Burgunderblut - Paul Lascaux - E-Book

Burgunderblut E-Book

Paul Lascaux

4,1

Beschreibung

Detektiv Heinrich Müller ordnet in Bern sein Leben neu. Währenddessen entdeckt man im Schloss Grandson am Neuenburgersee eine Leiche. Ein Mann liegt tot auf der Streckbank in der Folterkammer. Kurz darauf erscheint ein mysteriöser Unbekannter in der Detektei und beauftragt Müller, den Mord aufzuklären. Der Fall entpuppt sich als äußerst bedeutsam. Denn es geht um Ansprüche, die die Stabilität Europas infrage stellen könnten …

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Paul Lascaux

Burgunderblut

Ein Fall für Müller & Himmel

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Schlierner – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4492-0

Vorspann

»Unter die mancherlei schädlichen und unschädlichen Spielwerke, mit welchen sich unser philosophisches Jahrhundert beschäftigt, gehört auch die Menge geheimer Verbindungen und Orden verschiedener Art. Man wird heutzutage in allen Ständen wenig Menschen antreffen, die nicht von Wissbegierde, Tätigkeitstrieb, Geselligkeit oder Vorwitz geleitet, wenigstens eine Zeit lang Mitglieder einer solchen geheimen Verbrüderung gewesen wären.

[…] Allein diese geheimen Verbindungen sind auch schädlich für die Welt. Schädlich, weil alles, was im Verborgnen geschieht, mit Recht in Verdacht gezogen werden kann […]«

Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen

Die wichtigsten Figuren

Heinrich Müller: Privatdetektiv Detektei Müller & Himmel, Ex-Polizist, wohnt in Bern, deutlich über 50 Jahre alt

Nicole Himmel: Anthropologin, arbeitet im Alpinen Museum Bern und in der Detektei Müller & Himmel

Baron Biber: der Kater von Heinrich Müller, heißt mit vollem Namen Baron Tartine Biber der Erste

Mathilda: eine lebhafte Katzendame

Markus Forrer: Kontaktmann bei der Police Bern

Michelle Broccard: Informatikerin, stellt im Team Müller / Himmel die digitale Recherche sicher

Beat Jenzer: Historiker, stellt im Team Müller / Himmel die historische Dimension in den richtigen Rahmen

Freitag, 13.9.2013

Über einen einsamen Detektiv gab es nicht viel zu sagen. Das Leben trieb ihn vor sich her. Heinrich Müller machte Pläne, die er nicht in die Tat umsetzte. Er entwickelte geniale Konzepte und verwarf sie nach genauerem Überlegen. Er dachte an die Freunde, die ihn verlassen, und an die Fälle, die ihn beschäftigt hatten. Er schaute sich die Helden verschiedener TV-Serien an, bis er nicht mehr wusste, ob er zu ihnen gehörte.

Müller kaufte Lebensmittel, die das versprochene Geschmackserlebnis nicht erfüllten. Er kochte, als ob er eine Menge Gäste bewirten müsste, und aß dann tagelang die Reste. Er trank ab und zu einen über den Durst. Kurz: Heinrich Müller benahm sich wie jeder Zweite im Land. Und an die andere Hälfte verschwendete er keinen Gedanken.

Gestern hatte der Detektiv bis weit nach Mitternacht in einem Thriller gelesen, von dem er bis zum Morgengrauen zehrte, wann immer ein Traumbild aufflackerte. Dazwischen weckten ihn Baron Biber und Mathilda, die Dämmerungsaktiven. Sie legten sich zu seinen Füßen, an seine Flanke, nicht ohne ihre Anwesenheit mit einem lauten Schnurren und mit einem Nasenstupsen kundzutun. Fütterungszeit. Danach wieder unter die Decke, um den Tag wach zu träumen und neue Lebenskonzepte zu entwickeln. Bis kurz vor zehn. Dann wurde auch ein Detektiv dämmerungs­aktiv, selbst wenn draußen bereits hell die Sonne schien.

