Die Zeit der Halbblutmagier - Dania Dicken - E-Book

Die Zeit der Halbblutmagier E-Book

Dania Dicken

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Beschreibung

Grausame Alpträume quälen Marthian - Alpträume, die seinen Todfeind Zartokh zeigen, das Oberhaupt der dunklen Magier. Doch nur Lelaina weiß um seine Nöte, als die Freunde aufbrechen, um Merevas bei den Vandhru zu besuchen. Marthians Alpträume kommen jedoch nicht von ungefähr, denn Zartokh setzt den Vandhru tatsächlich sehr zu. Als er sogar die Hauptstadt in Schutt und Asche legt, werden die Freunde getrennt und sehen sich Zartokh fortan allein gegenüber. Dieser weiß genau, wie gefährlich Marthian ihm werden kann, und macht unbarmherzig Jagd auf ihn, um grausame Rache zu üben ...

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1. Kapitel: Schatten und

Licht

 

Er spürte, wie die Magie aus seinen Händen floß; ein warmes, vertrautes Gefühl. Um sein Ziel zu erreichen und das Metall zu erhitzen, mußte er es nicht einmal berühren.

Durch das weit offenstehende Fenster hörte er Timenors fröhliches Gekreische. Der Vierjährige tobte wild durchs Gras und kicherte laut. Marthian mußte grinsen, als er seinen Neffen so vergnügt hörte. Aber es war nicht nur Timenor, der laut lachte. Daneben hörte Marthian auch seinen eigenen Sohn, der sich glucksend über etwas amüsierte. Als der junge Vater sich dazu hinreißen ließ, kurz aus dem Fenster zu spähen, schüttelte er belustigt den Kopf. Natürlich bewarfen die beiden sich wieder einmal mit Gras. Dazu hatten sie aber auch jeden erdenklichen Platz hinter dem Haus.

Marthian hatte dem Nachbarn, einem alten Mann, im Vorjahr einen Teil seines Landes abgekauft, da der Alte es ohnehin nicht mehr bestellte. Diesen Platz hatte er dazu benutzt, eine Werkstatt hinten ans Haus zu bauen, die größer war als seine alte, doch auch das Haus war ausgebaut worden. An der Seite waren in beiden Stockwerken noch zwei Zimmer hinzugekommen. Kaliron hatte als Tischler viel selbst gemacht, aber Marthian hatte es auch nicht an Geld gemangelt, um Zimmerleute zu bezahlen.

Das übrige Land hatten sie unbebaut gelassen, damit die Kinder eine eigene Fläche zum Spielen und Toben hatten. Ein guter Gedanke, denn mit zwei kleinen Jungen brauchte man viel Platz. So herrschte stets Trubel, aber Marthian mochte das. Er genoß es, seine Werkstatt nun direkt am Haus zu haben. Zur Wiese hin hatte sie eine Tür - und das wußte sein Sohn ganz genau.

Marthian versenkte den Schwertrohling im Wasser. Es zischte laut, als das heiße Metall abkühlte. Dampf stieg in die Luft. Als er sich umdrehte und den Rohling kurz ablegte, ehe er ihn mit magischer Eiseskälte kühlen wollte, stand sein Sohn breit grinsend vor ihm in der Tür.

„Kortas“, sagte Marthian und spürte, wie ihm beim bloßen Anblick des kleinen Jungen warm ums Herz wurde. Er ging in die Knie und schloß ihn in die Arme.

„Papi!“ rief Kortas und wedelte mit den Armen herum. „Komm mal!“

„Was hast du denn?“ Marthian hob den Anderthalbjährigen auf den Arm und ging mit ihm hinaus auf die offene kleine Wiese. An einer Seite standen zwei Apfelbäume. Darunter stand Timenor und zeigte auf etwas. Marthian spähte aufmerksam in den Baum und entdeckte er den Grund für den Aufruhr: Es war ein Eichhörnchen.

„Was ist das?“ fragte Timenor neugierig.

„Das ist ein Eichhörnchen“, erklärte Marthian. Kortas strahlte noch immer übers ganze Gesicht. Er hatte viele Gesichtszüge von seiner Mutter, aber die dunklen Haare seines Vaters. „Beißt es oder ist es nett?“

„Ich weiß nicht... wenn du es am Schwanz ziehst, ist es wahrscheinlich nicht nett!“ mutmaßte Marthian. Er setzte Kortas wieder ab und fuhr ihm durchs Haar. Die grünen Augen seines Sohnes leuchteten vor Freude.

„Haben!“ sagte er knapp und deutete auf das Eichhörnchen.

„Das geht nicht, mein kleiner Racker. Es läuft bestimmt weg. Eichhörnchen sind nicht zum Spielen da.“

Es war Kortas deutlich anzusehen, daß ihm das nicht gefiel. Er schob seine Unterlippe schmollend vor und ließ sich ins Gras plumpsen. Als Timenor ihn dann von der Seite wieder mit Gras bewarf, war alles vergessen. Schmunzelnd wandte Marthian sich ab und ging an die Arbeit zurück. Bis zur Dämmerung arbeitete er, dann hörte er auf und schloß die Werkstatt ab. Der Kinderlärm hatte sich in der Zwischenzeit wieder ins Haus verlagert.

Marthians erster Weg im Haus führte ihn zur Waschschüssel, der zweite zum Schrank. Gewaschen und mit einem frischen Hemd traute er sich in die Küche, um über die Schulter der kleinen Lelaina hinweg in die Töpfe zu spähen. Es gab Gemüseeintopf mit Fleisch, wie Marthian mit einem kurzen Blick zufrieden feststellte.

„Riecht herrlich!“ lobte er die Köchin.

„Danke“, erwiderte Lelaina und errötete leicht. Im Wohnraum balgten die Jungen auf dem Teppich herum. Marthian wollte sich gerade nach dem Verbleib seiner Frau erkundigen, als die Haustür geöffnet wurde und Arinaya eintrat. Sogleich schloß Marthian sie in die Arme und begrüßte sie mit einem Kuß. Timenor kreischte entsetzt, beeindruckte die beiden damit aber überhaupt nicht.

Arinaya hatte ihre Tasche gerade erst weggeräumt, als Kaliron von der Arbeit zurückkehrte. Schnell deckten sie den Tisch und scharten sich darum, als der Eintopf fertig war. Marthian nahm seinen Sohn auf den Schoß und reichte ihm eine Scheibe Brot, die erst als Spielzeug mißbraucht und in viele Teile zerrupft wurde, ehe Kortas sie sich Stück für Stück in den Mund schob. Timenor hingegen saß bemüht gerade am Tisch und rührte in dem Eintopf herum. Alle Ermahnungen seines Vaters verpufften ungehört.

Eine kurze Weile nach dem Essen brachten Arinaya und Marthian ihren Sohn ins Bett. Er schlief in dem Zimmer, das einmal Arinayas Behandlungszimmer gewesen war. Sie hatte sich durch den Hausanbau ein wenig vergrößert und das Zimmer verlegt.

Kortas lamentierte zwar lautstark und gab zu verstehen, wie ungerecht es war, daß Timenor länger aufblieb, aber es half nichts. Marthian steckte ihn in seine weiche Schlafhose und zog ihm ein Hemd über, dann schnappte er ihn sich und hob ihn auf seine Arme.

„Kleine Männer müssen jetzt schlafen!“ erklärte er, ehe er Kortas schwungvoll auf seine Matratze plumpsen ließ. Arinaya deckte ihn liebevoll zu und setzte sich ans Bett, während Marthian seinem Sohn einen Kuß auf die Stirn drückte.

Es war jeden Abend dasselbe Ritual: Kortas machte nur ein Auge zu, wenn seine Mutter noch kurz bei ihm blieb. Manchmal erzählte sie ihm auch eine Geschichte, aber das wichtigste für den Kleinen war ihre Anwesenheit. Er liebte seine Mutter abgöttisch. Marthian war nicht eifersüchtig, weil er wußte, daß er gleich an zweiter Stelle kam - außerdem konnte er es verstehen, daß man Arinaya liebte.

Während Arinaya ihrem Sohn über die Wange strich, stellte sie sich wieder einmal die Frage, wie sie so lange ohne ihn hatte leben können. Seit Kortas auf der Welt war, fühlte sie sich endlich einmal wirklich ruhig. Sie liebte ihn über alles und konnte sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen, egal wie anstrengend es manchmal war.

„Träum schön, Kortas“, sagte sie und küßte ihn auf die Wange. Der Kleine strahlte und schloß die Augen. Arinaya blieb noch kurz sitzen, bis sie hörte, wie sein Atem langsamer und tiefer wurde. Dann erhob sie sich, verließ das Zimmer und schloß die Tür.

Timenor blieb nur ein wenig mehr Zeit, ehe er ebenfalls schlafen gehen mußte. Er randalierte noch viel stärker, so daß Kaliron wieder zu väterlicher Härte greifen und ihn mit stoischer Ruhe ins Bett stecken mußte.

Marthian genoß es, einfach nur untätig herumzusitzen und ein wenig mit den anderen zu plaudern. Arinaya stopfte ein Loch in einer von Kortas‘ Hosen und auch Lelaina begann danach, zu nähen. Kaliron entfernte einen großen, geborstenen Splitter aus dem Holzschwert seines Sohnes.

„Ich bin gespannt, ob Merevas bald kommt“, sagte Lelaina gedankenversunken.

