Der Kristall der Könige - Dania Dicken - E-Book

Der Kristall der Könige E-Book

Dania Dicken

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Beschreibung

Er spürt seine Berufung. Aber für ihn ist sie nicht Segen, sondern Fluch. Als junger Mann zieht Agarin mit seinen Freunden aus, das zu tun, was ihm seit seiner Geburt bestimmt ist. Unterwegs begegnen sie Kayla, einer jungen Frau, die ihr altes Leben zurückgelassen hat und ein besseres sucht. Doch bevor ihre Aufgabe erfüllt ist, müssen sie dem mächtigen Herrscher über das Nachtschattenland gegenübertreten, der sie unablässig verfolgt. Denn er weiß, welchem Vermächtnis Agarin auf der Spur ist...

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Für Marcel

In Liebe

Fang damit an, das Nötige zu tun,

dann das Mögliche

und plötzlich tust du das Unmögliche.

Saint Francis

Karte zum Buch auf http://blog-und-stift.de

Prolog

Neun Jahre zuvor

Er lief über die hell gepflasterte Straße zum Nachbarhaus hinüber, riß die quietschende Tür auf und stürzte am kleinen Bäckerladen vorbei in den Seitenflur hinein, der ihn hinauf zu seinem Freund führen sollte. Atemlos sprang er die Stufen hinauf und hämmerte aufgeregt mit den kleinen Fäusten an die Tür. Es dauerte nur Augenblicke, bis der Alte auf der anderen Seite der Tür angeschlurft kam, wohlwissend, wer ihn morgens früh bereits störte. Klackend wurde die Tür geöffnet, dann lugte ein freundlich lächelndes Gesicht durch den Türspalt.

„Agarin! Wer sonst sollte auch so ruhelos sein!“

„Lius“, unterbrach der Halbwüchsige den alten Mann, „ich habe wieder etwas gesehen! Es ist wichtig!“

„Das dachte ich mir. Komm nur herein!“ lud Lius den Jungen ein, woraufhin dieser sich an ihm vorbei in den Flur drängelte und in die kleine Wohnstube vorauslief. Kopfschüttelnd blickte der Alte seinem Nachbarsjungen hinterher, der gerade einmal elf Sommer zählte und aufgeweckter war als ein Sack Flöhe. Diesmal hatte er wenigstens keine Angst, dachte Lius.

Agarin hatte sich schwungvoll auf das weich gepolsterte kleine Sofa fallen lassen und knetete nervös seine Finger. Lius bemerkte wieder einmal die leuchtend roten Wangen im Gesicht des Jungen, seine vor Spannung strahlenden blauen Augen, freundliche, weiche Züge und noch etwas zerzauste, halblange dunkle Haare, die ihm in die Stirn hingen. Ein verrutschter Hosenträger und das zerknitterte Hemd ließen erkennen, daß er andere Sorgen als sein äußeres Erscheinen hatte.

Der Alte folgte langsamer und auf seinen Stock gestützt, ließ sich in den großen Sessel sinken und atmete tief durch. Er hatte Agarin schon ganz anders erlebt, verschlossen und ängstlich; daß er ihn diesmal in einer solchen Aufregung fand, erleichterte ihn fast.

„Dann erzähl doch mal, was du jetzt gesehen hast!“ forderte Lius den Jungen auf, der sich offensichtlich in dem mit hohen vollgestopften Bücherregalen verstellten Raum ganz wie zuhause fühlte.

„Ich habe Drachen gesehen, Lius! Große, richtige Drachen!“ Agarins Stimme überschlug sich fast vor Freude. Unruhig rutschte der drahtige Junge auf dem Sofa herum und wartete auf eine Antwort.

„Wo waren die Drachen denn?“ fragte Lius und legte seine hohe Stirn in Falten.

„Auf einem richtig hohen Berg! So etwas habe ich noch nie gesehen, dagegen sind die Berge im Sichelgebirge winzig klein! Und da war nur dieser Berg und darunter im Nebel ein riesiger Wald. Auf dem Gipfel des Berges saßen zwei oder drei große Drachen mit langen Hälsen und Zacken darauf und scharfen Zähnen. Aus ihren Nüstern kam Rauch! Sie hatten Augen wie Katzen und große Schuppen, die im Licht geschillert haben. Einen spitzen langen Schwanz hatten die Drachen auch. Sie sahen genauso aus wie auf dem Bild, das du mir gezeigt hast!“

„Das Bild hat jemand gemalt, der die Drachen gesehen hat. Es ist sehr alt, denn früher gab es mehr Drachen als heute und sie waren damals noch viel freundlicher.“

„Diese Drachen sahen aber überhaupt nicht freundlich aus! Sie saßen um ein Nest herum, und darin lag ein schillerndes Stück wie von diesem Kristall. Es glitzerte in der Sonne. Ich habe direkt daran gedacht, daß es ein Splitterstück sein kann!“ Mit großen Augen blickte Agarin zu Lius, der ruhig zurückgelehnt in seinem hohen dunklen Sessel saß und mit den knorrigen Fingern auf seinem Gehstock herumtrommelte. Seine eingefallenen, faltigen alten Gesichtszüge verrieten erst langsam ein wenig Aufregung, aber das nicht etwa deshalb, weil Agarin ihn angesteckt hätte. Er begriff vielmehr, was der Junge da erzählte. Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, die klaren hellen Augen glitzerten leicht und Agarin konnte förmlich sehen, wie der Alte zu überlegen begann. Er kratzte sich mit einer Hand im schütteren grauen Haar und zupfte die um seine knochigen Schultern gelegte braune Decke zurecht, die er über seiner schlichten Leinenkleidung trug, dann erst setzte er zu einer Antwort an.

„Du hast eines der Splitterverstecke im Traum gesehen. Ich denke, diese Drachen leben auf dem berühmten Horst des Ramun, des Pfeilspitzenberges im Weltenwald. Ich wußte nicht, daß dort ein Kristallstück liegt, aber es war zu erwarten.“

„Wo ist das? Ist das weit?“ fragte Agarin sofort.

„Ja, für einen Jungen wie dich ist das weit. Die Darlinod-Pforte ist geschlossen, du müßtest durch den Weltenwald laufen, um dorthin zu kommen. Dafür bist du zu jung.“

„Aber ich habe gar keine Angst davor. Die Drachen tun mir doch nichts, wenn ich das Stück holen möchte!“

Lius lächelte. „Da hast du Recht, dir würden sie nichts tun. Aber denk doch an all die scheußlichen Dinge, die du zuvor gesehen hast. All das würdest du auf dem Weg dorthin erleben!“

„Wirklich?“ Agarins freudiges Lächeln erstarb. Es tat Lius leid, ihm diesmal seine Illusionen nehmen zu müssen, doch er war noch zu jung, um seiner Berufung folgen zu können. Zwar störte es ihn auch, daß seine ständigen Visionen dem Jungen Angst machten, besonders wenn sie ihm grausame Dinge zeigten, aber es mußte sein. Er war derjenige, der dazu auserwählt war, das alles zu sehen und danach zu handeln.

„Noch sollst du nichts tun, Agarin. Du hast das erste Versteck gesehen, all die anderen wirst du auch noch entdecken und wenn du erwachsen bist, wirst du Elinas verlassen und tun, was dir bestimmt ist!“

Agarin verzog das Gesicht. „Ich will nicht fort aus Elinas!“

„Du wirst aber fortgehen müssen. Du weißt doch, was ich dir über den König gesagt habe. Wenn er dich findet, wird er dir etwas Böses antun, und deshalb darf er nie von dir erfahren!“

„Ich werde einfach nicht darüber sprechen“, beschloß sein Gegenüber mürrisch. Lius seufzte ergeben. Er hatte immer wieder damit zu kämpfen, daß der Junge erst so euphorisch war und dann so kindlich erschrocken.

„Du weißt doch, was ich dir gesagt habe“, brummte Lius mahnend. „Vergiß das nicht. Ich bin der einzige, dem du all das anvertrauen kannst. Selbst deine Mutter kann dir nicht helfen!“

Darauf bekam Lius keine Antwort. Agarin hatte sich so über die Drachen in seiner Vision gefreut, die Ernüchterung jedoch holte ihn wieder vollends auf den Boden der Tatsachen zurück.

„Das ist alles so gemein. Warum ist das so?“ beschwerte er sich.

„Du bist etwas ganz Besonderes, Agarin. Du bist klüger als deine Freunde, und du bist der beste Sohn, den deine Mutter sich wünschen kann. Aber nur, wenn du jetzt wieder zurückkehrst, du weißt doch, daß sie es nicht gern hat, wenn du immer hier bist!“

„Ja, ja...“ murrte er und stand auf. „Mit ihr kann ich aber nicht reden, sie macht sich immer nur Sorgen!“

„Sie hat dich lieb. Los, geh zurück und hilf ihr ein wenig!“ forderte Lius seinen Nachbarsjungen bestimmt, aber freundlich auf. Er war immer für ihn da und froh, daß er Agarin helfen konnte, doch eigentlich war dieser noch zu jung, die Berufung zu spüren.

„Gut. Auf Wiedersehen, Lius!“ verabschiedete Agarin sich in der Tür und schlenderte die Treppe hinunter. Der Alte sah ihm nach, bis er nicht mehr in Sichtweite war.

