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Eine magische Hexenakademie im Kampf gegen unheilvolle Rebellen! Von geheimnisvollem Nebel verborgen, bildet die magische Universität Bronwick Hall junge Hexen aus. Dort gerät die 21-jährige Blaine in einen Strudel aus Lügen und Intrigen, nachdem sie zur obersten Elitestudentin aufsteigt. Ihr Verlobter Karan bietet ihr Schutz, seit ihr Vater wegen Hochverrats verhaftet wurde, doch sie liebt ihn eigentlich nicht. Als die Universität von einer Rebellenorganisation angegriffen und Karan im Kampf von einem Pfeil vergiftet wird, verbündet sich Blaine mit dem jungen, geheimnisvollen und viel zu attraktiven Professor Henry Saints, um ihre Zukunft zu retten. Bronwick Hall: Band 1: Dornengift Band 2: Dornenkrone
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Cover & Impressum
Widmung
Sieben Schwestern
1. Kapitel
Ein Sarg aus Eis
2. Kapitel
Runtergebrannte Kerzen
3. Kapitel
Bronwick Hall
4. Kapitel
Im Glashaus
5. Kapitel
Am seidenen Faden
6. Kapitel
William White
7. Kapitel
Eine ziemlich poetische Strafe
8. Kapitel
Dunkelgrüne Gewitterwolken
9. Kapitel
Kalte Gemäuer
10. Kapitel
Schuld im Spiegel
11. Kapitel
Prisma
12. Kapitel
Titanid
13. Kapitel
Geister in ihren Särgen
14. Kapitel
Ein morgendlicher Gast
15. Kapitel
Nur eine Studentin
16. Kapitel
Nacht und Nebel
17. Kapitel
Baum der Vernichtung
18. Kapitel
Was wir verlangen
19. Kapitel
Auf Messers Schneide
20. Kapitel
Illusionen
21. Kapitel
Ein Geheimnis für ein Geheimnis
22. Kapitel
Der Grund des Fluchs
23. Kapitel
Das Grab des Hexenvolkes
24. Kapitel
Kaizerliche Heilstätte
25. Kapitel
Sprühende Funken
26. Kapitel
Tropfen auf Tinte
27. Kapitel
Kein Entkommen
28. Kapitel
In die Seele gebrannt
29. Kapitel
Ein geheimes Treffen
30. Kapitel
Schwindende Gestalten
31. Kapitel
Um uns Geister
32. Kapitel
Blaine Thackeray
33. Kapitel
Verrat und Verschwörung
34. Kapitel
Tausend leere Worte
35. Kapitel
Versprochen
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Anja. Du bist schlicht und wahrhaftig die beste Freundin, die man sich vorstellen kann.
Einst lebten sieben Schwestern.
Die älteste war die schönste,
mit rabenschwarzem Haar.
Die zweite war die klügste,
mit unstillbarem Wissensdurst.
Die dritte war die tapferste,
mit flammender Leidenschaft.
Die vierte war die ruhigste,
die alle von ihnen liebte.
Die fünfte war die stärkste,
die jeden Kampf gewann.
Die sechste war die Träumerin,
mit tausend Welten in ihren Augen.
Und die jüngste war die kälteste,
mit einem Herzen so hart wie Stein.
Eine der Schwestern ertrank in der See.
Eine stürzte die Klippe hinab.
Eine wurde niedergetrampelt.
Und eine erfror im Eis.
Eine brannte lichterloh.
Eine starb durch scharfes Eisen.
Und eine … eine überlebte.
Die große Standuhr im Foyer von Bronwick Hall schlug laut zur ersten Stunde nach Mitternacht. Die dumpfen Glockenschläge wurden durch das gesamte steinerne Gemäuer getragen. Ich bildete mir ein, dass der Bettkasten unter mir vibrierte.
Vielleicht erzitterte ich allein wegen der Anspannung. Seit zwei Stunden hatte ich beinahe regungslos in meinem Bett gelegen und die gewölbte Decke angestarrt. Fast konnte ich die schwarzen Zierelemente auf dem cremeweißen Stein erkennen, den es überall in Bronwick Hall gab. Der Akademie für Unterweltlerinnen und Unterweltler. Schule und Universität in einem.
Linden, meine Zimmergenossin, schnarchte leise vor sich hin. Ihr Bett befand sich gegenüber von meinem auf der anderen Seite des Zimmers.
Kein Mondlicht drang durch das lange Mansardenfenster. Dennoch fand ich mich problemlos zurecht, nachdem ich die Decke zurückgeschlagen hatte und aufgestanden war. Auf leisen Sohlen schlich ich über den Webteppich zur Tür. Meinen dunkelgrünen Poncho und die Stiefel nahm ich an mich, ohne innezuhalten.
Seit einem Jahr war Linden bereits meine Zimmergenossin, und ich war mir ziemlich sicher, dass ausschließlich ein Weltuntergang sie wecken würde. Sie riss so schnell nichts aus ihren Träumen.
Dennoch öffnete ich möglichst lautlos die schwere Eichentür und schlüpfte durch den schmalen Spalt in den erleuchteten Korridor hinaus. Er war leer.
Erst gestern hatte das neue Semester begonnen. Mein zweites Jahr an der Universität von Bronwick, nachdem ich meinen Schulabschluss ebenfalls hier absolviert hatte. Einen großen Unterschied gab es nicht. Bloß dass Studierende mehr Freiheiten, aber auch mehr Verantwortung bekamen. Außerdem befanden sich die Schlafräume für Studentinnen im äußersten Bereich des Westflügels. Am weitesten von der großen Treppe entfernt. Es hätte meine nächtlichen Pläne zerschlagen sollen, doch es gab noch die Dienstbotengänge, die in unscheinbaren Alkoven und manchmal auch hinter großen Gemälden versteckt lagen. Andernfalls wäre der Weg viel zu lang gewesen, und ich wäre bestimmt von der Hausdame erwischt und abgemahnt worden.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
In meiner gesamten Zeit in Bronwick hatte ich noch nie eine Verwarnung erhalten. Nur ein einziges Mal war meine Großmutter, die Baronesse, zur Akademie zitiert worden. Ich wollte keine Wiederholung dessen.
Deshalb gab ich mich im Alltag scheu, schüchtern, perfekt. Niemand sollte Anstoß an mir nehmen. Niemand sollte auf mich achten. Niemand außer Karan jedenfalls. Aber das war eine andere Geschichte.
Ich blickte ein letztes Mal über meine Schulter, doch der mit dunkelgrünem Teppich ausgelegte Gang hinter mir war ruhig. Die Flammen der Gaslaternen flackerten leicht.
Eilig steuerte ich die Dienstbotentreppe an, die ich durch das Zur-Seite-Schieben eines Landschaftsgemäldes erreichte. Erst im Schutz des düsteren Inneren rief ich meine Elementarmagie. Ein grell leuchtender Ball erschien und waberte in der Luft vor mir auf Augenhöhe.
Das Heraufbeschwören dessen bedurfte kaum meiner Konzentration. Aber auch darüber wollte ich nicht nachdenken. Die Leichtigkeit bedeutete, dass ich besonders talentiert war, und Talent war … aufmerksamkeiterregend.
Nachdem ich in meine schwarzen Stiefel geschlüpft war und meinen Poncho über das karierte Kleid gezogen hatte, fühlte ich mich gleich sicherer. Aufregung bahnte sich dennoch ihren Weg durch meinen Körper.
Es wäre einfacher gewesen, im Bett zu bleiben und nichts zu tun. Doch das hatte ich bereits versucht, und es machte alles schlimmer.
Mit meinem Lichtball als Orientierungshilfe stieg ich bis ins Erdgeschoss hinab.
Um die Bibliothek zu erreichen, musste ich den Dienstbotengang verlassen und den breiten, wenn auch kurzen Korridor betreten. Wenn mich jemand entdecken würde, dann hier, da es durchaus möglich war, dass sich noch Lehrpersonal oder Akademieangestellte durch die Flure bewegten. Normalerweise waren unter der Woche und um diese Uhrzeit jedoch bloß Professorinnen und Professoren wach, die ihren obligatorischen Rundgang machten.
Ich löschte die magische Flamme und trat aus dem Alkoven. Für einen Moment blieb ich in dem Gang stehen und lauschte.
Ein schmaler Teppich breitete sich vor mir aus. An den Steinwänden hingen Ölgemälde und Stoffbehänge, die aus unserer Welt gerettet worden waren. Der Unterwelt, die einst unsere Heimat gewesen war.
Als ich ein Rascheln hörte, erstarrte ich mitten in der Bewegung. Meine Hand lag auf der Türklinke zur Bibliothek. Ich versuchte, möglichst flach zu atmen, während ich lauschte. Das Rascheln kam aus der Bibliothek selbst.
War ich so spät?
Ein Luftzug streifte meine Beine, und ich erzitterte. Statt der Wollstrumpfhose hätte ich lieber eine Jeans anziehen sollen. Der Sommer war bereits vorbei. Es war albern, mich mental an eine Jahreszeit zu klammern. Sie kam und ging wie die Blüten eines Rosenstrauchs.