„Bestimmt. Wahrscheinlich hat er gerade viel zu tun“, sagte Arinaya. Lelaina vermißte ihn sehr, denn sie hatte ihn zwei Jahre nicht gesehen und wünschte sich einen Besuch bei den Vandhru in Nalemdor. Merevas hatte ihr auf die Gedankenrede kurz geantwortet und gesagt, daß er sich melden würde, wenn er sie holen käme. Mehr hatte er nicht gesagt, denn die Gedankensprache über diese Entfernung war äußerst anstrengend.

Inzwischen war der Besuch in Nalemdor von langer Hand geplant. Vikormos und Zaruk brannten darauf, die Kameraden zu den Vandhru zu begleiten. Doch am meisten freute Lelaina sich, denn sie sehnte sich nach ihrem Onkel und dieser wiederum freute sich auf Timenor.

„Ich freue mich schon auf das Gesicht von Kortas“, grinste Marthian. Diesmal meinte er den Vandhru, nach dem Arinaya und er ihren Sohn benannt hatten. Nur wußte der Namenspate davon noch nichts.

„Ja, das wird bestimmt göttlich!“ pflichtete Kaliron bei. Sie alle wußten, welche Freundschaft vor allem Marthian und Kortas verband. Denn der Vandhru war es gewesen, der Arinaya und Marthian gerettet und Marthian mit Magie ins Leben zurückgeholt hatte. Ein Geschenk für ihn in doppelter Hinsicht, denn er lebte nicht nur, sondern verfügte seither über magische Kräfte, die ihn zu einem reichen Mann gemacht hatten.

„Ihm bliebe nur zu wünschen, daß er eines Tages eine neue Frau findet“, sagte Lelaina ernst. Marthian nickte zustimmend. Er konnte gut nachempfinden, daß Kortas seit dem gewaltsamen Tod seiner Frau ein gebrochener Mann war.

Ihn beschlich erneut die Unruhe, die ihn nun schon seit vielen Monaten quälte. Mit einem Male saß er einfach nur da, verschlossen wie eine Auster, unruhig und von Furcht erfüllt. Er hoffte, das Gefühl würde vergehen, ehe auch er zu Bett ging, aber dem war nicht so. Schneller, als ihm lieb war, fand er sich mit Arinaya im Schlafzimmer wieder. Langsam zog er seine Schlafhose an und setzte sich stumm auf die Bettkante. Im Augenwinkel beobachtete er, wie seine Frau sich das Nachtkleid überstreifte. Sie war noch immer wunderschön, sah fast wieder so aus wie vor der Geburt. Als sie seinen Blick bemerkte, lächelte sie vielsagend und legte sich neben ihm ins Bett. Ein Lächeln stahl sich auf Marthians Gesicht, als er ihre Gefühle spürte. Für einen Augenblick spürte er das erwartungsvolle Kribbeln selbst. Sie sah einfach unwiderstehlich in dem kurzen Kleid aus, das aus bedenklich dünnem Stoff geschneidert war. Er ertappte sich bei dem Wunsch, der Verlockung einfach nachzugeben, aber gedanklich war er wie gelähmt. Er spürte nicht einen Hauch von echtem Verlangen.

Bedauernd verzog er das Gesicht. Sie wußte, daß sie nichts sagen mußte und er spürte, was sie wollte, deshalb wunderte sie sich nicht über seine Reaktion.

„Ich bin nicht so recht in der Stimmung“, erklärte Marthian und schämte sich wieder einmal, daß er ihr bislang noch immer die furchtbaren Gefühle verschwiegen hatte, die ihn immer öfter quälten. Der bloße Gedanke an Nalemdor und den baldigen Besuch machte ihm oft genug Angst.

„Schade“, sagte Arinaya bedauernd. Als Marthian sich neben sie legte, schmiegte sie sich mit ihrem warmen und weichen Körper an ihn. Allein dadurch bekam er eine Gänsehaut und seufzte unglücklich. Wie gern wäre er jetzt mit ihr zusammen gewesen!

Er küßte sie und wünschte ihr eine gute Nacht, dann löschte er das Licht und lauschte auf ihren Atem. Während Arinaya schon bald fest schlief, lag er hellwach da und haderte mit seiner Angst. Irgendwann löste er sich aus ihrer Umarmung und setzte sich aufrecht.

Beim bloßen Gedanken ans Einschlafen packte ihn wieder die fürchterliche Angst. Schließlich war es so schlimm, daß ihm Tränen über die Wangen liefen. Er schlich klammheimlich aus dem Zimmer und ging hinüber zu seinem Sohn, um sich zu vergewissern, daß er wohlauf war. Beim bloßen Gedanken daran, daß er jetzt vielleicht nicht da sein könnte, starb etwas in Marthian.

Weit nach Mitternacht schlief er dann doch endlich ein. Er schlief jedoch noch nicht allzu lang, als seine Atmung plötzlich unruhig wurde und Schweiß auf seine Stirn trat. Seine Finger krallten sich ins Laken, seine Lippen bewegten sich tonlos. Aber er wachte nicht auf. Während nebenan plötzlich lautes Weinen von Kortas zu hören war, blieb Marthian in seinem Alptraum gefangen, bis er seinen Sohn endlich hörte. Arinaya wurde nicht wach, als er schweißgebadet hochfuhr und sofort zu Kortas hinüberlief. Er setzte sich auf das kleine Kinderbett und nahm seinen Sohn in die Arme.

„Was ist denn?“ fragte er atemlos und vergaß seinen eigenen Alptraum sofort.

„Papi, das Hörnchen ...“ Hörnchen? Marthian wiegte Kortas zärtlich und fuhr ihm durchs Haar.

„Welches Hörnchen denn?“

„Das Hörnchen ...“ wiederholte der Junge nur. Da fiel es Marthian ein. Das Eichhörnchen!

„Was hat es denn gemacht?“

Kortas zeigte etwas mit den Händen, das Marthian im Halbdunkel nur schemenhaft ausmachen konnte. Sein Sohn schien ein Monster anzudeuten.

„Bissen“, stammelte Kortas.

„Es hat dich gebissen?“

Sein Sohn nickte traurig. „Böses Hörnchen.“

„Ja“, pflichtete der junge Vater lächelnd bei. Solche Alpträume hätte er auch gern gehabt. „Aber Eichhörnchen sind nicht so böse, weißt du. Eigentlich. Es würde dir bestimmt nichts tun. Und wenn, komme ich und nehme es weg.“

„Ja“, freute Kortas sich.

„Kannst du jetzt wieder schlafen?“

Der Junge nickte. Marthian bettete ihn sanft und deckte ihn liebevoll zu, dann küßte er ihn und ging. Seufzend legte er sich ins Bett und war froh, daß er schnell wieder schläfrig wurde. Im Handumdrehen war er eingeschlafen.

 

Als Arinaya am Morgen vor ihm aufstand, merkte er es erst gar nicht. Sie ließ ihn schlafen, bis es Zeit fürs Frühstück war. Marthian wurde mürrisch, weil er noch müde war, versuchte jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen. Während Kortas seiner Mutter von dem bösen Eichhörnchen erzählte, schlich Marthian unentschlossen durchs Haus und sank gähnend an den Frühstückstisch. Lelaina sah ihn fragend an, denn normalerweise saß er nicht einfach nur faul herum. Dann jedoch spürte sie am eigenen Leib das Gefühl der Beklemmung in seiner Brust. Sie merkte, daß es wieder passiert war, sagte jedoch nichts.

Gemeinsam frühstückten die beiden Familien, dann ging Kaliron zur Werkstatt und Marthian trottete auch in seine Schmiede. Unwillig ging er an die Arbeit und lauschte auf Timenor und Kortas.

Aus dem Haus vernahm er Stimmen, kurz darauf schloß sich die Haustür. Es dauerte noch eine kleine Weile, als es plötzlich an seiner Tür klopfte. Lelaina stand vor ihm.

„Willst du davon erzählen?“ fragte sie. Das tat sie in letzter Zeit immer, wenn sie konnte, und dafür war Marthian ihr überaus dankbar.

„Es war eigentlich das Übliche“, sagte er und lehnte sich an die Wand. „Sozusagen. Es war wieder in Tarindon, vor dem Palast. Er hielt Arinaya fest umklammert.“ Er senkte den Blick und sammelte sich. „Sie war hochschwanger. Er hielt sie in dieser riesigen Klaue, ich dachte, gleich zerquetscht er sie. Dann lachte er und sagte, er würde sie vor meinen Augen töten und unseren Sohn gleich mit, ehe er mir die Gedärme herausreißt.“

Lelaina verzog das Gesicht. Diesen Traum hatte Marthian ihr schon mehrmals geschildert, aber manchmal wechselten sie auch. Es kam immer darauf an, doch er hatte bereits verschiedene Dinge geträumt. Er hatte bereits unzählige tote Vandhru in Tarindons Straßen liegen sehen, ein wahres Leichenfeld wie nach einem Massenmord. Die Stadt war verwüstet gewesen. Er hatte Merevas und Kortas gesehen, wie Zartokh sie buchstäblich abgeschlachtet hatte. Er hatte schon gesehen, wie der Dämon Lelainas Sohn und seinen eigenen verschlungen hatte. Zartokh hatte den kleinen Kortas schon in seinen Klauen zerfetzt, Arinaya getötet, sie geschändet - das ließ sich ewig fortführen. Und von all diesen Träumen hatte Marthian Lelaina erzählt.