Er stellte die Teller in den Schrank zurück und grinste zufrieden.

„Ich bin fertig!“ verkündete er. Seine Mutter warf Agarin ein stolzes Lächeln zu und fuhr ihm liebevoll durch die Haare.

„Danke, mein Junge! Was sollen wir nun machen?“ fragte sie, eine sehr hübsche, zierliche Frau mit langen braunen Haaren, die sie zu einem Zopf geflochten hatte. Sie trug ein schlichtes, aus braunem Stoff geschneidertes Kleid und darüber eine hellblaue Schürze. Warmherzig blickte sie mit ihren grünen Augen zu ihrem Sohn.

„Ich weiß nicht“, sagte er, „ich habe da noch ein Buch von Lius. Darin stehen so spannende Geschichten!“ Ein Strahlen huschte über das Gesicht des Jungen.

„Lies du nur, ich werde deine Socken stopfen. Wie bekommst du nur immer diese vielen Löcher dort hinein?“ fragte sie. Er zuckte nur ratlos mit den Schultern und huschte aus der Küche, lief mit schnellen Schritten den Flur entlang und polterte die Treppe hinauf. Er stürzte in sein kleines Zimmer, in dem nicht mehr als ein Bett, ein Schrank und ein Tisch mit einem Stuhl standen. Auf dem Tisch lag besagtes Buch, das Agarin ungeduldig zur Hand nahm. Er entzündete seine Talgkerze und legte sich mit dem Buch rücklings aufs Bett, dann begann er gespannt zu schmökern von fernen Ländern und großen Helden. Seine Mutter hatte sich derweil in dem kleinen Wohnraum ans große Fenster gesetzt und ihr Nähzeug zur Hand genommen. Die Abende waren manchmal einsam, aber die beiden kannten es nicht anders.

Der Abend ging schnell vorüber. Bald konnte Agarin die Augen nicht mehr offen halten, also zog er sein Nachthemd über und tapste zu seiner Mutter hinunter.

„Gehst du zu Bett?“ fragte sie.

„Ich habe meine Geschichte jetzt zuende gelesen und bin müde“, erklärte er gähnend. Sie lachte herzlich und stand auf, umarmte ihn fürsorglich wie jeden Abend und gab ihm einen mütterlichen Kuß auf die Stirn.

„Gute Nacht, mein Sohn!“ sagte sie.

„Gute Nacht, Mama“, erwiderte Agarin und lief dann die Treppe wieder hinauf. Erneut gähnend warf er sich auf seine Strohmatratze und zog die dicke Wolldecke bis zur Nasenspitze hoch, erst dann schloß er zufrieden die Augen, rollte sich seitlich zusammen und blies noch die Kerze aus, ohne überhaupt zu blinzeln.

Seine Mutter blieb noch für eine Weile bei Kerzenlicht in der Wohnstube sitzen und bestickte eine Decke, bis es ihr auf Dauer zu dunkel wurde und auch sie zu Bett gehen wollte. Geschäftig räumte sie alle ihre Sachen zusammen und wollte gerade das Licht löschen, als sie laute Schritte auf der Straße hörte. Metall klapperte und rasselte, das konnte von Schwertern, Stiefeln oder Rüstungen herrühren, sie war sich nicht sicher. Sie ging leise in die finstere Küche und schob den Vorhang zur Seite, um auf die Straße blicken zu können, aber sie konnte niemanden mehr erkennen. In diesem Augenblick dachte sie nicht weiter darüber nach, ging die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer. Sie wollte schon ihr Nachtgewand überziehen, als sie das Klimpern des Metalls erneut vernahm und zum der Straße zugewandten Fenster ihres Zimmers schritt, wo sie den Vorhang zurückzog.

Sie unterdrückte einen entsetzten Schrei und schnappte nach Luft, schlug die Hand vor den Mund und schloß angsterfüllt die Augen. Jetzt war es zu spät. Die Wachen des Königs in ihren mit roten Roben bedeckten Kettenhemden traten aus dem Haus der Bäckerei, in dem auch Lius lebte, und blickten sich mißtrauisch auf der menschenleeren Straße um. Mit geweiteten Augen beobachtete sie, wie zwei der Soldaten Tücher unter ihren Rüstungen hervorkramten, um damit ihre blutbefleckten Klingen zu säubern. Das Blut schimmerte schwarz im schwachen Mondlicht, aber sie hatte keinen Zweifel daran, um was es sich handelte. Sie konnte es nicht fassen. Nun war es also soweit, daß Drognan alles erfahren hatte und Lius aus dem Weg hatte schaffen lassen...

In diesem Moment setzten die Soldaten, die in der Zahl ein halbes Dutzend überschritten, sich in Bewegung und hielten auf ihr Haus zu. Ihr wurde heiß, sie rannte angsterfüllt in Agarins Zimmer und rüttelte ihn an der Schulter wach.

„Steh auf, mein Kleiner! Schnell!“ flüsterte sie. Ihr Sohn blinzelte schläfrig, fuhr aber sofort hoch, als er die ängstlichen Augen seiner Mutter bemerkte.

„Was...“ begann er, sie unterbrach ihn jedoch.

„Drognan hat von dir erfahren! Weißt du noch, was Lius gesagt hat? Du solltest doch niemandem von deinen Träumen berichten, weil der König uns sonst verfolgt!“

„Ja...“ murmelte Agarin, während er die Decke zurückwarf und mit einem Satz in seine Hose sprang.

„Seine Wachen...“ begann seine Mutter, wurde jedoch von einem Hämmern an der Haustür unterbrochen.

„Öffnet den Männern des Königs!“ rief einer der Soldaten.

Agarin fuhr erschrocken zusammen. „Sie sind hier?“

„Sie waren bei Lius... ich fürchte, er ist tot...“

„Nein!“ schrie er und schlug sogleich die Hände vor den Mund. Mit großen Augen starrte er seine Mutter an, die tief Luft holte. „Du mußt durch den Kellerraum fliehen! Lauf weg, mein Junge, lauf zu Onkel Agared, er wird dich verstecken!“

„Ich lasse dich doch nicht hier, Mama!“

„Ich muß sie ablenken, Agarin. Sie dürfen dich nicht finden, sonst töten sie dich!“ Ihre Stimme bebte vor Angst, als sie diese Worte aussprach. Agarin senkte den Blick.

„Ich habe niemandem etwas erzählt, wirklich...“

„Ich weiß, ich fürchte, sie haben Lius ausspioniert. Du mußt jetzt fliehen!“

Ihrer beider Herzen rasten in Todesangst. Agarin warf sich seiner Mutter in die Arme und sie drückte ihn fest an sich, nur aufgeschreckt von einem wiederholten Rufen der Soldaten.

„Lauf, mein Junge!“ mahnte sie ihn. Er machte jedoch einen Satz zur Wand hin und streckte sich, denn dort hing in einer Halterung das blankpolierte Schwert seines Vaters, das Agarins einzige Erinnerung an ihn war und ihn mit Stolz erfüllte. Es war ein Zweihänder, dessen Länge an seine Körpergröße fast heranreichte, doch das kümmerte den Jungen nicht. Er würde ohne das Schwert seines Vaters nirgendwohin gehen, diese Situation war ernst.

Seine Mutter schrie auf, als sich mit einem Male unten jemand gegen die Tür warf.

„Lauf!“ rief sie. Agarin hastete keuchend die Treppe hinunter, hielt das Schwert fest an sich gedrückt und riß die Falltür im Flur hoch, die in den Kellerraum führte. Dieser hatte ein Fenster auf den Hinterhof hinaus, zwar nur ein ganz schmales, für ihn würde es allerdings groß genug sein.

Mit einem Satz sprang er hinab auf den nicht tief unter ihm liegenden Boden und sah seine Mutter schattenhaft herbeieilen, um die Luke über ihm zu schließen. Er hatte noch gesehen, daß sie ein blitzendes Messer in der Hand hielt.

Unaussprechliche Furcht keimte in ihm auf. Er konnte nicht verstehen, daß die Befürchtung seines Freundes Lius nun wahr geworden war. Agarin schluckte und spürte, wie Tränen in seinen Augen brannten. Lius war sein Freund gewesen. Drognan hatte den Alten ermorden lassen, und nun war der König auch hinter ihm her! Wenn er nur gewußt hätte, was an seinen Visionen so besonderes war, daß er den König zum Feind hatte! Er stolperte durch die Dunkelheit zum Fenster und hörte Schreie über sich. Die Tür zerbarst, seine Mutter schrie, ein lautes Stimmengewirr erhob sich. Agarin achtete nicht länger darauf, sondern kletterte auf den großen Mehlsack, stieß mit der Spitze des schweren Schwertes das Fenster an, warf das Schwert hinaus und zog sich hoch. Mühsam zwängte er sich durch die schmale Fensteröffnung und kroch auf den gepflasterten Hof, griff nach dem Schwert, dann nahm er die Beine in die Hand. Er rannte zum Tor, ohne sich umzudrehen.

Er kannte den Weg zu Agared im Schlaf. Die Straßen von Megelion waren ruhig und nur leicht vom Mond erhellt. Ein Nachtwächter pfiff irgendwo ahnungslos ein Lied, eine Katze schrie, ansonsten war alles totenstill. Sein Herz pochte, seine Lungen brannten, die Knie wollten ihm wegbrechen. Er hatte eine entsetzliche Angst, er war doch nur ein Junge, und der König wollte seinen Tod! Schnellen Schrittes rannte er die Straße hinab und bog in eine schmalere Gasse ein, um danach noch einmal um eine Ecke zu biegen und endlich am Ziel mit geballten Fäusten an die Tür zu trommeln.