Ich öffnete die Tür und fand mich in der Dunkelheit und von Tausenden Büchern umgeben wieder. Sofort nahm ich den Geruch von vergilbtem Papier und alten Ledermöbeln wahr. Eine Kombination, die sich tagsüber durch das Kratzen von Füllfederhaltern auf Papier zu einer magischen Atmosphäre vereinte – ganz ohne tatsächliche Banne und Zauber.
Das Schloss klickte leise. Ich löste meine Hand vom unbehandelten Holz der Tür und wartete, bis sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Nach und nach zeichneten sich die Umrisse der meterhohen Regale vor mir ab, die schlanken Fenster am anderen Ende und die breiten Tische zum Lernen. Leselampen mit gläsernen Schirmen in den Akademiefarben Grün, Blau und Grau. Ein kurzer Blick an die Decke, auf der ein Nachthimmel mit verblassten Sternenkonstellationen gezeichnet war.
Wieder ertönte das vergleichsweise laute Rascheln, bevor ein magischer Leuchtball erschien. Er bewegte sich direkt auf mich zu und erhellte all jene Ecken und Nischen, die mir bis dahin verborgen geblieben waren.
Mein Mundwinkel zuckte. Ich ging auf dem gemusterten Teppich vorwärts. Setzte den Weg zu meinem Ziel fort.
Als ich den Hauptdurchgang erreicht hatte, trat der Magiewirkende in mein Sichtfeld. Das Rascheln verstummte, als er stehen blieb. Es war von seiner Tasche gekommen, in der er das mitgebracht hatte, worum ich ihn gebeten hatte.
»Du bist zu laut«, sagte ich neutral. Solange er mir die Tasche nicht überreicht hatte, musste ich vorsichtig sein. Trotzdem hatte ich mir den Kommentar nicht verkneifen können.
Er lächelte schief. Tom. Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun, und nach dem heutigen Treffen würden wir vermutlich nicht mehr miteinander reden. Dennoch konnte ich nicht leugnen, dass er attraktiv war. Seine rehbraunen Augen, die im schwachen Licht fast schwarz wirkten, und darum der volle Wimpernkranz. Eine scharf geschnittene Kieferpartie, für die ich stets eine Schwäche gehegt hatte, und die glatte, umberbraune Haut.
»Und du bist zu spät.« Sein Lächeln schwand nicht, doch in seiner Stimme schwang eine verärgerte Note mit.
Reiß dich zusammen, Blaine.
Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, meine Mundwinkel anzuheben. Ein verführerisches Lächeln, das bei Karan kaum jemals Wirkung gezeigt hatte und das mir seitdem schwerfiel. Bei Tom hingegen funktionierte es.
Er trat näher an mich heran, bis meine Nasenspitze beinahe sein dunkles Hemd berührte. Seine Körperwärme sprang auf mich über. Entzündete mein Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit.
Ich sollte die Tüte nehmen und verschwinden. Dafür war ich hier. Nicht für das, was er mir noch geben könnte.
Trotzdem nahm ich es mir. Als wäre dies von Beginn an mein Plan gewesen.
Ich stellte mich auf Zehenspitzen und krallte mich an dem Kragen seines Hemds fest. Mit großen Augen hob ich den Blick. Fing den seinen ein. Er schluckte. Sein Kehlkopf hüpfte, bevor er die Einladung annahm und seine Lippen auf meine presste.
Er war nicht Karan. Ich fühlte nichts für ihn. Nach dieser Nacht würde er auch keinen Nutzen mehr für mich haben. Mein Herz machte keine Saltos, und in meinem Bauch flatterten keine Schmetterlinge. Doch darum ging es nicht. Ich machte Jagd auf die Wärme, die sich zwischen uns wie selbstverständlich bildete. Die Hitze, die von uns beiden erzeugt wurde. Die Leidenschaft, die Karan in mir erweckt und dann sich selbst überlassen hatte.
Sein leises Stöhnen ermöglichte es mir, unseren Kuss zu vertiefen. Er drängte mich zurück. Drückte mich gegen den Tisch in meinem Rücken, bis ich darauf rutschte und meine Beine um seine Mitte schlang. Seine Lippen wanderten von meinen herab bis zu meiner Kehle. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte an die Decke. Seine Hand fuhr über meinen Oberschenkel. Unter meinen Rock.
Wenn er finstere Absichten hegte, würde er die Chance nutzen und mich erledigen. Mit Magie oder einem Messer.
Ich öffnete im Rausch der Gefahr sein Hemd. Außerdem brauchte ich dringend mehr von seiner Hitze.
Schon gestern war ich an die Akademie zurückgekehrt, aber noch immer fühlte ich mich wie in Eis gefangen. Die Semesterferien bei meiner Tante und meiner Großmutter hatten mich innerlich frieren lassen. Ihre Kälte war in meine Blutbahnen eingedrungen. Wollte ich nicht in diesem Sarg aus Eis bleiben, müsste ich mir menschliche Wärme woanders besorgen.
Wenn ich sie weder von meiner Familie noch von meinem Verlobten, Karan, bekäme, müssten Tom und andere wie er herhalten. Diejenigen, die nicht von meiner Vergangenheit abgeschreckt waren. Diejenigen, die den Skandal fast schon vergessen hatten.
Dieses Mal entfloh mir ein Stöhnen, als meine Hände auf seinen Bauch trafen. Er war so warm. Wieder eroberte er meinen Mund, und ich ließ es zu, dass unsere Zungen miteinander einen Kampf ausfochten, den ich zum Überleben führen musste.
Dann ließ Tom die Tüte fallen und weckte mich auf. Nicht länger Eis, aber auch kein Feuer.
Reflexartig hatte ich nach der Tüte gegriffen und gerade so verhindert, dass sie auf dem Boden aufkam. Meine Muskeln protestierten bei der abrupten Bewegung. Eilig richtete ich mich auf und drückte Tom mit der freien Hand auf seinem Brustkorb von mir.
»Wir sollten zu unseren Zimmern zurückkehren«, sagte ich entschieden und rutschte vom Tisch. Meine Atmung kam immer noch stoßweise.
»Wirklich?« Er rückte näher, berührte eine entflohene Haarsträhne, ehe er mein Gesicht umfasste. Sein Daumen drückte mein Kinn leicht nach oben. »Wir könnten noch etwas Spaß haben.«
»Ich habe, was ich wollte.«
»Und was ist mit mir?«
Entschieden drückte ich seine Hände runter. Die Tüte raschelte nervenaufreibend laut.
»Ich habe dir dein Geld bereits überwiesen.«
»Das meinte ich nicht.«
»Aber ich.«
»Hast du dich gerade nicht amüsiert?«
Ich musste mich dazu zwingen, nicht die Augen zu verdrehen.
»Doch. Aber jetzt will ich zurück auf mein Zimmer, wenn du erlaubst.« Ein bisschen Sarkasmus hatte noch nie geschadet.
Ich drehte mich zur Tür. Der magische Lichtball tanzte über uns.
»Tu mal nicht so, als wärst du so schwer zu haben. Ich habe Geschichten gehört.« Er machte ein höhnisches Geräusch. »Dein Vater ist bestimmt stolz auf dich. Ein Hochverräter, dessen Tochter mit dem Feind ins Bett steigt.«
Es wunderte mich nicht, dass er meinen Vater nutzte, um mich anzugreifen, und nicht Karan. Schließlich war es kein Geheimnis, dass mein Verlobter kein liebestoller Hexer war. Trotzdem schmerzte es.
»Du solltest meine Abfuhr mit Würde tragen, anstatt dich derart zu blamieren«, sagte ich über meine Schulter. »Wenn ich ein Gerücht über diese Nacht höre, werde ich deinen Eltern höchstpersönlich schreiben und ihnen sagen, dass du mit der Tochter des berüchtigtsten Hochverräters geschlafen hast.«
Ich hätte niemals mit Tom Geschäfte gemacht, wenn ich mich nicht vorher über ihn erkundigt hätte. In meiner Position war es unabdinglich, die Schwachstellen anderer zu kennen und diese – wie jetzt – notfalls auszunutzen.
Seine Eltern waren prüde und konservativ. Sie würden ihn wahrscheinlich dazu zwingen, die Akademie zu wechseln, wenn sie meinen Brief erhielten. Nur, damit ihr Name nicht durch mich beschmutzt wurde.
»Das würdest du nicht …«
»Gute Nacht.« Ich hob meine Hand und wedelte mit den Fingern, bevor ich eilig die Bibliothek verließ. Das war zwar unvorsichtig, weil sich jemand im Korridor hätte aufhalten können, aber genauso wenig wollte ich riskieren, Tom weiter gegen mich aufzubringen.
Glücklicherweise war der Gang immer noch wie ausgestorben.
Am sichersten wäre es gewesen, sofort die Dienstbotentreppe anzusteuern, doch Tom würde jeden Moment den gleichen Weg nehmen. Ich hatte genug von ihm. Deshalb versteckte ich mich eilig in einem steinernen Alkoven hinter der Titanengalerie, einem Flur, an dessen Wänden Gemälde der sechs Titanen hingen.
Langsam und möglichst leise löste ich den goldenen Raffhalter und zog den schweren dunkelgrünen Vorhang vor, bis er mich vollständig verhüllte.