Es hatte kurz nach Kortas‘ Geburt begonnen. Marthian hatte einen ersten Alptraum gehabt, in dem er sich dem dämonischen Zartokh allein gegenüber gesehen hatte. Mehrmals hatte er nachts noch einmal die Folter durchlebt, die ihn das Leben gekostet hatte. Vor Arinaya hatte er es verborgen und behauptet, er hätte nur schlecht geträumt. Eine bodenlose Untertreibung, wie Lelaina wußte. Denn sie hatte gespürt, wie groß Marthians Qualen an so manchen Tagen gewesen waren. Als sie einmal allein gewesen waren, hatte sie ihn angesprochen. Sie erinnerte sich noch gut. Arinaya war auf einem Hausbesuch gewesen, genau wie jetzt, und sie war in die Werkstatt gegangen und hatte Marthian gezielt gefragt, was ihn quälte. Es war aus ihm herausgebrochen und er hatte unter Tränen geschildert, wie Zartokh im Traum seine Frau ermordet hatte.

Erst hatte Lelaina sich nichts dabei gedacht. Marthian hatte Schreckliches durchgemacht und sie hatte geglaubt, daß er es erst noch verarbeiten müsse. Doch Arinaya hatte solche Alpträume nie. Und irgendwann waren sie dann bei Marthian immer häufiger gekommen, in immer brutalerer Form und von Mal zu Mal mit höherer Intensität. Manchmal hatte sie ihn nachts unten weinen hören und war gegangen, um ihm beizustehen.

Er hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, es Arinaya zu sagen. Sie sollte es auf keinen Fall wissen, denn bald waren Lelaina und er sich einig: Diese Träume waren mehr als die bloße Nachwirkung von Vergangenem. Im letzten halben Jahr war keine Woche mehr vergangen, in der Marthian nicht mindestens einmal von Zartokh geträumt hatte. Inzwischen hatte er immer öfter Panik, wenn er schlafen gehen mußte, war morgens müde und geknickt. Lelaina hatte Wort gehalten und es Arinaya nicht gesagt, aber sie war jedes Mal für Marthian da, weil sie spürte, daß er mit jemandem sprechen mußte.

„Wenn Merevas kommt, sagen wir es ihm. Vielleicht fällt ihm etwas dazu ein“, sagte sie, wie sie es jedes Mal tat.

„Aber wo bleibt er denn?“ fragte Marthian verzweifelt und mit zitternder Stimme.

„Ich weiß es nicht. Wenn du willst, spreche ich jetzt schon mit ihm. Soll ich?“

„Nein“, winkte Marthian ab und stierte aus dem Fenster. „Das ist zu anstrengend.“

„Du gehst noch vor die Hunde!“

Er nickte. „Das Schlimmste ist, daß ich immerzu lügen muß. Das hat Ari nicht verdient.“

„Ja.“ Lelaina überlegte.   „Du ängstigst sie nur zu Tode, wenn du es ihr sagst. Du gehst doch selbst daran kaputt. Du weißt, zu mir kannst du immer kommen, mir macht es nichts aus.“

„Aber hast du nicht auch Angst?“

„Hm“, machte Lelaina. „Schon. Ein wenig. Aber denkst du wirklich, Zartokh hat damit direkt etwas zu tun?“

„Warum nicht? Kommt das denn von selbst?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Du bist empfänglicher für solche Dinge geworden. Du hast einfach immer noch Angst vor ihm, du fürchtest, daß er kommt und etwas Fürchterliches tut. Das muß nicht so sein.“

„Weißt du denn, was er gerade treibt?“ wandte Marthian ein.

„Nein, natürlich nicht. Wir werden es erfahren, wenn Merevas hier ist. Aber sicherlich denkt Zartokh gar nicht mehr an dich. Warum sollte er?“

„Weil er mich haßt. Er haßt Menschen, er verabscheut uns. Er geht daran zugrunde, daß ihr mich zurückgeholt habt. Er wird darüber verrückt, daß ich ein Magier bin und ihn versklavt habe. Wenn er könnte, würde er mich vierteilen und zum Frühstück verspeisen.“

Lelaina mußte widerwillig lächeln. „Ja, ihr beiden, das ist eine besondere Geschichte. Ich weiß ja nicht viel über Zartokh, aber daß gerade ein Mensch so widerspenstig sein würde, kränkt seinen Stolz. Trotzdem glaube ich nicht, daß er dir Alpträume auf den Hals hetzt.“

„Und warum kommen sie jetzt immer öfter?“ wandte Marthian zu Recht ein.

„Weiß ich nicht. Ich würde dir gern helfen, wenn ich könnte, aber ich verstehe davon nichts. Soll ich Merevas zumindest bitten, sich zu beeilen? Wäre das gut?“ beharrte Lelaina.

Marthian sah sie nachdenklich an und zögerte, dann nickte er schließlich. „Also schön“, murmelte er, aber Lelaina hörte die Erleichterung in seiner Stimme.

Er trat auf sie zu und faßte sie an den Händen. Es war einfacher, wenn er ihr etwas von seiner Kraft lieh. Lelaina schloß die Augen und dachte intensiv an ihren Onkel. Erst spürte sie nicht viel, aber dann traf sie auf etwas, das ihr vertraut vorkam. Ihr wurde augenblicklich heiß vor Anstrengung.

Merevas, sagte sie in Gedanken. Kannst du mich hören?

Nichts geschah. Lelaina glaubte schon, es sei fehlgeschlagen, als endlich eine Antwort kam.

Ich höre dich, Liebes. Was gibt es?

Wann kommt ihr? Wir müssen dich dringend etwas fragen. Marthian hat schlimme Alpträume und ich kann ihm nicht helfen.

Wieder eine Pause. Er soll sich keine Sorgen machen und du auch nicht. Ich verspreche dir, wir beeilen uns. Ich melde mich sehr bald.  

In Ordnung. Danke, Merevas.

Es kam keine Antwort, aber sie wußte, er hatte sie gehört. Schweißgebadet öffnete sie die Augen. Marthian ließ sie los. Er hatte es selbst gehört, deshalb fragte er nicht.

„Wenn etwas mit Zartokh wäre, hätte er es mir gesagt. Es wird nichts passieren, denke immer daran. Es sind nur Träume, Marthi.“

„Ich weiß“, erwiderte er und griff wieder nach seinem Schmiedehammer. „Danke. Du bist eine echte Freundin.“

„Weißt du doch“, erwiderte Lelaina und ließ ihn allein. Marthian seufzte und ging zurück an die Arbeit. Ihm war ein zentnerschweres Gewicht von der Seele gefallen, aber es ging ihm meistens besser, wenn er mit Lelaina geredet hatte. Dennoch begann er das Gespräch fast nie von sich aus.

Zum Mittagessen war er wieder guter Dinge. Arinaya hatte auch dieses Mal nichts gemerkt, wofür er sehr dankbar war. Er wußte, normalerweise mußte er sie nicht schonen, aber gerade Zartokh war etwas, woran sie lieber nicht dachte. Marthian ging es ähnlich. Er wollte nicht an den Mann denken, der beinahe sein Kind umgebracht hatte und dem es mit ihm selbst sogar gelungen war.

Er hatte keine Erinnerung mehr daran. Zwar wußte er noch, wie er dagelegen hatte, wie Zartokhs Diener ihm an einer Hand sämtliche Finger gebrochen hatte, aber nichts von seinem Tod. Er wußte noch, wie Zartokh ihm die Lebenskraft aus dem Herzen gesaugt hatte, bis die Hitze ein Loch in seine Brust gefressen hatte. Überall war Blut gewesen.

Dann hatte er das Bewußtsein verloren. Kortas und Lelaina hatten ihm hinterher erzählt, daß in ihm danach nichts als völlige Leere gewesen sei - erst auf Arinayas Namen und ihre Hand auf seiner habe er reagiert, sein Herz fing wieder an zu schlagen.

Davon wußte er nichts. Er hatte keine noch so schemenhafte Erinnerung, keinen Gedanken, nicht einmal einen Traum. Er wußte nicht einmal mehr, wie er später am Lagerfeuer kurz erwacht war. Er hatte alles vergessen, und wenn er seinen Freunden glaubte, war das auch ein Segen.

Anfangs hatte er nicht einmal sprechen können, weil er so sehr gewürgt worden war. Das wußte er noch. Und er würde nie vergessen, wie sehr ihn das alles geschmerzt, wie wahnsinnig diese Hilflosigkeit ihn gemacht hatte. Dennoch trug er die riesige Narbe auf seiner Brust mit Stolz. Denn er hatte es überlebt und er war dadurch stärker geworden. Zartokh und die Magie hatten etwas aus ihm gemacht, was den Dämon um den Verstand brachte: Er war jetzt ein Magier. Wodurch genau das gekommen war, wußte niemand. Er war vermutlich der Magie zu sehr ausgesetzt gewesen, sowohl von Zartokh als auch von seinen Freunden. Er glaubte, daß ihre Wiederbelebung durch Magie der Grund war.

Ihm war klar, wie knapp er davongekommen war. Seine Frau hatte ihn tot gesehen. Seinen Eltern hatte er niemals davon erzählt. Mit Arinaya sprach er ebenfalls nie darüber, weil auch sie Schreckliches durchgemacht hatte.