„Mach auf!“ rief er mit von Vorsicht, Tränen und Angst erstickter Stimme. „Onkel Agared!“

Unablässig klopfte er, ließ das Schwert vor seinen Füßen fallen und klopfte sogar noch, als die Tür geöffnet wurde und Agared darin stand und seinen Neffen erstaunt ansah.

„Agarin! Was in aller Welt machst du hier?“

„Onkel! Bitte, du...“ Agarin schluckte. „Du mußt Mama helfen, sie ist in Gefahr!“

„Was sagst du da? Was meinst du? Komm herein!“ Agared bückte sich und hob das Schwert seines Schwagers auf, legte eine Hand auf Agarins Schulter und führte den Jungen in seinen Flur.

„Onkel, der König hat von uns erfahren! Lius ist tot! Du weißt doch, daß Mama dir gesagt hat, wie gefährlich meine Träume sein können...“

„Deshalb ist Drognan hinter dir her?“

„Sie haben unsere Tür zerschlagen! Mama ist allein dort!“

Agared versuchte für einen Moment, das wirre Gestammel seines Neffen zu ordnen und zu begreifen, was Agarin da sagte, dann fragte er: „Sie haben Lius getötet und sind bei euch eingebrochen?“

„Ja, wenn ich es doch sage! Mama hat mich zu dir geschickt, aber du mußt ihr helfen!“

„Ich verstehe“, erwiderte Agared. Er war ein großer Mann von muskulöser Statur, er hatte fast kinnlange dunkle Haare und buschige Brauen über den dunklen, aber freundlichen Augen. Hastig eilte er in seine Wohnstube, in der er seine Waffe aufbewahrte, um mit dieser zurückzukehren und Agarin etwas einzuschärfen. „Ganz gleich, was geschieht, du versteckst dich hier. Ich bin bald zurück!“

Der Junge nickte nur und sah, wie sein Onkel fortlief. Er schloß mit zitternden Fingern die Tür, schaffte es aber nicht mehr bis in die Wohnstube, sondern sank laut schluchzend an der Wand zu Boden, wo er am ganzen Körper bebend sitzenblieb. Tränen nahmen ihm die Sicht. Agarin kauerte sich zusammen, unfähig, an etwas anderes als Lius zu denken. Wegen seiner Visionen war der Weise nun tot! Er verabscheute die schrecklichen Träume wieder so sehr. An diesem Tag hatte er sich doch noch so gefreut, mal etwas so Spannendes wie Drachen im Traum gesehen zu haben, doch war das ein Grund für Drognan, ihn töten zu lassen? Agarin war zwar jung, aber nicht dumm; ihm war klar, daß Lius als Mitwisser hatte sterben müssen. Er hatte ihn auf dem Gewissen!

„Nein“, entfuhr es ihm unter heißen Tränen. Was sollte ohne Lius werden? Wie sollten sie jetzt leben? Drognan würde sie nicht in Frieden lassen. Würden sie aus Elinas fliehen müssen?

Er starrte auf das Schwert seines ihm unbekannten Vaters, bis es erneut hinter seinen Tränen verschwamm. Dies war das erste Mal in seinem Leben, daß Agarin unbändigen Haß in sich aufkeimen spürte. Seine kindliche Unbefangenheit war mit einem Schlag verloren, keuchend saß er da.

Plötzlich durchzuckte ihn ein entsetzlicher Gedanke. Seine Mutter! Sie war allein mit diesen Kerlen, sie würden von ihr wissen wollen, wo er sich befand, und sie würde es ihnen niemals sagen. Aber sie durften ihr nichts zuleide tun!

Er stand mit wackligen Knien auf und hob das Schwert auf. Die silberne Scheide war mit feinsten Gravuren verziert. Der Griff wurde am Ende von einer goldüberzogenen Kugel geschmückt, die Klinge war perfekt ausbalanciert, filigran geschmiedet und äußerst scharf. Wenigstens sie war ihm geblieben.

Es war still, nur er war dort, er und seine Sorgen. Die Leichtigkeit des vorigen Tages war der alten Angst gewichen, die er seit dem ersten Traum gehabt hatte. Im Schlaf kamen diese Visionen und quälten ihn. Wie oft hatte er sich dagegen wehren wollen!

Lius hatte ihm so vieles überhaupt nicht gesagt, wenngleich er ihm mit vielem auch geholfen hatte. Wer sollte das jetzt tun? Prophezeit hatte er ihm, daß er schneller erwachsen werden müßte, als er sich wünschte. Nun wußte Agarin, daß sein Freund Recht behalten sollte. Tiefer Zorn blitzte in seinen Augen. Drognan hatte ihm den Krieg erklärt und er schwor sich, er würde alles daran setzen, eines Tages in der Lage zu sein, sich dafür zu rächen! Er umfaßte den riesigen Zweihänder mit seinen schmalen Jungenhänden und atmete tief durch. Das fühlte sich gut an! Eines Tages würde er damit umzugehen wissen. Er mußte wohl tun, was ihm bestimmt war, auch wenn er sich davor fürchtete. Auf einmal öffnete sich die Haustür.

„Onkel!“ entfuhr es dem atemlosen Agarin. Er suchte mit großen Augen nach seiner Mutter, die er nicht fand, im nächsten Augenblick wurde er jedoch des hängenden Kopfes seines Onkels gewahr. Stumm stand dieser im Hausflur, bevor er überraschend in die Knie ging und den Kopf schwach hob. Schluchzend griff er nach Agarins Hand, um ihn unter Tränen anzusehen. Im nächsten Moment schlug er die Hände vors Gesicht, weinend und verzweifelt.

Agarin spürte, wie ihm fast schwarz vor Augen wurde. Was das bedeutete, wußte er sofort, sein Onkel mußte nichts sagen. Agared zog die Hände vom Gesicht weg. Entsetzt bemerkte der Junge das Blut an den Händen seines Onkels - und an seiner eigenen, die in Agareds lag.

Er stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus. Jedes Gefühl in ihm starb, da waren nur noch Tränen, Verzweiflung, Trauer und Wut.

„Mama“, schluchzte Agarin und stützte den Kopf erst auf seine blutverschmierte Faust, doch dann grub er, ohne es zu spüren, seine Zähne in die Hand, ohne jedes Empfinden von Schmerz, bis sich sein Blut mit dem seiner Mutter vermischte.

Als er den Blick hob, war Agared verschwunden. Wie sein Onkel aufgestanden war, hatte Agarin nicht bemerkt. Nun hörte er ihn rumoren, blieb selbst jedoch sitzen. Er konnte sich nicht bewegen.

Wie lang er allein am Boden gehockt hatte, vermochte Agarin nicht zu sagen. Er spürte auf einmal, wie Agared ihn hochzog, ihm wie sich selbst eine Tasche umhängte, bevor er ihm das Schwert in die Hand drückte und ihn unnachgiebig aus der Tür zog. Sie blieb hinter ihnen offen.

„Onkel“, flüsterte Agarin mit erstickter Stimme. „Was sollen wir jetzt tun?“

„Wir müssen Elinas verlassen. Wenn wir bleiben, sterben wir.“ Agared starrte stur geradeaus, während er antwortete. Er umklammerte die Hand seines Neffen so fest, daß es diesen schmerzte.

„Aber der Weltenwald hat doch die Pforte versperrt!“ murmelte Agarin.

„Es gibt noch einen anderen Weg nach Rimonas. Dort wird Drognan uns nicht finden.“

„Du kommst mit mir?“ In Agarins Stimme lag zitternde Angst.

Agared nickte. „Ja. Ab jetzt werde ich für dich sorgen.“

Damit verschwanden die beiden in der nächtlichen Dunkelheit.

1. Kapitel: Ungewisse Zukunft

Mit einem lauten, scheppernden, fast schmetternden Geräusch krachten die Klingen aneinander und lösten sich kreischend wieder voneinander. Ungläubig starrte er sie an, sagte aber nichts, weil er einen Verdacht hatte, was der Grund für ihre Kraft war. Erneut setzte sie zum Schlag an, so daß ihm nichts anderes übrig blieb, als hilflos zu parieren und überrascht nach Luft zu schnappen. Sie keuchte laut und angestrengt und als sie ihr nicht gerade leichtes, fast zweihändergroßes Schwert erneut hob, um auf ihn einzuschlagen, entfuhr ihr ein wutentbrannter Schrei. Sie ließ ihrem Zorn freien Lauf, indem sie ihre Klinge ein weiteres Mal auf Valos niedersausen ließ. Dies tat sie mit einer solchen Gewalt, daß sein eigentlich fester Griff sein Schwert nicht mehr halten konnte, und er schaute kopfschüttelnd hinterher, als die Waffe klappernd ins harte, dunkelgrüne Gras fiel.

„Gut, du hast gewonnen“, murmelte er und fuhr sich flüchtig mit seiner sehnigen Hand durch die auf Ohrlänge gestutzten, dichten dunkelblonden Haare, ohne sie anzusehen. Wenn man seine langen, schmalen Finger sah, hätte man nicht glauben mögen, welche Kraft in ihnen steckte - und noch überraschender schien es, daß sie diese Kraft noch übertroffen hatte.