So nah am Fenster drang die Kälte bis in meine Knochen, und die Wärme, die ich mir von Tom gestohlen hatte, löste sich auf. Dennoch setzte ich mich auf die steinerne Bank und zog die kleine Truhe aus der raschelnden Tüte.
Bewundernd drehte ich das Schmuckstück in meinen Händen. Goldene Ornamente, Schnörkel und die Schrift unserer Vorfahren, die ich nicht auf Anhieb entziffern konnte. Trotz der vielen Stunden, die ich vor meinem Studium im Klassenraum gesessen und Professorin Thurgood, die die alte Sprache lehrte, zugehört hatte. Das war allerdings auch nicht wichtig.
Wichtig war bloß, dass ich mit der Truhe herausfinden konnte, wer seit Monaten mein Leben auf den Kopf stellte.
Während des letzten Semesters war kaum eine Woche vergangen, in der mich nicht eine bedrohlich erscheinende Nachricht erreicht hatte. Anfangs willkürlich auf meinen üblichen Wegen durch die Akademie. Ein Federkiel mit meinem Namen drauf oder ein kostbar aussehender Dolch mit Tierblut verschmiert, den jemand in mein Schließfach gelegt hatte, während ich Kampfsporttraining gehabt hatte. Eine perlenbesetzte Haarspange aus kostbarem Silber, die an meiner Uniformjacke hing, ohne dass ich mich daran erinnern konnte, sie erstanden zu haben. An der Spitze der Nadel ebenfalls getrocknetes Blut. Zettel, auf denen seltsame Warnungen geschrieben standen.
Wer bist du?
Erinnerst du dich?
Wer hat sie getötet?
Das war jedoch noch harmlos gewesen. Schlimmer war es in den Wochen vor Ende des Semesters geworden. Als ich das Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Ganz egal, wohin ich lief, ich spürte Blicke auf mir. Hörte jemanden meinen Namen sagen, obwohl ich niemanden sehen konnte. Die Nachrichten wurden häufiger. Immer wieder die Aufforderung, mich zu erinnern.
Aber an was?
Und dann hatten die Angriffe begonnen. Immer dann, wenn ich mich irgendwo allein aufgehalten hatte, war ich wie aus dem Nichts mit Elementarmagie oder Bannzaubern attackiert worden.
Es war Segen und Fluch zugleich gewesen, dass es nie im Beisein anderer passiert war. Segen, weil dadurch niemand gesehen hatte, wie stark meine Elementarmagie war, mit der ich mich hatte verteidigen müssen; Fluch, weil mir so niemand glauben würde.
Natürlich hatte ich der Direktorin nichts davon gesagt. Das würde bloß Aufmerksamkeit auf mich lenken.
Nein. Ich würde es auf meine Weise zu lösen wissen. Und diese Truhe würde mir dabei helfen, den Schuldigen ausfindig zu machen. Nun, vielleicht nicht die Truhe selbst, aber das, was sich darin befand.
Vorsichtig klappte ich sie auf und besah mir den Inhalt. Eine goldene Kette und daran hängend eine gläserne Phiole, in der eine durchsichtige Flüssigkeit nebelgleich waberte. Sie würde sich schwarz färben, sollte sich jemand in meiner unmittelbaren Nähe befinden, der mir Böses wollte.
Zunächst musste ich der Flüssigkeit jedoch einen Tropfen meines Blutes hinzufügen. Die magische Wirkung des Artefakts beruhte nämlich auf Blutmagie. Eilig pikste ich mir mit der dünnen Nadel, die sich ebenfalls in der Truhe befunden hatte, in die Fingerkuppe. Ein dunkelroter Tropfen quoll hervor.
Nach ein wenig Fummelei konnte ich den Deckel der Phiole aufdrehen. Die Flüssigkeit mischte sich mit meinem Blut, und nach einem Moment war sie erneut farblos geworden. Ich schraubte die Phiole wieder zu und betrachtete sie eingehend.
Toms Mutter arbeitete in unserer Hauptstadt Aurum als Antiquarin und war die einzige Person, die ich kannte, die an ein solches Stück herankam. Der Preis war horrend gewesen, aber ich hoffte, es würde sich auszahlen.
Ich würde kein weiteres Semester mit der ständigen Angst, attackiert zu werden, ertragen. Vor allem, da ich immer noch meine Rolle zu spielen hatte. Bis ich erfolgreich verheiratet war und meinen Abschluss in der Tasche hatte.
Als ich das Zuschlagen einer Tür hörte, legte ich die Kette um meinen Hals und verbarg den Anhänger unter meinem Kragen. Ich wartete, doch niemand kam in meine Richtung.
Vor Kälte zitternd, die sich durch die Steinmauern zog, begab ich mich zum Dienstbotengang zurück. Auf der Treppe hielt ich jedoch inne.
Warum den Anhänger nicht gleich austesten?
Obwohl das Semester gerade erst angefangen hatte und morgen die ersten Kurse begannen, veranstalteten Studierende heute wie jedes Jahr eine Party. Ihre Art, um nach den Ferien wieder miteinander bekannt zu werden.
Entschlossen begab ich mich ins Untergeschoss. Glücklicherweise wusste ich ganz genau, wo sie stattfand.
Niemand hielt mich auf. Niemand rechnete damit, dass ich mich über die Ausgangssperre hinwegsetzen würde. Studierende durften sich zwar bis Mitternacht, zwei Stunden länger als Schülerinnen und Schüler, überall im Gebäude und draußen auf dem Gelände aufhalten, aber danach ausschließlich in den eigenen Schlafräumen.
Es war ein Privileg, zu studieren, und deshalb wurden die zwei Jahre mit eingeschränkten Freiheiten von jedem in Kauf genommen.
Gleichzeitig waren sich die meisten nicht dafür zu schade, heimlich durch Partys zu rebellieren. Ich war mir nicht mal sicher, ob das Lehrpersonal nichts von den Feiern wusste oder ob sie sich alle lediglich unwissend stellten. Weil sie durch jahrelange Erfahrung erkannt hatten, dass ein Ventil benötigt wurde.
So oder so, ich hatte noch nie davon gehört, dass eine Party in der Rohrpostzentrale aufgelöst worden war. Und auch wenn kaum jemand freiwillig mit mir sprach, war ich oft unsichtbar genug, um die wichtigsten Gesprächsthemen aufzuschnappen.
Im Untergeschoss musste ich durch den Korridor, von dem die Waffenkammer und die Trainingsräume abzweigten, bis zu dem Gebäudeteil, in dem man am leichtesten entdeckt werden konnte. Hier befanden sich die Schlaf- und Aufenthaltsräume der Akademieangestellten. Sie wurden bloß nicht von der Musik geweckt, weil jemand einen Bannzauber um die Rohrpostzentrale gewirkt hatte.
Vor der geschlossenen Tür atmete ich einmal tief durch. Das letzte Mal war ich mit Karan hier gewesen. Damals hatte es niemand gewagt, mir den Einlass zu verwehren. Doch jetzt war ich allein.
Ich machte mir nicht die Mühe, anzuklopfen. Meiner Erfahrung nach wurde man weniger bis gar nicht beachtet, wenn man sich verhielt, als gehörte man dazu. Ein Hauch von Unsicherheit und schon stürzten sich die anderen wie Scheusale auf einen.
Dieses Mal sollte ich damit allerdings falsch liegen. Ein breitschultriger Kerl aus meinem Jahrgang stellte sich mir mit verschränkten Armen in den Weg.
»Passwort?«, fragte er gedehnt, gar etwas gelangweilt. Er blinzelte einmal, ehe er seinen Blick senkte, weil er mich um ein ganzes Stück überragte. Er ließ sich nicht anmerken, ob er mich erkannte.
»Wie bitte?« Nur nicht in Panik geraten.
»Passwort?«
Würde ich wieder unverrichteter Dinge verschwinden müssen? Enttäuschung vernebelte mir den Verstand, und mir fiel keine Ausrede ein.
»Titanid«, sagte jemand hinter mir, bevor sich die Situation peinlich in die Länge ziehen konnte.
Der Student nickte und ließ das Pärchen hinter mir durch. Er stellte sich mir glücklicherweise nicht in den Weg, als würde er davon ausgehen, dass wir zusammengehörten.
Schnell schlüpfte ich in den abgedunkelten Raum. Die Tür wurde hinter mir geschlossen.
Ich blickte mich in der verwinkelten Zentrale um. Ein paarmal war ich schon fernab der nächtlichen Zusammenkünfte hier gewesen, weil ich Post hatte verschicken müssen. In Aurum, Bronwick und den anderen fünf Akademien funktionierte das mit einem magisch manipulierten Rohrsystem. Ich hatte gelesen, dass diese Art von Versand in der menschlichen Welt seit mehr als einem Jahrhundert schon nicht mehr genutzt wurde. Wir hielten jedoch voller Überzeugung daran fest.
Mehrere Rohre zogen sich an der Decke entlang und endeten gemeinsam in einer Ecke. Fast wirkte das daraus entstehende Konstrukt wie eine Orgel, die tagsüber von Schulkindern oder Studierenden, die sich was dazuverdienen wollten, gespielt wurde.