Wie konnte er ihr nun sagen, daß er ständig von Zartokh träumte? Sie würde verrückt werden. Nein, das war seine Bürde.

Er stand nachmittags kurz vor der Vollendung des Schwertes, als er hörte, wie jemand an der Haustür mit Lelaina sprach. Einen Augenblick später rief sie seinen Namen. Als er in die Wohnstube kam, erkannte er den Mann an der Tür sofort als einen Boten.

„Ich habe eine Nachricht für Euch“, erklärte der Mann und überreichte Marthian einen Brief. Sogleich erkannte er die Schrift seiner Mutter.

„Habt Dank“, sagte Marthian und nahm den Brief entgegen. Als der Bote fort war, setzte er sich an den Küchentisch und begann zu lesen.

 

Mein lieber Marthian,

 

wie geht es dir und deiner Familie? Wir haben schon so lang nicht von euch gehört. Wieviel spricht Kortas inzwischen? Du mußt unbedingt wieder mit ihm herkommen. Deine Schwestern vermissen dich sehr. Es ist wirklich zu bedauern, daß ihr so weit entfernt lebt. Wie gern würde ich meinen Enkel öfter sehen! Und auch für deine Arbeit wäre es besser, in Kimorha zu leben. Die königliche Wache ist begeistert und nun sind deine Waffen in aller Munde. Inzwischen könntet ihr euch doch wirklich ein eigenes Heim leisten, meinst du nicht?

Wie geht es deiner Frau? Arbeitet sie immer noch so viel? Die Leute müssen doch reden! Denkst du, sie kümmert sich genug um euren Sohn? Du darfst ihr nicht soviel durchgehen lassen. Sonst wird sie dir noch untreu! Sie sollte sich auf ihre Pflichten als Mutter konzentrieren. Wünscht ihr euch denn nicht noch mehr Kinder?

 

Marthian überflog den Rest des Briefes ohne besonderes Interesse, weil er diese ewigen Tiraden seiner Mutter inzwischen rückwärts herunterbeten konnte. Sie vergötterte Sohn und Enkel, aber auf Arinaya hackte sie nur herum. Er hatte es aufgegeben, seinen Eltern zu erklären, warum er nicht mit ihr allein in einem Haus wohnte, sondern auch mit ihrem Bruder und seiner Familie. Er sah sich überhaupt nicht in der Position, Arinaya irgendetwas zu verbieten und er wußte mit Sicherheit, daß sie ihn nicht betrog.

Er legte den Brief beiseite und machte sich daran, das Schwert fertigzustellen. Sehr bald hatte er die Lieferung für Nilas fertig und würde sie persönlich nach Kimorha bringen, um auch seine Eltern wieder zu besuchen. Er würde ihnen noch schreiben - aber nicht jetzt. Und ganz gewiß würde er Arinaya nicht zu ihnen mitnehmen.

Während er an dem Abschluß der Gravur arbeitete, vernahm er Gelächter aus dem kleinen offenen Garten hinter dem Haus. Als er aus dem Fenster spähte, sah er Arinaya und Kortas gemeinsam durchs Gras tollen. Kortas thronte wie ein König auf dem Bauch seiner Mutter und ließ Gras auf ihr Gesicht rieseln. Arinaya wehrte sich lautstark und versuchte, ihn zu kitzeln. Vergnügt kreischend plumpste Kortas neben ihr ins Gras.

Marthian lächelte gerührt. Und ob Arinaya sich genug um ihn kümmerte. Er mußte sich regelrecht mit ihr um seinen Sohn streiten!

Als er fertig war, trat er hinaus in den Garten. Für heute hatte er genug gearbeitet. Grinsend betrachtete er Frau und Sohn, die einträchtig im Gras lagen und Wolken beobachteten. Wie so oft trug Arinaya nur ein einfaches Kleid, aber das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Kortas hatte seinen Kopf auf ihren Bauch gebettet und sie strich ihm mit einer Hand durchs Haar. Marthian kam nicht umhin, seiner Frau plötzlich einen sehr begehrlichen Blick zuzuwerfen. Sie sah einfach zu verlockend aus, wie sie so dalag. Durch ihren unordentlichen Rock konnte er einen Blick auf ihr Unterkleid erhaschen.

Während er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, setzte er sich neben die beiden und lächelte.

„Deine Mutter hat geschrieben“, sagte Arinaya.

„Du hast es gesehen“, stellte er fest.

„Ja. Ich habe nicht hineingeschaut. Ich will gar nicht hören, was für eine furchtbare Frau ich doch für dich bin.“

„Bist du nicht. Nur hätte meine Mutter dich gern furchtbar langweilig. Das würde mir aber nicht gefallen!“

„Nein“, grinste sie. Das konnte sie sich lebhaft vorstellen. Sein sicheres Ende wäre eine Frau gewesen, die keine eigene Meinung hatte, das Haus nur für den Markt verließ und mit der Last der ehelichen Pflichten haderte.

Gut, daß das bei ihr überhaupt nicht der Fall war.

An diesem Abend gab es eine herzhafte Brotmahlzeit. Darauf folgte die übliche Quengelei von Kortas, als er ins Bett mußte. Als auch Timenor im Bett war, vertrieben die Freunde sich die Zeit mit einem Kartenspiel.

Die ganze Zeit über spähte Marthian verstohlen zu seiner Frau hinüber. Sie trug ihr Haar an diesem Abend zu einem Zopf gebunden und hatte immer noch Gras auf dem Kopf. Es kostete ihn einiges an Überwindung, sie nicht ständig von oben bis unten anzustarren. Sein Blick blieb am Ausschnitt ihres Kleides hängen - zum wiederholten Mal.

Er rutschte auf seinem Stuhl herum. Es war noch nicht allzu spät... furchtbar. Und er war ja so ein vollkommener Idiot, daß er die Gelegenheit am Vorabend nicht genutzt hatte. In Gedanken schweifte er völlig vom Kartenspiel ab und sann auf eine Möglichkeit, Arinaya so schnell wie möglich ins Bett zu bekommen. Denn er mußte nur kurz hinhören, um zu spüren, daß sie nicht abgeneigt war. Was sowieso selten der Fall war.

Schließlich gähnte er laut. „Ich habe schlecht geschlafen letzte Nacht... ich glaube, ich lege mich schlafen.“

Er erntete einen fragenden Blick von Lelaina. Sie hatte an seinem Tonfall gehört, daß er kein bißchen müde war, sagte aber nichts. Sie grinste nur verstohlen.

„Ich komme gleich“, sagte Arinaya. Marthian verabschiedete sich von allen, verschwand im Schlafzimmer und zerrte sich sämtliche Kleidungsstücke vom Leib. Völlig arglos legte er sich ins Bett und tat so, als sei nichts gewesen.

Wo steckte sie denn nur? Sehnsüchtig lauschte er auf die Stimmen im Wohnraum. Es dauerte jedoch nicht lange, da hörte er, daß auch Arinaya sich verabschiedete. Kurz darauf vernahm er Schritte auf der Treppe nach oben.

Arinaya betrat das Schlafzimmer und schloß die Tür. Marthian rührte sich nicht, aber er tat nicht so, als würde er schlafen. Als sie ihn ansah, merkte sie gleich, was im Busch war. Sie begann, sich in einer Seelenruhe das Nachtkleid anzuziehen und legte sich dann neben ihn.

„Na, was ist?“ fragte sie grinsend.

„Och, nichts“, behauptete er. „Außer daß ich mir gut vorstellen könnte, etwas von gestern nachzuholen!“

„So?“

„Natürlich nur, wenn du möchtest.“

Sie erwiderte absichtlich nichts, da sie genau wußte, daß er gerade auf ihre Gefühle lauschte. Manchmal, wenn er besonders frech war, las er sogar ihre Gedanken. Auch diesmal konnte er es sich nicht verkneifen, weil er wußte, daß sie absichtlich schwieg.

Wie hättest du es denn gern?, fragte sie ihn direkt. Augenblicklich wurde ihm heiß. Wie er es gern hätte? Leidenschaftlich und ekstatisch, was wohl das geringste Problem war.

Er setzte sich aufrecht und fuhr mit dem Finger ihren Ausschnitt nach. Arinaya schloß genießerisch die Augen.

„Ich denke, ich werde dir gleich dieses Kleid vom Leib reißen“, begann er augenzwinkernd, „und dann werde ich dich überall berühren... und zwar solange, bis du mich anflehst, dich nicht weiter zu quälen!“

Sie kicherte. „Das klingt interessant.“

Marthian erwiderte nichts, sondern machte sich gleich an der Schnürung ihres dünnen Kleides zu schaffen. Langsam zog er es ihr über die Schultern, beugte sich über sie und vergrub den Kopf in ihren Rundungen. Arinaya stieß einen kleinen Laut des Wohlbehagens aus, als er sie küßte und mit einer Hand das kurze Kleid bis in ihren Schoß hochschob.

Gierig sog er den Duft ihrer warmen Haut ein. Sie strich mit den Fingern über seinen Rücken und bereitete ihm so eine Gänsehaut. Er krallte sich in ihr Haar, während er sie in den Nacken küßte. Zärtlich fuhr er mit den Fingern über ihre weichen Rundungen und drückte seinen Schoß gegen ihren. Er konnte am eigenen Leib spüren, wie ihr heiß wurde. Er hörte, wie ihr Atem sich beschleunigte und ihr Herzschlag schneller wurde. Ihm ging es nicht anders.