„Das habe ich jetzt wirklich gebraucht!“ erwiderte sie und atmete noch immer stoßweise. Ihr stand der Schweiß in Perlen auf der Stirn. Ihr Vetter war kein leichter Gegner, aber ihre Rage war fast noch größer gewesen als sein Geschick.

Valo hob wieder den Blick und sah Kayla kurz an. In ihren Augen brannte frischer Zorn wie ein Feuer. Gelöst ließ er sich auf den Boden fallen, winkelte die Beine an und legte die Arme über die Knie. Seine dunklen, vertrauenswürdigen Augen mußte er zusammenkneifen, um gegen das helle Sonnenlicht in die Augen seiner Kusine blicken zu können.

„Was hat er diesmal gesagt?“ fragte Valo, und erst reagierte Kayla nicht auf den fast beruhigend anmutenden Klang seiner tiefen Stimme.

„Dasselbe wie gestern und vorgestern auch“, erwiderte sie kurz und wandte sich halb ab. Ihr Blick verlor sich in der Ferne. Er ging über die Dächer der kleinen Bauernhäuser hinweg, die zum größten Teil mit verwittertem Stroh gedeckt waren. Nur, wer es sich wirklich leisten konnte, hatte sein lehmgelbes Fachwerkhaus mit rotgebrannten Ziegeln versehen. Aber an der Siedlung hielt sie sich nicht weiter auf, sie schaute tief seufzend zum Ekanur, dem fast himmelhohen und auch im Sommer weiß bespitzten Schneegebirge, das für viele Menschen aus Peronas das Ende der Welt markierte.

Nur vereinzelte Wolkenfetzen hingen über den Gipfeln an diesem lauen Frühlingstag fest. Zwei Wochen zuvor war auch das letzte Eis abgetaut. Frisches Grün sproß inzwischen überall und erste bunte Blüten durchbrachen das Einerlei der Landschaft, die nahe des ruhig dahinfließenden Peruil sehr eben war. An eben diesem Fluß lag die Stadt Galor, in der Kayla geboren war. Sie lebte nun am Rande der Stadt, mitten im Land des Friedens, wie man Peronas auch nannte, aber das war es ihrer Meinung nach überhaupt nicht. Der Weltenwald wucherte am südlichen Ausläufer des Ekanur vorbei bis in das Land hinein, und er war es, der dem Land immer wieder Übel bescherte. Doch scheinbar kümmerte das nur wenige Leute, denn jeder war vorwiegend mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt und wagte es gar nicht erst, sich in die Nähe des Waldes oder des Gebirges zu begeben.

Kayla tat es Valo nun gleich und setzte sich ins Gras. Sie legte ihr Schwert, das ihren ganzen Stolz markierte, neben sich ab und nahm im Sitzen die gleiche Haltung ein wie ihr Vetter.

„Was genau von den hundert Dingen hat er gesagt?“ fragte Valo nach einem Moment des Schweigens. „Daß du ihm zu stur bist? Daß du ihm auf der Tasche liegst und endlich heiraten sollst? Oder daß du...“

„Alles davon“, schnitt sie ihm das Wort ab, ohne ihn anzusehen. Verständnisvoll sah Valo sie an. Ihr samtbraunes Haar hing ihr in einigen glänzenden Strähnen ins Gesicht hinein. Sie hatte sehr lange, wunderschöne glatte Haare.

Er schaute an ihren Haaren vorbei in ihre düster starrenden grünen Augen, die er sonst so voller Freude kannte. Aber diese Freude hatte er seit längerem nicht mehr gesehen.

Er mochte sie sehr. Sie war wie eine Schwester für ihn und es fiel ihm leicht, an ihren fast kantigen Gesichtszügen ihre bedrückte Stimmung abzulesen. Kayla hatte ein ebenmäßiges und hübsches, aber stellenweise sehr markantes Gesicht, das so eigenwillig schien wie sie selbst. Und sie war ihm eine meist ebenbürtige, äußerst geschickte Schwertkämpferin, die er selbst geschult hatte. Dabei behilflich war ihr natürlich auch die Tatsache, daß sie für eine junge Frau sehr hochgewachsen und von kräftiger, aber schlanker Statur war.

Valo war zwei Jahre älter als sie, die mit neunzehn Jahren bereits vor einer ganzen Weile das Erwachsenenalter erreicht hatte. Das führte in der Familie immer wieder zu Konfrontationen. Valos Vater, ihr Onkel Andros, tat sich nicht leicht mit dem Mädchen. Er als starrköpfiges Familienoberhaupt sah es nicht ein, sich von ihr etwas sagen zu lassen, und sie wiederum ließ es sich nicht gefallen, daß er, wie sie sagte, leichtfertig über ihre Zukunft bestimmen wollte.

Ihr halbes Leben hatte sie in Valos Familie verbracht, gemeinsam mit seinem Bruder Kerrik und seiner Schwester Thyra. Sie hatte auch eine Schwester gehabt, Kiana. Die beiden Mädchen waren als Kinder zur ihrer Tante und deren Familie gekommen, als die Eltern nahe den Bergen einen grausamen Tod bei einem Überfall durch die Gesandten des Bösen, die furchtbaren Zirags, gefunden hatten. Die Schwester von Kaylas Mutter hatte es als ihre Pflicht angesehen, ihre Nichten großzuziehen, aber ihr Mann Andros hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er auf die Anwesenheit der beiden Mädchen keinen großen Wert legte. Sie waren nicht seine eigenen Kinder und damit unwillkommene zusätzliche Esser, die ihm mehr wert gewesen wären, wären sie Burschen gewesen. Besonders mit Kayla hatte er immer Schwierigkeiten gehabt, da sie ihn nicht respektieren wollte. Außerdem war sie ihm für ein Mädchen zu wißbegierig. Valo fand es entsetzlich, wie sein Vater zu Kayla war, aber er hielt sich meist aus der Angelegenheit heraus. Er wußte, daß Kayla überhaupt nicht daran dachte, zu heiraten, schon gar nicht einen von den jungen Männern, die ihr Onkel ins Auge gefaßt hatte. Er verstand sie gut, denn der besonnene junge Bursche hatte nicht dasselbe Bild von Frauen wie sein Vater.

„Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, Valo“, sagte Kayla plötzlich und ihre Blicke trafen sich. Er verzog ratlos die Lippen.

„Ich weiß es auch nicht“, sagte er. „Aber du wirst ihm niemals begreiflich machen können, daß er sich falsch verhält. Entweder mußt du tun, was er sagt, oder seinen Jähzorn ertragen, bis du einen Weg gefunden hast.“

Auch er hatte noch die Worte seines Vaters, die er Kayla mit wachsender Begeisterung bei jeder Gelegenheit entgegenwarf, noch im Ohr. „Wenn du schon nichts zu unserem Verdienst beitragen kannst, such dir endlich einen Mann, dem du auf der Tasche liegen kannst! Du bist keines meiner Kinder und ich habe es langsam satt, dich mit durchfüttern zu müssen. Aber du wirst nie einen Mann finden, wenn du weiterhin soviele Flausen im Kopf hast und meine Söhne mit dem Kämpfen von der Arbeit abhältst!“

Mit den Flausen meinte Andros die Tatsache, daß Kayla lesen konnte und sich somit vieles durch Bücher selbst angelesen hatte. Andros war der Meinung, das ziemte sich nicht für eine gehorsame Frau und er hielt ihr immer seine Tochter als Gegenbeispiel vor, die untertänig und strebsam war. Manchmal zog er sogar Kiana zum Vergleich heran, und damit brachte er Kayla dann vollends zur Weißglut.

„Ich habe nie behauptet, ich würde Wert darauf legen, unter deinem Dach zu leben, doch leider wollte das Schicksal es so! Aber du bist nicht derjenige, der über mein Schicksal und meine Zukunft zu bestimmen hat!“ hielt Kayla ihrem Onkel meistens entgegen. Sie war eben anders, sie war eng mit ihren Vettern verbunden aufgewachsen, die den Wissensdurst des Mädchens gestillt hatten. Auch im Schwertkampf und Bogenschießen hatten sie ihre Kusine gelehrt, um ihr die Angst vor den Zirags zu nehmen, denn sie wollte sich selbst verteidigen können. Und sie war gut.

Sie warf Valo einen dankbaren Blick zu. Er war ihr sehr ans Herz gewachsen, weil er ein intelligenter, junger Mann war, der manchmal schon zu ernst und besorgt um seine Familie war. Natürlich mochte sie Kerrik ebenso gern, auch wenn sie ihn manchmal für einen Raufbold hielt, aber er hatte ein gutes Herz. Nur mit ihrer jüngeren Kusine hatte sie sich nie so gut verstanden, da Thyra ein ganz anderes Wesen hatte. Sie konnte nichts gegen Thyras Fleiß sagen, aber ebenso wie ihre Mutter Beret stellte sie sich niemals gegen Andros, sondern tat immer kommentarlos, was er sagte. Er kommandierte seine Söhne nicht so herum, denn auf sie hielt er große Stücke, aber er liebte sie auch mehr als seine Tochter. Diese behütete er nur wie einen Schatz, dem niemand zu nahe kommen durfte, und beobachtete er mit großem Argwohn, daß so manch junger Mann auf sie ein Auge geworfen hatte.