Heute Nacht arbeitete niemand. Musik erklang aus magiebetriebenen Boxen. Stromleitungen suchte man in Bronwick vergeblich. Ein süßlich duftender Nebel hing in der Luft, und Kerzen flackerten. Es gab eine provisorische Tanzfläche sowie ein Büfett auf zwei zusammengeschobenen Tischen. Das Wichtigste für den Großteil der Anwesenden war der Alkohol, den man aus Aurum oder dem menschlichen London in die Akademie geschmuggelt hatte.
Jemand hatte sich sogar die Mühe gemacht, eine Fruchtbowle zuzubereiten. Als ich mir einen Becher damit füllte, schenkte mir niemand Beachtung.
Ungefähr vierzig bis fünfzig Studierende waren anwesend. Sie amüsierten sich, lachten, scherzten, tanzten. Dabei war es ein Wunder, dass niemand durch die Luke fiel, die in den Boden eingelassen war und offen stand. Manche stiegen gerade wieder nach oben, andere warteten darauf, die Leiter hinunterzuklettern.
Meine Umgebung beobachtend, ging ich am Rand des L-förmigen Raumes entlang und holte die Phiole unter meinem Kragen hervor. Sie war durchsichtig. Offenbar befand sich hier niemand, der mir Böses wollte, was nicht wirklich überraschend war. Es war keiner von denen anwesend, mit denen ich mehr zu tun hatte. Die Elite zum Beispiel, zu der auch ich gehörte, glänzte mit Abwesenheit.
Nachdenklich nippte ich an der Bowle, den Geschmack von Tom vertreibend, während ich die kahl verputzten Wände betrachtete, die mir tagsüber nicht aufgefallen waren. Vielleicht hatte auch jemand vor der Veranstaltung einige Gemälde und Wandteppiche in Sicherheit gebracht.
Nachdem ich das andere Ende des Raumes erreicht hatte, blieb ich einen kurzen Moment gegen die Wand gelehnt stehen. Die Tüte mit der Truhe raschelte leise, als ich meine Arme verschränkte. Die Schlaufe hatte ich um mein Handgelenk geschlungen.
Vielleicht sollte ich es doch wagen, nach unten zu gehen. Ich hatte keine wirkliche Vorstellung davon, was dort ablief. Das letzte Mal hatte mich Karan davon abgehalten, weil es sich nicht ziemte. Es hatte mich gefreut, dass er mich für so unschuldig hielt, dabei war ich wohl die Letzte, die vor unziemlichen Dingen beschützt werden musste.
Ich gab mir einen Ruck und stellte mich hinter eine junge Elementarhexe. Die meisten Unterweltlerinnen und Unterweltler waren dazu fähig, zwei oder drei Magiearten zu wirken, und in einer davon brillierten sie zumeist. Von ihr wusste ich, dass ihr Elementarmagie am besten von der Hand ging, weil sie des Öfteren von Professor Marlow zu Vorführungszwecken nach vorne gebeten wurde.
Ich schloss mich ihr an, sobald niemand mehr von unten heraufkam. Die Sprossen der Leiter waren aus kaltem Eisen und an einigen Stellen so rutschig, dass ich mich darauf konzentrieren musste, nicht versehentlich den Halt zu verlieren.
Unten war es wie in einer anderen Welt. Sofort erkannte ich, dass wir uns in einem der unzähligen Ausläufer der Katakomben befanden, die sich unter der Akademie labyrinthartig ausbreiteten. In diesem Teil war ich jedoch noch nie gewesen, und ich glaubte auch nicht, dass unser Lehrkörper davon wusste. Die Party war eine Sache. Jedoch das hier?
Der Raum war ungefähr doppelt so groß wie die Rohrpostzentrale obendrüber, und in seiner Mitte befand sich ein silberner Käfig, der mit einem Bannzauber verstärkt worden war. Die Gitterstäbe schimmerten magisch.
Somit konnten die zwei Scheusale, die sich darin bekämpften, nicht ausbrechen. Diese Monster, von denen es verschiedene Arten gab – manchmal größer, manchmal gefährlicher –, galten als nahezu ausgestorben. Jedoch waren sie meinem Volk vor zweihundert Jahren durch die Tore aus der Unterwelt hierher gefolgt und fristeten nun ungesehen und unbeachtet ihr Dasein. Sie konnten nur für kurze Zeit fernab von der Magie der Unterweltlerinnen und Unterweltler existieren, weshalb sie für Menschen weitestgehend ungefährlich waren.
So hoch mein Wissensstand. Mir war jedoch nicht klar gewesen, dass Schülerinnen und Schüler oder Studierende Scheusale wie Ware kaufen konnten. Ich bezweifelte, dass sie sie selbst gejagt hatten. Oder?
Mein Kopf rauchte.
»Hey, mach Platz!«
Sofort rückte ich weg von der Leiter, behielt jedoch Hemmungen, mich dem Käfig zu nähern. Ungefähr zwei Dutzend Unterweltlerinnen und Unterweltler bewegten sich im Raum und jubelten den Scheusalen zu. Wetten wurden eingegangen, bezahlt und vermerkt. Schreie wurden laut, als das größere Scheusal seine riesigen Fangzähne im Nacken des kleineren versenkte. Beide Kreaturen hatten nachtschwarze Haut, und einzelne Fellbüschel wuchsen aus ihren Köpfen. Das Größere war eine Mischung aus Tiger, Hase und einem Reptil, das ich nicht näher bestimmen konnte. Es hatte ein riesiges Maul, lange Ohren und schuppige Haut. Das Kleinere war nur so groß wie ein Schaf und besaß auch Hufe. Seine Augen waren rot und klein, fast Schlitze. Genau wie die Nasenlöcher; die Nase wirkte platt gedrückt. Schlangenartig. Es schrie auf, als Blut spritzte.
Mir drehte sich der Magen um. Für einen Moment hatte ich meine Mission vergessen.
»Na, wer will noch eine Wette abschließen, bevor wir die letzte Runde einläuten?«, rief Yunis, ein Student aus meinem Semester. Ich hatte ihn und seine geleckte Art noch nie gemocht, und offenbar ließ mich mein innerer Kompass nicht im Stich. Er hatte entweder alles organisiert oder schlug Profit daraus, während er mit seinem Wettbüchlein die Reihen auf und ab lief. Über dem Käfig brodelte eine Wolke aus reiner Magie. Jeder, der mitwettete, mischte seine gewählte Magieart zur Wolke, wodurch er eine Art Pakt einging. Die Namen im Büchlein waren wahrscheinlich nur für die Unterlagen später.
Ich konnte mir diesen barbarischen Kampf nicht länger ansehen. Am liebsten hätte ich die Scheusale freigelassen, doch das hätte mehr Probleme kreiert als gelöst. Allerdings kam mir eine andere Idee.
Nach einem kurzen prüfenden Blick über meine Schulter stieg ich die Leiter wieder hinauf. Oben angekommen, wirkte die Luft weniger stickig, und der Geruch von Schweiß und Blut war nicht ganz so vorherrschend.
Auch hier kannte ich die meisten Anwesenden persönlich. Hatte sie schon in der Schulzeit oder dann während meines Studiums kennengelernt. Die Hälfte von ihnen hatte nie ein Wort mit mir gewechselt. Die anderen hatten sich früher oder später in der Situation wiedergefunden, mit mir an einem Partnerprojekt zu arbeiten.
Ich wusste nicht alle einzuschätzen, konnte meine persönlichen Gefühle jedoch nicht außer Acht lassen.
Eine Zeit lang hatte es mir etwas ausgemacht, dass sie hinter meinem Rücken die Augen verdreht und getuschelt hatten. Kurz nachdem mein Vater inhaftiert worden war. Damals war die Wunde noch frisch gewesen. Der Unterschied zwischen dem Vorher und dem Danach schmerzhaft.
Heute konnte ich mich kaum noch an die Zeit erinnern, in der ich Freunde gehabt hatte. Mittlerweile war das Getuschel zudem verklungen, und bis auf meinen unbekannten Angreifer behandelte man mich mit neutraler Höflichkeit.
Ich nahm ein letztes Mal die Phiole in die Hand. Die Farbe der Flüssigkeit hatte sich nicht verändert. Das hier war Zeitverschwendung. Ich sollte besser verschwinden. Die Bilder dieser Nacht würden mich noch eine Weile verfolgen.
Als ich mich wieder durch die tanzenden Leiber drängte, umfasste jemand mein Handgelenk und hielt mich fest.
»Was …?« Ich blickte auf und sah in das grinsende Gesicht meines Cousins. Rees.
Unglücklicherweise war Rees so wie ich Teil der Elite, sodass ich ihn im Alltag häufiger sah, als mir lieb war. Die Elite war eine Gruppe von Studierenden, die in sämtlichen Magiebereichen begabt war und deshalb separat von allen anderen unterrichtet wurde. Wenn alles gut lief, wurden uns nach dem Diplom die begehrtesten Stellen angeboten, und die Prisma, die momentan Posey Westbrook war, galt als direkte Anwärterin auf den ehrenvollen Posten des kaizerlichen Conciliars.
Conciliare waren Berater und Beschützer von Adelsfamilien.