Heinrich Müller stand auf wie Phönix aus der Asche. Jedenfalls dachte er das, als er an einem Freitagmorgen im September erwachte, Baron Biber auf seiner Brust, Mathilda am linken Unterschenkel. Als er sich aufgerappelt hatte, stellte sich heraus, dass er noch etwas flügellahm war. Also Asche, ja; Phönix, eher nein.

Nachdem Heinrich die Katzen erneut gefüttert hatte, setzte er sich an den Küchentisch, die Tasse mit dem frischen Kaffee wärmte seine Finger, er starrte aus dem Fenster auf die Straße, blickte aber in sich hinein. Die Asche. Irgendwo musste ein Feuer lodern oder zumindest schwelende Glut zu spüren sein. Müller aber fand nur die Leere, die ihn bereits seit Wochen aushöhlte, ohne dass ihn dieser Zustand weiter beunruhigt hätte. Er war noch am Leben, und solange Blut in seinen Adern pulste, gab er nicht klein bei.

In der Küche drückte er die Knöpfe des CD-Players und ließ Patti Smith ›Gloria‹ singen, ein Stück, das mit leisem Klaviereinsatz begann. Die gelassene Sprechstimme der Sängerin steigerte bald den Rhythmus und driftete, begleitet von einer swingenden Jazz-Gitarre und einem treibenden Schlagzeug, in ein Crescendo, das Heinrich früher jeweils gehört hatte, wenn er sich auf den Ausgang vorbereitete. Heute half es ihm in den Tag hinein. Am Frühstückstisch überflog Müller die Zeitung von gestern, die er noch nicht zu Ende gelesen hatte.

Aus dieser Lektüre war noch nie ein Auftrag entstanden. Aber man machte sich ein Bild von der Welt da draußen. Es war kein gutes Bild, sondern eines von manipulierten Krisen, herbeigeschriebenen Skandalen und künstlicher Aufregung. Als ob sich der Mensch die in der Bequemlichkeit seines Daseins verlorene innere Anspannung in der größeren Welt zusammenklaubte. Alltagstaugliche Verschwörungstheorien. Während draußen an der Tür die Goldbuchstaben vom Schild Detektei Müller & Himmel stetig abblätterten, blieb Heinrich Müllers Blick an einem kurzen Artikel hängen.

Mord im Schloss

Laut Communiqué der Waadtländer Kantonspolizei ist es am Mittwoch im Schloss Grandson zu einem makabren Tötungsdelikt gekommen. Ein Mann noch unbestimmter Identität wurde im Ausstellungsraum mit den mittelalterlichen Folterinstrumenten aufgefunden. Er lag auf dem Streckbett, mit Seilen und Gewichten festgemacht. Allerdings waren keine äußeren Verletzungen sichtbar. Die Polizei geht von einem Mord aus, will aber vorerst eine Selbsttötung nicht ausschließen. Die rechtsmedizinische Untersuchung muss Klarheit bringen.

Da war sie, die Asche, aus der der Vogel Phönix aufsteigen sollte. In Detektiv Müller brannte das Feuer schon vernehmlich stärker, auch wenn er nicht wusste, warum ihn gerade diese Nachricht derart beschäftigte.

»Streckbett« rief natürlich dramatische Bilder in ihm hoch, und wenn ihn auch die Grausamkeit einer solchen Tat erschreckte, faszinierte ihn doch die unbändige Gewalt, die dahinterstecken musste. Ging es um eine autoerotische Strangulation, oder war es das Werk von Folter und Demütigung? Alle seine Sinne erwachten. Der Phönix hatte sich in die Luft begeben.

Samstag, 14.9.2013

»Haaallo! Haaallo!« und ein letztes abgesenktes »Hallo!« rissen Heinrich Müller aus dem Schlaf. Im Kopf das Bild eines verzweifelten außerirdischen Mädchens. Seine Lektüre schien ihm nicht gutzutun. Es war allerdings der streunende, liebestolle Kater mit seiner klagenden Stimme.

Herzklopfen und Hühnerhaut.