„Du denkst nicht wieder daran, fortzugehen, oder?“ fragte Valo plötzlich in die nachdenkliche Stille hinein. Eine kleine weiße Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und warf nun einen Schatten auf die weitläufige ebene Wiese zwischen den Feldern.

„Doch“, sagte Kayla leise, „ich würde wirklich gern fortgehen. Vielleicht nach Kramalon, vielleicht sind die Menschen in der Hauptstadt nicht so... engstirnig!“

Valo zuckte unschlüssig mit den Schultern. Ihre versteckte Rebellion konnte er nicht immer verstehen.

„Oder am Galonil vorbei bis zum Dreistromland nach Forlongas...“ murmelte Kayla weiterhin. Sie träumte davon, den Ekanur einmal hinter sich zu lassen, der Peronas fast völlig von allen anderen Ländern in Maronna isolierte. In Kayla war eine tiefe Unruhe.

„Du weißt doch nicht, ob es dort besser ist“, warf Valo vorsichtig ein. Kayla warf ihm einen unwirschen Blick zu.

„Ist es denn hier gut? Ich habe hier alles verloren, was mir jemals etwas bedeutet hat. Meine Eltern wurden getötet und meine Schwester... schlimmer kann es woanders auch nicht sein, oder?“ entgegnete sie fast barsch.

Valo verzog wiederum nur das Gesicht, ohne eine Antwort zu geben. Da hatte Kayla leider Recht. Kiana war nun seit mehr als fünf Jahren tot, aber Kayla vermißte ihre Schwester noch immer, als wäre sie erst seit einen Tag nicht mehr bei ihnen. Sie war ein unglaublich hübsches, zierliches Mädchen mit langen Locken gewesen, das zwar auch intelligent, aber nicht ganz so stur wie Kayla gewesen war. Sie alle hatten einen Fehler gemacht, als sie geglaubt hatte, die zwei Jahre ältere Kiana allein auf ein Fest mitten in Galor gehen lassen zu können. Sie war nie wieder nach Hause gekommen. Angeheitert hatte sie nicht bemerkt, wie ihr jemand gefolgt war, und als sie in der stillen Gegend am Rand der Stadt dem Haus ihres Onkels schon ganz nahe gewesen war, hatte der Kerl sie überfallen, in die Felder verschleppt und geschändet, um sie danach zu erwürgen und einfach davonzulaufen.

Dabei war diese Tat nicht einmal unbeobachtet geblieben. Ein Heimatloser hatte den Mörder beobachtet und sofort dem Stadtvorsteher davon berichtet - unwissend, daß der Mörder dessen Neffe war. Der Stadtvorsteher hatte Sorge dafür getragen, daß niemand dem Zeugen Glauben schenkte, obwohl Andros alles versuchte, um das Verbrechen an seiner Nichte aufzuklären. Sie hatten Kiana am Morgen schlimm zugerichtet auf einem Feld der Nachbarn gefunden und die Sechzehnjährige ungerächt zu Grabe tragen müssen.

Kayla hatte wochenlang mit niemandem gesprochen und einen unbändigen Haß auf alle Männer entwickelt, die sie nicht kannte. Sie war eines Tages dem Mörder ihrer Schwester begegnet und mit gezücktem Dolch auf ihn losgegangen, hatte ihn aber nur leicht verletzt, bevor man sie von ihm weggerissen und sie nach Hause geschickt hatte.

Auch in diesem Moment standen ihr wieder Tränen in den Augen. Kiana hatte sie immer beschützt, war wie die beiden Jungs immer gut zu ihr gewesen; sie war die einzige gewesen, die Kayla noch gehabt hatte.

„Glaubst du vielleicht, es nützt irgendjemandem, wenn du fortgehst?“ fragte Valo. Kayla zuckte mit den Schultern.

„Nützt es jemandem, wenn ich bleibe?“

„Mir nützt das“, erwiderte er, „ich würde dich nämlich sehr vermissen!“

Dabei zwinkerte er ihr fast schelmisch zu und sie mußte widerwillig lachen.

„Du bist unmöglich!“ sagte sie.

Valo grinste. „Aber erzähl mir doch nichts, es muß hier in Galor doch einen hübschen Burschen geben, der dich interessiert! Was ist denn so schlimm daran, zu heiraten?“

„Das mußt du gerade fragen!“ rief Kayla lachend. „Du schleichst Adina lieber bis ans Ende deiner Tage stumm nach, als um sie anzuhalten, oder habe ich da etwa Unrecht?“

„Wir können das gerne wieder mit den Schwertern besprechen!“ antwortete Valo spöttisch. Die beiden liebten ihre Schaukämpfe.

„Nein... aber mal im Ernst - ich will hier überhaupt nicht bleiben und schon gar nicht einen von den Kerlen hier heiraten!“

Er nickte ergeben. „Ja... leider! Aber ich werde dich nicht begleiten, und allein als Frau kommst du hier nicht besonders weit.“

„Ist Peronas die Welt? Hinter dem Ekanur liegen Forlongas und Rimonas, und ich würde zu gerne wissen, ob Elinas nur ein Hirngespinst alter Männer ist oder...“

„Und es gibt auch Borun, wo so viele Zirags sind, daß selbst du nicht dagegen ankommst“, hielt Valo dagegen. Kayla sah ihn mürrisch an.

„Du auch nicht“, erwiderte sie, was Valo laut lachen ließ. Daraufhin mußte auch sie lächeln.

„Nein, ich auch nicht“, sagte er, „und wahrscheinlich auch sonst niemand. Aber nur, weil mein Vater ungerecht zu dir ist, mußt du doch nicht gleich deine ganze Familie verlassen! Er kann dich nicht gegen deinen Willen verheiraten...“

„Aber er kann mich vor die Tür setzen, und von was soll ich dann leben? Ich bin kein Kunstschmied, so wie du! Wir Mädchen lernen doch nichts!“

„Doch, ihr lernt kochen... bis auf dich vielleicht...“

Er mußte kichern, und Kayla stand empört auf und warf sich seitlich gegen ihn.

„Fang du auch noch an!“ rief sie lachend. Die beiden wälzten sich im Gras herum und blieben schließlich rücklings nebeneinander liegen, um entspannt den kleinen weißen Wölkchen hinterherzuschauen.

„Aber ich glaube“, sagte Valo, „daß du es schaffen könntest, wenn du wirklich fortgehen würdest. Ganz bestimmt.“ Die beiden sahen einander stumm an. In Kaylas Blick sah Valo, was ihr diese Worte bedeuteten, und sie verstand, daß er sie zwar nicht verlieren wollte, aber sie gehen lassen würde, wenn sie gehen wollte.

Die beiden hatten sich schließlich auf den Rückweg gemacht. Sie hatten ihren Übungskampf auf einer Wiese zwischen den Feldern, die den Bauern am Stadtrand gehörten, ausgetragen und trotteten nun gemeinsam die kleine Gasse entlang, die zu dem Haus führte, in dem sie lebten. Die kleinen Häuser standen dicht nebeneinander. Manche waren eher weiß, andere hatten eine gelbliche bis rote Fassade. Unter ihren Füßen wurde mit jedem Schritt brauner, feiner Staub aufgewirbelt. Kayla trug beinahe dieselbe Kleidung wie ihr Vetter, ein kariertes, aus grobem Leinen gefertigtes Hemd und eine dunkle wildlederne Hose, außerdem ähnliche, wenn auch nicht gar so große Stiefel wie Valo. Das tat sie oft, denn sie fühlte sich in Röcken und Kleidern nicht besonders wohl und war bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Hemd und Hose anzutreffen. Über dieser Tatsache war an diesem Nachmittag auch der neuerliche Streit mit Andros entbrannt. Kayla hatte zwar gerade damit begonnen, Gemüse für das Abendessen zu säubern und zu zerkleinern, aber sie war Andros in Männerkleidung unter die Augen getreten und hatte damit wieder einmal seinen Unmut erregt.

Es war nicht besonders viel los auf den Straßen. Viele Menschen waren auf den Feldern mit der Aussaat beschäftigt, die kleinen Kinder drückten sich mit ihrem Spielzeug in den Ecken herum und quiekten vergnügt, einmal kreuzte ein Hühnerzüchter mit seinem schwer beladenen Karren ihren Weg. Federn stieben zu allen Seiten aus den hölzernen Käfigen fort und ein heilloses Gegacker hallte zwischen allen Wänden wider. Die Fenster und Türen der Häuser waren klein und niedrig. Die wenigsten Fassaden waren äußerlich mit Blumen oder anderem Zierat geschmückt, nur die hölzernen Schilder über den Schmieden, Bäckereien oder anderen Handwerksbetrieben fielen näher ins Auge. Erst ein ganzes Stück weiter war die Straße schließlich grob gepflastert und bei Regenwetter nicht gleich eine völlige Schlammpiste. Doch in Galor herrschte meist gutes Wetter, wenn es nicht gerade Winter war.

Die Gasse schlängelte sich zwischen den Häusern hindurch und irgendwann, kurz vor Erreichen des Marktplatzes ihres Viertels, blieben sie vor einem kleinen ziegelgedeckten Haus stehen, dessen Tür immer blankgescheuert war und dessen Fenster immer im Licht glänzten. Andros legte Wert darauf, hatte aber in seinem Leben niemals selbst auch nur eine Scheibe gewienert. Er war in diesem Moment in der Stadt und handelte dort mit Saatgut. Beret und Thyra waren mit Kerrik im Haus, als Valo und Kayla es betraten.