Vor wenigen Wochen war die Conciliar-Stelle für die Kaizerin frei geworden. Der ehemalige Conciliar, Henry Saints, war angeblich gefeuert worden, nachdem er die Tochter der Kaizerin nicht hatte heilen können. Die Gerüchteküche war explodiert, doch die Beteiligten hatten geschwiegen.
Mir war der Tratsch egal. Im besten Fall würde ich niemals mehr etwas mit der Kaizerin tun haben.
»Schwesterchen«, sagte er über die lauten Klänge hinweg und grinste. Sein weißes Gesicht wirkte bleich im schummrigen Licht auf der Tanzfläche.
Ich hasste es, dass er mich so nannte. Es war eine Farce. Bloß weil ich in den Ferien bei seiner Mutter, meiner Tante, wohnte, bedeutete das nicht, dass wir Geschwister waren.
Ich hatte bereits einen Bruder und brauchte Rees nicht.
»Was machst du hier?« Ich schüttelte seine Hand ab und verengte die Augen.
»Feiern, und du?«
»Feiern«, murmelte ich und versteckte die Phiole unter meinem Kragen, während ich seinem Blick standhielt. »Aber ich bin müde, also …«
Rees musterte mich argwöhnisch. »Karan ist nicht hier.«
»Ich habe nicht nach ihm gesucht.«
»Ich glaube dir sogar.« Er lachte, als sein aktueller Liebhaber, den ich nur vom Sehen kannte, eine Hand an seine Wange legte. Soweit ich wusste, wechselte er sie öfter als manche ihre Unterwäsche. »Sorry, da will jemand meine Aufmerksamkeit. Bis morgen.«
»Rees!« Sein Blick traf meinen. »Ihr solltet besser in deinem Zimmer weiterfeiern.«
Ich hoffte, dass meine Nachricht bei ihm ankam. Noch deutlicher wollte ich nicht werden.
Um nicht noch von jemand anderem aufgehalten zu werden, beeilte ich mich, rauszukommen. Vor der Tür hielt ich kurz inne und prüfte, ob auch niemand in der Nähe war. Dann hob ich meine Hände und erfühlte den Bannzauber, der verhinderte, dass jeglicher Lärm nach außen drang. Ich war nicht so begabt wie Linden, aber ich wusste, was ich tat.
Ich wisperte zwei kurze Wörter auf Titanis – unserer alten Sprache – und nutzte Bannmagie als Katalysator, um gegen den anderen Zauber zu bestehen. Weiße Fäden wanden sich aus meinen Fingern und schlangen sich um die Schwachstelle des Bannzaubers – die Tür. Ein letztes Ziehen und Zerren, und er wurde niedergeschmettert. Sofort drangen Musik, Stimmengewirr und auch Geschrei bis in den Flur. Innerhalb weniger Minuten würde sicherlich jemand den Aufruhr bemerken und die Scheusale hoffentlich retten.
Zufrieden beeilte ich mich, zur Dienstbotentreppe zu kommen und nach oben zu verschwinden. Hoffentlich würde es Rees noch rechtzeitig nach draußen schaffen. Ich wollte ihm keinen unnötigen Ärger bereiten und wenn doch … irgendwie würde er sich schon wieder da rauswinden können.
Ich entspannte mich erst, als ich die Schlafräume erreicht hatte. Ungesehen schlüpfte ich zurück in mein Zimmer.
Linden grummelte im Licht heruntergebrannter Kerzen etwas Unverständliches und drehte sich auf die andere Seite. Sorgsam zog ich mich aus und schlüpfte in mein Nachthemd aus schwarzer Seide. Einst hatte ich es gekauft, um Karan zu verführen.
Die Kette legte ich auf meinen Nachtschrank, und die Truhe verstaute ich unterm Bett, damit mich Linden nicht danach fragte. Mein Herz klopfte schnell, obwohl in der Nacht mehr oder weniger alles nach Plan verlaufen war. Abgesehen von dem kurzen Zwischenspiel mit Tom. Aber er würde schon darüber hinwegkommen. Letztlich war ich es nicht wert, dass er länger über mich nachdachte.
Tatsächlich dachte niemand, dass ich irgendetwas wert war. Selbst Rees nicht. Auch wenn er sich auf dem ersten Blick aufmerksam benahm. Ich bedeutete ihm nichts.
Traurig, wenn ich es nicht so gewollt hätte. Ich wollte ihnen allen nichts bedeuten, weil sie mir auch egal waren. Noch ein Jahr auf der Akademie und dann würde ich die meisten ohnehin nie wieder sehen.
Die Lider zusammenkneifend, drehte ich mich auf die Seite. Hoffentlich würde sich mein Leben ab morgen unkomplizierter gestalten. Ohne heimlichen Angreifer.
Erst als der Schlaf schon seine Finger nach mir ausgestreckt hatte, wurde mir bewusst, dass ich vor meinem nächtlichen Ausflug keine Kerze hatte brennen lassen. Es war zu spät. Ich schreckte nicht mehr auf. Der Schlaf übermannte mich.
Undurchdringlicher Nebel umhüllte das steinerne, efeubewachsene Anwesen von Bronwick Hall an diesem verheißungsvollen Morgen. Er verschleierte die Sicht auf die grüne Hügellandschaft, als ich einen prüfenden Blick aus dem Sprossenfenster warf. Obwohl sich Lindens und mein Schlafraum im dritten Stock befand, wie alle Zimmer für Studentinnen, konnte ich nur weiße Nebelschwaden erkennen.
Ich versuchte, das englische Wetter als kein schlechtes Omen zu betrachten, und drehte mich zu meinem Bett um, auf dem meine ausgebreitete Uniform lag. Ich hatte nur unruhig geschlafen. Mich hatten durchgehend Scheusale verfolgt, die sich gegenseitig zerfleischten, ehe sie sich auf mich stürzten. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass so etwas direkt vor der Nase der Direktion geschehen konnte.
Linden hatte sich nach dem Aufwachen nichts anmerken lassen. Selbst wenn sie in der Nacht aufgewacht und mein Bett leer vorgefunden hatte, war das nicht dramatisch. Ich hätte genauso gut auf der Toilette sein können.
Besser ich ließ die Sache auf sich beruhen und konzentrierte mich auf den ersten Vorlesungstag.
Im besten Fall würde mich mein Stalker nicht mehr belästigen. Im schlimmsten Fall würde ich mit der Phiole erkennen, wer dahintersteckte.
Sorgfältig zog ich Nylonstrumpfhose, Unterhemd, grün-blau karierten Rock und dazu einen dunkelgrünen Pullover über eine weiße Bluse an. In dieser Reihenfolge. Wie ich es an jedem Morgen tat, um mich auf den Tag vorzubereiten.
Als Studierende der Akademie bekam man ein paar mehr Freiheiten, was die Uniformen anbelangte, aber meistens hielt ich mich penibel an die Vorschriften.
Vor dem mannshohen Messingspiegel überprüfte ich jede Falte und jede Stoffschicht. Niemand sollte Anstoß daran nehmen, wie ich mich kleidete. In der Nacht konnte ich meine Freiheiten genießen und mit Typen wie Tom rummachen, ohne meinem Ruf zu schaden, weil sie niemals plaudern würden. Eine Verbindung mit mir würde ihrem Ruf schaden.
Noch viel wichtiger war allerdings, dass ich Karan zeigen wollte, dass ich keinerlei Aufwand bedurfte und ihn nicht in Schwierigkeiten bringen würde. Er könnte sich auf mich verlassen. Ich war zuverlässig, höflich und würde mich an alle Regeln halten.
Jedenfalls wenn ich dabei beobachtet wurde. Alles andere sollte ihm ja egal sein.
Ich zupfte an meinem Pony herum, der bis kurz über meine Brauen reichte und mir fast in meine dunkelblauen Augen fiel. Anschließend frisierte ich meine schwarzen Haare mit einem karierten Stoffband zu einem Pferdeschwanz.
Linden sah mich von ihrem Bett aus an. Zunächst spürte ich ihren skeptischen Blick nur, dann fing ich diesen auch im Spiegel auf.
Wir waren zwar nicht miteinander befreundet, da ich grundsätzlich keine Freunde hatte, aber als Zimmergenossinnen verstanden wir uns gut. Sie gehörte zu den wenigen Hexen, die nicht auf mich herabsahen, weil mein Vater ein Hochverräter der kaizerlichen Obrigkeit war. Und offenbar akzeptierte sie die Grenzen, die ich zwischen uns gezogen hatte.
»Rück schon raus mit der Sprache«, ermunterte ich sie leise, weil ich immer noch auf schlechte Nachrichten wartete. Hatte ich schon in der ersten Nacht mein Glück verspielt? Würde sie mich bei der Direktorin verpetzen?
Doch Linden und ich befanden uns allein im Zimmer, und ich kannte sie nach drei Jahren in der Oberstufe und nun einem Jahr auf der Universität gut genug, um zu wissen, dass sie rational genug war, um mit sich reden zu lassen. Sonst wäre ich schon längst von der Akademie genommen worden. Linden war die einzige lebende Person, die mein Geheimnis kannte.
Ein Geheimnis, über das niemand von uns jemals sprach.