Heinrich Müller beschäftigte sich mit den kleinen Dingen. Er las Postkarten, die man ihm vor 30 Jahren zugeschickt hatte. Er sortierte seine Schallplattensammlung nach einem nur ihm selbst bekannten System. Er hörte fremden Menschen beim Telefonieren zu, dachte sich seinen Teil bei den Gesprächen, von denen er nur die Hälfte mitbekam, und erfuhr dennoch intime Details, aus denen er sich eigene Geschichten bastelte.

Müller erntete den verstörten Blick einer Dame, als er die Haare ihres Barts zählte. Er versuchte herauszufinden, bei wie vielen Frauen man der Haarfarbe noch trauen konnte. Er übte das laute Lesen mittelalterlicher Tagelieder. Er reihte die Namen aller bestiegenen Berge an einer Schnur auf. Und er verglich die Wetterdaten des hundertjährigen Kalenders mit der Wirklichkeit. Und dann traf er eine Entscheidung.

Er benannte die Bar neu, die an so viele begeisternde und traurige Momente seines Lebens erinnerte. Er nannte sie nun Zum Schwarzen Kater. Den alten Namen hatte er bereits überpinselt und ein rote Grundierung gelegt. Eben wollte er die Schablone mit den neuen Buchstaben anbringen, als ein älterer Herr in einem schwarzen englischen Regenmantel an seine Leiter klopfte.

»Sie sind der Detektiv?«, stellte er eher fest, als dass er fragte.

»Woran sieht man das?«, wollte Müller wissen.

»An der unbeschreiblichen Eleganz, mit der sie sich auf den Sprossen bewegen.«

Heinrich schluckte leer und stieg hinunter, gab dem Unbekannten die Hand und bat ihn in den ersten Stock.

»Diese Buchstaben hätten auch eine Auffrischung nötig«, sagte dieser und wies mit gichtigen Fingern auf das Schild.

»Erst mal wieder in die Gänge kommen«, brummte Müller. Er öffnete die Tür, die nicht abgeschlossen war. Die leisen Töne, die im Treppenhaus hörbar waren, schwollen nun zu einer Hymne der Sechziger an, ›Somebody to Love‹ sang Grace Slick von den Jefferson Airplane. Der Kunde verzog den Mund.

›When the garden’s flowers, baby, are dead.

Yes, and your mind, your mind is so full of red …‹

Müller stoppte die CD, die Worte ergaben auch wenig Sinn. Er musste sich auf seinen Gast konzentrieren.

»Nicht Ihre Musik?«, fragte er und schaute in die brennenden Augen des Mannes, der ihn um einen Kopf überragte.

»Nicht meine Musik«, konstatierte der andere. »Aber ich bin nicht hier, um über Musik zu diskutieren.«

»Das hätte mich auch überrascht.«

Er setzte sich erst auf den einzigen Stuhl im Raum, nachdem er darum gebeten worden war.

»Sie sehen, ich bin etwas desorganisiert«, begann Heinrich Müller. Eine Orange rollte über den Schreibtisch und blieb an einer Pistolenattrappe hängen. Der Fremde zuckte kurz mit den buschigen Brauen.

»Die Geschäfte laufen schlecht«, sagte der Fremde, und man wusste wieder nicht, war es eine Frage oder eine Feststellung.

»Sie laufen schlecht«, wiederholte der Detektiv.

»Sie hätten also Zeit für einen Auftrag.«

Müller schwieg und machte eine Geste, fortzufahren.

»Was sagt Ihnen der Begriff ›Siegel‹?«

»Wie in ›Siegelring‹?«

Der Mann, der sich immer noch nicht vorgestellt hatte, nickte.

»Damit drückt man irgendein Symbol in Wachs, um einen Brief zu schützen …«

»… oder um eine Urkunde zu bekräftigen«, ergänzte der Besucher.

»Mittelalter.«

»Genau. Es gibt ein Hauptsiegel, das mit dem Wappen eines Herrschers verziert ist, mit dem er seinen Willen kundtut. Und dann gibt es Kontrollsiegel, die die Echtheit des Hauptsiegels bestätigen.«

»Wie die Kontrollnummer auf einer Kreditkarte«, sagte Heinrich.