Die hölzernen Dielen des Fußbodens knarrten unter ihren Schritten. Zu ihrer Rechten an der Straße lag die Küche. Der Tür gegenüber befand sich der schwere Herd unter dem Kaminschacht, an der Wand gegenüber stand der lange Tisch vor einer Bank und umgeben von einigen Stühlen. Im Sommer war es in der Küche immer kühl, weil die Sonne durch das Fenster nicht hineinschien, aber deshalb war der markant nach Räucherfleisch und Asche riechende Raum auch nur dämmrig beleuchtet.

Beret stand am Küchentisch und knetete mit geschickten Fingern einen Sauerteig. Ihr Haar war besonders an den Schläfen bereits ergraut, aber der lange geflochtene Zopf stand der kleinen, zierlichen Frau gut. Ihre dunklen Augen blickten kurz in die Richtung ihres Sohnes und ihrer Nichte, als diese ihr kurz grüßend zunickten, und sie lächelte leicht. Schweigsam wie sie war, sagte sie jedoch nichts.

Auf der anderen Seite des Flures lag das Arbeitszimmer von Andros, vollgestopft mit Schränken und wirr herumliegendem Papier auf dem mittig stehenden Tisch. Er besaß viele Schriften über Viehzucht und Getreideanbau. Der Raum war nur klein und für beide völlig uninteressant. Auf halbem Wege kam Kerrik den beiden entgegen. Er überragte seinen älteren Bruder noch um einen ganzen Kopf und hatte schulterlange, zu einem Zopf zusammengefaßte dunkle Haare und spitzbübisch leuchtende dunkle Augen.

„Ich gehe mal zum Stall, nach dem Vieh sehen“, erklärte er. Valo nickte, während Kayla stumm blieb.

Sie standen vor dem Zimmer der Mädchen, in dem Thyra vor dem Fenster saß, mit dem Nähen einer Schürze beschäftigt und leise vor sich hin summend. Dahinter und gegenüber von der Tür zu dem kleinen Hinterhof lag das Zimmer der beiden Jungs. Beide Räume waren klein, in ihnen standen nur Hochbetten, zwei kleine Schränke und ein Tisch mit zwei Stühlen. Valo ging in sein Zimmer und legte dort das Schwert zur Seite. Kayla betrat ihr Zimmer und grüßte Thyra freundlich.

„Möchte Mutter noch, daß ich ihr mit dem Abendessen helfe?“ fragte sie zu ihrer Kusine gewandt. Sie nannte Beret meist Mutter, Andros jedoch nie ihren Vater, sondern immer nur Onkel. Thyra blickte kurz von ihrer Arbeit auf. Sie strich ihr langes, lockiges blondes Haar zurück und suchte mit ihren blauen Augen Kaylas Blick.

„Ich denke schon. Sie hat auf dich gewartet.“

Kayla nickte stumm. Sie hatte Beret helfen wollen, bevor sie wutentbrannt mit Valo im Schlepptau das Haus verlassen hatte. Er war ihr gefolgt, als sie mitsamt ihres Schwertes hinausgelaufen war.

Andros hatte bestimmt, daß Kayla endlich anständig zu kochen lernen müßte, und deshalb wurde sie in der Küche seit neuestem oft von ihrer Tante unterwiesen.

Sie ging hinüber zu ihrem Bett und hob die mit Stroh ausgestopfte Matratze an, um ihr Schwert darunter zu verstauen. Danach nahm sie einen langen Rock aus dem Schrank, zog ihn allerdings über die Hose, ohne diese auszuziehen. Anschließend band sie noch eine lange Schürze um und ging in die Küche zurück.

„Du hast das Gemüse noch nicht kleingeschnitten?“ fragte sie Beret, die damit beschäftigt war, eine metallene Form mit dem Teig auszulegen.

„Nein“, sagte ihre Tante, „ich wußte, daß du rechtzeitig zurück bist.“ Damit schenkte sie Kayla ein fast freundschaftliches, verständnisvolles Lächeln. Kayla band mit einer Schleife ihre ellbogenlangen Haare zurück und erwiderte das gütige Lächeln aus dem leicht faltigen Gesicht Berets.

„Mußte nur kurz gegen Valo gewinnen“, erklärte Kayla und kicherte leise. Ihre Tante hob anerkennend eine Augenbraue.

„Er bereut es sicher schon, dich so gut geschult zu haben!“

„Du weißt doch, wie die jungen Männer sind. Haben nur viel Kraft, aber nicht dasselbe Geschick wie wir. So kann man sie gut entwaffnen.“

Kayla ging in den Vorratsraum und holte dort ein Schneidebrett, auf dem schon eine kurze dicke Gurke, ein großer Kohl und kleine radieschenähnliche Knollen lagen. Sie nahm ein Messer und machte sich daran, die Gurke in kleine Stücke zu schneiden. Es sollte eine Gemüsepastete geben. Fleisch war im Augenblick unerschwinglich teuer für die Familie, und die Tiere waren noch nicht dahingehend gemästet, als daß sie ihr eigenes Vieh hätten schlachten können.

„Ihr müßt eine Einigung finden“, sagte Beret leise und fuhr fort, den Teig in die Form zu drücken.

„Er wird nicht nachgeben und ich auch nicht“, erwiderte Kayla kurz mit zusammengepreßten Lippen.

„Was ist denn mit diesem Jungen... Phelam heißt er doch, oder? Er hat Andros gegenüber angedeutet, daß er dich zur Frau nehmen würde.“

„Hat er mich auch schon gefragt, ob ich ihn überhaupt mag?“ fragte Kayla zurück. Sie kannte Phelam, er war eigentlich ein netter, junger Bursche, aber mehr auch nicht. Und er trank für ihren Geschmack zuviel vom Dunkelbier. Er würde den Bauernhof seines kränklichen Vaters übernehmen, weil er der älteste männliche Erbe in der Familie war, und er suchte eine Frau, die tatkräftig war. Deshalb hatte er ein Auge auf Kayla geworfen.

„Ich hatte damals auch keine große Auswahl!“ erwiderte Beret und blickte Kayla direkt an. Diese hörte in ihrer schnellen Gemüseschnippelei auf und hielt dem Blick ihrer Tante ohne Schwierigkeiten stand.

„Ich heirate einen Mann, den ich auch will“, sagte Kayla, „denn ich finde, ich habe ein genauso großes Recht, darüber zu entscheiden! Oder sehe ich das falsch?“

„Nein“, antwortete Beret. „Natürlich hast du Recht, aber wann fragt man uns? Du mußt dich damit abfinden, daß es in der Welt nun einmal anders ist!“

Kayla schüttelte nur den Kopf, ohne noch etwas zu sagen. Sie konnte diese Haltung nicht verstehen - wenn sie sich vorstellte, mit einem Mann Haus und Bett teilen zu müssen, den sie nicht liebte, wurde ihr ganz anders.

„Eher gehe ich fort!“ murmelte sie bitter. Beret stemmte die Fäuste in die Hüften und sah kopfschüttelnd zu ihrer rebellischen Nichte.

„Und wovon willst du leben? Von deinem Schwert? Vom Geschichtenerzählen? Als Frau kannst du dir nicht aussuchen, wo du im Leben stehen wirst!“

Kayla hörte nicht mehr zu. Sie wußte genau, daß Beret eigentlich ihrer Meinung war, aber sie würde es niemals wagen, das zu sagen und Kayla zu einem selbstbestimmten Leben zu verhelfen.

Sie fuhr fort, in schnellen Bewegungen die Gurke kleinzuhacken und machte dann mit dem Kohl weiter.

Sie hätte unbedingt etwas lernen müssen. Ein wenig töpfern und schneidern konnte sie, das aber mehr schlecht als recht, und vom Bestellen eines Feldes wußte sie überhaupt nichts. Dann schon eher etwas über das Vieh. Sie kannte sich nur in der Geschichte aus und hatte Sagen gelesen, hatte sich dafür interessiert, was hinter dem Ekanur lag, denn sie war nicht wie viele andere bereit, zu glauben, daß die Welt dort aufhörte. Über das Dreistromland hinweg wurde zumindest bis nach Gelanon, der Hauptstadt von Forlongas, Handel betrieben.

Als sie an Gelanon dachte, schoß ihr eine Erinnerung durch den Kopf. Beret hatte einmal davon erzählt, daß auch Kaylas Vater noch Angehörige hatte. In Gelanon, hatte sie berichtet, lebte wohl ein jüngerer Bruder ihres Vaters, der regen Handel mit Fellen betrieben und sich eines Tages dazu entschlossen hatte, in Gelanon zu bleiben. Der Kontakt war völlig abgebrochen. Kayla wußte nur, daß er Arid hieß. Er war manchmal in stillen Momenten ihr Vorbild, wenn das Fernweh sie packte. Sie konnte und wollte nicht in einer Welt leben, in der man Frauen als geringer ansah als Männer, denn sie begriff nicht, warum man das tat. Umgekehrt dachte sie auch nicht schlechter über Männer.