»Ihr seid bereits verlobt. Du und Karan«, sagte sie langsam und lenkte meine Gedanken wieder in eine andere Richtung. Sie zwirbelte eine Strähne ihres pechschwarzen Haares, das im Gegensatz zu meinem manchmal kraus und manchmal lockig war. »Warum der Aufwand?«
Ich hielt dabei inne, in meine schwarzen Pumps zu schlüpfen. Absätze waren nicht für den Studierendenalltag in Bronwick Hall geeignet, aber ich mochte es, größer zu sein; nicht nur Linden würde mich sonst um zehn Zentimeter überragen.
Zögerlich leckte ich mir über den Mundwinkel. Jede andere Frage hätte ich wahrheitsgemäß beantworten können. Bloß nicht diese eine. Nun, bei der Frage nach meiner nicht im Bett verbrachten Nacht hätte ich auch passen müssen.
Scham zwang mich dazu, ein gespieltes Lächeln aufzusetzen.
Karan liebte mich nicht. So viel stand fest.
Er hatte der Verlobung mit mir bloß aus Eigennutz zugestimmt, da er einer anderen, erzwungenen Verbindung aus dem Weg hatte gehen wollen.
Anders als ich fühlte er nichts.
Selbst wenn es stimmte, dass auch ich ihn ausnutzte, um meinen Platz in der Gesellschaft zu nutzen, war er mir nicht egal. Für mich war er meine erste Liebe gewesen.
»Obwohl deine Mutter eine Prudentin und dein Vater ein Baron ist, hast du noch nie verstanden, was es heißt, unwillentlich im Mittelpunkt zu stehen«, gab ich ausweichend zurück und richtete mich auf. Erneut blickte ich in den Spiegel.
Während der Titel des Barons vererbt wurde, wurde man von der Kaizerin höchstpersönlich zur Prudentin ernannt. Dies geschah entweder aufgrund von außergewöhnlichen Leistungen oder weil sie die Person in ihren kaizerlichen Rat aufnehmen wollte. Letzteres war bei Lindens Mutter der Fall gewesen.
Ich horchte auf. Aus dem Flur drangen Stimmen in den Raum. Die ersten Gruppen machten sich zum Frühstück auf.
Mein Magen grummelte vor Aufregung, mich der Masse zu stellen und Karan zu begegnen. Wie würde er sich mir gegenüber verhalten? Ich konnte mir einen Skandal genauso wenig erlauben wie eine Auflösung unserer Verlobung. Die schlechte Vorahnung setzte sich in mir fest.
Karan musste gestern erst sehr spät zurückgekommen sein, nachdem wir zwei Monate freigehabt hatten. Einmal hatten wir uns in dieser Zeit in Aurum gesehen, unserer Hauptstadt, die vor Menschen versteckt unter London existierte. Auf einem Bankett, das von der kaizerlichen Familie ausgerichtet worden war. Dort hatte er mich kaum eines Blickes gewürdigt, und ich … ich hatte versucht, mir meine Gekränktheit und Sorge nicht anmerken zu lassen.
Vermutlich hätte ihn jede andere Verlobte zum Reden aufgefordert, aber so war ich nicht. Ich hatte vor all den hohen Tieren keine Szene veranstalten wollten. Vor allem nicht vor meiner Großmutter.
Allein der Gedanke daran, sie gegen mich aufzubringen, bereitete mir Schwindel.
»Du machst dir zu viele Gedanken, Blaine.« Sie seufzte und drehte sich auf den Rücken, die Arme von sich gestreckt. Ihre weiße Bluse war bereits heillos zerknittert. »Die meisten haben die Sache längst vergessen. Zwölf Jahre sind eine verdammt lange Zeit.«
Unter meinem Ärmel lugte eine kreisrunde Brandnarbe hervor, und ich zupfte den Pullover eilig zurecht. Mit einem geduldigen Lächeln drehte ich mich zu Linden.
»Nur weil du dir nichts merken kannst, heißt das nicht, dass der Rest der Unterweltler ebenso vergesslich ist.«
Sie warf mit einem Samtkissen nach mir, aber ihr Lachen entschärfte die Geste. »Warum verstellst du dich immer, sobald wir das Zimmer verlassen? Du könntest die beliebteste Person von allen sein.«
Wenn sie wüsste, welche kalten Gefühle eigentlich in mir herrschten …
»Das kostet zu viel Kraft«, murmelte ich ausweichend. Außerdem würde es meine Großmutter auf den Plan rufen. Es hatte schon gereicht, dass ich mich vor einem Jahr nicht zurückgehalten hatte, als es darum gegangen war, zu bestimmen, wie viele Magiearten ich beherrschte. Mir war es nicht gelungen, zu verhüllen, dass ich sie alle nutzen konnte. Alchemie, Mystizismus, Blutmagie, Bannzauber, Nekromantie und Elementarmagie.
Ich hatte es bloß geschafft, das wahre Ausmaß meiner Macht zu unterdrücken. Mit Lindens Hilfe. Ohne sie wäre ich entweder von meiner Familie verstoßen worden oder … Nein. Die zweite Möglichkeit wollte ich mir nicht ausmalen. Hoffnung schmerzte zu sehr.
Entschlossen griff ich nach meinem Lederrucksack und umfasste den Messingknauf der Tür.
»Kommst du jetzt?«
»Glaubst du, ich würde mir die große Wiedervereinigung von Karan und Blaine entgehen lassen? Leidenschaftliche Küsse, heiße Berührungen.« Sie schob symbolisch ihre Hände zusammen und wackelte mit den Augenbrauen. »Und Hunger hab ich auch. Also los. Worauf wartest du noch?«
Ich unterdrückte ein Grinsen.
Auch wenn ich es mir niemals eingestehen würde, Lindens Anwesenheit und ihre lockere Art erleichterten mir die Einsamkeit, die ich sonst auf dem Campus verspürte.
Insgesamt gab es sechs solcher Akademien wie Bronwick Hall über das Europa der menschlichen Welt verteilt. Vor rund zweihundert Jahren war das Hexenvolk aus der Unterwelt vertrieben worden, als die göttlichen Titanen verflucht worden waren und unsere Heimat daraufhin zerstört hatten. Nun lebten wir neben den Menschen, aber ohne uns ihnen zu zeigen. Die Akademien befanden sich in magischen Dimensionen. Nichts Großes. Eine Art Blase, die nicht von Menschen durchbrochen werden konnte; und Aurum, unsere Hauptstadt, existierte im Geheimen unter einer magischen Kuppel unter London. Wir waren von einem stolzen Volk auf einen erbärmlichen Haufen zusammengeschrumpft.
Soweit ich wusste, sah jede Akademie anders aus und zeichnete sich durch die Eigenschaften der Stadt aus, nach der sie benannt worden war. So war Bronwick die letzte Hauptstadt der Kaizerin gewesen, ehe die Unterwelt vernichtet worden war.
So viele Hexen waren gestorben, und man wollte die Unterweltlerinnen und Unterweltler, die überlebt hatten, nicht unnötig trennen, weshalb es für uns nur noch eine Stadt gab: Aurum. Aus Bronwick und jeder anderen der früheren fünf Großstädte wurden Akademien, und an ihnen lehrte man die verschiedenen Magiearten, um uns junge Hexer und Hexen auf die Welt der Erwachsenen vorzubereiten. Die Akademie war dreigeteilt. Es gab die Unterstufe für ab Zwölfjährige, die Oberstufe für Sechzehn- bis Neunzehnjährige und die sich daran anschließende Universität.
Meinen Schulabschluss hatte ich vor einem Jahr absolviert. Nun besuchte ich den Universitätszweig im zweiten Jahr und würde der Akademie im nächsten Sommer endgültig den Rücken kehren.
Hoffentlich mit einem tadellosen Diplom in der Tasche.
Die Universität unterschied sich nicht sehr von der Schule. Man konnte sich einen Großteil der Fächer für Intensivkurse aussuchen, aber im zweiten Jahr versuchten die meisten Studierenden, noch einmal alles auszuprobieren. Anschließend durfte man sich im dritten Jahr spezialisieren. Je nachdem, auf welchen Job man es abgesehen hatte.
Ich hatte nicht vor, noch ein Jahr länger als nötig zu studieren. Zwei Jahre würden ausreichen, um mir eine Karriere aufzubauen und in den Hintergrund zu treten.
»Wo bist du mit deinen Gedanken?« Linden stieß mich in die Seite. »Hast du nicht zugehört? Es gibt einen neuen Lehrer für die Elite.«
Ich machte ein unbestimmtes Geräusch, da ich tatsächlich in Gedanken versunken gewesen war.
Erst jetzt bemerkte ich, dass wir den dunklen Flur hinter uns gelassen hatten und die breite Treppe auf der Südseite des Gebäudes hinabstiegen. Im zweiten Stock schlossen sich die männlichen Studenten unserer Karawane ins Erdgeschoss an. Ich hielt sofort Ausschau nach Karans breiten Schultern.
