
„Guten Morgen“, begrüßte Matt sie, der ebenfalls gerade aufgestanden war. „Ich wollte mal sehen, wer schon alles auf den Beinen ist.“
„Nur wir“, sagte Sadie.
„Mit Hayley hatte ich auch nicht wirklich gerechnet“, sagte Matt und grinste. „Ich würde dann mal duschen gehen.“
Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, deshalb verschwand er wieder. Sadie und Libby spielten ein wenig mit Gracie, als sie mit dem Fläschchen fertig war, und Libby ging schließlich Emma zur Hand. Kurz darauf tauchte Matt mit noch leicht feuchten Haaren bei ihnen auf und deckte ungeachtet Emmas Protest den Tisch. Sadie und Libby gingen nacheinander ins Bad und anschließend beschlossen sie, Owen und Hayley fürs Frühstück zu wecken.
Owen blinzelte schläfrig, als Libby sich zu ihm auf die Bettkante setzte und weckte, indem sie ihm die Hand sanft auf die Schulter legte.
„Hey“, sagte sie und lächelte liebevoll.
„Guten Morgen“, erwiderte er und gähnte. „Wie spät ist es?“
„Gleich neun.“
Owen brummte etwas und schloss für einen Moment die Augen, doch dann seufzte er und sagte: „Nützt ja nichts.“
„Das Frühstück ist gleich fertig.“
„Ich rieche es“, sagte er und schlug die Decke zurück. Er stand auf, streckte sich und ging ins Bad. Libby wusste, er würde nicht lang brauchen.
Als sie auf den Flur kam, hörte sie Hayleys müden Protest. Minuten später kam ihre kleine Schwester auch zum Frühstück – noch im Pyjama und mit ungekämmten Haaren.
„Du siehst aus, als hättest du die Nacht durchzecht“, sagte Emma augenzwinkernd.
„So fühle ich mich auch“, murrte Hayley.
„So ging es mir in deinem Alter auch. Ich war ständig müde.“
„Ich glaube, das geht allen in dem Alter so“, sagte Matt und biss in seine Toastscheibe.
„Definitiv“, stimmte Owen zu.
„Und ihr wollt später wirklich nicht mit?“, fragte Sadie.
„Nein, nein ... macht ihr mal. Ich werde mit Owen den Schrank zusammenbauen und was wir danach machen, sehen wir dann. Wenigstens regnet es nicht, dann könnten wir mit Gracie auf den Spielplatz im Park.“
Die Frauen hatten überlegt, gemeinsam den Black Friday zum Shopping zu nutzen. Weil Owen und Matt nicht wirklich Lust hatten, sie dabei zu begleiten, hatten sie angeboten, mit Gracie zu Hause zu bleiben. Ein Plan, mit dem sie alle einverstanden waren.
Als Libby Owen von der Seite musterte, war sie zufrieden. Er wirkte trotz allem ausgeschlafen und gut gelaunt. Solange er sich von den Belastungen der Arbeit erholen konnte, war alles gut.
Montag, 2. Dezember
„Wie war dein Wochenende?“ Nachdem Amaya ihre Tasse abgestellt hatte, setzte sie sich Owen gegenüber an ihren Schreibtisch. Wie jeden Morgen hatte sie sich schwarzen Tee gemacht, was Owen ihr an manchen Tagen gleich tat. Aber heute brauchte er einen Kaffee.
„Es war schön. Libby hat sich so gefreut, ihre Familie um sich zu haben.“
„Kann ich verstehen. Ich habe meine Mum auch viel zu lang nicht gesehen.“ Amaya sah ihn nicht an, während sie das sagte, sondern starrte auf ihren Bildschirm. Owen wusste nicht, was er erwidern sollte. Er konnte verstehen, dass es Amaya belastete, in dieser Ungewissheit leben zu müssen.
„Und wie war dein Wochenende?“, fragte er.
„Ich bin spontan weggefahren“, erwiderte sie. „Hatte keine Lust, auch noch den Samstag und den Sonntag allein zu verbringen. Donnerstag hat mir gereicht.“
Owen wusste, dass sie am Freitag freiwillig zur Arbeit gekommen war, weil sie es hasste, allein in ihrer Wohnung zu sitzen.
„Wo warst du?“, fragte er.
„In Philadelphia. Einfach mal rauskommen, verstehst du?“
„Klar. In Philadelphia war ich erst einmal.“
Amaya erzählte ein wenig und Owen hörte ihr aufmerksam zu, während er sich ins Darknet einwählte und daran machte, die Messageboards von PedoPlayground zu sichten. Übers Wochenende war sicher einiges passiert – das war meistens so, wenn die Leute genügend Freizeit hatten. Pädophile verbrachten sie dann gern im Darknet und tauschten Pornomaterial mit Gleichgesinnten.