»So ungefähr«, brummte der andere. »Jedenfalls waren diese Sekret- oder Rücksiegel häufig auf der Rückseite des Hauptsiegels angebracht. Sie galten auch als Geheimsiegel.«

»Interessant«, stellte Müller nüchtern fest.

»Warten Sie, bis Sie den Zusammenhang sehen. Hier habe ich ein Siegel.« Er kramte in der Innentasche seines Mantels, den er anbehalten hatte, und brachte einen Gegenstand aus Metall hervor. »Jedenfalls das, was davon übrig ist.« Er legte ihn auf den Tisch. Es war die Hälfte eines Rundsiegels, fast fünf Zentimeter Durchmesser.

»Ziemlich groß«, meinte der Detektiv und nahm es in die Hand. »Schwer. Ist es Gold?«

»Wahrscheinlich Blei, vergoldet. Reines Gold wäre wohl zu kostbar gewesen. Blei konnte gut gegossen werden. Außerdem täuscht es durch seine helle Farbe Silber vor«, erklärte der Mann.

»Soweit ich mich erinnere, wird Blei im Laufe der Zeit spröde und brüchig.«

»So ist es. Deshalb konnte das Siegel auch gebrochen werden.«

»Wer hat das getan?«, fragte Müller.

»Das ist eine der Fragen, die Sie beantworten sollen«, meinte der Fremde.

»Ich soll auch herausfinden, wo die zweite Hälfte ist«, stellte Heinrich fest.

»Ich sehe, man hat mir den richtigen Mann empfohlen.«

»Und die beiden Hälften zusammenführen … Zu welchem Zweck?«

»Das werden Sie später erfahren. Vielleicht auch nie. Es hängt davon ab, wie sich gewisse Dinge entwickeln.«

»Die Entwicklung, von der Sie reden«, begann Müller vorsichtig, »wird sie durch das Zusammenfügen der Teile beschleunigt oder behindert?«

»Sie sind ein neugieriger junger Mann.«

Bei ›jung‹ horchte Heinrich Müller auf. Es lag einige Zeit zurück, dass man den Mittfünfziger als jung bezeichnet hatte, und er wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte.

»Ein Geheimnis also«, brummte er. »Ein solches Geheimnis ist immer eine teure Sache. Was soll es bringen?«

»Wenn Sie Ihre Arbeitsschritte dokumentieren, bekommen Sie für die nächsten drei Monate pauschal 20.000 Franken …«

»Egal, was ich als Ergebnis präsentiere?«

»Egal. Wenn Sie erfolgreich sind, gibt es einen Folgeauftrag. Verhandlungsbasis 50.000 Franken.« Er legte ein Bündel mit zehn Tausendernoten auf den Tisch. »Die Anzahlung.«

»Das ist aber viel Geld für ein zerbrochenes Siegel«, sagte Heinrich staunend. Abzulehnen stand in seiner Lage außer Frage.

»Wie Sie bereits sagten … Geheimnisse sind teuer.«

»Sie hätten nicht den klitzekleinsten Hinweis, wo ich mit meiner Suche beginnen soll?«, fragte Müller.

»Doch«, entgegnete der Auftraggeber, indem er sich erhob und Anstalten machte, die Detektei zu verlassen. »Beginnen Sie beim Mord im Schloss Grandson, von dem Sie bestimmt gelesen haben.«

»Wie kann ich Sie erreichen?«

»Keine Sorge, ich erreiche Sie!«

»Eine Frage noch«, rief Müller dem Mann hinterher.

»Ja?«

»Wie sind Sie ausgerechnet auf mich gekommen?«

»Ich habe ›Gnadenbrot‹ gelesen. Mir scheint, Sie kennen sich mit den Burgunderkriegen aus.«

»Das Siegel behalte ich hier«, beeilte sich Müller zu sagen.

»Es ist eine Kopie«, erwiderte der Fremde, bevor er die Tür hinter sich zuzog.