Sie wußte wirklich nicht, was sie machen wollte. Aber sie hatte das Gefühl, daß die Entscheidung bald getroffen würde, und zwar nicht von ihrem Onkel. Allerdings kam dieser gerade zur Haustür herein und baute sich mit einem tiefen Stoßseufzer in der Küchentür auf. Zufrieden grinsend musterte er Kayla, deren Auftreten ihm nun schon wesentlich besser gefiel.

„Ich habe ein gutes Geschäft gemacht“, verkündete er mit seiner heiseren Stimme, doch nur Beret reagierte darauf mit einem flüchtigen Lächeln. Kayla würdigte ihren Onkel keines Blickes.

„Ich habe einen großen Teil der Gerstensamen gegen Hafer eingetauscht und noch etwas dazuverdient“, berichtete Andros und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er hatte recht kurzes, angegrautes Haar und war nicht besonders groß, aber als Bauer sehr kräftig.

„Aber ist Gerste nicht widerstandsfähiger?“ fragte Beret vorsichtig. Andros verzog unwirsch das Gesicht.

„Weib, ich denke, das Geschäftemachen überläßt du besser mir. Ich kenne mich damit aus!“

Kayla spähte in Andros‘ Richtung und hatte schon etwas auf der Zunge liegen, sagte aber lieber nichts. Eigentlich war sie ganz froh, daß er zu ihr noch nichts gesagt hatte.

„Ratet, wen ich außerdem auf dem Markt getroffen habe“, sagte Andros dann. Beret zuckte mit den Schultern, während Kayla ihn mit Nichtachtung strafte.

„Phelam war dort! Wir hatten doch vorhin von ihm gesprochen, Kayla...“

„Glaubst du, ich ändere meine Meinung innerhalb von zwei Stunden?“ fragte sie und hackte noch die Knollen zuende, dann legte sie das Messer beiseite und starrte ihren Onkel stirnrunzelnd an.

„Glaubst du, ich werde dich bis an dein Lebensende um deine Meinung fragen? So geht das nicht, junge Dame!“ Sofort begann Andros wieder zu brüllen. Kayla ließ sich davon nicht beeindrucken und verschränkte ebenso die Arme vor der Brust, während sie sich an den Tisch lehnte.

„Wirf mich raus, wenn du willst“, sagte sie.

„Nein, das will ich nicht!“ tobte Andros grollend. „Du würdest eine angesehene Frau werden, wenn du nur einwilligen würdest, ihn zu heiraten! Er legt noch nicht einmal Wert auf eine Aussteuer, er ist zufrieden, wenn er eine Frau bekommt! Wir könnten mit seinem Hof zusammenarbeiten und noch dazuverdienen...“

„Verkauf mich doch gleich auf dem Markt!“ warf Kayla ihrem Onkel mit vor Wut blitzenden Augen an den Kopf. Und weil sie genau wußte, was auf diese Provokation folgen würde, sprang sie schon zur Seite und zog den Kopf ein, bevor Andros überhaupt zur Ohrfeige ausgeholt hatte, und baute sich finster starrend neben ihrer Tante auf.

„Das ist unerhört!“ brüllte Andros. Hinter ihm im Flur stand mit einem Male Valo, der sichtlich zu überlegen schien, ob er etwas sagen wollte.

„Muß ich mich vor deinem Trotzkopf auf die Knie werfen, damit du das tust, was am besten für dich ist? Deine Eltern würden sich im Grabe herumdrehen, wenn sie dich sehen würden!“

„Meine Eltern haben nicht einmal ein Grab!“ schrie Kayla zurück. Andros schnappte laut nach Luft, während Valo grinsend hinter ihm stand und sich das Lachen verkneifen mußte. Er liebte die Streitigkeiten zwischen seinem Vater und Kayla, weil sie ihn immer auf eine bestechende Art entlarvte und meistens auch Recht hatte.

Natürlich war es so, als würde Andros sie verkaufen wollen. Und wenn Valo sich vorstellte, daß man das mit ihm vorhätte, fühlte er sich ebenfalls seltsam. Dieser Gedanke widerstrebte ihm sehr und er konnte Kaylas Wut durchaus verstehen.

„Besser wäre es, sie wären nie gestorben, dann müßte ich mich jetzt nicht mit dir herumärgern!“ schnaubte Andros. Kayla zuckte mit den Schultern.

„Wäre mir auch lieber“, sagte sie schnippisch. Andros erwiderte vorerst nichts. Valo drückte sich ein wenig in den Schatten. Er wußte genau, der Zorn seines Vaters würde ihn kaum verschonen, wenn dieser sah, daß er die ganze Zeit feixend gelauscht hatte.

„Kayla“, sagte Andros mit einem drohenden Unterton. „Du entscheidest dich bis zum Ende dieser Woche, das sind noch fünf Tage. Entweder wirst du einwilligen, Phelam zu heiraten oder du findest einen ähnlich guten Mann, der dich nimmt, und wenn das alles nichts wird, setze ich dich vor die Tür!“

Kayla zeigte sich ungerührt, doch Beret hielt die Luft an.

„Das kannst du doch nicht machen!“ ging sie dazwischen. „Das ist eine wichtige Entscheidung über die Zukunft deiner Nichte, und...“

„Nichts und! Du hast dich damals noch schneller entscheiden können, also stell dich nicht so an!“

„Schön“, sagte nun Kayla, „du machst mir keine Angst. Nicht, daß du das glaubst! Und ich werde garantiert nichts tun, was dir noch Gewinn bringen würde!“

Sie hielt Andros‘ giftigem Blick stand. Dieser wandte sich wutschnaubend ab und stapfte in sein Arbeitszimmer. Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloß und irgendetwas rappelte im Arbeitszimmer, dann wurde alles ruhig. Valo kam in die Küche und sah, wie Beret sich mit Tränen in den Augen schwer auf den Tisch lehnte.

„Das geht so nicht weiter“, sagte sie mit erstickter Stimme. Valo verzog das Gesicht, aber Kayla stand schwer atmend ihm gegenüber und schüttelte langsam den Kopf.

„Natürlich geht das so nicht weiter“, sagte auch sie dann. „Das wird auch so nicht weitergehen. Bis zum Ende der Woche werde ich eine Lösung finden, aber das wird nicht seine sein!“ Ihre Wangen waren feuerrot.

Valo zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Wenn du Phelam heiratest, wird es seine sein...“

„Wer sagt, daß ich das tue? Ich werde jetzt niemanden heiraten! Ich verlasse eher das Land, als...“

„Kayla!“ rief Beret entrüstet. Tränen glitzerten noch immer in ihren Augen. „Das kannst du nicht tun! Du wirst daran zugrundegehen!“

„Gar nichts werde ich!“ sagte Kayla ruhig. „Aber er zwingt mich zu nichts!“ Damit biß sie sich auf die Lippen und verließ die Küche, um ins Jungenzimmer zu gehen und sich schwer auf Kerriks Bett fallen zu lassen. Valo folgte ihr langsam.

„Also gehst du?“ fragte er, nachdem er die Tür geschlossen und sich dagegen gelehnt hatte.

„Was soll ich denn sonst machen? Valo, ich habe Angst vor den meisten Männern! Ich sehe vielleicht nicht danach aus, aber denk doch einmal nach! Eine Heirat führt nicht nur zu einer gemeinsamen Haushaltsgemeinschaft. Man hat auch noch andere eheliche Pflichten, und wenn ich mit einem Mann, den ich nicht liebe, diese Nähe teilen muß, ist das nichts anderes als mit Kiana... außer daß ich nicht ermordet werde.“ Sie starrte zu Boden, als gäbe es dort etwas ungemein Spannendes zu entdecken. Valo seufzte. Er konnte sie verstehen. Sie würde eher als Bettlerin in der Gosse enden, bevor sie sich dafür hergab, aber das konnte auch kein Weg sein.

„Könntest du denn, wenn du einen guten Mann findest, damit nicht leben?“ hakte er nach.

„Doch... vielleicht“, gab Kayla zu. „Aber dann sträubt sich alles andere in mir, denn ich will hier nicht als Bauernfrau enden! Verstehst du? Die Welt ist größer als das...“

„Aber ist für dich ein Platz in dieser Welt?“

Kayla zuckte mit den Schultern. „Manchmal träume ich nachts von Gelanon, von der Steppe in Rimonas, von Elinas... ich habe es nie gesehen und doch...“

„Elinas existiert nicht mehr“, erwiderte Valo. „Es ist eine angestaubte Erinnerung von Greisen.“

Kayla schüttelte den Kopf. „Die Welt ist einfach mehr als das. Und ich will sie sehen. Da draußen wartet irgendetwas auf mich!“

„Aber ist das, was hier wartet, wirklich soviel schlechter?“ fragte Valo. Kayla nickte, aber erst nach einer Pause.

„Ich kann es einfach nicht. Und was lasse ich zurück? Wen habe ich außer euch? Ich habe keine Freunde...“

Valo schwieg. Er würde sie nicht aufhalten können, aber es betrübte ihn sehr, zu hören, daß ihr Entschluß sich festigte, zu gehen.

„Aber hinter dem Ekanur gibt es auch Böses. Denk an Borun, denk an die Zirags...“ murmelte Valo irgendwann.