Seine Befürchtung bestätigte sich – es gab bergeweise neues Material. Fotos von nackten Kindern, teilweise posierten sie mit traurigem Blick vor der Kamera. Als er das vom Blitz überbelichtete Bild eines kleinen Jungen sah, der mit einer Hand einen Teddy festhielt, schnürte sich seine Kehle zu. Der Junge war splitternackt und hatte eine Erektion. Owen schätzte ihn auf höchstens fünf Jahre. Er schloss die Augen und holte tief Luft.
Er wusste, es war grundsätzlich nichts Schlimmes dabei, wenn auch Kinder in dem Alter eine Erektion hatten. Aber hier war die garantiert durch Nachhilfe eines Erwachsenen entstanden, um den Jungen genau so abzulichten. Und den Teddy hielt er immer noch in der Hand ...
Das war falsch. Einfach falsch. Und wieder hatte er gerade ein Bild gesehen, das sich jetzt für lange Zeit in seine Erinnerung ätzen würde. Es gab schon einige Bilder, bei denen das der Fall war – Bilder und Videos. Er versuchte schon stets, sich der Bewältigungsmechanismen zu bedienen, die die Psychologin ihm an die Hand gegeben hatte, aber das klappte nicht immer. Wenn er gerade die Augen schloss, sah er das Bild des Jungen immer noch.
Nachdem er sich einen Moment lang gesammelt hatte, machte er weiter. Zu seinem Entsetzen fand er noch andere Bilder des Jungen. Dabei war das meistens so – wo ein Bild war, waren mehrere.
Eigentlich war das sogar gut für ihn, denn das erhöhte die Wahrscheinlichkeit eines Ermittlungserfolges. Er und seine Kollegen fanden häufig die Täter durch irgendetwas im Hintergrund der Bilder, was sie auf die Spur der Verantwortlichen führte. Bei Videos war es einfacher, ans Ziel zu kommen, weil auch Ton vorhanden war. Er wusste von einem Fall, in dem die Suche zum Erfolg geführt hatte, weil im Hintergrund die Musik zu hören war, die zu einem Casino gehörte. Das hatte den Ermittlern dabei geholfen, den Ort und schließlich auch die Täter zu identifizieren.
Am einfachsten war es, wenn sie etwas von den Tätern selbst sahen – ein tätowierter Arm, Schuhe, irgendwas dergleichen. Sie mussten mit dem arbeiten, was sie hatten. Sie mussten Gemeinsamkeiten finden. Häufig stammte das Foto- und Videomaterial von verschiedenen Kindern von denselben Tätern und war am selben Ort aufgenommen worden.
Sie kategorisierten alles. Sie versuchten, Gemeinsamkeiten zu finden und glichen das Material auch immer mit dem ab, das sie schon hatten. Leider war es häufig so, dass von demselben Kind über Jahre hinweg Material angefertigt wurde. Inzwischen verwendeten sie unterstützend ein Programm, das sich künstliche Intelligenz zunutze machte, um das Material auszuwerten. Ziel war es, auf lange Sicht die belastende Auswertungsarbeit komplett an die KI abzugeben, aber noch war sie nicht so weit, dass Menschen nicht noch ein Auge drauf haben mussten – und das Material erst mal finden und sichten mussten. Bei der Kategorisierung und Auswertung hingegen war die Software von enormer Bedeutung.
Owen wollte die Bilder schon in die Datenbank zum Abgleich einspeisen, als er im Augenwinkel einen Link sah, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Hier entlang zur Auktion.
Bei Gott, nicht schon wieder.
Er klickte den Link an und wurde auf eine andere Seite geführt, auf der das Videobild eines Livestreams zu sehen war. Ihm wurde eiskalt, als er den Jungen vom Foto wiedererkannte. Nur mit einem schmutzigen T-Shirt und einer Unterhose bekleidet, saß er in einem düsteren Raum und war damit beschäftigt, ein Haus aus Klemmbausteinen zu bauen. Gleich über dem Videofenster prangte ein Countdown-Timer, der elf Stunden und 38 Minuten anzeigte.
Owen schluckte. Er scrollte herunter, gleich unterhalb des Fensters prangte eine Anzeige mit dem aktuellen Gebot. Die Auktion stand gerade bei 8350 Dollar.