Montag, 16.9.2013

Seit sich Bernhard Spring aus dem Polizeidienst verabschiedet hatte, hatte Heinrich Müller nicht mehr auf die Dienste der Ermittlungsbehörden zurückgegriffen. Nun erfuhr er, wie schwierig es war, nach langen Jahren der Absenz vom Dienst wieder vertrauenswürdige Beziehungen zu Personen aufzubauen, die ihm Einblick in Akten ermöglichten. Erschwerend kam hinzu, dass Grandson in der Gerichtsbarkeit von Yverdon-les-Bains lag, der zweitgrößten Stadt im Kanton Waadt. Das ehemalige Untertanengebiet der Republik Bern ließ sich ausgerechnet aus der Bundesstadt ungern in die Bücher blicken.

Über Markus Forrer, einem alten Kollegen, der zeitweise unter Bernhard Spring gearbeitet hatte, gelang es Heinrich schließlich, einen Kontakt zur Staatsanwaltschaft herzustellen und die Akten zumindest in Kopie überstellen zu lassen. Die digitalen Daten fanden den Weg auf Müllers Computer, als ob er weiterhin zur Einheit gehören würde.

»Von mir hast du es nicht«, war einer der meistgehörten Sprüche, mit denen der Alltag des Detektivs gewürzt war. Sein polizeilicher Whistleblower benutzte ihn auch.

Zuerst einmal nahm sich Müller den Tatortbefund vor. Er ging nicht wesentlich über den Zeitungsbericht hinaus. Jemand musste mit einem Nachschlüssel den Zugang zum Schloss Grandson geöffnet haben. Es wurde bereits um das Jahr 1000 erwähnt, der heutige Bau stammte aus dem 13. Jahrhundert, eine abweisende Viereckburg im Savoyerstil, deren Mauern nun erneuert wurden. Ein massives Gerüst umgab die Burg bis auf die Höhe der Wehrgänge. Die Polizei nahm an, dass der Tote und mindestens ein Begleiter nachts in das Gemäuer eingedrungen waren, ohne Spuren zu hinterlassen. Wenn man von der Leiche einmal absah.

Die Leute hielten sich nicht lange im Eingangsbereich oder in der Kapelle auf, sie besichtigten auch die anderen historischen Räumlichkeiten nicht, sondern begaben sich geradewegs zur Folterkammer, in der neben Instrumenten der Grausamkeit aus dem Mittelalter auch Skurriles wie Keuschheitsgürtel ausgestellt waren, eher eines Kuriositätenkabinetts würdig als einer historischen Sammlung.

Die Streckbank hingegen war funktionstüchtig, das hatte das bemitleidenswerte Opfer zur Kenntnis nehmen müssen. Nicht umsonst war es früher ein beliebtes Element jeder Folter. Der Gefangene war an seinen ausgestreckten Händen über Kopf mit einem Seil angebunden. Dieses wurde über einen Rundbalken angezogen, bis die Gelenke des Opfers auskugelten – oder bis es alles gestand, was es begangen oder auch nicht verbrochen hatte. Die Knie lagen über einen Holzklotz geknickt, die Füße waren an schweren Steinen befestigt. Der Rechtsmediziner schätzte die Belastbarkeit der Sehnen und Gelenke auf wenige Minuten bis mehrere Stunden, je nachdem, wie schnell und mit welcher Kraft die Seile angezogen wurden.

Inzwischen hatte man den Mann identifiziert, denn er trug seine Brieftasche mit den Ausweisen bei sich. Er hieß Alessandro Hess, war in Bern wohnhaft, der Polizei im Übrigen unbekannt. Dieser Hess also konnte nicht allzu lange gelitten haben, denn neben den Schreien um Erbarmen, die für einen ungeübten Folterer kaum auszuhalten waren, hatte sich seiner bald eine segensreiche Ohnmacht bemächtigt, die ihm wohl nicht einmal mehr sein unmittelbares Ableben hatte bewusst werden lassen. Die tatsächliche Todesursache war nicht die Folter, sondern ein unter der extremen Belastung erlittener Herzinfarkt.

Also hatte er kaum etwas verraten, dachte Müller. Deswegen war bald mit einem neuen Opfer zu rechnen.