Er hörte, was sie sich wünschte. Bereitwillig kam er dem nach, ließ seine Hand in ihren Schoß wandern und streichelte sie fordernd. Es dauerte keinen Augenblick, bis sie sich unter ihm wand und ihre Finger in seinen Oberarm grub. Hätte er nicht ihre Gedanken lesen können, er hätte auch so gespürt, daß sie ihn wollte. Sie reckte sich ihm entgegen, küßte ihn, zog ihn an sich. Ein Gefühl der Euphorie stieg in ihm hoch, als er spürte, wie sehr sie sich danach sehnte, ihn zu spüren. Oh, das war herrlich.

Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar und ließ die andere Hand in seinen Schoß gleiten, berührte ihn aber nicht. Marthian glaubte, wahnsinnig werden zu müssen. Allein ihre Hand in der Nähe zu wissen war schon eine Wonne.

Er schob einen Arm unter ihr durch, zog sie hoch und streifte ihr das Kleidchen über den Kopf. Danach fuhr er fort, ihren weichen Körper zu liebkosen und auf ihre Gedanken zu lauschen. Er spürte ihre wachsende Ungeduld und die Hitze, die sie ergriff. In ihrem Bauch kribbelte es ganz enorm und in ihrem Schoß pochte es heftig. Aber sie sagte nichts.

Marthian vergrub den Kopf zwischen ihren Beinen und entlockte ihr ein lautes Seufzen. Sie bäumte sich unter ihm auf und biß sich auf die Lippen, sagte aber immer noch nichts. Marthian machte unerbittlich weiter.

Bitte ... vernahm er ihre Gedanken. Aber das reichte ihm nicht. Er zeigte kein Erbarmen, bis er sie schließlich wispern hörte.

„Marthi, bitte ...“

Das klang gut. Er richtete sich auf, drückte ihre Beine auseinander und legte sich dazwischen, ohne jedoch irgendetwas zu tun. Sie jammerte gequält.

„Was denn?“ ärgerte er sie.

„Ich will dich!“

Das brachte bei ihm jeden Widerstand zum Einsturz. Er drückte sie unsanft in die Kissen und wurde eins mit ihr, verharrte dann jedoch reglos. Wieder zog sie ihn an sich. „Marthi...“

Nein, diesmal bestimmte er die Spielregeln. Er drückte sie tiefer in die Kissen und begann dann ganz langsam, sich zu bewegen. Es dauerte nicht lang, bis sie die Beine um seine schlang und sich ihm immer weiter entgegendrängte.

Aber er hatte Zeit. Er genoß es, ihre Erregung zu spüren und lauschte ungeniert auf ihre Gedanken. Es war nicht schwer, zu bemerken, wann sie immer wilder wurde. Sie gab sich ihm gänzlich hin und genoß seine Nähe sehr. Ihre Lust wurde immer größer, was bei ihm das Gleiche zur Folge hatte. Er schlang die Arme um sie und spielte geschickt mit ihren Wünschen, bis sie irgendwann keuchend dalag und um Erlösung bettelte. Ihm rann der Schweiß über den Körper und sein Herz drohte, zu zerspringen. Zumindest fühlte es sich so an. Arinaya war ekstatisch, das spürte er deutlich. So beschloß er dann, dem Ganzen ein Ende zu machen und zuckte zusammen, als sie sich mit einem Ruck an ihn klammerte und zitternd in die Kissen sank.

Er küßte sie zärtlich und ließ sich keuchend neben sie fallen. Sein Körper klebte vor Schweiß, er war völlig erschöpft. Aber es fühlte sich gut an.

 

 

2. Kapitel: Das unterste nach oben gekehrt

 

Es waren bereits einige Tage vergangen, in denen gerade Lelaina sehnsüchtig, aber vergebens auf eine Nachricht von Merevas gewartet hatte. Zwar hatte Marthian keinen weiteren Alptraum mehr gehabt, aber sie machte sich zunehmend Sorgen. Irgendetwas stimmte an dieser Angelegenheit nicht und sie wollte dringend mit Merevas darüber sprechen. Inzwischen war sie es satt, sich das untätig anzusehen.

Marthian hingegen war guter Dinge. Er kam mit seiner Arbeit besser voran, als er geglaubt hatte. Nilas erwartete eine Lieferung von ihm, die er in wenigen Tagen fertig haben würde. Er hatte gerade die Arbeit an einem Dolch beendet, als er beschloß, seine Eltern und Nilas von seinem baldigen Besuch in Kenntnis zu setzen.

Er setzte sich an den Tisch in der Stube und begann, zu schreiben. Der Brief an Nilas ging Marthian leicht von der Hand. Schwieriger war es für ihn, an seine Eltern zu schreiben - eine Tatsache, die ihm manchmal noch immer unbegreiflich erschien. Er stückelte sich einige Sätze zurecht, dann beschloß er, daß es gut sei. Ein letztes Mal noch überflog Marthian die Zeilen, wie er es immer tat, ehe er einen Brief endgültig versiegelte.

 

Liebe Mutter, lieber Vater,

 

in der nächsten Woche werde ich Kimorha einen Besuch abstatten. Nilas erhält eine weitere große Lieferung von mir, die ich ihm gern persönlich bringen möchte. Ferner wäre es eine wunderbare Gelegenheit, euch zu besuchen. Ihr müßt euch gar keine Umstände machen, denn ich werde allein kommen. Arinaya bleibt mit unserem Sohn zu Hause.

Wie geht es meinen Schwestern und ihren Familien? Ist bei euch alles in Ordnung?

Liebe Grüße und die besten Wünsche

 

Marthian

 

Es war ein knapper Brief, doch wie in letzter Zeit so oft fehlten ihm wieder einmal die Worte. Seufzend versiegelte er das Schreiben und legte es zu dem Brief, den er an Nilas adressiert hatte.

Er fühlte sich seinen Eltern seltsam fremd, seit er Kimorha verlassen hatte. Zwar freute er sich darauf, sie zu besuchen - vor allem seinen Vater und seine Schwestern - aber er spürte immer wieder eine Distanz zu seiner Familie, die ihn schwermütig stimmte. Inzwischen log er sie sogar an, weil er keine Lust mehr hatte, sich zu rechtfertigen. Arinaya würde natürlich nach Kimorha mitkommen und auch Kortas würde dabei sein. Seine Frau wollte die Gelegenheit nutzen, Kelthana zu besuchen. Mit zwei fast gleichaltrigen Kindern hatten sie sich stets viel zu erzählen, vor allem seit Kelthana in ihrer Mutterrolle und an der Seite von Nilas so wunderbar aufgeblüht war. Sie war selbstbewußt und fröhlich, weil sie nun endlich ihren Platz gefunden hatte.

Allerdings verspürte Arinaya keinerlei Sehnsucht danach, Marthians Familie zu besuchen, vor allem seine Mutter. Und es war auch Marthians eigener Wunsch, daß die beiden sich so selten wie möglich sahen. Nach Kortas‘ Geburt hatte seine Mutter Arinaya immer wieder mit gutgemeinten Ratschlägen überhäuft. Erst hatte Arinaya es sich gefallen lassen, sich dann jedoch immer wieder zur Wehr gesetzt.

Inzwischen konnte Kortas längst laufen und sprach die ersten Worte. Er gedieh prächtig und Marthian wußte, wem das zu verdanken war. Arinaya liebte ihren Sohn abgöttisch und war ihm eine wundervolle Mutter, das stand ganz außer Zweifel.

Eskaliert war die Situation etwa zehn Monate nach Kortas‘ Geburt. Seine Eltern waren gekommen, um Marthian und seine Familie in dem kleinen Dorf zu besuchen, und mit Argusaugen hatte Marthians Mutter jeden Schritt Arinayas überwacht und kommentiert. Irgendwann hatte er es aufgegeben, seine Mutter stets um Nachsicht zu bitten.

Dann jedoch hatte einer der Männer aus dem Dorf Arinaya um Rat ersucht. Sie war mit ihm in ihr Behandlungszimmer gegangen und hatte sich mit ihm unterhalten, schließlich hatte man sogar Gelächter vernommen. Marthians Mutter war die Vertrautheit der beiden seltsam erschienen. Sie hatte den Moment abgewartet, da der Mann das Haus wieder verlassen hatte, und in Gegenwart Lelainas und vor allem Arinayas Marthian die Frage gestellt, ob er wirklich sicher sei, daß Kortas sein Sohn war.

Marthian erinnerte sich gut an seine bodenlose Wut und Fassungslosigkeit. Lelaina war sprachlos gewesen und Arinaya hatte bereits begonnen, sich zu rechtfertigen. Doch da hatte Marthian sie aus der Küche geschickt, sich mit Kortas auf dem Arm seiner Mutter gegenübergesetzt und den Vorwurf abgeschmettert - in einer Art und Weise, die keine weiteren Fragen mehr zugelassen hatte.