Ruhiger, folgsamer fünfjähriger Junge, der aufs Wort gehorcht und keinen Ärger macht. Spricht nur, wenn er aufgefordert wird. Vertraut mit vielen Praktiken, hat keine ausgeprägten Ansprüche.
Owen las den Text nicht weiter, in dem der Junge angepriesen wurde. „Samina“, sagte er, ohne aufzuschauen.
Seine Kollegin blickte auf. „Was ist los?“
„Wir haben eine neue Auktion.“
„Wann endet sie?“
„Heute. In weniger als zwölf Stunden. Um ... 21 Uhr, um genau zu sein“, sagte Owen, nachdem er nachgerechnet hatte.
„Verdammt.“ Amaya stand auf und umrundete den Schreibtisch. Sie blieb hinter Owen stehen und blickte über seine Schulter.
„Fünf Jahre alt?“, entfuhr es ihr.
Owen nickte stumm. „Das macht mich krank.“
„Die werden den Livestream abgesichert haben, aber wir sollten trotzdem bei den Technikern anrufen.“
„Natürlich sollten wir das. Ich würde gern verhindern, dass der Junge heute Abend an irgendeinen Perversen verschachert wird“, sagte Owen schonungslos – und er meinte es genau so. Dabei war ihm klar, dass weniger als zwölf Stunden verdammt ambitioniert waren, um den Ursprung des Videos zu ermitteln. Ambitioniert bis unmöglich.
Er griff zum Telefon und rief bei den technischen Analysten an, um sich die Unterstützung der Profis zu holen. Von allem auf Codeebene hatte er keine Ahnung, aber das war auch nicht seine Aufgabe.
„Guten Morgen, Michael“, begrüßte er den Kollegen. „Du hast doch schon so oft gezaubert.“
„Oh Gott, wenn du schon so anfängst“, erwiderte Michael. „Worum geht es?“
„Um eine Auktion“, antwortete Owen und erklärte dem Kollegen haarklein, wie er sie finden konnte. Michael gab schließlich an, sie entdeckt zu haben.
„Was für eine kranke Scheiße“, sagte er in einem Tonfall, der nüchterner klang, als die Aussage gemeint war.
„Du weißt, was jetzt kommt.“
„Ja, klar. Ich werde mal sehen, ob ich den Ursprung des Streams bestimmen kann. Wird nicht einfach, vor allem nicht in der Zeit ... aber vielleicht haben wir ja Glück.“
„Dank dir. Du bist ein Held.“
„Das sagt der Richtige.“
Grinsend legte Owen auf und widmete sich wieder der Auktion. Erstellt worden war sie Freitag Abend. Angezeigt wurden alle bislang abgegebenen Gebote, darunter fanden sich zahlreiche Kommentare zu dem Jungen. Owen überflog sie und fand eine Information, die tatsächlich nützlich war – jemand fragte nach dem Standort des Jungen und der Verkäufer hatte geantwortet: Ohio.
Das war interessant.
In Windeseile speiste Owen alle Fotos des Jungen, die er finden konnte, in die Datenbank ein und ließ sie von der KI analysieren.
„Wir sollten versuchen, ihn zu ersteigern“, sagte Amaya. „In der Kürze der Zeit werden wir den Ursprung des Streams nicht ermitteln können.“
„Glaube ich auch nicht“, stimmte Owen zu. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass sie versuchten, in einer solchen Auktion mitzubieten. Das war von oben abgesegnet, weil es in der Tat eine gute Möglichkeit war, nicht nur das Opfer zu retten, sondern auch den Täter zu erwischen. Vor allem in den Fällen, wo eine persönliche Übergabe mit Barzahlung stattfand, waren sie auf diese Weise schon öfter erfolgreich gewesen. Weil das aber riskant war, wurden die Zahlungen in der überwiegenden Zahl der Fälle mit Bitcoin abgewickelt und die Täter verrieten nach Zahlungseingang den Aufenthaltsort des versteigerten Kindes, ohne je persönlich in Erscheinung zu treten.
Owen schaute nach, wie die Zahlung hier abgewickelt werden sollte, und nickte langsam. Auch hier sollte Bitcoin zum Einsatz kommen. Das war schlecht, denn viel anonymer konnte man eine Zahlung nicht abwickeln.
Das war das Mühsame an diesem Job. Häufig war es ein Kampf gegen Windmühlen. Auch jetzt musste er ernüchtert feststellen, dass der Junge längst in der Datenbank war. Es gab unglaublich viel Material mit ihm – und das, obwohl er erst fünf Jahre alt war.
Das konnte doch alles nicht sein. Erst hatte man ihn missbraucht, um pornografisches Material herzustellen, und jetzt wurde er an irgendeinen Triebtäter verkauft, der mit ihm machen konnte, wonach auch immer ihm der Sinn stand.