„Ich kann kämpfen. Du hast es mir gezeigt, und zu verlieren habe ich auch nichts.“

„Aber überleg es dir bitte gut“, flehte Valo. „Nicht jeder Mann will dir Böses... Phelam wäre gut zu dir...“

Aber ich nicht gut zu ihm, dachte Kayla, und stand damit von Kerriks Bett auf.

„Mal sehen“, sagte sie und verließ das Zimmer.

Kayla zog gedankenversunken den Wagen hinter sich her. Der kleine Lastkarren war beladen mit Milchkannen, die sie zum Markt bringen und dort verkaufen sollte. Besondere Freude hatte sie daran nicht, aber sie wollte Andros ruhig halten, weil sie nun schon seit zwei Tagen über die von ihm gestellten Bedingungen nachdachte.

Am nächsten Morgen war ihr der Gedanke an die Ferne mit einem Male so befremdlich erschienen und sie hatte darüber nachgedacht, wie sie einen Weg finden konnte, sich mehr Zeit zum Nachdenken über eine Lösung zu verschaffen.

Eigentlich träumte sie von der Weite, anderen Ländern, anderem Gedankengut als in Peronas. Diese Welt erschien ihr so beengt. Aber auf der anderen Seite hatte sie niemals wirklich gekämpft, sondern nur gegen Valo, Kerrik und andere junge Burschen, und immer zum Spaß. Und sie würde die vermissen, die sie liebte und die sie auch liebten - sie würde alles verlassen, was sie jemals gekannt hatte, schon zum zweiten Mal in ihrem Leben. Und sie erinnerte sich nur ungern daran, wie sehr es beim ersten Mal geschmerzt hatte.

Jetzt, wo es darauf ankam, wagte sie es nicht wirklich. Sie würde alles davon abhängig machen, wie Phelam zu ihr stand, und sie wußte, daß sie ihn nun auf dem Markt treffen würde. Sie verließ die kleine Gasse und begab sich in das bunte Treiben zwischen anderen Karren, kleinen Buden und Planwagen Hühnergeschrei und Gewieher mischten sich unter die Stimmen, Kindergejohle und das Rufen ungeduldiger Eltern kamen dazu, und über allem hing der Geruch von frischen Früchten, gebeiztem Holz, heißem Metall und Tierdünsten. Tischler, Schmiede, Töpfer, Schneider, Bäcker und Bauern boten ihre Waren feil, um Tiere wurde gefeilscht, bunte Stoffe wechselten den Besitzer. Etwas abseits hatte Phelam mit seinem jüngeren Bruder den Verkaufsstand aufgebaut und bot dort Eier, Käse und Fleisch an.

„Ich grüße dich!“ sagte sie freundlich mit einem Lächeln zu Phelam gewandt, der sie schon hatte kommen sehen und nun mit einem hocherfreuten, offenen Blick zu ihr schaute und ihren Gruß unverzüglich erwiderte.

„Wie geht es der Familie?“ fragte er. Kayla zuckte unbestimmt mit den Schultern. An diesem Tag hatte sie sich dazu durchringen können, einen blauen Leinenrock anzuziehen und sie fühlte sich unwohl darin. Aber ihr entging nicht, wie Phelam sie darin wohlwollend musterte. Er war ein großer, schlanker junger Mann, kaum älter als sie, mit dunklen langen Locken und einem freundlichen, fast weichen Gesicht. Er hatte rauhe Hände, die allerdings sehr fürsorglich und geschickt schienen.

„Können nicht klagen“, sagte sie. „Und selbst?“

„Alles in Ordnung“, sagte Phelam. „Wie geht es dir?“

„Nun... ich bin hier, um mich ein wenig mit dir zu unterhalten. Mein Onkel sagte mir, ihr hättet euch gesprochen.“ Sie nahm einen kleinen klapprigen Hocker vom Karren, den sie vor sich aufgebaut hatte, und setzte sich langsam darauf. Phelam wandte sich ihr zu und schien nach Worten zu suchen. Sie saßen einander im Sonnenschein gegenüber und blieben größtenteils ungestört. Phelams Bruder verkaufte an seiner Statt und Kayla wurde gelegentlich unterbrochen, wenn sie nach dem Preis gefragt wurde, hatte allerdings sehr bald den ganzen Karren nur noch mit leeren Kannen beladen.

„Hat er von meinen Absichten berichtet?“ fragte Phelam.

„Das hat er in der Tat. Ich war überrascht, da du mir gegenüber nie etwas erwähnt hast...“

„Ich wäre gekommen, um dich zu sprechen“, warf Phelam ein.

„Ich habe bereits nachgedacht... Mein Onkel legt großen Wert darauf, daß ich heirate, und befürwortet deine Absichten sehr. Allerdings habe ich bislang noch nichts dazu gesagt, weil ich dich kaum kenne.“

„Ich wollte dich zum Frühjahrsfest ausführen“, erklärte Phelam mit einem verlegenen Lächeln. „Hättest du Lust?“

„Natürlich! Das ist sehr freundlich. Aber sag, warum hast du gerade an mich gedacht?“ Kayla dachte überhaupt nicht daran, mit ihrer Neugier hinter dem Berg zu halten. Phelam würde schon eine Antwort zu geben haben.

„Du bist eine Frau, die einen großen Gerechtigkeitssinn hat, das schätze ich sehr. Ich mag deine ganze Art, du bist tatkräftig, hast ein gutes Herz, bist sehr sorgfältig... und hübsch, wie ich finde.“ Er wurde fast rot, als er das sagte. Kayla fühlte sich fast unfreiwillig geschmeichelt, denn sie wußte, Phelam war ein ehrlicher Bursche.

„Danke“, sagte sie und lächelte. „Stimmt es denn, daß du den Hof deines Vaters übernehmen wirst?“

Er nickte und Kayla überlegte. Er hatte ganz bodenständige Absichten, schien ihr ernsthaft, redlich und bemüht - eigentlich schätzte sie all das an einem Mann. Und sie glaubte ihm, daß er gerade und nur an ihr wirkliches Interesse hatte. Damit stand er allein auf weiter Flur, dachte sie grinsend.

„Kayla“, riß Phelam sie aus ihren Gedanken. Sie merkte auf und sah ihn direkt an.

„Wärst du abgeneigt?“ fragte er dann fast schüchtern. Schnell schüttelte sie den Kopf.

„Oh nein!“ sagte sie. „Aber ich weiß noch nicht recht, was ich wirklich möchte. Mir ist es wichtig, daß man auch meine Meinung dazu hört... und daß ich Zeit habe, zu überlegen.“

Wissend nickte Phelam. „Andros hat keine Geduld?“

Sie nickte, aber er hatte eine Antwort darauf, die sie regelrecht erleichterte.

„Nun, daß ich dich gern zur Frau hätte, ist eine Sache - aber du sollst natürlich die Zeit haben, darüber nachzudenken. Ich möchte dich nicht drängen“, sagte er.

Kaylas Augen wurden groß vor Überraschung und Freude. Sie hatte Phelam unterschätzt, er schien ihr doch ein patenter, gutmütiger Mann zu sein.

„Das ist wirklich... sehr freundlich von dir!“ sagte sie und klang hocherfreut. Phelam lächelte.

„Ist das nicht selbstverständlich?“ fragte er. Sie zögerte ein wenig mit ihrer Antwort.

„Nun, für manche Männer überhaupt nicht...“ Sie dachte dabei an ihren Onkel, was Phelam sofort merkte, aber er sagte nichts dazu.

„Gehen wir in vier Tagen zum Frühjahrsfest!“ sagte sie dann ermunternd. „Dann werde ich es mir überlegen.“

Er strahlte übers ganze Gesicht. „Wundervoll!“ freute er sich und sein Bruder grinste, denn er hatte mit halbem Ohr gelauscht. Dabei beließen sie es für den Moment und Kayla nahm den Karren, um damit wieder nach Hause zu gehen. Den Verdienst hatte sie in einem kleinen Lederbeutel verstaut, den sie in der Tasche an ihrem Rock trug. Er war voller guter Silbermünzen.

Während sie, den Karren ziehend, langsam die Gasse hinab bis zu ihrem Viehstall schlenderte, verlor sie sich in Gedanken. Es war ein schöner Frühlingstag, an dem die Sonne wärmend auf das Land schien und die letzten Spuren des Winters endgültig vertrieb. Der Ekanur lag in Wolken, sie konnte nicht einen Berggipfel sehen, und plötzlich dachte sie ganz nüchtern über ihr Fernweh nach. Was, wenn sie in ihrer jugendlichen Rebellion von etwas träumte, das sie nicht haben konnte? Valo war ihr bester Freund und Kamerad, er würde sie sogar gehen lassen, und dennoch hatte er ihr zu ihrem eigenen Wohl davon abgeraten, wirklich zu gehen. Er war nicht dumm, er wußte sicherlich, wovon er sprach.

Wenn Phelam nun wirklich etwas an ihr gelegen war, kam sie fort von Andros und war dennoch nicht aus der Welt. Das würde ihr ein besseres Leben bescheren, und wenn sie einen Mann hatte, der sie wirklich liebte und achtete, hatte sie eigentlich alles, was sie brauchte. Die Begegnung mit ihm hatte sie mit einem Male völlig verändert. Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen kam sie schließlich zur Tür hinein, um alle zu begrüßen.

„Ich habe alles verkauft“, sagte sie, als sie zu Beret in die Küche kam. Ihre Tante schickte sie zu Andros, um ihm das Geld zu geben.