Selbst als wir den länglichen Speisesaal betraten, der sich im Ostflügel des Herrenhauses befand, konnte ich ihn nicht entdecken. Der aus schwarz-weißen Rauten bestehende Marmorboden lenkte unwahrscheinlich von den geschmirgelten Holztischen ab. Es gab mehrere Dutzend von ihnen, an denen Schulkinder und Studierende saßen. Jeweils drei steinerne Säulen links und rechts im Raum verbanden den polierten Boden mit der reich bemalten Decke. Ich blickte kaum jemals länger nach oben, wusste aber, dass darauf die Landkarte der Unterwelt abgebildet war. Von den Wolken gedämpftes Sonnenlicht drang durch die Spitzbogenfenster auf der linken Seite. Der Rest des Saales wurde durch Gaslaternen erhellt. Ein Feuer knisterte rechts neben der Essensausgabe im gigantischen Backsteinkamin und sorgte für eine angenehme Wärme. Über dem offenen Feuer war an der rauen Wand eine gusseiserne Uhr mit vergilbtem Ziffernblatt und schwarzen Zeigern angebracht.
Überall sah ich grün-blaue Uniformen, das laute Stimmengewirr bescherte mir Kopfschmerzen, und irgendwann gab ich es auf, meinen Hals zu verrenken. Karan war nicht hier. Vielleicht hatte er keinen Hunger. Ich würde ihn spätestens zur ersten Stunde sehen, da wir beide – wie auch mein Cousin Rees – Mitglieder der Elite waren.
Innerhalb dieser Gruppe war man gleichgestellt. Alle bis auf Posey jedenfalls. Als Prisma, die Begabteste unter uns, hatte sie gute Chancen, die nächste Conciliarin der kaizerlichen Familie zu werden. Sie müsste sich einzig mit den Prismen aus den anderen Akademien messen.
Mir sollte es recht sein. Ich wollte gar keine Prisma sein. Ich würde lediglich in die Fußstapfen meiner Tante treten. Sie arbeitete als Giftmischerin in Aurum und kam hin und wieder an die Akademie, um Studierenden als Anleiterin zu dienen.
Giftmischer verdienten gut und erregten kaum Aufsehen, da sie meist hinter verschlossenen Türen arbeiteten. Perfekt für mich.
Ich setzte mich mit meinem Tablett an einen der rechteckigen Tische und stocherte lustlos in meinem Haferbrei herum. Linden hatte sich bei den anderen Elitestudierenden niedergelassen, die mich genauso ignorierten wie ich sie.
Das neue Studienjahr begann genauso, wie das letzte geendet hatte. Es sollte mich beruhigen. Warum spürte ich jedoch den stechenden Schmerz in meiner Brust?
Auch ich wollte ausgelassen sein, lachen und mich an meinen magischen Fähigkeiten erfreuen, anstatt sie tief in mir zu verstecken.
Unwillkürlich hatte ich meine Hand um den Löffel zu einer Faust geballt.
So, wie ich mich tagsüber gab, so war ich nicht. Das hatte Linden richtig erkannt. Niemand wusste um mein wahres Gesicht, und ich fürchtete mich davor, es jemandem zu zeigen, der es gegen mich verwenden könnte.
Ich hasste meinen Vater für das, was er mir und meiner Familie angetan hatte. Seinetwegen musste ich alles einstecken. Seinetwegen durfte ich meinen kleinen Bruder nur aus der Ferne sehen, ohne dass dieser wusste, dass ich existierte. Seinetwegen hatte es sicherlich jemand auf mich abgesehen. Ich wartete bloß auf die nächste Attacke. Mein Vater …
Weil er sich unbedingt den Kalten, einer Rebellengruppe, hatte anschließen müssen, glich mein Leben einem trostlosen Scherenschnitt.
Ich hörte hin und wieder Gemurmel darüber, dass in der Nacht eine Party aufgelöst und die Anwesenden nach Hause geschickt worden waren. Manche warteten noch darauf, von ihren Eltern abgeholt zu werden. Niemand munkelte jedoch etwas von Scheusalen, was wohl daran lag, dass der Vorfall von den Verantwortlichen unter den Tisch gekehrt wurde. Weniger überraschend.
Es wurde stets alles dafür getan, um das Image von Bronwick Hall als beste aller Akademien zu wahren.
Da Karan nicht mehr auftauchte und ich nichts zu mir nehmen konnte, gab ich das Tablett zurück und machte mich auf den Weg ins zweite Obergeschoss. Ted Digby, ein weiterer Elitestudent, ging mir durch das breite Treppenhaus voraus. Er war immer sehr ruhig und hielt sich als Einziger zurück, wenn andere mir das Leben schwer machten. Dennoch überbrückte ich nicht den Abstand zwischen uns. Statt unheimlich seinen Rücken anzustarren, ließ ich meinen Blick über die cremefarbenen Wände schweifen, die die Treppen auf der einen Seite einfasste. Auf der anderen Seite führte ein geschwungener Handlauf entlang, dessen Sprossen in unregelmäßigen Abständen Silhouetten von Scheusalen zeigten. Monster, denen man nicht begegnen wollte. Nicht zum ersten Mal wunderte ich mich, wer sich für eine derart gruselige Kunst entschieden hatte.
Nacheinander betraten Ted und ich den Lehrraum der Elite.
Ein quadratisches Zimmer mit dunklen Regalen an den sumpfgrün tapezierten Wänden und einem knarzenden Holzfußboden. Es gab eine grüne Tafel, genau acht Einzeltische sowie Stuhl und Pult für unseren alten Professor.
Stirnrunzelnd hielt ich an der Tür inne, als mir wieder in den Sinn kam, was Linden gesagt hatte.
Natürlich. Unser Professor war nach dem letzten Semester in den Ruhestand gegangen, und wir würden eine neue Lehrkraft bekommen. Ich hatte wenig Lust, erneut Zeit darauf zu verwenden, mich einschleimen zu müssen, um meine Fassade aufrechtzuerhalten.
Alle anderen meiner Professorinnen und Professoren kannten mich bereits und wussten, was ich konnte und – viel wichtiger – was ich nicht konnte.
Ich setzte mich auf meinen angestammten Platz in der Mitte links und wartete nervös auf Karan. Auch wenn ich ihn bisher nicht gesehen hatte, war der Morgen überraschend ruhig verlaufen.
Während die anderen Studierenden eintrudelten, tippte ich mit den Fingerspitzen auf den Tisch. Jäh schossen kleine knisternde Blitze aus ihnen hervor. Erschrocken ballte ich die Hand zur Faust und sah mich um. Glücklicherweise achtete niemand auf mich. Gerade so was durfte mir nicht passieren. Eine mäßig begabte Elitehexe verlor nicht einfach so die Kontrolle über ihre Elementarmagie.
Reiß dich zusammen, Blaine!
Linden, Posey Westbrook und Parker Stapleton traten ein, unterhielten sich angeregt und setzten sich in die erste Reihe. Meine Nervosität nahm zu. Wo steckte Karan bloß?
… und dann sah ich ihn. Ausgerechnet neben Rees, mit dem er seit einem Jahr nicht geredet hatte, betrat er den Raum. Mein Herz schlug heftig, als ich in sein Gesicht blickte. Er wirkte genervt, hatte die Brauen zusammengezogen und die Hände in die Taschen seines dunkelblauen Jacketts geschoben.
Augenblicklich erhob ich mich von meinem Stuhl, aber er setzte sich kommentarlos an den Tisch neben meinem. Den Blick hielt er auf die Tafel gerichtet, auf der nichts weiter stand außer dem heutigen Datum.
Ich hörte Rees’ Gelächter und war mir sicher, dass er sich über mich amüsierte.
Auch wenn wir im selben Haushalt aufgewachsen waren, herrschte zwischen uns eine manchmal sehr verletzende Hassliebe. Scheinbar war er noch rechtzeitig von der gesprengten Party entkommen. Sonst hätte er sich garantiert im Büro von Direktorin Hutcherton befunden, um auf seine Mutter zu warten. Wie der Rest, der erwischt worden war.
»Wie waren deine Ferien?«, fragte ich Karan. Unsicher stand ich neben seinem Tisch und zupfte an meinem Pullover. Er hatte mich nicht mal angesehen. Konnte er sich nicht die Mühe machen, wenigstens so zu tun, als würde er mich mögen?
Manchmal war ich den ständigen Kampf leid. Doch ich konnte Karan nicht aufgeben. Er war mein Ticket in die Unabhängigkeit von meiner Familie.
Je länger er mir nicht antwortete, desto heißer wurde mir. Vermutlich waren meine Wangen, die ansonsten geradezu weiß waren, rot angelaufen.
Träge hob er den Blick. Das Braun seiner Augen wirkte nicht warm und einladend. Es erinnerte an kalte Graberde.
»Wie jedes Jahr.«
»Oh …«
Rees’ Gelächter wurde lauter. Es schwoll an und vermischte sich mit dem Pochen in meinen Ohren.
Wie konnte ich mich von Karan jedes Mal derart erniedrigen lassen? Warum gab es für mich keinen anderen Ausweg?
»Ich …«
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich das Eintreten einer weiteren Person in Uniform, obwohl wir bereits vollzählig waren. Dann erinnerte ich mich an die Anzahl der Tische. Acht statt sieben. Bedeutete das …?
»Eine neue Studentin?«, hörte ich jemanden flüstern.
Karan wandte sich sofort auf seinem Stuhl um und begegnete dem blonden Mädchen in dem karierten Trägerkleid mit deutlichem Interesse und so großer Aufmerksamkeit, wie er sie mir noch nie entgegengebracht hatte.