„Das fragst gerade du, obwohl du solche Ähnlichkeit bei uns festgestellt hast? Worauf willst du eigentlich hinaus? Ich werde dir etwas über Arinaya sagen. Sie hat Dinge gesehen und erlebt, die meinen wohlbehüteten Schwestern die Tränen in die Augen getrieben hätten. Linthizan hat sie gejagt und sie hat monatelang mit der Angst gelebt, daß er sie fangen und über sie herfallen könnte. Bei den Vandhru gab es jemanden, der sie umgebracht hätte, hätte er dazu die Chance bekommen. Da war sie schon schwanger. Und ja, ich bin sicher, daß ich der Vater von Kortas bin. Rein zufällig war da niemand anders, während ich mit ihr zusammen in Gefangenschaft war. Du hast keine, überhaupt keine Ahnung, was wir schon gesehen haben. Aber deine einzige Sorge ist, daß meine Frau nicht wie jede Ehefrau eine Haube trägt, was Lelaina nebenbei bemerkt übrigens auch nicht tut!“

Seine Mutter hatte dagesessen und ihn angestarrt. Sie hatte den Mund wie ein Fisch auf- und zugemacht, bis sein Vater endlich gesagt hatte: „Sie hat es nicht so gemeint.“

„Doch, hat sie. Sie schikaniert meine Frau doch, wo sie kann. Was hat Arinaya dir denn getan, daß du sie so kränkst?“ Marthian war hinterher laut geworden und hatte auch die Blicke von Arinaya und Lelaina gesehen, die ihn ungläubig vom Wohnraum aus angestarrt hatten.

„Ich finde eben, sie benimmt sich nicht so, wie man es von ihr erwarten sollte“, hatte seine Mutter gesagt. Daraufhin war Arinaya in die Küche getreten, hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt und gesagt: „Nein, und das werde ich auch nie. Selbst wenn du mich dann endlich in Ruhe lassen würdest, täte ich es nicht. Das ist das letzte Mal, daß ich dich in meinem Haus begrüßt habe!“

Marthian sie unterstützt und gesagt, daß er es ebenfalls nicht mehr dulden würde, daß seine Mutter Arinaya dort immer wieder angreifen würde.

Seine Eltern waren gleich aufgebrochen und hatten sie dort seither nicht mehr besucht. Ihm blutete jetzt noch das Herz, wenn er sich daran erinnerte, wie Arinaya ihren Tränen freien Lauf gelassen hatte, als sie allein gewesen waren.

Immer wieder, wenn er seine Mutter sah, spürte er bei ihr ein Geheimnis. Sie verbarg etwas und seine vandhrischen Fähigkeiten verrieten es ihm. Nur hatte er bisher nicht herausgefunden, was es war. Er hatte sich noch nicht getraut, zu fragen. Er hatte Angst vor der Erkenntnis, obwohl er darauf brannte, zu erfahren, was seine Mutter an seiner Frau störte. Er konnte es sich nicht denken.

Und nun war es wieder soweit. Er würde nach Kimorha gehen, die Tiraden seiner Mutter über sich ergehen lassen und völlig entnervt nach Hause zurückkehren.

„Was hast du gemacht?“ riß Arinayas Stimme ihn aus seinen Gedanken. Sie war aus ihrem Behandlungszimmer gekommen und sah ihn nun dort sitzen. Er deutete auf die Briefe.

„Für Nilas und meine Eltern. Bis nächste Woche bin ich mit den Waffen fertig, dann können wir nach Kimorha gehen.“

„Oh, das ist schön! Endlich!“ freute Arinaya sich.

„Du mußt ja auch nicht zu meiner Mutter“, erwiderte er grinsend.

„Es wird schon gut werden. Du mußt ja nicht lang hin.“

Marthian seufzte. „Ich bringe die Briefe zum Zusteller.“

„Ich komme mit“, beschloß seine Frau sogleich. Doch sie wollten nicht allein gehen, sondern Kortas und Timenor mitnehmen. Die Jungen waren sofort sehr aufgeregt und rannten fröhlich auf die Straße hinaus, als Arinaya und Marthian sich aufmachten. Es war nicht weit, nur bis zum anderen Ende des Dorfes.

Kreischend rannten die Jungen über die Straße. „Aber lauft nicht zu weit weg!“ rief Marthian ihnen hinterher. Dann nahm er Arinayas Hand und schlenderte mit ihr hinter den Kindern her. Es war ein schöner, nicht zu heißer Sommertag. Marthian behauptete allerdings, man könnte den Herbst schon riechen. Goldenes Licht überflutete die Straße.

„Deine Eltern wissen gar nicht, welches Glück sie haben. Sie sind wohlauf, haben eine tolle Familie, gesunde Enkel. Es ist nicht gerecht, daß mein Vater das nicht haben durfte“, seufzte Arinaya.

„Nein, ist es nicht. Und daß Linthizan tot ist, holt deinen Vater auch nicht zurück.“

Arinaya schüttelte den Kopf. Ihr Vater war nun schon seit mehr als vier Jahren tot, fehlte ihr aber noch immer, als sei es erst einen Tag her. Arinaya wünschte sich jeden Tag, er hätte die Chance gehabt, Kortas kennenzulernen.

„Bist du glücklich?“ fragte Marthian sie plötzlich. Fragend erwiderte sie seinen Blick.

„Natürlich. Warum denn nicht?“

„Wir könnten leben wie Adlige. Das Geld hätten wir... weil ich es verdiene. Dabei wäre es mir manchmal lieber, ich wäre noch ganz der Alte.“

„Bist du doch. Du bist mein Mann, Marthian. Du bist immer noch derselbe - wenn man davon absieht, daß wir uns ohnehin alle verändern.“

Marthian sah sie stirnrunzelnd an. In seinem Blick standen Fragezeichen, so daß sie lachen mußte.

„Ja, das klingt wahrscheinlich seltsam. Aber weißt du... bisher haben wir noch alles überstanden, und irgendwo sehe ich deine Fähigkeiten auch als Lohn, als Entschädigung. Und vergiß nicht, daß wir Kortas haben.“

„Ja.“ Marthian lächelte. „Bereust du es nicht?“

„Nein. Wie könnte ich! Er ist doch unser Kind.“

„Und du möchtest keine teuren Kleider tragen und ein Dienstmädchen haben? Eine Amme?“

„Nein!“ wehrte Arinaya lachend ab. „Bloß nicht!“

„Kein eigenes Haus?“

„Hör jetzt damit auf. Du weißt, daß ich zufrieden bin!“

„Ein Mann macht sich eben seine Gedanken.“

„Und klopft große Sprüche“, stichelte sie.

„Warum?“ fragte er empört.

„Seit wann machen Männer sich über irgendwas Gedanken?“

Anstatt zu antworten, versiegelte Marthian ihre Lippen mit einem Kuß. Dann raunte er ihr ins Ohr: „Zum Beispiel mache ich mir darüber Gedanken, wie ich dich heute abend im Bett dafür bestrafen könnte!“

„Nur zu“, grinste sie.

Sie hatten es nicht mehr weit bis zum Haus des Boten. Sie lieferten beide Briefe dort ab und kehrten dann mit den Kindern nach Hause zurück. Kortas beschloß auf halbem Wege, daß seine Beine ihn nicht mehr tragen müßten und bettelte solange, bis er auf Marthians Schultern sitzen durfte. Das brachte Timenor auf Ideen, aber leider war nun schon besetzt.

Arinaya unternahm zu Hause einen beherzten Versuch, Lelaina in der Küche zu helfen. Gemüseschneiden war gerade noch geeignet für sie, aber kochen konnte sie überhaupt nicht. Marthian versuchte indes, den beiden die Kinder vom Hals zu halten.

„Timenor wird mir ziemlich auf die Nerven gehen, wenn ihr weg seid“, sagte Lelaina seufzend.

„Kommt doch mit“, schlug Marthian vor.

„Nein, irgendjemand muß doch die Stellung halten!“ grinste Lelaina.

 

Marthian war gerade dabei, die Waffen auf einen Karren zu laden, als Lelaina zu ihm kam. Neugierig blickte er auf.

„Merevas hat gerade mit mir gesprochen. Er sagte, ich solle Vikormos und Zaruk Bescheid geben, damit sie sich auf den Weg nach Lenordhisa machen. Er meinte, wir sollten uns am besten dort treffen, in etwa zwei bis drei Wochen“, erklärte sie.

„Hast du es Arinaya schon gesagt?“

„Ja. Ich bin wirklich erleichtert. Er hat sich auch nach dir erkundigt und ich habe ihm gesagt, daß alles in Ordnung ist.“

„Er hat nach mir gefragt?“ stutzte Marthian.

„Ja. Anscheinend nimmt er es sehr ernst.“

Marthian nickte langsam. Er wußte nicht, ob er das nun gut oder schlecht finden sollte.

„Je nachdem, wie lang ihr in Kimorha bleibt, könnt ihr ja gleich nach Lenordhisa reiten. Dann braucht ihr nicht mehr herzukommen“, sagte Lelaina.

„Meinst du?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Aber sicher.“

Marthian nickte. Er freute sich schon darauf, mit Kortas zu reisen - so ungeduldig, wie der Kleine war...

„Ja, mal sehen. Wir müssen ja erst einmal hin. Das dauert mit Kortas auch so seine Zeit. Er ist schon ganz aus dem Häuschen wegen morgen“, erklärte er. Lelaina lächelte, dann ließ sie ihn wieder allein. Marthian schlug eine Plane über den Karren und zurrte sie mit einer Leine fest. Er war stolz, daß ein ganzer Karren in seiner Werkstatt Platz fand.