Sie mussten das stoppen. Unbedingt.
Aber wie?
Er machte sich keine allzu großen Hoffnungen, dass die Techniker es tatsächlich schafften, den Standort des Jungen rechtzeitig zu ermitteln. Ihre IP zu verschlüsseln, gehörte zu den grundlegendsten Maßnahmen der Täter – und sie wurden immer besser darin. Deshalb war inzwischen auch von oben abgesegnet, dass sie bei den Auktionen mitmachen durften. Das war oft die beste Möglichkeit, überhaupt an die Täter heranzukommen.
Owen ging die Diskussion zu dem Jungen weiter durch in der Hoffnung, dass jemand eine relevante Frage stellte und eine entsprechende Antwort bekam.
Doch tatsächlich fand er sogar noch weiteres Material von dem Jungen. Es gab Fotos, die ihn nackt und angezogen zeigten – und es gab ein Video. Owen schluckte und sammelte sich, aber dann ließ er es laufen. Vielleicht gab es dort einen wichtigen Hinweis.
Es war ein Zusammenschnitt verschiedener Szenen. Anfangs war der Junge noch bekleidet, später nicht mehr. Owen sah sich eine Abfolge verschiedenster sexueller Handlungen an, versuchte jedoch, dabei nicht auf den Inhalt zu achten. Er wollte nur wissen, wer der Täter war.
Und schließlich wurde er fündig. In einer Einstellung kniete der kleine Junge vor dem Täter, der ihn zum Oralverkehr zwang. Die Kamera war so ausgerichtet, dass der Täter sich selbst dabei nur bis zu den Schultern filmte. Sehr aufschlussreich war das zunächst leider nicht, denn er wies keine besonderen Erkennungsmerkmale auf.
Owen ließ das Video weiterlaufen. Am Ende drehte der Junge sich um und stieß beim Aufstehen gegen die Kamera, so dass sie umfiel. Der Täter eilte sofort herbei, um die Aufnahme zu beenden und Owen war überrascht, zu sehen, dass sein Gesicht erkennbar war. Es war nur für einen Sekundenbruchteil, zeigte sein Gesicht von der Seite und war ziemlich unscharf, aber es war da.
Er stoppte das Video und suchte so lange, bis er die beste Stelle hatte, um auch davon einen Screenshot anzufertigen. Als er das erledigt hatte, nahm er das Bild und lud es in die Datenbank zum Abgleich, doch die Bildqualität reichte nicht aus, um einen Treffer zu erzielen.
Owen fluchte innerlich, aber er wusste, das war noch kein Beinbruch. Er verfasste schnell eine Mail an einen Kollegen, hängte das Bild an und ging dann hinüber zu ihm.
„Hey, Dominic“, begrüßte er ihn freundlich.
Der Angesprochene blickte auf. Er war ein paar Jahre jünger als Owen und selbst erst seit etwas über einem Jahr dabei, wurde aber inzwischen als so etwas wie die Geheimwaffe der Abteilung bezeichnet. Er war das, was man einen Super-Recognizer nannte – ein Mensch mit einer außergewöhnlich guten Wiedererkennungsgabe, was Gesichter betraf. In Fällen, in denen die KI versagte, war Dominic oft so etwas wie ein Joker.
„Ich bräuchte mal wieder dein Superhirn“, sagte Owen.
„Das habe ich mir schon fast gedacht“, sagte Dominic, der sein Mailprogramm schon offen hatte und Owens Mail mit dem Foto öffnete.
„Wen haben wir denn da ...“ murmelte er nachdenklich.
„Hast du den schon mal gesehen?“
Dominic betrachtete das Bild eingehend und nickte schließlich. „Ja, ich denke, schon. Die Nase hat was Charakteristisches. Lass mich mal ein bisschen in der Datenbank herumwühlen ... ich geb dir dann Bescheid.“
Damit war Owen einverstanden, kehrte an seinen Platz zurück und wartete. Aber konnte er gerade auch etwas tun?
Inzwischen waren weitere Gebote eingegangen. Er verspürte einen Würgereiz, wenn er sich vorstellte, wozu Menschen bereit waren. Sie wollten einen kleinen Jungen kaufen wie einen Gegenstand und darüber verfügen. Das war widerlich.
Er öffnete die Datenbank der vorbestraften Sexualstraftäter und suchte nach Männern aus Ohio. Vielleicht kam er auf diesem Weg ans Ziel.
Er war noch mittendrin, als sein Telefon klingelte.