Die Fremde mit rosigen Wangen und wilden Locken, die sie mit einer grünen Schleife am Hinterkopf gebändigt hatte, ließ ihre meerblauen Augen durch den Raum wandern. Bis ihr Blick auf Karans traf. Es war, als hätten sich die Blitze erneut aus meinen Fingern gelöst und würden unbändig im Zimmer knistern. Das Herz rutschte mir in die Hose.
Wenn ich eine angehabt hätte. Es rutschte jedenfalls weit hinab, und ich konnte kaum an dem Kloß in meinem Hals vorbeiatmen.
Karan lächelte sie freundlich an und deutete auf den Platz neben sich, den ich zuvor verlassen hatte.
»Setz dich doch, Oakly«, bat er sie.
Mehr noch als sein Lächeln, mehr noch als sein Angebot schockierte es mich, dass er bereits ihren Namen kannte. Und er war nicht überrascht, ihr hier zu begegnen. Hatte er auf sie gewartet?
Meine Gedanken rasten, und ich blieb wie angewurzelt zwischen den Tischen stehen, als sich Oakly auf meinem Platz niederließ. Magie toste in meinem Inneren. Verlegenheit flutete durch mich hindurch, während Karan und Oakly sich ansahen, als wären sie allein.
»Würden Sie dieser unangenehmen Situation bitte ein Ende bereiten und sich setzen, Ms Harlow?«, erklang eine dunkle, heisere Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes. Überrascht drehte ich mich zu unserem neuen Professor um. »Oder haben Sie womöglich vor, den Unterricht an meiner Stelle zu übernehmen?«
Er klopfte mit seinem schwarzen Gehstock zur Untermalung einmal auf den Parkettboden, während er mich mit dem Blick aus seinen fast schwarzen Augen zu erdolchen schien.
Der neue Professor sah mich grimmig an. Ich erkannte ihn sofort von den etlichen Fotos auf den Titelseiten des Bronwick Chronicles. Henry Saints.
Er wirkte nicht viel älter als ich, vielleicht Mitte zwanzig, was für einen Professor absurd jung war. Er hatte kurz geschorenes braunes Haar, einen bronzenen Hautton und emotionslose bernsteinfarbene Augen. Zudem war er schlank und sportlich, was sich selbst unter seinem weißen Hemd und der dunklen Stoffhose erkennen ließ. Als kaizerlicher Conciliar musste er das auch sein. Allein mit den besten Noten und einer akribischen Ausbildung als Bodyguard, wie man sie hier als Prisma erhielt, konnte man eine derartige Stellung bekleiden.
Trotzdem war er in Ungnade gefallen, wie mir wieder einfiel. Niemand wusste genau, was geschehen war. Selbst die Journalisten hatten lediglich spekuliert, aber in einem waren sie sich einig gewesen: Henry Saints hatte versagt. Die Tochter der Kaizerin war nach wie vor dem Tod nahe.
Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schweigen erfüllte den Raum.
Innerlich stieß ich einen Fluch aus, da ich mich selbst in diese Lage manövriert hatte. Doch Oaklys Auftauchen und Karans Reaktion hatten mich unerwartet getroffen. Mein Herz raste, weil ich fürchtete, dass dieses Jahr nicht so verlaufen würde, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Am liebsten hätte ich die Phiole unter meinem Kragen hervorgeholt, um zu überprüfen, ob mir der Professor etwas Böses wollte. Sein Stirnrunzeln verriet jedenfalls nichts Gutes.
Ich verbeugte mich tief. »Entschuldigen Sie vielmals, Professor. Ich wollte mich Ihnen gegenüber nicht despektierlich verhalten.«
Seine Brauen schoben sich weiter zusammen, und sein Blick schoss zu meinen Händen, um die bis vor wenigen Sekunden noch Blitze gezuckt hatten. Eilig wandte ich mich ab und setzte mich auf den einzigen freien Platz in der hintersten Reihe. Erst als ich mich auf dem ungemütlichen Holzstuhl niedergelassen hatte, fiel mir auf, dass meine Tasche an dem Haken des Tisches hing, an dem nun Oakly saß.
Oakly.
Ihr Name biss sich wie eine Zecke in meinen Verstand fest. Eifersucht drang durch meine Adern. Wie hatten sich die beiden kennengelernt? Allem Anschein nach stammte Oaklys Familie nicht aus dem ursprünglichen Bronwick, sonst wäre sie nicht erst jetzt hier aufgetaucht. Bis zu diesem Jahr musste sie an einer der anderen Akademien unterrichtet worden sein. Karan und sie hätten sich also nur in den Sommerferien in Aurum begegnet sein können.
War es auf dem Bankett geschehen, auf dem mich Karan ignoriert hatte?
Am liebsten hätte ich geweint, doch das tat ich schon seit Jahren nicht mehr. Stattdessen klammerte ich mich an all die widerlichen Gefühle wie Hass, Eifersucht und Wut, weil ich damit umzugehen wusste. Sie gaben mir Kraft, nicht unter der Last einzuknicken, die mir von meinem Vater auferlegt worden war.
Ich zwang mich dazu, den Blick von meiner Tasche auf den Professor zu richten. Er lehnte mit der Hüfte gegen die Pultkante und deutete mit dem silberbesetzten Ende seines Gehstocks auf Posey Westbrook.
»Sie«, raunte er heiser. Er gab sich kaum Mühe, seine Stimme zu erheben. Ihm war es wohl egal, wer ihm zuhörte und wer nicht.
Und das machte ihn gleich interessanter. Die meisten unserer Professorinnen und Professoren erwarteten stets volle Aufmerksamkeit und duldeten nicht das leiseste Flüstern. Neugierig – und für einen Moment meine eigenen Probleme vergessend – beugte ich mich vor.
»Ja?« Posey saß aufrecht da, wagte nicht, sich zu rühren.
»Sie sind die wichtigste Person auf dieser Akademie. Als Prisma steht Ihnen eine großartige Karriere bevor. Meine Karriere.«
»Danke, Professor.«
»Das war kein Kompliment«, stellte Saints gefährlich leise klar.
Rees schmunzelte amüsiert. Immerhin hatte er seine Aufmerksamkeit von meinem Elend auf Poseys gelenkt. Man sollte dankbar für die kleinen Dinge im Leben sein.
»Natürlich, Sir, bitte entschuldigen Sie, Professor.«
Saints überreichte ihr einen Stapel Papierbögen, die sie an uns weiter verteilte. Darauf sollten wir diverse Fragen beantworten, die allesamt mit unserer Persönlichkeit sowie unserer Magiebegabung zu tun hatten. Stirnrunzelnd überflog ich die Bögen. Ich bekam allein bei dem Gedanken Schweißausbrüche, wie viel ich lügen müsste, um meine wahren magischen Fähigkeiten zu verheimlichen.
Als ich meinen Blick hob, fing ich den des Professors auf. Ich erstarrte. Hatte er mich etwa die ganze Zeit angesehen? Erneut stieg mir die Hitze in die Wangen, obwohl ich sonst kaum jemals rot wurde. Ich hatte meine Gefühle heute nicht so unter Kontrolle, wie ich es von mir gewohnt war. Das musste an meinem Schlafmangel liegen. Ich hätte nicht noch zur Party gehen sollen, aber der Akt der Rebellion war verführerisch gewesen. Das Testen der Phiole bloß ein Vorwand.
Tagsüber hielten mich Regeln, Gesetze und mein eigenes Vorhaben im Zaum. Die Nächte gehörten allein mir und meinen brodelnden Gefühlen, die ich sonst niemals zeigen durfte.
»Hey.«
Gelangweilt wandte sich mir Rees zu. »Was?«
»Kannst du mir einen Stift geben?«
»Du hast keinen?« Überrascht sah er mich an.
Ich verdrehte die Augen. »Du weißt genau, warum.«
Grinsend reichte er mir einen Bleistift, bevor wir von Saints gemaßregelt wurden.
Ich beeilte mich, die Lügen aufs Papier zu bringen; in der Hoffnung, nicht von Saints entlarvt zu werden. Dadurch würde ich meiner Großmutter Probleme bereiten, und sie würde mich sicherlich verstoßen, was vor der Hochzeit mit Karan katastrophal wäre. Ich war nur unter drei Bedingungen von ihr und meiner Tante aufgenommen worden: Erstens, ich musste meinen alten Namen ablegen, der von den Taten meines Vaters beschmutzt worden war. Zweitens, ich durfte niemals meinen acht Jahre jüngeren Bruder Alston kontaktieren und drittens, kein Wort über meinen Vater, seinen Verrat und meine Vergangenheit verlieren. Dazu gehörte auch, nicht zum Gesprächsthema der Leute zu werden, wie Clementine Harlow, die Matriarchin unserer Familie, nicht müde wurde zu betonen.
Mit welcher Magieart fühlen Sie sich am wohlsten?, war eine der Fragen auf dem Dokument. Spontan fiel mir keine Antwort ein, da ich durchgehend versuchte, so wenig Magie wie möglich zu verwenden. Doch da mich Saints höchstwahrscheinlich mit den Blitzen um meine Hände erwischt hatte, kreuzte ich Elementarmagie an.