Inzwischen besaßen sie sogar eigene Pferde. Sie hatten einem Züchter vier wunderbare Tiere abgekauft, die auf einem der Höfe im Dorf lebten und gepflegt wurden. Geld dafür hatte Marthian ja genug. Er hatte dem Bauern bereits Bescheid gegeben, daß er zwei Tiere am nächsten Morgen holen würde.

Als er fertig war, half er Arinaya dabei, Taschen zu packen. Besonders für Kortas mußten sie einige Dinge mitnehmen, vor allem warme Kleidung. Manchmal wurde es abends schon empfindlich kalt, und obwohl sie in Gasthäusern übernachten würden, mußten sie gut gerüstet sein. Es konnte schließlich auch regnen.

An diesem Abend schickten sie Kortas früh ins Bett und legten sich ebenfalls zeitig schlafen. Wie üblich stand Marthian am nächsten Morgen zuerst auf und ging in aller Herrgottsfrühe zum Hof, um die Pferde zu holen. Er tränkte sie noch einmal, befestigte bei seinem Pferd den Karren am Geschirr und warf dann seinen Sohn aus dem Bett.

Arinaya stapelte die Taschen an der Tür. Sie hatten beschlossen, gleich im Anschluß nach Lenordhisa zu reiten, deshalb hatten sie mehr Gepäck.

Sie frühstückten und verabschiedeten sich dann von Lelaina und Kaliron. Timenor vermißte seinen Spielkameraden jetzt schon. Marthian half Arinaya in den Sattel und reichte ihr Kortas hoch, dann saß er ebenfalls auf. Das Gepäck hatten sie auf die Pferde und den Karren verteilt.

„Paßt gut auf euch auf!“ rief Kaliron und winkte. „Wir sehen uns in Lenordhisa!“

„Macht‘s gut“, erwiderte Marthian, dann ließ er sein Pferd antraben. Kortas war ganz aufgeregt, denn eine solche Reise war etwas ganz Besonderes für ihn. Zwar war es nicht weit nach Kimorha, aber für ein Kind war das anstrengend.

Marthian und Arinaya machten immer wieder Pausen für ihn - und sich selbst. Ihnen kamen die Pausen immer wieder sehr entgegen. Sie aßen gut und suchten sich zeitig eine Herberge. Kortas war bis dahin so müde, daß er schon während des Abendessens einschlief. Marthian trug ihn schließlich nach oben ins Bett. Der Kleine würde das Privileg genießen, bei seinen Eltern im Bett zu schlafen.

Am nächsten Morgen war er gleich wieder quietschfidel. Seine Eltern waren froh, daß sie die Reise ohne größeres Gequengel schließlich hinter sich brachten. Sie erreichten Kimorha am Nachmittag des nächsten Tages und begaben sich sogleich zu Nilas und Kelthana. Die beiden empfingen sie sehr herzlich und Marthian übergab seinem Freund sogleich die Waffen, die er wie seinen Augapfel gehütet hatte.

Kortas und die kleine Milara beäugten einander recht skeptisch. Das ältere Mädchen sprach schon etwas mehr und wußte nicht recht, was sie von dem kleinen Jungen halten sollte. Sie hatte ihn schon länger nicht mehr gesehen und kannte Jungen bislang nur als Raufbolde, doch Kortas war ausnahmsweise einmal brav und spielte dann sogar mit ihr.

Arinaya und Kelthana tauschten sich begeistert über ihre Kinder aus, während Marthian Nilas davon erzählte, daß sie sehr bald wieder nach Nalemdor reisen würden.

„Willst du auch mitkommen?“

Nilas zuckte mit den Schultern. „Ich weiß noch nicht. Eigentlich schon... aber man braucht mich hier. Nicht nur meine Familie.“

„Ja, ich weiß. Überleg es dir. Allzu lang sollten wir nicht fort sein.“

„Ja, mal sehen. Wann willst du deine Eltern besuchen?“

„Morgen. Dazu fehlt mir heute ganz entschieden die Geduld!“

„Oh ja, kann ich verstehen. Und bevor ich es vergesse, der Hauptmann der königlichen Wache ist mir letztens begegnet. Er meinte, er würde dich sehr gern einmal sprechen, wenn du hier bist. Daran solltest du denken.“

„Natürlich“, stimmte Marthian zu.

 

Als Marthian die Augen öffnete, fühlte er sich wie gerädert. Die Erinnerung an den Grund blieb nicht lang aus: Er hatte wieder von Zartokh geträumt. Wie jedes Mal war er erwacht und hatte sich erst beruhigt, als er Frau und Sohn wohlbehalten neben sich gesehen hatte.

Seufzend erhob er sich. Die Spukbilder der vergangenen Nacht waren ihm noch immer im Gedächtnis: Zartokh hatte zwar nicht in Dämonengestalt vor ihm gestanden, sondern als Mensch. Aber er hatte eine Entscheidung von ihm gefordert, die nicht abzuwenden gewesen war. Seine Gedanken waren durch Zartokh beherrscht worden, ebenso sein Wille. Er war unfähig gewesen, irgendetwas zu tun. Und da waren Arinaya und Kortas gewesen.

„Sage mir, wer von ihnen zuerst sterben soll.“ Das hatte Zartokh gesagt. Von Zartokh unfähig gemacht, etwas anderes als einen Namen zu erwidern, hatte Marthian ihn stumm und haßerfüllt angestarrt.

„Oh, du kannst dich nicht entscheiden? Ich werde dir helfen, eine Wahl zu treffen. Wie wäre es, wenn ich deinem Sohn jeden Finger abbeiße, bis du dich entscheidest? Oder ich werde deine Frau noch ein wenig foltern?“

Dabei hatte er das bereits getan, wie unschwer zu erkennen war. Als Zartokh auf die beiden zugegangen war, war Marthian gnädigerweise aufgewacht.

Verkatert begab er sich nun in die Küche und trank etwas Wasser. Einen Augenblick später kam Nilas hinzu und runzelte fragend die Stirn, als er Marthians käseweißes Gesicht sah.

„Wie siehst du denn aus? So spät seid ihr doch nicht schlafen gegangen!“

„Nein“, sagte Marthian und seufzte. „Ich habe einfach nur schlecht geschlafen.“

„Ach komm, das wird schon. Wann gehst du zu deinen Eltern?“

„Nach dem Mittagessen.“ Dabei hatte er nicht einmal Hunger auf das Frühstück.

Die Zeit verging wie im Fluge. Bald schon war es soweit, daß Marthian sich auf den Weg machte. Er fühlte sich nicht besonders wohl, als er an die Haustür seiner Eltern klopfte, doch es war nur sein Vater, der ihm öffnete. Gleich hinter ihm erschien seine Schwester Falinia.

„Marthian“, sagte sein Vater und schloß ihn in die Arme. „Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?“

„Bestens“, erwiderte Marthian und ließ sich von seiner jüngsten Schwester fast umreißen, als sie ihm mit Begeisterung um den Hals fiel.

„Mein Großer! Du hast mir gefehlt, weißt du das? Wie geht es Ari und eurem Kleinen?“

„Prima“, gab Marthian Auskunft, als er neben Falinia das Haus betrat.

„Der Kuchen ist fertig“, sagte seine Mutter, als sie ihn mit einem Lächeln ansah. Marthian spürte, daß es nicht echt war, denn sie sah ihn fast mit demselben Blick an, wie sie Arinaya auch meist ansah. Er überging es und setzte sich mit Vater und Schwester an den Tisch.

„Lenia kann nicht kommen. Der Kleine ist krank und sie muß sich um ihn kümmern,“ erklärte Falinia bedauernd.

„Kein Problem. Arinaya ist auch mit Kortas zu Hause.“ Marthian ließ sich die Lüge nicht anmerken.

„Gute Mütter müssen ihren Pflichten eben nachkommen“, rief seine Mutter aus der Küche. Marthian verzog keine Miene. Vermutlich war es seiner Mutter überhaupt nicht mehr bewußt, wie furchtbar sie damit nerven konnte.

Als sie mit dem Kuchen an den Tisch kam, erkundigte sie sich neugierig nach ihrem Enkel. Wieviel sprach er schon? Lief er auch viel und gut? Marthian gab Auskunft, allerdings nicht sehr ausführlich. Er nahm es seiner Mutter immer noch verdammt übel, daß sie Arinaya Ehebruch unterstellt hatte. Und jetzt heuchelte sie die Liebe der Großmutter. Ganz davon abgesehen, daß sie nach Arinaya überhaupt nicht fragte - das tat nur sein Vater.

„Wird es ihr denn nicht zu viel mit Kind und Arbeit?“ erkundigte er sich.

„Nein, ach was. Sie liebt beides! Wenigstens muß sie nicht für Geld arbeiten.“

„Ja, deine Arbeit ist in aller Munde. Ich bin wirklich stolz auf dich, weißt du das? Du bist ein guter, fleißiger Junge. Es ist nur richtig, daß du einen guten Verdienst hast. Du hast es zu mehr gebracht als ich!“ Es war neidlose Anerkennung, die in der Stimme seines Vaters mitschwang. Sein unverhohlener Stolz erfüllte auch Marthian mit Stolz. Ja, er verdiente gut. Und das war noch untertrieben, denn inzwischen war er verdammt reich und brauchte immer wieder Lelainas Hilfe, um seine Aufträge noch bewerkstelligen zu können. In der Werkstatt am Haus konnte sie ihm gut helfen und freute sich über die Arbeit. Er lieferte immer öfter über die Landesgrenzen hinaus.