Der Polizeibericht hielt weiter fest, dass in einem offenen Feuergefäß Reste von Holzkohle gefunden worden waren, die nicht aus früheren Zeiten stammen konnten, denn der Raum war peinlich sauber gehalten worden. Auch lag ein länglicher Eisenstab, der dort nicht hingehörte, im Raum. Am Stab war ein Gegenstand befestigt gewesen, mit dem man dem Opfer ein Brandmal in die rechte, die Schwurhand gestanzt hatte. Neben den Fotos vom Tatort fand Heinrich Müller auch eine Vergrößerung dieses Brandmals vor, eine seltsam gezackte, halbrunde Form mit einem auf den ersten Blick kaum erkennbaren Zeichen.

»Das Siegel«, entfuhr es dem Detektiv, und er riss die Schublade auf, in der er seine Hälfte abgelegt hatte. Er legte sie auf das inzwischen ausgedruckte Foto. Sie passte!

Noch einmal rief er Markus Forrer an, den er zu einem Feierabendbier einlud. Zusammen saßen sie vor dem Computer. Müller strich sich über das schüttere Haar. Auf dem Bildschirm lagen zwei Fotos nebeneinander, das von der Hand der Leiche und eines von der zweiten Hälfte des Siegels, die Heinrich inzwischen eingescannt hatte.

»Du hast eine Grafiksoftware?«, fragte Forrer.

»Wenn wir mit Photoshop arbeiten können …«

»Ganz bestimmt. Wir fügen die beiden Bilder zusammen, indem wir sie aus ihrer Umgebung ausschneiden und in ein neues Dokument einsetzen«, sagte der Polizist. »So. Das Siegel ist wieder ganz.«

»Kann man daraus eine Gussform machen?«, fragte Müller.

»Wieso denn das?«

»Das Original bestand aus Blei mit Goldüberzug. Es war ein Hochrelief, sonst hätte man es ja nicht als Brandmarke verwenden können. Also brauchen wir ein Negativ, das diese Linien ausspart.«

»Wie alt bist du jetzt?«, wollte Forrer wissen und musterte die zunehmend kugelige Figur seines ehemaligen Kollegen.

»Was hat das damit zu tun?«, wunderte sich der Detektiv.

»Weil du in deiner einfachen Klause mit deinem Kater an der Welt vorbeilebst. Heute macht man das so: Wir erstellen eine Datei, die das gesamte Objekt millimetergenau ausmisst, dann legen wir die Dicke fest. Die Rückseite …«

»Die eigentlich die Vorderseite ist«, beeilte sich Müller, dem Prozess etwas Herrschaftswissen beizufügen.

»… lassen wir plan«, fuhr der Polizist stoisch fort. »Das Ganze senden wir per Mail an ein Unternehmen in Bern, eine 3-D-Druckerei.«

»Und was machen die?«

»Die drucken das Siegel in Hartplastik aus, als ob es nie gebrochen worden wäre.«

»Kannst du eine Expresslieferung veranlassen, damit wir es morgen vor Ort haben?« Müller blieb sachlich, aber das leise Beben in seiner Stimme konnte seine Überraschung und seine Erregung nur unschwer verbergen.

»Das Unternehmen nennt sich Polizei. Wir haben einen kleinen Drucker gekauft, um Tatspuren zu rekonstruieren, zum Beispiel um Schuhsohlen auszudrucken, damit wir sie vor Ort vergleichen können. Ich bringe dir dein Objekt morgen früh vorbei.«

Müller zeigte noch einmal auf den Bildschirm, überwältigt von den neuen technischen Möglichkeiten. »Wonach sieht das aus?«, fragte er seinen Exkollegen.

»So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Zacken einer Krone? Dreh das Bild einmal um, wahrscheinlich steht es auf dem Kopf. Wenn wir davon ausgehen, dass der Tote jemandem etwas entreißen wollte, hat er von unten danach gegriffen.«

»Die Waadtländer Polizei geht von einem Brandmal aus, das lässt man sich nicht freiwillig einbrennen.«

»Das nicht. Vielleicht wollte er bloß nicht, dass das Siegel als das benutzt wurde, wozu es gedacht war, nämlich einen Vertrag zu bekräftigen«, sagte Forrer.