„Sie macht sich doch nur schlecht, indem sie arbeitet, ohne Geld dafür zu nehmen!“ empörte seine Mutter sich über Arinaya.

„Warum? Sie bekommt oft Geschenke. Überall in der Gegend ist sie bekannt und hoch anerkannt“, erwiderte Marthian gelassener, als er war.

„Mama“, sagte Falinia tadelnd, woraufhin Marthian lächelte. Zumindest sie schätzte Arinaya.

„Sie denkt über solche Dinge nicht nach“, behauptete seine Mutter.

„Doch, tut sie. Und beschließt, daß sie es nicht wichtig findet“, spöttelte er.

„Du solltest ein Auge auf die Erziehung eures Sohnes haben“, giftete sie.

„Aus ihm wird schon kein Schürzenjäger.“ Marthian mußte sich Mühe geben, um den Spott in seiner Stimme zu ersticken.

„Nein, wohl kaum. Sie wird ihn dazu erziehen, einer Frau zu gehorchen. Das ist ...“

„Hört jetzt endlich auf!“ mischte Marthians Vater sich ein und warf seiner Frau einen strafenden Blick zu. „Ich finde, du solltest dich am wenigsten beklagen, denn dein Mann respektiert dich genauso wie Marthian es mit seiner Frau tut. Seit wann findest du das denn falsch?“

„Ach“, machte Marthians Mutter und stürmte in die Küche.

„Warum ist sie nur immer so?“ fragte Falinia kopfschüttelnd.

„Was denkst du, wie oft ich mich das frage“, sagte Marthian, während er auf den Tisch starrte. Mit vor der Brust verschränkten Armen saß er da, dann hob er den Blick und sah seinen Vater forsch an. „Warum?“

Es war ihm herausgerutscht, ehe es ihm bewußt geworden war. Er hatte es noch nie so deutlich gefragt und wollte jetzt keinen Rückzieher mehr machen. „Warum, Papa? Warum haßt sie meine Frau so?“

„Sie haßt sie nicht“, winkte er ab. Marthian spürte, daß er das so meinte.

„Aber sie beklagt sich immerzu. Arinaya ist das Beste, was mir je passiert ist und ich habe genug davon, sie stets verteidigen zu müssen. Was stört Mutter denn so?“

„Sie macht sich Sorgen, daß Gerede aufkommt. Sie meint es nur gut!“

Jetzt spürte Marthian auch bei seinem Vater Zurückhaltung. Für einen Moment zögerte Marthian, dann sagte er: „Du verheimlichst doch etwas. Genau wie sie.“

Sein Vater schaute zur Küche. In der Tür stand Marthians Mutter und schüttelte mit einem flehentlichen Blick den Kopf.

„Es reicht“, fand sein Vater und erhob sich. „Komm, Marthian.“

Mit dem seltsamen Gefühl von Furcht erhob der junge Mann sich und folgte seinem Vater.

„Das kannst du nicht machen! Das darfst du nicht!“ rief seine Mutter.

„Es ist deine eigene Schuld“, erwiderte sein Vater. Dann verließ er das Haus und Marthian folgte ihm. Schweigend gingen sie nebeneinander die Straße hinunter. Marthian traute sich nicht, etwas zu sagen. Er hatte voll ins Schwarze getroffen, was ihn nicht überraschte; ihn überraschte nur die Reaktion seines Vaters. Und er spürte bei ihm genauso viel Unbehagen wie bei sich selbst, sogar Angst. Dieselbe Angst.

Sie gingen, bis sie die Stadt verlassen hatten. Marthian schwieg die ganze Zeit, obwohl es ihm schwer fiel. Erst draußen vor der Stadt sah er seinem Vater direkt ins Gesicht und spürte bei ihm Angst und Trauer. Damit hatte er nicht gerechnet. Es war also schlimm.

„Du hast ganz Recht“, sagte sein Vater nach einer Weile. „Es gibt ein Geheimnis. Es ist älter als du. Überlege dir gut, ob du es hören willst, denn danach gibt es kein Zurück mehr. Es wird sehr weh tun. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.“

Stumm starrte Marthian ihn an. Sein Vater hatte Herzrasen, aber es gelang dem jungen Mann nicht, seine Gedanken auszumachen.

„Aber was hat Arinaya damit zu tun?“ fragte er zögerlich.

„Es hat lang gedauert, bis ich das begriffen habe. Und ich weiß jetzt, daß wir einen Fehler gemacht haben, der nicht wieder gut zu machen ist.“

Marthian holte tief Luft. „Ich will es hören.“

Sein Vater nickte. „Also schön. Es gibt unendlich viele Lügen in unserer Familie, weißt du. Deine Mutter wollte es so. Ich habe es nie ganz verstanden, aber ihr zuliebe habe ich auch gelogen. Die erste Lüge ist die, daß sie aus Kimorha stammt.“

„Tut sie nicht?“ Marthian war überrascht.

„Nein. Sie stammt aus einem der Dörfer im Umland. Genau wie ich.“

Marthian nickte. Das hatte er gewußt. Seine Eltern hatten immer erzählt, sie seien sich in Kimorha auf einem Fest begegnet, das sein Vater besucht habe. Dort habe er seine Mutter getroffen und sich verliebt.

„Sie war sechzehn, als ich sie traf, also noch sehr jung. Da ich schon achtzehn war, war ich auf Brautschau. In ihrem Dorf fand ein Fest statt, wo sie mir ins Auge fiel. Sie war so schön, weißt du. Ich forderte sie zum Tanz auf. Wir tanzten den ganzen Abend und wir plauderten und hatten viel Spaß. Ich brachte sie sogar nach Hause und traf sie immer wieder. Strahlend erzählte ich meinen Eltern davon und schmiedete schon Pläne. Ich wollte dieses Mädchen heiraten. Also faßte ich mir ein Herz und fragte sie - und sie sagte nein.“

„Wie kann das sein?“ fragte Marthian irritiert.

„Ich wollte wissen, ob sie mich nicht liebte. Doch, beteuerte sie. Sehr sogar. Aber kurz bevor wir uns auf dem Fest begegnet sind, hat sie sich mit einem wohlhabenden Händlerssohn aus ihrem Dorf verlobt. Das war für mich wie ein Schlag in den Magen. Genaugenommen sollte die Hochzeit schon wenig später stattfinden.“ Für einen Augenblick zögerte Marthians Vater. „Es drängte, sagte sie. Denn sie war bereits schwanger.“

Marthians Augen wurden groß. Für einen Augenblick war er vollkommen verwirrt und fragte: „Da war noch ein Kind?“

Sein Vater schaffte es kaum, seinem fragenden Blick standzuhalten. „Nein. Nein, Marthian ...“

Nicht? Einem ungeheuren Verdacht folgend, begann Marthian zu rechnen. Ihm wurde schlagartig heiß, dann speiübel. Er biß die Zähne zusammen und schloß für einen Moment die Augen.

„Das war ich, oder?“ fragte er schließlich mit zitternder Stimme - so leise, daß sein Vater Mühe hatte, ihn zu verstehen. Während Marthian langsam die Augen wieder öffnete, spürte er, wie sein Vater einen Arm um seine Schultern legte.

„Ja, Marthi. Das warst du.“

So schnell, wie ihm heiß geworden war, wurde ihm auch wieder kalt. Marthian verschränkte die Arme vor der Brust und spürte, wie ein heftiges Zittern ihn ergriff. Er stand stocksteif da und schnappte nach Luft.

„Das war für mich nie von Bedeutung, Marthian. Nicht, seit du geboren warst. Als ich dich in den Armen hielt, warst du mein Sohn.“

„Du bist nicht mein Vater?“ fragte Marthian langsam. Er war unfähig, es zu begreifen.

„Nicht im Blute, aber im Herzen. Das weißt du doch.“

Das stimmte in der Tat. Nie, niemals in seinem ganzen Leben hatte Marthian einen Augenblick erlebt, der ihn rückblickend zweifeln ließ. Es war vollkommen absurd. Er hatte stets geglaubt, seinem Vater ähnlich zu sehen, Charakterzüge von ihm zu haben.

Er konnte nichts dagegen tun, als ihm plötzlich Tränen in die Augen schossen. Stumm weinend sah er seinen Vater an, schlug dann die Hände vors Gesicht. Sein Vater schloß ihn in die Arme.

„Es war mir immer gleich, Marthian. Ich liebe dich wie mein eigen Fleisch und Blut. Ich kann das behaupten, denn ich habe noch zwei eigene Kinder. Ich habe nie einen Unterschied gesehen. Und ich war immer schrecklich stolz auf dich.“

„Vater“, stieß Marthian mit erstickter Stimme hervor, dann wurde er von Schluchzern geschüttelt. Ihm war, als fiele ihm der Himmel auf den Kopf. Nur ein einziges Mal hatte er in seinem Leben einen solchen Schmerz empfunden, und das war in dem Augenblick gewesen, als er Arinaya bei den Lebenshäschern verloren geglaubt hatte.

Sein Vater ließ ihn weinen. Marthian hatte sich nie zuvor so schwach, so angreifbar gefühlt. Innerhalb von Augenblicken hatte man ihm seine Wurzeln geraubt und ihm alles entrissen, woran er immer geglaubt hatte. Das war nicht gerecht. Warum durfte dieser Mann nicht sein Vater sein?