»Du glaubst, er hat seine Hand dazwischen gehalten, weil er dies verhindern wollte? Leuchtet ein.« Dann schaute er es noch mal von nahe an, kippte das Foto und sagte: »Die Darstellung ist nicht vollständig. Scheint wie vom Alter abgerieben.«

»Eine Krone ist es nicht, aber es sieht ihr ähnlich. Eine Basis, wie wenn man es auf den Kopf setzen könnte, davon ausgehend ein geschwungenes Horn, wahrscheinlich beidseits, aber nur das eine ist zu erkennen. In der Mitte ein Kreuz.«

»Erinnert mich irgendwie an diese eisernen Schuhabstreifer, nur etwas eleganter«, sagte Heinrich.

»Und kleiner. Es muss gut in der Hand liegen.«

Nachdem Markus Forrer den Schwarzen Kater verlassen hatte, begab sich Müller zurück an die Bar und wartete auf ein paar Zufallsgäste. Er legte Spooky Tooth auf, eine weitere Lieblingsband aus den Sechzigern, eine erdige Orgel, schleppender Bass und die dreckige Stimme des Sängers, der die hohen Töne nicht ganz traf, als er nach der ›Evil Woman‹ schrie.

Es war dann aber keine evil woman, die ins flackernde Licht des Schankraums trat, es war eher ein Engel, der dem Leben ein Leuchten schenkte. Ein Engel mit kurzen schwarzen Haaren und tief in die Stirn fallenden Locken.

Nicole Himmel war aus der Hölle zurück!

Jedermann dachte, sie hätte die letzten drei Jahre im Paradies verbracht. Nicole mochte nicht darüber reden.

»Gehen wir in mein Büro«, sagte der Detektiv. »Es gibt etwas, das ich mit dir besprechen möchte.«

Er ergänzte »unser Büro«, als sie im ersten Stock des Gebäudes vor der Tür standen, an der – leicht verblasst und mit einzelnen fehlenden Buchstaben – immer noch das Schild Detektei Müller & Himmel klebte.

»Willkommen zu Hause!«

Baron Biber und Mathilda hatten die beiden begleitet und verlangten ihren Anteil an der zärtlichen Begrüßung.

»Freu dich nicht zu früh«, flachste Nicole.

»Könnte schlimmer sein«, entgegnete Heinrich Müller. »Du bringst einen Fall?«

»Eine schwer durchschaubare Geschichte, bei der ich deine Hilfe brauche.«

»Du kennst meinen Tagessatz«, sagte der Detektiv.

»Ich denke, es heißt ›unsern‹?«, gab sie zurück.

»Einverstanden, wenn du wieder mitarbeitest.«

»Unter einer Bedingung«, sagte Nicole etwas nachdenklicher.

»Die wäre?«, wollte Heinrich wissen.

»Keine Leichen«, sagte sie tonlos.

Dienstag, 17.9.2013

Die frisch gestrichenen Buchstaben leuchteten in satter Farbe über dem Eingang Zum Schwarzen Kater. Aus der offenen Tür dröhnte die dreckige Gitarre aus ›Rock ’n’ Roll Queen‹ von Mott the Hoople. Ian Hunter sang gerade eine unanständige Variante, während Heinrich Müller den Tresen polierte.

»Wieder dieser Lärm«, sagte einer mit einer spitzen Stimme in die kurze Leere vor dem nächsten Song.

»Was für ein Zufall«, erwiderte der Detektiv, als er auf den Ankömmling zutrat und ihm zum Gruß die Hand hinstreckte, die der andere aber ignorierte.

»Zufälle gibt es nicht«, sagte er.

»Also hat Sie die Vorsehung zu mir geführt?«

»Gerüchte verbreiten sich schnell«, sagte sein schwarz gekleideter Auftraggeber.

»Sie haben aber nicht schon wieder einen Krimi gelesen?«

Der Angesprochene verzog den Mund. »Ich würde den Gegenstand gerne sehen.«